Untervazer Burgenverein Untervaz
Texte zur Dorfgeschichte
von Untervaz
2001
Der Schatz im Sprecherhaus
Email: [email protected]. Weitere Texte zur Dorfgeschichte sind im Internet unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/dorfgeschichte erhältlich. Beilagen der Jahresberichte „Anno Domini“ unter http://www.burgenverein-untervaz.ch/annodomini.
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Dr. Paul Meinherz. Maienfeld
Der Schatz im Sprecherhaus in Maienfeld
Im Sprecherhaus in Maienfeld liegt ein Schatz von unschätzbarem Wert, nur
wenige wissen davon. Unter schweren Gewölben stehen auf einfachen
Holzgestellen rund 10'000 Bücher und Handschriften, das ist eine einzigartige
Privatbibliothek. Was über Graubünden und seine Geschichte geschrieben
wurde, hat die Familie v. Sprecher zusammengetragen. Hohe Offiziere haben
militärwissenschaftliche Werke hier abgelegt, der Gross Vater des Hausherrn
zum Beispiel, Theophil v. Sprecher, der Generalstabschef der Schweizer
Armee im Ersten Weltkrieg. Die Bücher werden nicht ausgeliehen, aber für
wissenschaftliche Arbeiten stehen sie zur Verfügung. Mit Befriedigung stellt
der Hausherr die neue Ordnung vor: Stundenlang habe er seinem Vater Bücher
von Gestell zu Gestell getragen, denn jedes neue Buch sollte einen Platz bei
seines gleichen finden. Jetzt bleiben Neuanschaffungen in der Reihenfolge
ihres Eintreffens auf dem Gestell, chaotisch geordnet, wie der Hausherr sagt.
Der Computer findet jeden Band blitzschnell auch so.
Im Herrschaftshaus an der Stadtmauer
«Unsere Bibliothek ist deshalb so umfassend, weil wir nie umziehen mussten»,
sagt Dr. Theophil v. Sprecher bescheiden. Vor 200 Jahren sei ein Zweig seiner
Familie hier eingezogen, das Herrschaftshaus im Städtli steht seit 1643.
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Im Sprecherhaus in Maienfeld lässt ein grosses Wandbild die alten Sagen und
Geistergeschichten der Bündner Herrschaft wieder lebendig werden.
Ritter Andreas Brügger stellte damals die zwei Ecktürme des Südflügels gegen
den Willen der Bürger in den Stadtgraben. Im Erdgeschoss dieses Hausteiles ist
jetzt die Bibliothek. Hier werden auch Gäste empfangen und dabei Kostproben
aus dem Sprecherschen Weingut Pola am Rofelser Gässli ausgeschenkt.
Die Wunder im Wandbild
Das Wunderbare in der Bibliothek aber ist ein Wandbild. 1937 bat Vater
Andreas seine Nichte, die Kunstmalerin Annemarie von Mandach, ein Bild an
die Wand zu malen. Buntfarbig steht es jetzt dort wie eine Gegenwelt zu den
Büchern und gebündelten Akten: Grau hier die Wissenschaft und grün dort die
Bündner Herrschaft mit Fläsch, Maienfeld, Jenins, Malans und der Steig
zwischen Falknis und Fläscherberg, eine Landschaft, in der Bündner
Geschichte gemacht wurde.
Was sichtbar ist, das ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, ist ewig
Dieser Satz steht wie ein Thema auf einem wallenden Spruchband über dem
Land. Das Sichtbare ist Stoff der zahllosen Bücher auf den Gestellen, auf dem
Wandbild hat das Unsichtbare einen Platz bekommen.
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Zwar ist fast alles davon nur vom Hörensagen bekannt, leicht könnte es ganz
vergessen werden, jetzt aber bewahrt es das Bild davor. Nach der Legende brachte
der heilige Luzius den Bündnern die frohe Botschaft über die Steig. Auf dem Bild
schreitet er feierlich über die Höhe. Die Wissenschaft zweifelt daran, aber der
Übergang bleibt die Luzisteig, und die St. Luzius-Kirche auf der Steig steht auch da.
Wissenschafter mögen dazu sagen, was sie wollen. Nach einer Sage reitet der
Polaritter durchs Calancagässli zum Schwarzen Gatter. Im Herrenring ragen
Schwurhände meineidiger Österreicher aus der Erde, die den Bündnern Urfehde
geschworen hatten und den Schwur brechend auf der Steig ein zweites Mal
angriffen. Das Bild hält all das fest, was in der Herrschaft während Jahrhunderten
von Mund zu Mund ging. Die Erzähler aber sind jetzt alle gestorben. Sie haben
Geschichte und Sagen gar nicht getrennt, bei des war Volksgut: Barbara Kuoni,
Dorthee Möhr, Paul Möhr, Christina Anetta Schmid, Bebbi Caflisch und Hans
Kocher kannten noch vieles. An langen Abenden liessen sie sich beim Hengert
bitten: Erzähl uns wieder einmal von früher!
S. 26: Der Sagenforscher Graubündens, Arnold Büchli, hat aus dem Erzählten 39
Texte über Maienfeld aufgeschrieben, zum Teil wussten auch die Kundigen nur
noch Bruchstücke. Die Sammlung der Bündner Sa gen ist Büchlis Lebenswerk.
Seine «Mythologische Landeskunde von Graubünden» steht natürlich auch im
Gestell. Es sind drei Bände, allein der erste umfasst 917 Seiten. Zwar fehlt dem
geschriebenen Text das Leben erzählter Geschichten, aber im Buch sind sie vor
dem Vergessen gerettet, wenn auch das Geschriebene das Erzählen niemals
ersetzt. Man liest da zum Beispiel vom Ritter Molina. Molina war der letzte
Ritter auf Aspermont. Der Teufel habe ihm den Kopf umgedreht und damit
seinem Leben ein Ende gemacht. Die Leiche wurde dann nach Salenegg
gebracht. Das Bild zeigt zwei Männer, die einen Sarg von der Steigstrasse zum
Friedhof tragen. Aber der Ritter liegt nicht mehr darin. Vom Schlossturm ruft
eine Stimme: «Händ er schwär?» Es ist Tristram, der Affe des Ritters, der nie
von seiner Seite wich, aber alle belästigte, die zu ihm aufs Alpschlössli kamen.
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Mythologische Landschaft Bündner Herrschaft. Die Sagen und
Geistergeschichten, wie sie während Jahrhunderten in der Herrschaft erzählt
wurden, so begegnen sie dem Betrachter des von Annemarie von Mandach
gemalten Wandbildes.
Auf der Schanz trägt der Grenzläufer von Maienfeld den Balzner zum
Katharinenbrunnen. Auf dem Bild zeigt sich auch der heilige Luzius.
Tristram war dabei, als man im Salenegg die Leiche des Ritters dem Sarg
entnahm und Steine hinein legte. In der Erde des protestantischen Maienfeld
hätte der katholische Ritter aus dem Calancatal keinen Frieden gefunden,
erzählt die Sage. Theophil v. Sprecher war dabei, als seine Cousine Annemarie
auf einem Gerüst das Wandbild malte.
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Anton Mooser, der geschichtskundige Schlossermeister von Maienfeld, sass
auf den Brettern und erzählte Geschichten und Sagen, zum Beispiel von den
Schlachten des Dreissigjährigen Krieges auf der Steig und am Fläscherberg:
Kaiserliche in bunten Uniformen stritten mit den Franzosen in roten Hosen,
und Frau v. Mandach malte die einen mit erhobenen Hellebarden, die andern
sterbend im Gras.
Die Sage vom Polaritter
Beim Schwarzen Gatter reitet einer auf einem Schimmel mit erhobener
Peitsche der Pola zu. Barbara Kuoni wusste davon zu erzählen, Arnold Büchli
hat ihr zu gehört und ganz genau aufgeschrieben: «Di altä Gschichtä, gsäha han
i nia nüd, aber früjer hets so eppas halt ggee. D Ma ma mmi het erzellt. Under
Rofels het der Ehni asa Bueb amol d Ross ghüatat in dr Nacht. Im
Ggalanggergessli isch er Wach gstanda und isch dua a betz abggleega und
etschloofa und denn erwachet ab era Trapp Und er isch ufgsprunga und het
gmaint, das sei a Ross wo fortlaufi. Und er hät tenggt, wart du nu! Und er het
wella zruggjaga. Und dua isch es ebe ne Riter gsi, eine auf ma Schümmel - dr
Poolariter. Dee sei hert am Ehni vorbei geeget dr Poola hera. Es hei Gnaischta
(Funken) gworfa ufm Boda, so scharf isch er gritta. Dr Poolariter isch us dur ds
Ggalanggagässli, un der Rofels geeget dr Pardellrüüfi. Dr Ehni hei gseit: Er hei
na a paarmool gseha, nid
S. 27: nu eimol. Das sei an alta Aadliga gsi, wo eine gmordet hei. Drum het er müasa
kho, will er eppis Schlechts gmacht het.» Calancagässli heisst der Weg über der
Pola, auf dem die Korber und Kesselflicker aus dem Calancatal das Städtchen
umgingen.
Elli und Oswald
Am besten bekannt ist die Geschichte von Elli und Oswald. Sie erzähle von der
Abwanderung der Stürviser in die Herrschaft im 17. Jahrhundert. Andere sagen
jedoch, im Krieg seien viele Stürviser an der Pest gestorben, darauf hätten die
Überlebenden den Ort ihrer Trauer verlassen.
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Mythologische Landschaft Bündner Herrschaft. Die Sagen und
Geistergeschichten, wie sie während Jahrhunderten in der Herrschaft erzählt
wurden, so begegnen sie dem Betrachter des von Annemarie von Mandach
gemalten Wandbildes.
Die Schlüsseljungfrau.
Jungfer Enderlin, trieb im Schloss Brandis des Nachts ihr Wesen.
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Oswald, ein reicher Bauernsohn, liebte ein braves Mädchen im Dorf, aber der
Vater mochte die Heirat nicht zugeben: Sein Sohn sollte nicht die Tochter einer
armen Witwe heimführen. Dieser aber riss des Vaters Hellebarde von der
Wand: «Dann laufe ich in den Krieg nach Mailand!» Da liess der Vater mit
sich reden, und die Freundlichkeit des Mädchens stimmte ihn um. Vom Glück
übermannt drängte der Sohn, die Hochzeit sollte gleich stattfinden, mitten im
Jänner.
Am Hochzeitstag stieg der Bräutigam noch einmal ins Tal, um allerlei Einkäufe
zu machen. Vier Stunden hin und vier Stunden zurück, wer den Weg kennt,
kann nicht daran glauben, aber die Sage erzählt es so. Schwer beladen stapfte
er im Schnee zurück, erreichte den Kamm und schritt schon auf das Obersäss
im «Bad» zu. Jetzt ist das Schlimmste vorbei, dachte er, stellte seine schwere
Last in den Schnee, setzte sich, lehnte an einen grossen Stein und schlief ein.
In grosser Unruhe wartete seine Braut unten in Stürvis. Als es dunkelte, machte
sie sich auf, im tiefen Neuschnee dem Bräutigam einen Pfad zu bahnen.
Traurig und todmüde kam auch sie zu einem Stein, lehnte an, liess sich
ermattet niedergleiten und schlief ein. Am frühen Morgen fand man bei
heiterem Frostwetter die beiden leblos an demselben Stein, Oswald auf der
einen, Elli auf der anderen Seite. Der Elli-und-Oswald-Stein über den Hütten
der Fläscher Alp wird von Kennern noch heute gezeigt. Als dann im folgenden
Juni der Schnee auf dem Kamm weg war, zogen alle Stürviser für immer ins
Tal.
Sagen sind romantisch
Sagen sind nicht alle so alt wie sie scheinen. Um 1800 wandten sich
Schriftsteller vom Weltbild der Aufklärer ab, weil diese glaubten, sie könnten
mit ihrer Vernunft unser Menschsein verstehen. Romantiker dagegen pflegten
das Staunen und die Bewunderung des Unsichtbaren. Quellen, die das Wasser
aus der Tiefe ans Licht bringen, waren ihr Lieblingsthema. Sie sahen ihre
Traumwelten gar nicht als Gegensatz zur Vernunft, viel eher als deren
Ergänzungen. Es waren aber nicht Zusätze am Rande, sondern die Mitte des
Lebens. Ihre Geschichten führten die Leser nach innen ins Dunkle, ins
Geheimnisvolle und erzählten davon, nie hätten sie das Erzählte erklärt. Der
Stoff der Sagen und Märchen ist zeitlos, in ihm liegt verborgen, was Menschen
aller Zeiten bewegt.
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S. 28: Die Vernünftigen lachten, als man solche Geschichten wieder aufschrieb, die
Gemütvollen aber lasen sie aufmerksam und liessen sich von den Künstlern in
die Tiefen ihres eigenen Gemütes führen. Dort fanden sie Gründe, über jene zu
lächeln, die nichts als das Oberflächliche gelten lassen.
Begräbnis des Ritters Molina.«Händ er schwär? ruft der Affe Tristram vom
Dach des Schlosses Salenegg dem Leichenzug nach.
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Die Brüder Grimm
Am Tor zu dieser Welt stehen die Brüder Grimm. Sie haben sich ihr Leben
lang mit den Geheimnissen des deutschen Gemütes beschäftigt, hörten zu, wo
Menschen versammelt waren und einander Ge schichten erzählten, wirkliche
und unwirkliche. Mit Bienenfleiss sammelten sie Tröpfchen um Tröpfchen
dieses Gutes und schrieben sie nieder, Grimms Märchen sind so gesammelt
worden. Natürlich sind die Märchen viel älter als diese Sammlung.
S. 29: Das Sammeln der Märchen besorgten die Brüder nur nebenbei, ihr Hauptwerk
ist «Grimms Wörterbuch». Vor zweihundert Jahren haben sie damit begonnen,
fertig ist ihre Arbeit immer noch nicht. Sprachwissenschafter ergründen darin
jedes deutsche Wort immer neu. Ob als Sprachforscher oder Märchensammler,
die Brüder Grimm arbeiteten mit dem gleichen Ziel, denn: Im Volksepos, in
den Sagen und Mythen, Märchen und Legenden erkannten sie den Ausdruck
einer anonymen, unverbildeten Schöpferkraft der menschlichen Seele, dem
somit ein verbürgter Wahrheitsgehalt innewohnt. Etwas von dieser
«unverbildeten Schöpferkraft» der Menschen in der Bündner Herrschaft und
vom «verbürgten Wahrheitsgehalt» der Sagen ist auf dem Wandbild in der
Stille des Sprecherhauses wie ein wunderbarer Schatz aufbewahrt.
Der Hirt verkauft Kühe nach Ragaz und erzahlt den Bauern. «Euere Kühe hat
der Teufel geholt; da schauen noch die Schwänze aus dem Boden
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