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Stiftung Universität Hildesheim Fachbereich Kulturwissenschaften und Ästhetische Kommunikation Institut für Medien, Theater und Populäre Kultur Modul 2/3: Gegenwartstheater Teilmodul: Theatertexte und Inszenierungen der Gegenwart Seminar: Montage im Theater Dozent: Ekaterina Trachsel
Die Bedeutung des Spiegels für die Subjektkonstitution in einem klassischen
Tanzunterricht
Marisa Berg
Weißenburger Straße 6, 31134 Hildesheim [email protected]
Matrikelnummer: 262134 BA Kulturwissenschaften und Ästhetische Praxis, 6. Semester
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I. Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ........................................................................................................................ 2
2. Ein klassischer Tanzunterricht als Raum für das übende Subjekt................................... 3
2.1 Konzeption des Subjektes in disziplinierenden Übungen ........................................ 5
2.2 Konzeption des Subjektes in ästhetischen Übungen ................................................ 6
2.3 Verhältnis der Subjektentwürfe im Unterricht ......................................................... 7
3. Die Bedeutung des Spiegels für die Subjektkonstitution Tanzender .............................. 9
4. Fazit: Ein klassischer Tanzunterricht als Montageraum ............................................... 11
II. Quellenverzeichnis ........................................................................................................... 14
III. Anhang .............................................................................................................................. 15
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1. Einleitung Das Schwere am Tanzen ist, das Schöne des Tanzens so zu zeigen,
dass das Schöne des Tanzens nicht schwer aussieht. (Unbekannt)
Diese im Zitat anklingende Spannung von „schwer“ und „schön“ ist kennzeichnend für die
vielfachen und mitunter als widersprüchlich empfundenen Anforderungen an Professionelle
wie auch Hobbytänzer*innen im klassischen Ballett. Andere Begriffspaare wie Sport/Kunst,
Kraft/Grazie oder Disziplin/Ästhetik, die immer wieder mit dem klassischen Tanz assoziiert
werden, zeugen ebenfalls von diesen komplexen Ansprüchen an Lernende und verweisen auf
potentiell dualistische Denkansätze im Tanzbereich. Hart trainierende, disziplinierte und zur
Perfektion geschundene Ballerinenkörper stehen dem idealisierten Bild der schwerelosen,
grazilen Sylphiden gegenüber, deren Darstellung jede Ahnung von Anstrengung regelrecht
negiert.
Die vorliegende Hausarbeit befasst sich mit diesem Thema unter dem Gesichtspunkt von
Subjektkonzeptionen, die im Rahmen eines klassischen Tanzunterrichts entwickelt werden.
Grundlage der Überlegungen und damit zentraler Bezugspunkt sind Christoph Menkes
Ausführungen in seinem Text Zweierlei Übung zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung
und ästhetischer Existenz.1 Nachfolgend sollen diese Darlegungen mit den Beobachtungen aus
der eigenen Tanzpraxis verknüpft werden und darauf Anwendung finden. Dabei orientiert sich
die Arbeit an folgenden Leitfragen: Wie gestaltet es sich konkret mit den von Menke
beschriebenen Übungsformen im klassischen Tanzunterricht und in welchem Verhältnis stehen
die darin entwickelten Subjektkonzeptionen zueinander? Welche Rolle und Funktion nimmt
der Spiegel – der als zentraler und konstanter Bezugspunkt in der Raumkonstellation
maßgeblich für den Unterricht ist – in der Subjektkonstitution ein?
Nach einer knappen Zusammenfassung der Grundgedanken des Textes von Christoph Menke
soll zunächst rudimentär überprüft werden, ob der klassische Tanzunterricht als Übung nach
Menke zu klassifizieren sei (Kapitel 2). An dieser Stelle findet sich auch eine tabellarische
Auflistung der für diese Arbeit relevanten Kernpunkte aus dem Bezugstext, die in der
Anwendung auf die Praxis berücksichtigt werden. Anschließend wird in zwei Unterkapiteln
dargelegt, welche Subjektkonzeptionen in einem Tanzunterricht entwickelt und gefördert
werden, gefolgt von einer Beschreibung ihres Verhältnisses. Kapitel 3 analysiert die jeweiligen
Funktionen des Spiegels in den unterschiedenen Übungsformen und beschäftigt sich intensiver
mit dessen Bedeutung für die Subjektkonstitution. Die Verfasserin bezieht sich dezidiert auf
1 Siehe Christoph Menke: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
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Beispiele aus der eigenen pädagogischen Praxis,2 zu diesem Zweck ist ein Unterrichtsprotokoll
eines3 klassischen Tanzunterrichtes entstanden, das der Arbeit angehängt ist. Das
Unterrichtsgeschehen ist dort tabellarisch unter den Rubriken Bezeichnung, Inhalt,
pädagogische Ebene, Handlung, Beziehung zum Spiegel und Deutung chronologisch zum
Stundenverlauf erörtert. Im Fließtext werden diese Praxisbeispiele entweder direkt aus diesem
Protokoll zitiert oder in Kurzform anhand der Nummerierung angegeben. Während
Überlegungen in Kapitel 2 ausschließlich anhand des Bezugstextes, der Praxisbeispiele sowie
Untermauerungen aus Nikolai Tarassows „Klassischer Tanz“4 angestellt werden, sollen in
Kapitel 3 zur Bedeutung des Spiegels erkenntnisdienliche Verweise aus der Fachliteratur
ergänzend herangezogen werden. In einem abschließenden Fazit werden Ergebnisse der Arbeit
subsumiert und daraus weitere Perspektiven für den klassischen Tanzunterricht abgeleitet.
2. Ein klassischer Tanzunterricht als Raum für das übende Subjekt Menke unterscheidet grundlegend zwischen dem disziplinären und dem ästhetisch-
existentiellen Subjekt, beide bilden sich übend.5 Insgesamt weist der angesprochene Bezugstext
eine Zweigliederung auf: Menke stellt eine Erörterung der gemeinsamen Ontologie der
Subjekte voran, bevor er anschließend über Merkmale zum eigentlichen Kern der
Unterscheidung vordringt. Abschließend fächert er zudem die Problematik des Verhältnisses
ästhetischer und disziplinierender Übungen auf.6 In einer Konklusion wirft Menke dann eine
erweiterte Perspektive auf die Differenz beider Übungsweisen und bedingt ihren Gegensatz
nicht in den Inhalten, Zwecken oder Verfahren der Übung, sondern lediglich in der
(Foucault’schen) Haltung, mit der sie ausgeführt wird.7 Da Menke nicht explizit von den
darstellenden Künsten bzw. vom klassischen Tanz(unterricht) spricht, soll an dieser Stelle basal
dargelegt werden, inwiefern es sich bei Tätigkeiten im Rahmen des klassischen
2 Diese speist sich aus Lehrtätigkeiten seit 2013 an unterschiedlichen Musikschulen sowie privaten Tanzschulen, vor allem an der New York City Dance School in Stuttgart und der Schule der Tanzkünste Saltazio in Hildesheim. Methodisch und inhaltlich fußt dieser Unterricht auf der eigenen tänzerischen Praxis als diplomierte Bühnentänzerin und auf den Grundlagen, die im Pädagogikunterricht im Rahmen der Tanzausbildung vermittelt wurden. 3 Zur Formulierung „ein“ klassischer Tanzunterricht: Im Folgenden wird jeweils der unbestimmte Artikel benutzt, wo sich die Verfasserin auf ihre pädagogische Arbeitsweise bzw. das angehängte Stundenprotokoll bezieht. Zwar kann angenommen werden, dass es sich in Unterrichtsdurchführungen anderer Pädagog*innen ähnlich verhält, dennoch wird diese Formulierung unter anderen auch deshalb vorgezogen, da sie keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt. 4 Siehe: Nikolai Tarassow: Klassischer Tanz. Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag, Berlin 2005 5 Vgl. Christoph Menke: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 285 6 Da sich diese Arbeit vorrangig mit den Unterscheidungen der Übungsformen und Subjektentwürfen befasst und sich hierin platztechnisch erschöpft, kann auf den Punkt der „normalisierenden Differenzvergessenheit“ (siehe Menke 2003, S. 296) in dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden. 7 Vgl. Menke 2003, S. 299
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Tanzunterrichtes mithin um „Übungen“ handelt, um Menkes Gedankengänge weiterführend
darauf anwenden zu können.
Zum Begriff der Übung zitiert Menke zu Beginn Michel Foucault: „Keine Technik […] läßt
sich ohne Übung erwerben; auch die Kunst des Lebens, […] die Übung eines selbst durch sich
selbst […].“8 Diese Definition einerseits steht einer zweiten aus einem weiteren Kontext
gegenüber: „Die Übung ist nämlich jene Technik, mit der man den Körpern Aufgaben stellt,
die sich durch Wiederholung, Unterschiedlichkeit und Abstufung auszeichnen.“9 Methodisch
werden Bewegungen in einem klassischen Tanzunterricht vielfach wiederholt, sowohl
innerhalb einer Stundeneinheit als auch darüber hinaus über eine größere zeitliche Spanne.10
Diese Wiederholungen zielen nicht nur darauf ab, den Körper entsprechend zu trainieren und
motorische Abläufe zu prägen, sondern sie aspirieren auch eine Verbesserung, Verfeinerung
und Ausformung in der jeweiligen Ausführung. Zu diesem Zweck werden Inhalte gelegentlich
auch modifiziert und leiten die Tanzenden graduell bestenfalls hin zu einer perfektionierten
Version der Bewegung und darüber hinaus zu einer künstlerischen Persönlichkeitsentwicklung
als „plastische[s] Ausdrucksmittel“11 in lebenspraktischer Anwendung. Fußend auf den oben
definierten Parametern für Übungen nach Menke/Foucault lassen sich folglich das hier
dargelegte Verständnis und die Charakteristika eines Ballettunterrichts zusammenführen.
Damit lässt sich der klassische Tanzunterricht als Raum begreifen, in welchem Übung vielfach
stattfindet.
Menke bestimmt die Übung wesentlich als Medium zur Konstitution von Subjektivität und zur
Herausbildung von Subjekten.12 Angeleitet von diesem Gedankengang wird in den
anschließenden Unterkapiteln jeweils erörtert, wie unterschiedliche Subjektentwürfe in einem
klassischen Tanzunterricht konzipiert werden. Die vorliegende Arbeit geht dabei im
Wesentlichen auf die nachfolgenden Unterscheidungen nach Menke ein und artikuliert anhand
der tabellarisch aufgelisteten Gesichtspunkte, inwiefern und in welcher Form sich diese in
einem klassischen Tanzunterricht potentiell entfalten.
8 Michel Foucault, zitiert in: Menke, Christoph: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und äs-thetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 283 9 Michel Foucault, zitiert in: Menke, Christoph: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und äs-thetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003, S. 284 10 In meiner pädagogischen Praxis behalte ich einen Trainingsablauf (Exercicen an der Stange und in der Mitte) meist über ca. 4–6 Wochen hinweg bei. 11 Tarassow 2005, S. 21 12 Vgl. Menke 2003, S. 284
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Kategorie Disziplinierende Übungen Ästhetische Übungen
Ausrichtung Ausführen, „erfolgreiche“
Ausführung13
Sich-führen-Können, „gut“ für die
eigene Lebensführung14
Subjekte Hervorbringung von Subjekten, die
normal sind oder funktionieren15
Herausbilden von Subjekten, die
ihr Leben in Autonomie oder
persönlicher Entscheidung führen
können16
Zugewinn an
Fähigkeiten
= Zugewinn an Freiheit (im Rahmen
der Normalitätsgrade)17
= Zuwachs von Autonomie18
Normative
Orientierung
„gut“ und „richtig“ vorgegeben19 Individuum entscheidet sich frei
für Vorschriften und Verbote20
Tabelle 1, eigene Darstellung
2.1 Konzeption des Subjektes in disziplinierenden21 Übungen Im Training selbst arbeiten die Schüler*innen stetig an der motorischen Ausführung von
Bewegungen. Hierfür werden Bewegungen graduell erarbeitet (z. B. durch einen
schablonenartigen Übungskatalog an der Stange, siehe Stundenprotokoll im Anhang: II.1–8)
und sind genaustens bestimmt, während eine „exakte und saubere Tanztechnik“22 angestrebt
wird. Der Fokus liegt signifikant darauf, diese definierten Abläufe systematisch immer wieder
zu durchlaufen – mitunter allein an den Zweck des Übens gebunden – und sich propriozeptiv23
zu schulen. Die Stunden sind „von der endlosen und rücksichtslosen Wiederholung und
Präzisierung bereits gelernter und neu zu erarbeitender Beispiele der Technik angefüllt“24.
Dadurch arbeiten die Lernenden daran, ihren eigenen Körper kinetisch mit einer idealen
Vorstellung der auszuführenden Bewegung abzugleichen und sich dieser anzunähern. Der
Organismus wird dergestalt als „Mechanismus“ rubriziert, welcher sich einer gewissen
13 Vgl. Menke 2003, S. 292 14 Ebd. 15 Vgl. Menke 2003, S. 290 16 Ebd. 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Vgl. Menke 2003, S. 291 20 Vgl. Menke 2003, S. 292 21 Menke hantiert in seinem Text diesbezüglich mit unterschiedlichen Begriffen („Disziplinarmacht“, „disziplinäres Subjekt“, „disziplinierende/disziplinäre Übungen“). Ohne an dieser Stelle eine nuancierte Unterscheidung vorzunehmen, entscheidet sich diese Arbeit für die hier genannte Formulierung. 22 Nikolai Tarassow: Klassischer Tanz. Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag, Berlin 2005, S. 21 23 Propriozeption wird in dieser Arbeit verwendet anhand einer Definition von Stephan Brinkmann: „Bei der Propriozeption werden die eigenen Muskelbewegungen gefühlt, indem Rezeptoren, die sich in Gelenken, Muskeln, Sehnen, der Haut oder den Augen befinden, Informationen an das Gehirn senden.“ Siehe: Stephan Brinkmann: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Transcript Verlag, Bielefeld 2012, S. 71 24 Tarassow 2005, S. 34
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Anweisung unterordnet und danach bewertet wird, inwiefern er neuronalen Befehlen Folge
leisten kann. Lehrkraftäußerungen wie „klappt das?“ (siehe III.4) oder etwa die Nachfrage,
inwiefern etwas „funktioniere“, unterstützen zusehends ein solches Körperbild.
Diese Ausführung strebt nach einer regelrechten Erziehung des Organismus und ist damit auch
explizit an Regeln und Normen gebunden. Der „immanente Gelingensstandard“25 ist hier der
kanonisierte und klar definierte Bewegungskatalog des klassischen Tanzes, der sich etwa auch
im Sprachstil der Bewegungsbeschreibungen manifestiert: „Um die Standfestigkeit zu erhöhen,
müssen [Hervorhebungen d. V.] folgende Regeln unbedingt beachtet werden: Die Fußsohle
muß […]. Die Zehen müssen [...]. Man darf [...] nicht […].“26 Gleichfalls visualisiert sich diese
Orientierung am Normativen als normalisierender Prozess grundlegend in der hierarchischen
Struktur des Unterrichts: Lehrende fungieren hier als regelkennende und normunterweisende
Instanz, welche die Lernenden konform dieses universalen Geltungsstandards im Tanzsaal
„sozialisiert“. Nach und nach erweitern die Schüler ihr Repertoire und erlangen damit
zusätzliche Freiheit, sich innerhalb vorgegebener kinetischer Muster zu bewegen. Im
Besonderen ist damit die von Menke für die disziplinierende Übung vorherrschende
Unterscheidung zwischen „gut/richtig“ und „schlecht/falsch“ (= normabweichend) zu
konstatieren. Die Bewertungen durch die Lehrperson (siehe etwa II.6: „viel besser geworden“,
II.1: Nachspüren von „falscher“ und „korrekter“ Ausführung) beziehen sich maßgeblich auf
diese Vorgaben, ebenso verweisen Nachfragen der Schüler*innen auf bereits tradierte
Kategorisierungen (siehe II.2: „Ist das ‚richtig‘ so?“). Auf diese Weise entsteht durch
disziplinierende Übungen ein Subjektentwurf mit den dargestellten Charakteristika, der in
einem klassischen Tanzunterricht gefördert, geformt und ausgebildet wird.
2.2 Konzeption des Subjektes in ästhetischen27 Übungen Allein durch die Bindung an den eigenen Körper (der durch die ballettische Ausbildung zudem
mitgestaltet wird) ist jegliches Handeln im Tanzsaal unmittelbar mit Bereichen außerhalb davon
verwoben. Sich selbst führen zu können, „aktiv und emotionell […] zu gestalten“28 und der
autonome Wille zur Schönheit sind dabei wesentliche Bestandteile wie auch Ziele von
Übungen.29 Denn gleichzeitig sind die Tanzenden durch die Lehrkraft dazu angehalten, nicht
in einen äußerlichen Technizismus zu verfallen. Vielmehr steht im Vordergrund, zu einem
25 Menke 2003, S. 288 26 Tarassow 2005, S. 43 27 Auch dazu verwendet Menke unterschiedliche Begriffe teilweise synonym („Ästhetik der Existenz“, „ästhetisch-existentielles Subjekt“, „ästhetische Übungen“). Wieder wird hier bewusst nur eine Formulierung aufgegriffen und beibehalten. 28 Tarassow 2005, S. 37 29 Vgl. Menke 2003, S. 291
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persönlichen Ausdruck zu animieren, der sich kaum akademisch anerziehen ließe. Damit
erweitert sich auch der Zweck des Übens vom trainierenden, körperschulenden Aspekt um
einen ausdrücklich ästhetischen. Angesprochen ist die Entwicklung einer Bewegungsqualität,
die im Tanzjargon auch mit „Austanzen“ (vgl. III.6 oder auch III.2: „Tanzen mit Herz“)
umschrieben wird. Dies geschieht häufig in Verbindung mit dem Bestreben, für ein potentielles,
imaginäres Publikum zu tanzen und damit den Tanzaspekt der Exercicen gegenüber dem
Trainingsaspekt hervorzuheben. Dieses Vorstellungsvermögen wird bestenfalls nicht nur
abstrakt für die Bühne etabliert, sondern bedarf der (alltäglichen) Übungsarbeit.30 Oftmals wird
sogar implizit oder explizit auf eine simulierte Bühnensituation vonseiten der Lehrperson
verwiesen (II.5/III.5/III.6). Im Vergleich zu der „Ausführung“ steht also signifikant die
„Aufführung“ im Vordergrund.
Dabei sollen Subjekte nicht nur mächtig werden, technisch über einen ihnen eigenen
Bewegungsfundus zu verfügen, das Tanzen ist auch Resultat der persönlichen Freiheit, die
eigene Freizeit willentlich als gut für sich selbst zu gestalten.31 Übungen ermächtigen die
Lernenden hierbei, aktiv die eigenen Bewegungsgrenzen zu erweitern und Gelerntes auf Basis
der persönlichen Entscheidung auch andernorts im Lebensumfeld zu übertragen. In diesem Fall
ist der von Menke beschriebene Zugewinn an Fähigkeiten mit dem Zuwachs an Autonomie
gleichgesetzt.32 Im Saal gelten weiterhin die besagten Regeln und Normen, aber das Individuum
entscheidet sich aus freiem Willen zum Handeln und tritt damit stärker individualisiert als
sozialisiert auf. So entsteht als Gegenstück zu disziplinierenden Übungen durch ästhetische
Übungen ein Subjektentwurf mit ebendiesen Eigenschaften, der gleichfalls in einem
klassischen Tanzunterricht gefördert, geformt und ausgebildet wird.
2.3 Verhältnis der Subjektentwürfe im Unterricht
Wichtig für den weiteren Verlauf der Arbeit ist es an dieser Stelle, die dargelegten Perspektiven
auf Subjektentwürfe im klassischen Tanzunterricht nicht getrennt voneinander gültig zu
machen. Auch hier folgt die Verfasserin den Grundgedanken Menkes, für die jeweils die
Haltung relevant ist, mit der die Übungen ausgeführt werden.33 Innerhalb disziplinierend
intendierten Übungen bildet sich das disziplinäre Subjekt, innerhalb der ästhetisch intendierten
das ästhetische Subjekt. Letztendlich bilden sich sowohl das disziplinäre als auch das
ästhetische Subjekt jedoch parallel im Unterricht aus, womöglich je nach Zielvorgabe lediglich
30 Vgl. Tarassow 2005, S. 38 31 Diese Annahme bezieht sich hier lediglich auf den im Beispiel auch gegebenen Hobby-/Amateurbereich, der grundlegend nicht einem derartigen Drill unterliegt, wie es im professionellen Bereich potentiell der Fall sein mag. 32 Vgl. Menke 2003, S. 290 33 Vgl. Menke 2003, S. 299
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mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Die dargestellten Subjektentwürfe fundieren also nicht
auf zwei unterschiedlichen, autark voneinander initiierten Übungsarten, sondern sind vielmehr
zwei Perspektiven, die sich innerhalb derselben Übungen mehr oder weniger entfalten. In
beiden Fällen beginnt jedwede Subjektkonstitution „damit, dass sich ein Akteur herausbildet,
der sich selbst zu führen vermag“34. In einem klassischen Tanzunterricht werden also bewusst
(durch explizite sprachliche Artikulation sowie kinästhetische Zielsetzung) und unbewusst
(implizit durch das davon durchdrungene Unterrichtskonzept) in Übungen unterschiedliche
Subjektentwürfe entwickelt. In einer disziplinierenden Dimension zielen Übungen „darauf,
Fähigkeiten der Selbstführung zu gewinnen, die nach der sozial geteilten ‚Norm‘ der
auszuführenden Praxis für diese Praxis gut sind“35. Dahingegen intendieren Übungen in einer
ästhetischen Dimension Fähigkeiten der Selbstführung, „die nach der individuellen
‚Entscheidung‘ eines Subjektes für es selbst gut sind“36.
Menke postuliert ferner, dass beide Formen in einem Verhältnis irreduzibler Spannung stünden
und folglich gegeneinander gerichtet auftauchen,37 sich regelrecht gegenübertreten müssen.
Eine solche Gegenüberstellung lässt sich auch in einem klassischen Tanzunterricht beobachten.
Mehrfach erwirkt die Zuwendung zu einer ästhetisch übenden Ausführung quasi
antiproportional einen Verlust disziplinierender Fokussierung (siehe etwa III.2: Mit dem
Impuls, die Bewegung selbst zu spüren und eine Aufführungsatmosphäre zu etablieren, erfolgt
zunächst eine technische Vernachlässigung). Zumindest scheinen beide Subjektentwürfe in den
Schüler*innen für Konflikte zu sorgen, die sich auch sichtbar niederschlagen. Technische
Probleme tauchen dann mitunter dort auf, wo beide Subjektentwürfe divergente Impulse geben
und damit kollidieren (vgl. III.4: Blickrichtung zum Publikum ≠ Spot in Drehrichtung).
Einerseits versteht sich das Subjekt als trainierendes Subjekt und wird als solches auch zur
normgerechten physischen Ausführung angehalten, andererseits gilt es, einem Ideal zu
entsprechen, das Bewegungen zu etwas höchst Ästhetischem, beinahe den Körper Negierenden,
formiert. Tatsächlich offenbart sich hierin eine zentrale Herausforderung für den/die
Balletttänzer*in, beiden Ansprüchen gleichfalls gerecht zu werden und in einer Synthese
aufgehen zu lassen. Während Schüler*innen also dieselben Übungen mit unterschiedlichen
Haltungen und Subjektvorstellungen ausführen, montieren sie sich als Subjekte aus beiden
Entwürfen, als Tanzende gleichfalls aus dieser zunächst binär erscheinenden Struktur zu einer
Einheit. „Montage“ versteht sich hier nach dem Metzler Lexikon als ästhetisches Verfahren, in
34 Menke 2003, S. 296 35 Menke 2003, S. 291 36 Ebd. 37 Vgl. Menke 2003, S. 293
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welchem „aus urspr. separaten Teilen unterschiedlicher Herkunft etwas Neues“38
zusammengesetzt wird. In dieser Montage ist nicht nur die Raumstruktur als Rahmung eines
Ballettunterrichtes von fundamentaler Bedeutung, desgleichen lässt sie sich bei der
nachfolgenden näheren Betrachtung des Spiegels veranschaulichen und intensiver erörtern.
3. Die Bedeutung des Spiegels für die Subjektkonstitution Tanzender
Bereits im Raumaufbau übernimmt der Spiegel im Tanzsaal eine zentrale Funktion: Er teilt den
Raum in Beobachtende und Beobachtetes. Die uneingeschränkte Blickrichtung zum Spiegel ist
stets frei und wird auch im Exercice-Ablauf berücksichtigt (etwa III.1: Bei der
Bewegungsdurchführung in mehreren Gruppen sind Schüler*innen aufgefordert, den
Tanzbereich auf direktem Weg nach vorne-seitlich zu verlassen).
In den oben beschriebenen Subjektkonzeptionen übernimmt der Spiegel diverse Funktionen.
Zunächst konsolidiert er in disziplinierenden Übungen den Aspekt der Selbstkontrolle, er ist
gewissermaßen „autorisierte Institution zur Überwachung“39, mit der die Balletttänzer*innen
ihr Aussehen und ihre Bewegungen kontrollieren.40 Auf diese Weise markiert er den Tanzsaal
als Arbeitsraum, für den er selbst zum Werkzeug wird. Er ist physikalische Reflexion des
eigenen Körpers und ermöglicht Reflexion darüber. Damit „begreift sich der Mensch als ein
zerstückelter, da er sich nur in gespaltener Form erkennen kann: als Erkennender und als
Erkanntes – was sich notgedrungen gegenübersteht“41. In einem Stundenverlauf zeigt sich, dass
besonders im ersten Stundenteil vielfach auf diese Weise mit dem Spiegel gearbeitet wird.
Vorrangig fungiert er hier als Kontrollinstanz, die Informationen über mimische Gesten
vermittelt,42 mit Hilfe derer Tanzende Bewegungskorrekturen umsetzen (II.) und ihre innere
Empfindung mit einem Bild aus einer anderen Perspektive abgleichen können (II.1). Hierbei
wird stellenweise sogar dieses Abbild zum Maßstab für beispielsweise die richtige
Körperposition (II.4). Das Ich wird zum Beobachtenden, zum Anderen43 und ist prioritär der
propriozeptiven Wahrnehmung sogar übergeordnet. So verweist das Spiegelbild stetig auf die
eigene leiblich-körperliche Existenz44 und verhilft zudem, die Rezeption zu schulen.
38 Eckart Voigts-Virchow: Montage/Collage. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2004, S. 472 39 Robert Gugutzer: Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002, S. 246 40 Vgl. Gugutzer 2002, S. 208 41 Sabrina Dunja Schneider: Das Konzept ‚Mensch‘: Der Mensch zwischen kultureller Einschreibung und diskursiver Produktion. Tectum Wissenschaftsverlag, Marburg 2016, S. 202 42 Vgl. Wolfgang Prinz: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013, S. 97 43 Prinz spricht diesbezüglich von der „Ersten-“ und „Dritten-Person-Perspektive“, siehe Prinz 2013, S. 98 44 Vgl. Gugutzer 2002, S. 245
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Ausführende werden zu Betrachtenden und erlangen damit eine zur Reflexion nötige Distanz,45
da der Spiegel hier ein Duplikat des Selbst liefert, welches zum Ausgangspunkt für
Veränderung wird.
In der Konzeption des ästhetischen Subjektes gestaltet sich die Beziehung zum Spiegel eminent
anders. Hier gradiert er den Tanzsaal nicht mehr zum Probenraum, sondern etabliert einen
(imaginären) Bühnenraum, in welchem er Spielzeug46 wird. Er wird zum Medium, das den
Menschen erweitert und dessen „innere[n] Wahrnehmungsprozesse […] im Außen ansichtig“47
werden lässt. Interessant ist dabei, dass er nun einerseits die Grenze zwischen „Bühne“ und
„Publikum“ markiert und in der Raumaufteilung auch sozusagen zur virtuellen Rampe wird,
andererseits durchbricht er gleichsam ebendiese Grenze und offeriert scheinbar einen Bereich
jenseits der vierten Wand – absurderweise die eigene Spiegelung, was ja von einer realen
Bühnensituation stark divergiert. Analog dazu tritt seine Kontrollfunktion in den Hintergrund
zugunsten einer freieren Entfaltung des Subjektes, die tänzerischen Ausdruck hervorbringt.
Wegweisendes Stichwort dafür ist die Repräsentation. Im Gegensatz zur anatomischen
Zerlegung offenbart sich hierin das Interesse an der Ausdrucksfähigkeit des Körpers im
Ballett.48 Während disziplinierende Übungen den Körper in Einzelteile zerlegen, erscheint er
nun „zusammengesetzt als Kunst-Körper“49, um dann „wieder auf der Bühne inszeniert zu
werden“50. Tanzende erleben sich so als vornehmlich ästhetisch agierende Wesen durch ihr
virtuelles Abbild. Dieses Abbild wird mit dem Blick des Publikums gleichgesetzt (siehe III.).
Die Schüler*innen begeben sich in eine spielerische Simulation einer Aufführungssituation, in
der der Spiegel die Position der Zuschauenden fingiert (siehe III.6). Dabei beobachten sie sich
selbst, wobei diese Betrachtung durch die Inszenierung einer Präsentation gewissermaßen
tabuisiert wird: Ziel ist es, sich der Reflexion gewahr zu werden und dieses Bewusstsein
gleichzeitig nicht nach außen zu transportieren.
Indessen und ungeachtet dieser changierenden Beziehungen zum Spiegel bleibt der Raum
natürlich derselbe Tanzsaal. In beiden Subjektkonzeptionen wird der Spiegel nur
45 Interessant ist hier auch die Philosophie Bourdieus, nach der die Ich-Identität habituell geprägter Subjekte nur über einen Distanzierungsprozess kognitiv-reflektorischer Art möglich sei. Elk Franke befasst sich im angegebenen Band intensiver mit der Frage, wie es eine Reflexion im Vollzug geben kann, siehe Elk Franke: Erfahrung von Differenz. In: Gugutzer, Robert (Hg.): Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Transcript Verlag, Bielefeld 2006, S. 193 46 „Spielzeug“ versteht sich hier nicht als konkretes Material, sondern mehr in dem Sinne, dass Tanzende auf spielerische Weise mit ihm in Beziehung treten. 47 Elisabeth Günther: Konfigurationen des Unheimlichen: Medien und die Verkehrung von Leben und Tod in Elfriede Jelineks Theatertexten. Transcript Verlag, Bielefeld 2018, S. 296 48 Vgl. Schneider 2016, S. 180 f. 49 Gabriele Klein: Tanz & Medien: Un/Heimliche Allianzen. In: dies. (Hg): tanz bild medien. Tanzforschung, Bd. 10. LIT Verlag, Hamburg 2000, S. 10 50 Ebd.
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unterschiedlich gehandhabt und ebendiese unterschiedliche Beziehungsform gibt der Montage
des tanzenden Subjektes eine buchstäbliche Oberfläche. Nun fallen im Tanz Rezeption und
Repräsentation zusammen51 und im Spiegel wird dies auf besondere Weise visualisiert, er
macht die Trennung und Verschmelzung von Ausführung und Aufführung transparent. „Die
für die Reflexion notwendigen distanzierenden Perspektiven ergeben sich […] aus einem
korrigierenden Switchen der Handlungs- und Beobachterperspektive im eigenen Tun“52, das
der Spiegel initiiert und fördert. Im Unterrichtsverlauf lässt sich insgesamt eine implizite
Dramaturgie erkennen (siehe Spalte 6 und 7 des tabellarischen Stundenprotokolls im Anhang).
Ist der Spiegel vor bzw. zum Stundenbeginn zunächst alltägliches Gebrauchsobjekt (I.1), dient
er während den Exercicen an der Stange vor allem als Kontrollinstanz für Bewegungen. Die
Wendung während der Übungen auf der rechten und auf der linken Seite soll stets zur Stange
und vom Spiegel weg geschehen. Dies hat unter anderem praktischen Hintergrund (Greifnähe
der Stange), verstärkt jedoch zudem den Charakter der Ausführung gegenüber der Aufführung.
Im Fortlauf der Stunde wird er verstärkt auch zur Propriozeption wirksames Werkzeug (II.7),
vor allem in den Übungen in der Mitte verschmelzen seine ästhetische und praktische Funktion
(III.). Speziell im Freitanz bei Übungen durch den Saal und längeren Kombinationen wird die
simulierte Publikumsanwesenheit forciert und das Spiegelbild wird zur Imagination dessen,
was ein potentielles Publikum sehen würde. In der doppelten (höchst reziproken und
gleichzeitig extravertierten) Funktion des Spiegels konturiert sich der/die Tänzer*in montierend
als ganzheitlicher Körper.53
4. Fazit: Ein klassischer Tanzunterricht als Montageraum Im klassischen Tanzunterricht sehen sich Tanzende häufig mit scheinbar widersprüchlichen
Anforderungen konfrontiert. Einerseits speist sich das Bild des Balletttänzers/der
Balletttänzerin aus einem höchst ästhetischen Kunstkörperideal, aus Menschen, die
leidenschaftlich einer auf Ästhetik ausgerichteten Kunstform anhängen, andererseits existiert
die Vorstellung einer von starken Restriktionen und Normen geprägten Disziplinform. Anhand
von Menkes Definition von „Übungen“ nach Foucault ließ sich auch der klassische
51 Vgl. Janine Schulze: Du musst Dir ein Bildnis machen, oder Tanzen ist Denken. In: Birringer, Johannes/Fenger, Josephine (Hg.): tanz im kopf. Dance and cognition. Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 15. LIT Verlag, Münster 2005, S. 114 52 Elk Franke: Erfahrung von Differenz – Grundlage reflexiver Körper-Erfahrung. In: Gugutzer, Robert (Hg.): body turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Transcript Verlag, Bielefeld 2006, S. 202 f. Frank bezieht sich hier zwar vornehmlich auf Skiläufer, in diesem Fall lassen sich die Erkenntnisse aber in Grundzügen auf den Tanz übertragen. 53 Vgl. Günther Schmidt: Identität und Body-Image. Die soziale Konstruktion des Körpers. Dissertation ohne Verlag, Tübingen 2001, S. 51. Schmidt erweitert diesen Gedanken noch zudem, indem er Identität und körperbezogene Reflexivität explizit verknüpft. Danach konstruieren sich Körperbilder aus der Verschränkung von Leiblichkeit und Körperlichkeit, die sich im Spiegel offenbart.
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Tanzunterricht als Übungsraum konstatieren. Nachdem die Übung bei Menke als wesentliches
Medium zur Herausbildung von Subjekten gilt, wurde darauf aufbauend dargelegt, welche
Subjektentwürfe in einem klassischen Tanzunterricht entwickelt werden. Auf der einen Seite
steht die Subjektkonzeption in disziplinierenden Übungen: In stetigen Wiederholungen
erstreben die Schüler*innen eine Perfektionierung von Tanztechnik, wobei der Körper
anatomisch zerlegt wird und die Bewegungsausführung im Vordergrund steht. Klare Normen
manifestieren sich nicht nur im Sprachgebrauch, sondern zeigen sich auch in der Hierarchie
und gründen auf akademischen und sehr traditionellen Verfahrensweisen im klassischen Tanz.
Auf der anderen Seite steht die Subjektkonzeption in ästhetischen Übungen: Schüler*innen
erproben im Unterricht Methoden, um im Bereich der Selbstführung zu wachsen und werden
darin geschult, sich künstlerisch zu entfalten. Dieser Prozess ist oft eng an die Etablierung einer
imaginären Bühnensituation gebunden, die auch in pädagogischen Anweisungen forciert wird.
Indem die Individualisierung im Vordergrund steht, verpflichten sich die Tänzer*innen
freiwillig dazu, sich verbindlich an Vorschriften zu halten, da sie überzeugt davon sind, dass
diese dem Guten der eigenen Lebensführung – womöglich auch indirekt durch empfundenes
Vergnügen und Spaß am Tanzen – dienen. Diese zwei Subjektentwürfe sind nicht autark
gedacht, vielmehr beschreiben sie zwei unterschiedliche Dimensionen derselben Übungen, in
der sich „das“ Subjekt konstituiert. In einem klassischen Tanzunterricht müssen sie sich
zwangsläufig gegenübertreten – beide Funktionen in der Übung gleichsam wirksam zu machen
repräsentiert eine zentrale Anforderung des Ballettlernens. Als Konsequenz der
konkurrierenden Subjektentwürfe montiert sich der/die Tänzer*in, diese Montage lässt sich –
sinnbildlich und konkret – in einer näheren Betrachtung des Spiegels veranschaulichen.
Einerseits kennzeichnet dieser in disziplinierenden Übungen den Saal als Arbeitsraum, worin
er als Kontrollinstanz auftritt, Rezeption ermöglicht und das Selbst dupliziert. Andererseits
inszeniert er in ästhetischen Übungen den Saal als Bühnenraum, in dem sich Subjekte entfalten
können, wobei ihr Abbild mehr als Repräsentation des Selbst ästhetischen Charakter hat. Dass
im Tanz Rezeption und Repräsentation, Ausführung und Aufführung zusammenfallen, wird im
Spiegel und durch ihn auf besondere Weise evident. Unterdessen zeigt ein exemplarischer
Stundenverlauf eine gewisse Dramaturgie des Spiegelgebrauchs, in der man auch
Schwerpunkte disziplinierender und ästhetischer Übungen im Unterricht beobachten kann.
Zusammenfassend lässt sich aus den bisherigen Überlegungen schließen, dass sich im Tanzsaal
in erster Linie ein Raum eröffnet, in dem sich das Subjekt als Ganzes aus der Arbeit an
unterschiedlichen Subjektentwürfen konstituiert. Aus einer erweiterten Perspektive ließe sich
dieser Raum somit als Montageraum für Tänzer*innen betiteln. Sucht man danach, Menkes
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13
Perspektive auf Übungen auch für den klassischen Tanzunterricht geltend zu machen, zeigt dies
zunächst, warum und inwiefern Tänzer*innen oftmals mit Ansprüchen eines Ballettunterrichts
zu kämpfen haben und warum sich eine Fixierung auf beide Übungsformen gleichzeitig so
komplex darstellt. Außerdem könnte das Bewusstsein um zweierlei Übungsweisen nach Menke
vor allem Tanzpädagog*innen in der Unterrichtsplanung (etwa darin, wie sie den Spiegel
bewusst einsetzen) bereichern. An dieser Stelle wird deshalb vorgeschlagen, Menkes benannte
„Gegnerschaft“54 beider Übungsformen für den klassischen Tanzunterricht eher als
Komplementarität zu denken. Die Montage des Tänzers/der Tänzerin steht damit stellvertretend
für die Überwindung der Dichotomie von Subjektentwürfen: Obwohl sich beide
Subjektkonzeptionen gegenüberstehen, geschieht eine gelingende Umsetzung der Übung nur in
der Wechselseitigkeit – in der „Überschreitung jedes vorweg gesetzten Ziels“55, in der sich
beide Dimensionen ergänzen und ineinander aufgehen.
54 Menke 2003, S. 294 55 Menke 2003, S. 298
-
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II. Quellenverzeichnis • Brinkmann, Stephan: Bewegung erinnern. Gedächtnisformen im Tanz. Transcript Verlag,
Bielefeld 2012
• Foucault, Michel, zitiert in: Menke, Christoph: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und äs-thetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
• Franke, Elk: Erfahrung von Differenz. In: Gugutzer, Robert (Hg.): Body Turn. Perspektiven der Soziologie des Körpers und des Sports. Transcript Verlag, Bielefeld 2006
• Gugutzer, Robert: Leib, Körper und Identität. Eine phänomenologisch-soziologische Untersuchung zur personalen Identität. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002
• Günther, Elisabeth: Konfigurationen des Unheimlichen: Medien und die Verkehrung von Leben und Tod in Elfriede Jelineks Theatertexten. Transcript Verlag, Bielefeld 2018
• Klein, Gabriele: Tanz & Medien: Un/Heimliche Allianzen. In: dies. (Hg): tanz bild medien. Tanzforschung, Bd. 10. LIT Verlag, Hamburg 2000
• Menke, Christoph: Zweierlei Übung. Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz. In: Honneth, Axel/Saar, Martin (Hg.): Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption. Frankfurter Foucault-Konferenz 2001. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
• Prinz, Wolfgang: Selbst im Spiegel. Die soziale Konstruktion von Subjektivität. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013
• Schmidt, Günther: Identität und Body-Image. Die soziale Konstruktion des Körpers. Dissertation ohne Verlag, Tübingen 2001
• Schneider, Sabrina Dunja: Das Konzept ‚Mensch‘: Der Mensch zwischen kultureller Einschreibung und diskursiver Produktion. Tectum Wissenschaftsverlag, Marburg 2016
• Schulze, Janine: Du musst Dir ein Bildnis machen, oder Tanzen ist Denken. In: Birringer, Johannes/Fenger, Josephine (Hg.): tanz im kopf. Dance and cognition. Jahrbuch Tanzforschung, Bd. 15. LIT Verlag, Münster 2005
• Tarassow, Nikolai: Klassischer Tanz. Die Schule des Tänzers. Henschel Verlag, Berlin 2005 • Voigts-Virchow, Eckart: Montage/Collage. In: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon
Literatur- und Kultur-theorie. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg 2004
-
15
III. Anhang
-
Ex
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uf: T
ab
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15
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Klassisch
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menstellung: 14 M
ädchen, 1 Junge A
lter: 12–16 Jahre T
anzerfahrung: gemischt, zw
ischen 2 und 8 Jahren
B
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g
I.1
Vor/Z
um
S
tun
den
beg
inn
B
egrüßung, A
nkomm
en im
Saal
Anw
eisung zum
raschen Stundenbeginn D
ie Schüler betreten den Saal, suchen sich einen Platz an einer Stange
Vor Stundenbeginn
anwesende
Schüler*innen benutzen den Spiegel zur K
ontrolle von Frisur und/oder K
leidung
Der Spiegel zunächst als
alltägliches Objekt
I.1
Stu
nd
enb
egin
n
Platzierung der Schüler*innen an der Stange, V
orzeigen der ersten Ü
bung
Kom
mentare zum
Stundenverlauf, allgem
eine A
nweisungen zum
T
raining nach den Ferien
In der direkten K
omm
unikation nicht relevant
II E
xercicen a
n
der S
tan
ge
Diverse
Übungen zu
Musik, die
getrennt rechts und links ausgeführt w
erden
Korrekturen zw
ischen den Ü
bungen/Seiten sow
ie während der
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Ansagen oder
Körperkontakt
Je nach R
aumposition
seitliche oder frontale A
usrichtung zum
Spiegel, von L
ehrenden auch als E
rweiterung des
Sichtbereichs zur K
ontrolle genutzt
Eigenkontrolle durch den
Blick in den Spiegel,
Um
setzung von B
ewegungskorrekturen
II.1
Pliés A
ufforderung zur N
utzung des Spiegels zur K
ontrolle der
Die Schüler
unterbrechen die Ü
bung und führen
Sichtkontakt, bew
usstes Nachspüren
von „falscher“ und
Spiegel als Kontrollinstanz
für die Bew
egung,
-
korrekten Ausdrehung
beim B
eugen der Knie
die Bew
egung ohne M
usik aus, w
ährend sie den Spiegel nutzen
„korrekter“ A
usführung A
bgleich von innerer E
mpfindung und
Außenw
ahrnehmung
II.2
Battem
ents tendus
Allgem
eine K
orrekturen: • Füße ganz strecken,
Zehen jedoch nicht
krallen • B
ewegung des ganzen
Fußes
Kurzes
Ausprobieren
zwischen rechter
und linker Seite, N
achfragen vonseiten einer Schülerin: „Ist das richtig so?“
II.3
Battem
ents jetés
Allgem
eine K
orrekturen: •
Stärkere A
kzentuierung des jetés
II.4
Ronds de
jambes
Allgem
eine K
orrekturen: •
Stärkere E
inbeziehung des K
opfes •
Charakter der
Übung
verinnerlichen: gezogen, w
eich, fließend
„Die hintere Schulter
sollte im Spiegel nicht
zu sehen sein“
Schüler suchen das G
leichgewicht in
der H
erausforderung, den B
lick zum
Spiegel gerichtet zu halten, N
achjustieren der A
rabesque und ggfs. V
eränderung der Schulterlage im
Profil
Blick zum
Spiegel in der B
alance D
as wahrgenom
mene
Abbild bestim
mt explizit
die richtige Körperposition,
das im Spiegel G
esehene w
ird zum M
aßstab, Verw
eis auf den im
aginären Z
uschauenden
II.5
Battem
ents fondus
Allgem
eine Anw
eisung: entscheidend eher korrekte A
usführung als H
öhe der Beine
Mehrere halbe
Wendungen zur
und von der Stange nach welchen der
Blick nach außen über
die Hand gesucht w
ird
Einbezug des Spiegels unter
ästhetischen Aspekten,
Blick „zum Publikum
“ gleichgesetzt m
it Blick zum
Spiegel
-
„Erweiterung des
Sehfeldes“, Blick soll in die W
eite gehen, wache
Augen
Allgem
eine K
orrekturen: •
Hohe halbe
Spitze II.6
B
attements
frappés A
llgemeine A
nweisung:
Verinnerlichen der
Übungsreihenfolge
„viel besser geworden“
Die Schüler gehen
die Reihenfolge
jede*r für sich im
Kopf oder durch
Markieren der
Bew
egungen ohne M
usik durch
keine sonderliche B
lickkontaktaufnahme
Im
Nachspüren/N
achvollziehen der B
ewegung scheint der
Spiegel kaum vorhanden,
durch den Fokus nach innen schw
indet der Fokus nach außen
II.7
Dehnungen
Allgem
eine Anw
eisung: N
utzung der ganzen M
usik, Entspannung
der Muskeln, nach den
Ferien eher weniger als
zu viel, Aufforderung,
auf den eigenen Körper
zu hören
Hinw
endung zur Stange
Erst am
Ende der
Übung bei der freien
Dehnung ggfs. B
lick zum
Spiegel G
gfs. Beobachtung
der anderen Schüler über den Spiegel
Der Spiegel w
eniger als K
ontrollinstanz, vielmehr
zum A
bgleich von gespürter und tatsächlicher H
öhe des Beines
II.8
Grands
battements
Allgem
eine Anw
eisung: U
nabhängig von Höhe
des Beines „große Bew
egungen“ B
egleitung der B
ewegung m
it dem
Kopf
Blickrichtung
jeweils zur
Hand/über die
Hand
Einbezug m
it dem
Blick nach außen
Spiegel als Erw
eiterung der Sichtw
eite
III. E
xercicen in
d
er Mitte
A
ufforderung, einen Platz in der M
itte zu suchen
Nach einer kurzen
Pause stellen sich die Schüler in R
eihen zum Spiegel
ausgerichtet auf
Alle Ü
bungen werden
zunächst zum Spiegel
ausgeführt; v. a. durch verschiedene
Verschm
elzung ästhetischer und praktischer Funktion Z
unehmende G
leichsetzung des A
bbildes mit dem
Bild
potentiell Zuschauender
-
Raum
(aus)richtungen (croisé, écarté, effacé) stetiges C
hangieren der Position zum
Spiegel
Blick z
um
Publikum und
Imaginierter B
lick vom
Publikum
III.1
T
endus A
llgemeine
Anw
eisungen: E
rarbeitetes aus den Ü
bungen in der Stange nicht verlieren, sondern anw
enden und perfektionieren
Die Ü
bung wird in
zwei G
ruppen ausgeführt, nach A
bfolgenende verlassen die Schüler rasch die Saalm
itte und die nächste G
ruppe platziert sich
Blickrichtung zum
Spiegel ist stets freigegeben, A
ufstellung ist so gestaltet, dass sich jede*r sehen kann
III.2
A
dagio N
eue B
ewegungsabfolge
erklären und anleiten, zuerst frontal ausgerichtet, danach B
eobachten der Schüler m
it dem R
ücken zum
Spiegel aus „Publikum
sperspektive“ und w
eitere K
orrekturen →
Wechsel zw
ischen „Schüler-“ und „Publikum
s“-Perspektive A
nregung zum „Tanzen
mit H
erz“
Die Schüler gehen
unter Anleitung und
hernach alleine die A
bfolge im K
opf und anschließend zur M
usik andeutend durch
Es geht nicht um
die voll ausgeführte B
ewegung, teilw
eise erfolgt eine technische V
ernachlässigung, sondern vielm
ehr um
Richtungen,
Positionen und B
ewegungsphrasen
Spiegel zur Orientierung im
R
aum, hilft zudem
bei der M
emorierung, indem
die B
ewegung bei anderen
nachgeahmt w
erden kann
III.4
Pirouetten
Erklären und K
orrektur der B
lickrichtung, trockenes Ü
ben, „klappt das?“
Die Schüler führen
die B
ewegungsabfolge
aus der Ecke über
u. a. Schwierigkeit,
Blickrichtungen zu
unterscheiden (Spot in der D
rehung zur
-
die volle Saaldiagonale zur gegenüberliegenden E
cke aus
Ecke), unw
illkürliches Sehen in den Spiegel
III.5
Petit allegro: E
inspringen und Sprünge
Anordnung, das
Spiegelbild zu beobachten und zu analysieren A
ufforderung, die B
ewegung nach hinten
(weg vom
Spiegel) auszuführen
Korrektur der
Haltung
Spontane V
erwirrung und
Neuordnung, als
handele es sich um
eine neue B
ewegung und die
Schüler müssten
sich der Abfolge
neu vergewissern,
vermehrte Fragen
zum A
blauf und zur A
usführung
→durch das durch den
Spiegel W
ahrgenomm
ene V
eränderung der Perspektive, der Spiegel ist nun im
R
ücken
Spiegel als Maßstab für die
richtige Ausführung, in der
Priorität in dem M
oment
dem innerlich G
espürten übergeordnet K
urzzeitiger Verlust des
Ankerpunktes im
Raum
III.6
G
rande allegro A
nregung zum „(A
us-)Tanzen“ G
roße B
ewegungsfreiheit,
wenig K
orrekturen U
nterstützung der Im
agination einer B
ühnenszene durch B
ilder und/oder U
mrahm
ung durch H
andlung
Ausführung des
Grande A
llegros über die D
iagonale
Technik
hintergründig, spielerische Sim
ulation einer A
ufführungssituation, in der der Spiegel die Position der Z
uschauenden fingiert
Verstärkung des
Publikumaspektes
VI
Rév
érence
Im
ersten Durchlauf
Mittanzen, danach
Beobachterperspektive
Übung w
ird frontal zum
Spiegel in B
eim Schließen der
Augen ist das
Gleichgew
icht vorerst
Übergang von starker
Extroversion und Fokus auf
-
Am
Ende die B
itte an die Schüler, die A
ugen zu schließen
Reihen
durchgeführt In der B
alance am
Ende schließen die
Schüler die Augen,
suchen das G
leichgewicht
gestört, mit
zunehmendem
Fokus nach innen finden sich die Schüler w
ieder in der B
alance
Publikumssituation hin zur
Innenrichtung