Strandkorbgeschichten

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«Siehst du das, Baas Aap?», agte sie und drückte den von ihrer Muer gestrickten Affen, den sie ihr zu ihrem ersten Geburtstag ge- schenkt hae, fest an sich. Das Licht wurde immer heller, je näher es der Erde kam. Dann verschwand es hinter einem grünen Strandkorb mit einer blauen Nummer.» — Fortsetzung folgt in der «Strandkorbgeschichte» — Die vielschichtig komponierten Strandkorbgeschichten erzählen sich mit ihrer dezenten Sprache von selbst. So bunt und schneidend wie ein Korallenriff, behält dieses martime Ensemble aus Liebe, Tod, Verrat und Vergebung seine Leichtigkeit. Die französischen, pladeutschen und zürichdeutschen Versatzstücke verstärken den feinen Humor und die liebevolle Iro- nie, mit der die Erzählungen die multimediale und globalisierte Gegenwart einfangen. — Jean-Pierre Hugentobler über die «Strandkorbgeschichten» — Jesus und Judas spazieren in eine Bar – klingt wie ein Witz, ist es aber nicht, sondern Bonos Rock’n’Roll-Apokalypse, endlich zu Papier gebracht. — Christoph Brunner (Radio SRF 1) über «bis zum Ende der Welt» — Yves Baer Strandkorbgeschichten maritime Federstriche 030.1215.1 « »

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«Siehst du das, Baas Aap?», fragte sie und drückte den von ihrer Mutter gestrickten Affen, den sie ihr zu ihrem ersten Geburtstag ge-schenkt hatte, fest an sich. Das Licht wurde immer heller, je näher es der Erde kam. Dann verschwand es hinter einem grünen Strandkorb mit einer blauen Nummer.» — Fortsetzung folgt in der «Strandkorbgeschichte» — Die vielschichtig komponierten Strandkorbgeschichten erzählen sich mit ihrer dezenten Sprache von selbst. So bunt und schneidend wie ein Korallenriff, behält dieses martime Ensemble aus Liebe, Tod, Verrat und Vergebung seine Leichtigkeit. Die französischen, plattdeutschen und zürichdeutschen Versatzstücke verstärken den feinen Humor und die liebevolle Iro-nie, mit der die Erzählungen die multimediale und globalisierte Gegenwart einfangen. — Jean-Pierre Hugentobler über die «Strandkorbgeschichten» — Jesus und Judas spazieren in eine Bar – klingt wie ein Witz, ist es aber nicht, sondern Bonos Rock’n’Roll-Apokalypse, endlich zu Papier gebracht. — Christoph Brunner (Radio SRF 1) über «bis zum Ende der Welt» —

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Inhalt Reportage 6an’n Strann 8das Foto 12Lungomare 15bis zum Ende der Welt 16die Havelaarder Strandkrabbe 20Loane 21Strandkorbgeschichte 33Logbuch 36Glossar 37Kompass 38

Impressum«Strandkorbgeschichten © 1998 – 2015 VzfB

Dank an Werner Steinert für das Organisieren des Lektorates und an Randi Ussner aus Wenningstedt-Broderup für das Redigieren sowie an toolbox Design & Kommunikation GmbH für Drucker und Papier

Bilder : Titel: djcasp.wordpress.com | Seiten 2 und 39 Fotolia | S. 38 giga.de | alle lizenzfrei«Heaven On A Sunday» ist auf «Flaming Pie» erschienen | © 1997 MPL Communications Ltd

Für die plattdeutsche Übersetzung legte sich die virtuelle Intelligenz auf folgenden Webseiten ins Zeug:www.platt-wb.de | www.deutsch-plattdeutsch.de | www.plattdeutsches-woerterbuch.deZürichdeutsch gemäss «Züri Slangikon – So spricht man in der Hauptstadt», © 2007 Orell Füssli Verlag AG Jegliche Weiterverwendung und Publikation ist nur mit der schriftlichen Genehmigung des Verlages erlaubt.Yves Baer’s Verlag zum froehlichen Baeren VzfBRiedhofstrasse 60CH-8049 Zürichwww.vzfb.ch | © dieses Heftes 2015

Peaceful, like heaven on a Sunday.Wishful, not thinking what to do.We’ve been calling it love.But it’s a dream we’re going through.

And if I only had one loveYours would be the one I’d choose.

— Paul McCartney: Heaven On A Sunday; 1997 —

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ein Kapitän von der Brücke auf das Meer. Er verfolgte die Wellen, die Segelschiffe und die Jachten. Ein leises Lächeln huschte über seine Lippen, wenn eine barbusige Schönheit vor-beistolzierte. Ihn interessierte also doch das Strandleben und nicht nur Nachbars Lumpi. Ich vertiefte mich in mein Buch und als ich wieder aufschaute, waren die Alten gegangen.

Am nächsten Tag folgte ich ihnen. Hier fielen mir zum ersten Mal ihre weissen Plastiktüten auf. Ich dachte an meinen Sekundarschullehrer, der nie ohne Plastiksack unterwegs war. Die Alten standen an der Mauer bis unten der Maghrebiner mit seinen Badehosen, gebrannten Mandeln, gefälschten Schweizer Uhren und Imitaten von Markensonnenbrillen vorbeikam. Die Alten gingen davon. Etwa fünf Minuten später machten sie vor einem Papierkorb halt und begannen den Inhalt zu entsorgen: Haushaltkehricht…

Ich setzte mich an meine Apfelmaschine und begann den Tag der Alten zu rapportieren. Ich bin bis zur Entsorgungsaktion gekommen. Mir fehlte noch ein passender Schluss. Weil es schon sehr spät geworden war, beschloss ich, darüber zu schlafen. Als ich den Mac hinunter-fuhr, fragte ich mich, wieviele Reisende nun in Cannes nach den drei Alten Ausschau halten würden.

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Reportage

«Jeden Tag um dieselbe Zeit tauchen diese drei Alten oben an der Mauer auf und schauen auf das spiegelglatte Meer. Lange bleiben sie in der Regel nicht, denn viel ist auf dem Wasser nicht los. Und ihren bissigen Kommentaren nach zu urteilen, interessieren sie sich auch nicht gross für die halbnackten, in der Sonne bratenden Körper, die zu weisshäutigen Menschen aus dem Norden gehören, die jedes Jahr nach dem weltbekannten Festival im Ort einfallen. Jeden Tag um dieselbe Zeit am selben Ort und die scheinbare Ruhe der Alten, die mit der täuschenden Ruhe des Meeres zu harmonieren scheint…»

Irgend etwas daran begann mein Interesse zu wecken. Ein deutsches Reisemagazin hatte mich im letzten November gebeten, ihm monatlich eine kurze Reportage von der Riviera zu schreiben. Ich schaute von meinen Notizen auf und trank noch einen Schluck Kaffee. Ich war schon längst wieder nach Zürich zurückgekehrt, der Text sollte in den nächsten zwei Tagen in Hamburg bei der Redaktion eintreffen. Wie immer produzierte ich erst auf dem letzten Drücker. In meinem Kopf schwirrten Fragen und Satzfragmente herum, doch die Croisette ist zwischen dem Filmfestival im Mai und den grossen Ferien im Juli so spannend wie Davos in der Zwischensaison. Und so ging es mir mit meinem Artikel. Immer wieder kamen mir die drei Alten in den Sinn. Weshalb sollte ich die Reportage nicht über sie schreiben? Die Einlei-tung übernahm ich Wort für Wort aus meinen Notizen. Danach zündete ich mir einen Ziga-rillo an, legte eine McCartney-CD in den Player und liess mir nochmals den Nachmittag Revue passieren, an dem ich ihnen gefolgt war.

In der Tat waren es zwei Nachmittage: Am ersten legte ich mich bei der Mauer unterhalb ih-res Standplatzes an die Sonne, damit ich die Gespräche der Alten mitbekommen konnte. Hinter meiner dunklen Sonnenbrille beobachtete ich die drei. Die beiden Frauen sprachen über das Wetter, über ihre Alltagsbobos, über ihre Enkelkinder und über die schmerzenden Krampfadern. War nicht gerade sehr ergiebig, was ich verstehen konnte. Der Alte schaute wie

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an’n Strann

«Jüffel schullt man sien», dachte Tommeke und schaute seinem Golden Retriever Jiffer nach, der tillernd die steinerne Treppe zum Havelaarder Strand nadaal snitterde und sich sei-nes Blickes entzog. Tommeke folgte seinem Hund entlang der nassen Kaimauer henaf. Eine deftige Bö erwischte ihn und er zog den Reissverschluss seines Parkas wieder etwas höher. Tommeke war kein Klammbuedel, aber an den windgeschützten Stellen zwischen den roten und weissen Häusern des Fischerdorfes war es ihm in der Jacke zu heiss. An’n Strann traf der Westwind nach seinem kandidelten Wellenspiel erstmals auf das Festland und musste zu-nächst sein Mütchen kühlen. Tommeke schritt die letzten glittschigen Stufen zum Strand hinab und schaute sich nach Jiffer um, der bestimmt schon fast bei den iedeln Villen von Ro-senstedt war. Doch er erblickte seinen Hund keine zwanzig Meter entfernt in der anderen Richtung vor einer Pfütze oder einem Sandloch mit angespanntem Rücken stehend, die Nase am oder im Boden und die Rute oprecht as een Antenn. Tommeke pfiff und als dies nichts nützte, rief er Jiffer. Doch der flappig Hund wollte nicht hören. Erst als er ihm einen kräftigen Klaps auf den linken Batzen der Hinterhand gab, schaute ihn Jiffer splitterdull an und zottelte, die Krabbe nicht bemerkend, die ihn von Weitem Scheren klappernd bedrohte, davon.«Lorbass, dat is nixnich!», rief ihm Tommeke hinterher und blickte aufs Meer. Ein vollbela-denes Containerschiff stampfte durch die rauhe See dem Horizont entgegen.

Die ganze Nacht über bis weit in den Mittag hatte ein grausiges Schietwetter geherrscht. Ge-gen Abend liess nun der Wind nach und es gab wieder eine Linie am Horizont. Während des Schietwetters war keine Kimm mehr gewesen, nur noch Wind und Wasser und vor allem Grau. Kullersk rauschende Wellen mit düllen Schaumkronen zerbrachen an der Kaimauer und verendeten schwallweise auf der Promenade. Der peitschende Regen war ein eiserner Vorhang, dessen Tropfen wie glühende Nadeln in die Haut und Augen stachen. Jede Bö hat-te die Kraft eines himmlischen Kinnhakens, erbarmungslos rüttelte der Wind an allem, was ihm in seine luftigen Finger kam, bevor er die nächste Backpfeife austeilte. Selbst Jiffer, alles

Die hochdeutsche Ver-sion «am Strand» ist auf meiner Webseite www.

vzfb.ch/bellet/stories/

am_strand.html abrufbar. Dort findet sich auch ein vollständiges Glossar mit allen in «an’ Strann» ver-wendeten plattdeutschen Wendungen.

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andere als waterschu, hatte nur sein Geschäft verrichtet und war kladdernatt ins Haus zu-rückgekehrt. Beinahe so zufällig wie leere Muschelschalen waren die bunten Strandkörbe beim alten Grand Hotel über den Strand verteilt. Das Schietwetter hatte die Markise der Strandbar zum «Aule Admirol» wüst zerzaust. Während Jiffer auf dem Weg zum alten Ha-fen nöölte, setzte sich Tommeke in einen grünen Strandkorb mit der blauen Nummer 160 und zündete sich eine Zigarette an. Er blies den Rauch in die Höhe, sodass ihn der Wind weg-tragen konnte. Über den Strand verteilt lagen Drievsel, Pasen und leere Plastikflaschen jegli-cher Form und Farbe sowie dunkles Schwemmholz. Es schien, als ob das Schietwetter den menschlichen Muddelkraam aus den Fluten gefischt und wütend auf den Haveelarder Strand geknallt hätte. Eine schmutzige, gewellete Linie zog sich am Flutsaum über den Strand.

Das Containerschiff schob sich als schwimmender Kinkel der Kimm entgegen. Jiffer kämpf-te heroisch mit einem Stück Dreivholt. Tommeke kiekte zu den geduckten Häusern von Fis-kerstedt und zum Windpark vor der Küste hinüber. Schattengleich drehten die weissen Ro-toren der einzelnen Anlagen vor dem graublauen Horizont. «Dat Schietwetter wird woll wedder Überkapazitäten int europeesch Stromnet produziert hebben», dachte er und folgte mit dem Blick einer Möwe, die über dem Strand segelte. Eine Bö erwischte sie und wie von unsichtbarer Hand geworfen, fand sie sich im nächsten Augen-blick schreiend über den Masten der im Hafen von Fiskerstedt vertauten Fischerboote wie-der. Schadenfreudig grinste Tommeke, als ihn die nächste Bö erwischte und eine Haarsträh-ne scheibenwischergleich vor seinen Augen hin und her bewegte. Er strich sich das Haar aus dem Gesicht und schaute rauchend der Möwe nach. Der deegt Vogel liess sich nicht unter-kriegen und flog mit wenigen Flügelschlägen zurück zum Strand, um dort auf einer Thermik-strömung gleitend seine Runden über den Strandkörben zu drehen. Etwas nasses berührte Tommekes linke Hand, es war Jiffers Schnauze. Offensichtlich hatte er das Treibholz nieder-gerungen und wollte sich bei seinem Meister ein Kookje als Belohnung abholen. «Sitz, du Schojer», sagte er, während er aus der rechten Tasche seines Parkas eine kleine Plas-tiktüte herausholte. Jiffer gehorchte.

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Containerschiffes. Die Ruhe und Gelassenheit, die der stählerne Bellmer verbreitete, erin-nerte ihn an Jiffer, der noch immer zu seinen Füssen lag.

Ein Sonnenstrahl brach gleissend durch die dunkle Wolkendecke, sein weisses Licht schickte er gefächert über die Wellenkämme. «Aye!», rief Tommeke, als ihn der Strahl blendete. Er kniff schützend die Ogen zusammen und hielt sich de Hannen davor. Doch anstatt Dunkerheid sah er eine weisse Flaag mit bun-ten, auf und ab tanzenden Punkten. Langsam verdunkelte sich die Szenerie und nach einem Swupp von wohltuendem Schwarz umgeben, öffnete er die Augen und blickte vorsichtig zwischen seinen Fingern hindurch.«Alles fein in de Reech, ole Jung», sagte er und strich Jiffer über de Koop, der ihn neugierig anschaute. Tommeke blickte wieder auf die See. Gemächlich entfernte sich der Tanker von der Windkraftanlage in Richtung des tänzelndgleissenden Lichtstrahles auf dem Wasser. Doch wo war das Containerschiff geblieben? Tommeke schüttelte den Kopf und rieb sich seine noch immer leicht schmerzenden Augen. Dort wo das Containerschiff gewesen war, befand sich der glennende Sonnenstrahl und gegen die Kimm eine Rauchfahne. «Moderne Frachter roken doch nicht mehr?», wunderte er sich. «Aber so mir nichts dir nichts wird er auch nicht gesunken sein.» Tommeke schaute über die See, de Frachter bleev swunnen. Auch der Rook bei de Kimm verflüchtigte sich immer mehr. Während Tommeke de See beoogte, schob sich der Tanker in das gleissende Meer und fuhr hindurch, ohne das etwas geschah. Schulterzuckend erhob sich Tommeke, Jiffer linste zu ihm hoch und war dann mit einem Satz auf den Beinen und begann vor ihm zu hüppen.«Jiffer, tohuus», sagte er, was der Hund zu verstehen schien und noch aufgeregter hüfpen liess. Jiffer bellte und rannte in Richtung Steintreppe beim Havelaarder Strand los.«Hund sollte man sein», dachte Tommeke erneut und schaute ein letztes Mal aufs Meer. De Frachter swumm tomööt de Kimm und hatte die Stelle, wo Tommeke das Containerschiff zum letzten Mal gesehen hatte, überquert.

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«Fien!», kommandierte er, als seinem Hund das Möpken hinhielt.«Au… Dösbaddel!», rief Tommeke seine rechte Hand schüttelnd. Jiffer hatte mit einem herzhaften Biss nach dem Plätzchen auch Tommekes Finger erwischt. Doch das focht den Jüffel nicht an. Schlabbernd kaute er sein Kookje und verlangte danach wedelnd Nachschub. Sein Meister aber schüttelte den Kopf und rönschte die Tüte wieder. Stattdessen nahm er das Pack mit den Glimmstojke hervor und zündete sich einen weiteren an. Wer nöölte nun? So ein Hundeleben war doch alles andere als fair…Jiffer legte sich vor Tommekes Füsse und blickte gelangweilt über den Strand.«Ja, ja, Hund sollte man sein», sagte Tommeke schmäustert und kraulte Jiffers Nacken. Das Containerschiff wurde trotz seiner wuchtigen Grösse immer kleiner, je näher es der Kimm kam. Hinter dem Windpark schob sich ein Tanker in die Szenerie. Seine quastigen Gastanks kontrastierten mit den filigranen Rotoren der Windkraftanlage. Tommeke blickte auf Jiffer, der zu seinen Füssen zu schlafen schien und lehnte sich in seinem Strandkorb zurück. Er nahm einen deepen Zug an seiner Zigarette. Genussvoll atmete er den Rauch ringförmig aus und folgte dem tänzelnden Spiel der Rauchringe im Wind. Danach blieb sein Blick auf dem Containerschiff hängen. Tommeke klassierte es in die Post-Panamax-Plus-Klasse, die weder von der Länge noch der Breite in die Schleusen des Panamakanales passten und deswegen entweder für den transpazifischen Handel oder im Europa-Fernost-Dienst eingesetzt wur-den. Tommeke kniff seine Augen zusammen, um seinen Blick auf die Containerreihen zu fokussieren. Doch das Licht war zu trübe, als dass er hätte einzelne Reihen erkennen und zäh-len können. Zu einförmig, zu massig, erschienen ihm die Container. Die ersten Post-Pana-max-Schiffe waren um die Jahrtausendwende gebaut worden. Heutige Superfrachter, wie je-nes sich der Kimm entgegenschiebende Ungedööm, waren gegen vierhundert Meter lang und deren fünfzig breit. Beinahe sööt hingegen nahm sich der Tanker mit seinen vier kugel-förmigen Gastanks aus, der eben die Windfarm hinter sich gelassen hatte. Tommeke schnipp-te dat Stummelke aus seinen Fingern, Jiffer hob sluff ein Ooglidd und liess sich nicht weiter in sien Rüst beirren. Obwohl das Schietwetter abgeklungen war, herrschte noch immer starker Bulgenslag. Tommeke betrachtete nadenkelk die hibbeligen Wellen und die stete Fahrt des

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Arm. Meine Geschichte begann insofern mit dem Foto, weil es eine meiner ersten Erinne-rungen war, die ich bewusst aus meiner Kindheit habe. Für das Foto hatten meine Eltern ei-nen Fotografen aus der nahen Stadt kommen lassen und wir mussten uns schick anziehen, damit wir zu Vater und seiner neuen Uniform passen würden. Damals konnte ich das nicht verstehen. Viel lieber hätte ich mich so fotografieren lassen, wie ich war, in coolen Latzhosen und buntem T-Shirt, anstatt mich ins Sonntagskleid zwängen zu müssen. Doch mein kindli-cher Protest hatte wenig genützt.

Ich schaute mir das Foto noch einmal an, es war immer noch farbig. Erklären konnte ich die-se bizarre Tatsache nicht. Ich habe mir als Kind das Foto oft genug angeschaut. Vater wollte zwar während der Arbeit nicht gestört werden, doch nach der Schule mussten sich Annie und ich uns immer bei ihm im Büro melden. Dabei schaute ich mir eigentlich immer das Foto zuerst an, ehe ich Vaters Frage nach dem Tag und den Hausaufgaben beantwortet habe. Dass ich zuerst nach dem Foto schaue, ist mir bis heute geblieben. So war es auch vor ein paar Minuten gewesen, als ich Vaters Büro betreten habe. Von selbst war mein Blick zum Foto ge-wandert. Und da war es noch schwarzweiss gewesen.

Ich stellte das Foto wieder hin und beschloss, an den Pier hinunterzugehen. Ich war etwas früher als vereinbart eingetroffen. Vor zwei Jahren war unsere Mutter gestorben. Vater wohn-te weiterhin in der Villa. Doch im letzten halben Jahr hatte sich seine Gesundheit rapide ver-schlechtert. Die Gicht wütete nun derart stark in seinen Gelenken, dass ein Weiterleben in der Villa vernünftigerweise nicht mehr in Betracht zu ziehen war. Nach mehreren Diskussio-nen war es Annie und mir gelungen, ihn zu überzeugen, in ein Altersheim zu ziehen. «Nur über meine Leiche!», hatte Vater zunächst protestiert, doch schlussendlich war er zu einem Einsehen gekommen. Heute Vormittag hatte ihn Annie abgeholt und ins Altersheim im Dorf gebracht. Vater konnte sich glücklich schätzen, von seinem Zimmer aus sah er das Meer. Etwas versteckt zwar hinter einer Kaskade von Hausdächern, Dünen und Strandkör-ben, aber immerhin…

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das Foto

Sentimental trat ich erneut an Vaters schweren Nussbaumschreibtisch. Er hatte sein Büro im hinteren Teil des Hauses eingerichtet. Es war das einzige Zimmer des Hauses, von dem aus man das Meer nicht sehen konnte. Vater meinte, zum Arbeiten reiche die Aussicht auf eine Ecke der Garage und die Ligusterhecke. Wie oft war ich in meinem Leben diesen Weg von der Eingangstüre zum Büro schon gegangen? Ich wusste es nicht, doch es müssen so viele Male gewesen sein, wie einem als Kind das Leben unendlich vorgekommen war. Auf dem Schreibtisch stand ein altes Familienfoto in einem silbernen Rahmen. Dort angekommen nahm ich es in die Hand und schaute es mir gerührt an. Und dann verschlug es mir die Spra-che: Das Foto im silbernen Rahmen war farbig. Das konnte nicht sein, noch vor wenigen Minuten war es schwarzweiss gewesen.

Es sollte so schwarzweiss sein wie das Jahr seiner Aufnahme in meiner Erinnerung ist: 1973. Damals war ich vierjährig und Annie war erst ein paar Monate alt. Das Foto war mit der Zeit etwas verblasst, aber sicher nicht farbig geworden. Das wusste ich bestimmt, denn das Bild zeigte den Ausgangspunkt meiner Geschichte. Natürlich konnte man darüber diskutieren, wann dieser gewesen war: War es der Augenblick im Nachgang jenes einen ekstatischen Mo-mentes, aus dem meine biologische Wenigkeit als Ergebnis einer Fusion von einer Samen- mit einer Eizelle als menschlicher Embryo hervorging? Oder war es bei der Schöpfung von Adam und etwas später mit der Kreation von Eva aus dessen Rippe? Oder begann sie nicht doch mit dem Urknall, der aus dem Nichts unser Universum aus lauter Sternenstaub ge-schaffen hat? Jede dieser Stationen meiner Menschwerdung konnte man wohl als meinen Ausgangspunkt bezeichnen. Doch meine Geschichte begann mit dem Tag, an dem das Foto im Silberrahmen aufgenommen worden war. Es zeigte meinen Vater als zweiundreissigjähri-gen, frischgebackenen Kapitän in seiner dunklen Uniform. Wir hatten uns unten beim Pier vor unserer Villa aufgestellt. Vater stand links, Mutter rechts, ich stand in der Mitte vor den Eltern. Vater hatte mir seine linke Hand auf meine Schulter gelegt. Mutter hielt Annie im

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Während ich zum Pier hinunterging, studierte ich über das plötzliche Farbigwerden des Fo-tos nach. Ich konnte mir nach wie vor keinen Reim darauf machen. So zündete ich mir eine Zigarette an und schaute rauchend dem alerten Wellenspiel und den Möwen zu, die krei-schend darüber ihre Runden drehten. Das Rauschen des Meeres hatte auch bei Ebbe etwas beruhigendes, ewiges. Es war ein bedeckter Tag und übers Meer wehte ein kühler Wind. Nachdem ich fertig geraucht hatte, beschloss ich, wieder ins Haus zurückzukehren. Ich woll-te mir das Foto in Ruhe noch einmal anschauen. Vielleicht würde ich ja bei einer Untersu-chung des Bildes das Rätsel seiner Verfärbung lösen können.

Als ich zur Villa zurückging, blickte ich über die schnurgerade Zufahrt und schaute, ob Annie zurückkehren würde. Wir waren miteinander verabredet, um im Haus etwas aufzuräumen und Vater am Abend ein paar persönliche Gegenstände und Bücher zu bringen. Es näherte sich jedoch kein Auto. So betrat ich, wie ich es immer schon getan hatte, das Haus und durch-querte den langen Korridor mit seinem gefliessten Boden in einem schwarzweissen Karo-muster. Ich betrat das Büro und schritt über den verbleichten, rotbraunen Läufer, der von der Türe bis zum Schreibtisch ging, um das Parkett im hellen Fischgerätemuster zu schonen. Ich trat zum Schreibtisch hin und nahm das Foto. Als ich es anschaute, erschrak ich heftig. Es war noch immer farbig. Doch nun zeigte es Vater als alten Mann und mich als Erwachsenen. Auch Mutter und Annie waren dementsprechend gealtert. Natürlich hielt Mutter Annie nicht mehr im Arm, doch meine Eltern standen noch immer nebeneinander. Auch Annie und ich standen nebeneinander, etwa einen halben Schritt von den Eltern entfernt. Zunächst ich, dann Annie. Wer etwas von Körper- und Bildsprache verstand, dem fiel auf, wie nahe sich die Eltern standen und wie weit sich Annie und ich von ihnen entfernt hatten.

Hier ging es nicht mit rechten Dingen zu, weshalb ich beschloss, mir auf diesen Schreck eine schöne Portion Tee zu gönnen. Mit einem ordentlichen Schuss Grog darin. Während ich das Wasser aufkochte, holte ich die Flasche aus dem grossen Schrankmöbel in der Stube. Wäh-rend ich nachdenklich dem Dampf zuschaute, wie er aus der Tasse aufstieg, klingelte mein

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Handy. Auf dem Display meines iPhones leuchtete ein Foto von Annie, das ich vor zwei Jah-ren an Weihnachten von ihr aufgenommen hatte. «Sie wird sich wohl etwas verspäten», dachte ich, während ich über den Bildschirm wi-schend ihren Anruf entgegen nahm. Aufgewühlt berichtete Annie, dass sich Vater nach dem Mittagessen, das er übrigens ganz ordentlich gefunden hatte, eine halbe Stunde hinlegen wollte. Sie war unterdessen Spazieren gegangen. Und als sie in Vaters Zimmer zurückgekehrt war, hatte er noch immer geschlafen. Sie versuchte, ihn zu wecken. Doch Vater war nicht mehr aus seinem Mittagsschlaf erwacht.

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Lungomare

Ich schlenderte ohne bestimmtes Ziel dem Lungomare entlang und beobachtete das munte-re Treiben auf dem Strand und auf der Strasse, da erblickte ich meinen alten Lehrer. Er sass auf einer Bank und fütterte die Möwen, die sich kreischend um das verschimmelte Altmän-nerbrot zankten. Er winkte mir von weitem mit seinen Stöcken zu. Nach einer kurzen Be-grüssung lud er mich über die Strasse auf einen Drink ein. Er weigerte sich aber, sich bei mir unterzuhaken, er wäre bloss etwas angejahrt, aber bestimmt noch kein Greis. Verlegen stimmte ich ihm zu und sagte, während ich winkend die Autofahrer zum Bremsen aufforder-te, dass die Schüler trotz ihrer Aufsässigkeit heimlich zu ihren Lehrern aufschauten.«Und die Schülerinnen erst», meinte er und grinste ein zahnloses Lächeln, das nichts von seiner Anzüglichkeit verloren hatte. Nachdem wir die Strasse überquert hatten, betraten wir den «Alten Admiral», ein angejahrter englischer Pub mit Plüschbänken und ebensolchen Barhockern. Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis mein Lehrer auf seinen Hocker geklettert war, aber auf den Bänken schliefe er sogleich ein, meinte er entschuldigend. Und ob er dann je-mals wieder aufwachen würde? Ich antwortete, dass dies wohl auf das ausgeschenkte Bier ankomme, worauf er schallend lachte.Nachdem wir miteinander angestossen hatten, sagte er, das Pint Guiness zittrig in seinen Händen haltend: «Ich bin nun 102-jährig.»«Das sieht man Ihnen kaum an», entgegnete ich. «Schon als ich bei Ihnen die Schulbank gedrückt habe, waren Sie für mich alt. Mittlerweile bin auch ich pensioniert.»«Du bist schon immer ein kleiner, aber gewitzter Racker gewesen», lachte er und setzte nach einem kleinen Schluck sein Pint ohne etwas zu verschütten ab, und schaute mich dabei an, wie er es in schwarzweisser Urzeit auch immer getan hatte.«Ich bin nun 102-jährig», sagte er erneut und fügte ernst an: «Bitte verzeih mir, dass ich dir den Urlaub versaut habe und noch nicht gestorben bin.» Ich schaute ihn wie damals an, wenn ich etwas ausgefressen hatte, und fühlte mich dabei so schuldig wie man sich nur schuldig fühlen konnte.

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bis zum Ende der Welt

Jesus trat auf den Eingang des «Ocean Club» in Lower Manhattan zu, der direkt von der Avenue in die Bar führte. Um diese Zeit trafen hier die Broker von der Wall Street auf die Rei-chen und selbsternannten Schönen der Stadt. Auf dem Parkplatz neben dem Eingang park-ten vor allem amerikanische und japanische Stretchlimos und Offroader. Die wenigen euro-päischen Limousinen wirkten im Vergleich dazu beinahe niedlich. Der Türsteher, ein bulliger Kerl mit tätowierten Armen, Narbengesicht und überdimensioniertem Metallkreuz auf der Brust, nickte ihm beinahe unmerklich zu. Jesus erwiderte den Gruss ebenso unauffällig, doch er musterte den Türsteher im Vorübergehen genau. Jose hiess er, sein Vater war ein Latino aus Albuquerque, seine Mutter stammte von ehemaligen Sklaven aus Haiti ab. Ihre Blicke kreuz-ten sich. Auch wenn sich Joses furchteinflössendes Gesicht nicht veränderte, leuchteten seine Augen für einen Moment. Jesus betrat den Club, schlagartig umgaben ihn gedämpftes Licht und die Chillout Musik aus der Bar. Die stickige Korridorluft mit ihrem undefinierbaren Pot-purri von den zu dick aufgetragenen Parfüms, den Emissionen der Nachbarschaft, den Abga-sen der Strasse, der Aircondition aus dem Club und den Lufterfrischern der Toiletten drohte ihn zu ersticken. Dennoch blieb er stehen und lauschte einen Moment auf das Stimmenge-wirr, das aus dem Club zu ihm hinausdrang und ging danach in die gut besetzte Bar. Für einen Moment blieb er in der geöffneten Glastüre stehen und sorgte so für etwas Luftaustausch. Dabei liess er seinen Blick über die Gäste schweifen. Er suchte niemand bestimmtes, doch er wusste, dass ihn jemand erwartete. War es die blonde Frau mit den glänzend rot geschmink-ten Lippen und den Smokey Eyes, die auf ihrem iPhone gelangweilt eine Statusmeldung auf Facebook verfasste und dabei demonstrativ auf einem Kaugummi herumbiss? Oder eher der irischstämmige, pausbäckige Jüngling aus der Gruppe Investmentbanker, die gleich am nächsten Tisch bei einem Feierabendbier sass und lauthals über andere Akteure auf dem Ak-tienmarkt schwätzte? Jesus schloss für einen Moment die Augen und lauschte der Melodie, die unaufdringlich aus den Lautsprechern klang. Sie kam ihm bekannt vor und so summte er mit dem müden Saxofon mit, ehe er «Here, There And Everywhere» von den Beatles in ei-

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ner Lounge-Version mit verklemmt swingendem Piano und keusch in den Hintergrund ge-mischten Beats erkannte. Paul McCartneys Gesang vermissend und sich in Gedanken bestä-tigend, dass er dessen Unplugged-Version in der Beatles-Playlist auf seinem iPod gespeichert hatte, verharrte Jesus noch einen Moment in der Eingangstüre und schaute sich in der Bar um. Eine kleine, schwarze Frau in einem schwarzen Deuxpièces und weisser Bluse, die sie einen Knopf zu weit geöffnet trug, trat auf ihn zu. Ein Tribal-Tattoo streckte seine gierigen Spitzen von ihrer üppigen Brust in Richtung linker Schulter aus. Die Frau lächelte ihn verfüh-rerisch an, als sie sich an ihm vorbeidrückte. Jesus lächelte zurück und dann entdeckte er ihn an der Bar: Der Hocker rechts von ihm war leer, Judas sass vornübergebeugt hinter einem Bier. Seiner windschiefen Haltung nach zu urteilen, war dies nicht sein erstes Glas.

Jesus ging direkt auf ihn zu, doch auf einmal stand dieser bleiche Typ in der braunen Leder-jacke und der verkehrt herum getragenen grauen Ledermütze vor ihm und murmelte einige Worte. Jesus glaubte Sugar und Speed verstanden zu haben und schüttelte mit ernstem Blick seinen Kopf. Noch immer murmelte der Bleiche und entfernte sich hastig. Nun hatte es sich wie bitte vergib mir angehört. Als Jesus an die Bar trat, schaute ihn der Bartender fragend an. Jesus zeigte mit der rechten Hand auf das Glas von Judas und hielt danach den Daumen in die Höhe. Der Bartender nickte, nahm ein frisches Glas von der Theke und spülte es kurz mit kaltem Wasser aus, ehe er das Bier zapfte. Derweil legte Jesus Judas die linke Hand auf die rechte Schulter und sprach:«Habe dich schon lange nicht mehr gesehen.»Mürrisch drehte sich Judas um und wollte losbellen, als er Jesus erkannte. Er liess es gesche-hen, dass er sich neben ihn setzte. Der Bartender stellte Jesus das Bier hin. Dieser nickte dan-kend und zeigte mit dem Daumen der linken Hand auf Judas. Erneut nickte der Bartender und wiederholte mit einem neuem Glas die Zapfprozedur. «Ich habe alles im Griff. Ich schlage nur die Zeit tot», entgegnete Judas. Der Bartender stellte ihm das frischgezapfte Bier hin. «Das letzte Mal haben wir uns in einem schwach beleuchteten Raum getroffen», sprach Jesus.

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Judas nickte:«Wir sind uns so nahe gestanden wie Braut und Bräutigam.»«Ich habe das Brot gebrochen…»«… und wir haben den Wein getrunken», ergänzte Judas. Er nahm das neue Glas und hielt es Jesus entgegen. Sie stiessen miteinander an. «Wir alle hatten eine gute Zeit…», sagte Ju-das nach dem ersten Schluck. Das amerikanische Bier schmeckte schal. Er wischte sich den Schaum vom Mund. «Ausser mir… Ich habe vom Ende der Welt gesprochen», erinnerte sich Jesus.

Sie sassen schweigend nebeneinander und starrten Gedanken verloren auf das Glas vor ih-nen. Das fade Bier wurde nicht besser, die Clubmusik malträtierte weiterhin globale Ever-greens und vermischte sich mit den Geräuschen der Bar zu einem sekkierenden Lärmpegel. Könnte man noch wie früher Rauchen, es wäre im «Ocean Club» so unangenehm gewesen wie in den schmuddeligen Absteigen der Schausteller in Coney Island oder den verfallenden Betonsiedlungen in der Bronx. Am Morgen war Jesus im Vergnügungsviertel in Coney Is-land gewesen und dort Vanessa, einer älteren Frau schwarzen Frau, begegnet, die ihm von ihrer kranken, alleinerziehenden Tochter Sally erzählte. Jesus war mit Vanessa in der U-Bahn in die Bronx gefahren und hat mit ihr, vergebens auf Sally wartend, ein kärgliches Mittags-mahl geteilt. Nun sass er in einer stylischen, aber auf ihre Art nicht minder armseligen Umge-bung in Lower Manhattan und trank mit Judas ein pitoyables amerikanisches Bier. «Ich habe das Geld genommen…», sagte Judas larmoyant in das bleierne Schweigen. «Ich habe Alkohol in deinen Drink gemischt», entgegnete Jesus. Er schaute Judas an, der keine Reaktion zeigte, ausser dass er auf sein Bier starrte. «Du vermisst diese Tage viel zu sehr, wenn du mit dem Denken aufhörst», fuhr Judas schlussendlich fort. Er drehte sich um und fuchtelte mit dem Zeigefinger vor Jesus’ Nase he-rum: «Du hast mich weiter mit diesen unschuldigen Augen geführt.»Jesus schwieg und trank einen Schluck Bier. Judas tat es ihm gleich und starrte danach auf ei-nen imaginären Punkt hinter dem Tresen. Jesus staunte ob der schieren Anzahl von Flaschen,

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gereihten Spirituosen stand und den «Ocean Club» mit seinem Muzak betäubte. Der Bar-tender wählte eine neue Playlist und schon bald erklang in gedämpfter Lautstärke ein Rocksong, worin der Sänger Bono Vox mit den Worten Liebe, Liebe, Liebe gegen den manisch schneidenden Klang einer elektrischen Gitarre ankämpfte. Jedes Mal, wenn er diesen Song hörte, wunderte sich Jesus, wie es Gitarrist The Edge geschafft hatte, sein Instrument nach ei-nem vorbeirauschenden Omnibus klingen zu lassen. Judas bedankte sich derweil für das neue Bier und trank einen grossen Schluck. Er stellte das Glas ab und wischte sich den Schaum vom Mund. Danach sprach er:«In meinem Traum ertränkte ich meine Sorgen. Doch meine Sorgen lernten zu schwimmen. Sie haben mich umgeben, sind über mich hereingebrochen, sie sind über den Rand hinaus-geschwappt. Wellen der Reue, Wellen der Freude…» Judas drehte sich um und schaute Je-sus direkt in die Augen: «Ich habe mich nach demjenigen ausgestreckt, den ich zu zerstören versucht habe. Aber du…Du hast gesagt, du würdest bis zum Ende der Welt warten.» «Nein, das ist nicht das Ende der Welt!», sagte Jesus und schwieg danach. Er trank einen Schluck des belgischen Biers und sah sich das Häufelchen Elend auf dem Barhocker neben sich an. Danach lauschte er der Musik. Der Sänger wiederholte die Worte Liebe, Liebe Liebe und schien den Kampf gegen die Gitarre zu gewinnen. Dann endete der Song.

die von bunten LED-Lämpchen beleuchtet wurden. Auf den ersten Blick erkannte er zwei Dutzend Whiskys aus Schottland, Kanada und den USA, acht Cognacs, sechs Wodka-Sor-ten und vier Gin-Marken. Alles globalisierte Spirituosen, die überall auf der Welt denselben Geschmack haben sollten und dennoch je nach Verfassung ihres Bestellers anders schmeck-ten. Oder wie dieses wässerige amerikanische Bier, das vom puren Konsum zum reinen Ge-nuss der regionalen, oft überteuerten Getränke führen sollte. Doch den meisten Durstigen war das egal, sie suchten bloss etwas, um ihre trockenen Kehlen zu benetzen. Jesus schaute auf die traurige Gestalt neben ihm und spürte den überraschend bitteren Nachgeschmack des Bieres im Gaumen. Er zeigte kurz auf Judas’ und sein eigenes Bierglas und dachte an ein belgisches Bier, das seit dem Spätmittelalter nach unverändertem Rezept in einem Kloster gebraut wurde. Abwesend trank Judas einen weiteren Schluck. Erstaunt hielt er inne und setzte sein Glas nochmals an. Verwundert wandte er sich Jesus zu.«Du weisst, ich liebe das Überraschungsmoment», entgegnete dieser und trank seinerseits einen Schluck des belgischen Bieres, das ihm mundete. Judas prostete ihm dankbar zu und führte sein Glas erneut zum Mund. Danach setzte er das Bier ab und schaute Jesus an. Dieser blickte in ein fröhliches Gesicht, dem das belgische Bier schmeckte. Doch Judas’ Augen wa-ren noch immer zwei dunkle Seen in der hügelig runzeligen Landschaft seines Gesichtes. Schlussendlich schüttelte Judas den Kopf und sagte traurig: «Im Garten habe ich die Nutte gespielt. Ich habe deine Lippen geküsst und anschliessend dein Herz gebrochen. Und du… Du hast dich aufgeführt, als ob es das Ende der Welt wäre.» Mit einem Winken seiner rechten Hand verscheuchte Jesus die Anfechtung, Judas’ Bier ob dieser Verleumdung in das amerikanische zurückzuverwandeln. Der Bartender deutete die Handbewegung als erneute Bestellung und zapfte ein weiteres Glas, das Jesus mit dem Abset-zen seiner Hand wieder in das belgische Klosterbier verwandelte. Obwohl er wusste, was seit jenem Kuss in Gethsemane aus Judas Ischariot geworden war, wollte er es mit seinen eigenen Worten aus dessen Mund hören. Und so schob der Bartender ein weiteres Bier über den Tre-sen zu Judas hin. Danach ging er zu einem MacBook, das unterhalb der im Hintergrund auf-

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die Havelaarder Strandkrabbe

Die Havelaarder Strandkrabbe ist schnell unterwegs auf ihren kleinen Beinen, so sagen die Menschen, auch unter Wasser. Untereinander aber sind sie eher zänkisch. Treffen sie auf eine Artgenossin, schlagen sie bedrohlich ihre grossen Scheren zusammen und klappern Furcht erregend damit. Tagsüber wartet die Krabbe in ihrem feuchten Versteck auf die Flut. Wird sie dabei von einem unachtsamen Touristen aufgeschreckt, so bäumt sie sich Respekt heischend auf. Und wehe dem armen Urlauber, wenn sie mit ihren Scheren einen Finger oder Zeh er-wischt… Die Havelaarder Strandkrabbe bewegt sich seitwärts um vorwärts zu kommen, so sagen die Menschen. Doch ihr ist das herzlich egal und wuselt zielstrebig über den Sand, vorwärts, zum nächsten Stück Nahrung.

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Loane

«Le Petit Môle» war ein gemütliches Restaurant beim Hafen in Kergulec. Sowohl das Res-taurant als auch das Dorf hatten ihre besten Zeiten hinter sich. Nur noch wenige Touristen verirrten sich in das malerische, aber etwas angejahrte Fischerdorf an der südbretonischen Atlantikküste. Der rundliche Yoric war der sympathische Wirt des «Petit Môle». Stets herz-lich bewirtete er seine Gäste, die zumeist aus älteren Männern aus dem Dorf bestand, ausser dienstagabends, da spielte ein Damenkränzchen bei einem Glas Chouchen Bridge. Yorics Co-triade, die bretonische Schwester der Bouillabaise aus Marseille, war sensationell, er kann aber auch Steak-frites ganz ordentlich, vor allem seine hausgemachte Kräuterbutter sei jedem Gourmand empfohlen. Jedes Mal, wenn ich in der Bretagne bin und es mir die Zeit erlaubt, schaue bei Yoric vorbei. Heute war ich auf der Durchreise von Rennes über Saint Nazaire nach Nantes. Der Vorteil einer Reisekolumne ist, dass man auf einer Reise genug Geschich-ten für ein halbes Jahr sammeln kann. Aus meiner auf ein Jahr befristeten monatlichen Ko-lumne von der Riviera für ein deutsches Reisemagazin war eine regelmässige Reisekolumne geworden. Die Redaktion in Hamburg gab mir volle inhaltliche Freiheit. Ein Jahr, ein Thema, so haben wir das per Handschlag abgemacht. Nach einer Serie über die Provence, die Toska-na, die berühmten Seebäder und die grossen Frachthäfen, ist nun die Bretagne mit ihrem rei-chen kulturellen Erbe an der Reihe.

Ich konnte nicht gleich beim Restaurant parken, sondern fand etwas abseits in einer Seiten-strasse einen Parkplatz. So beschloss ich, einen kleinen Umweg über den Hafen zu nehmen. Am Pier ankerten zwei oder drei Trawler, eine Hand voll Möwen drehte schwebend und krei-schend ihre Kreise über der Mole. Es roch nach Meer, aber nicht nach mehr. Der Westwind hatte über dem Atlantik Wolken eingesammelt und trieb sie nun vor sich her in das Landes-innere hinein. Die Luft war feucht und jodhaltig. Aus einer Seitenstrasse klang noch das Brummen eines Motorrollers. Es war ein sehr beschaulicher Mittag im betulichen Kergulec. Ich blickte ein letztes Mal auf das Meer hinaus und drehte mich um, da kam sie mir entgegen:

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Sie war eine kleingewachsene Frau Ende zwanzig und trug ein unspektakuläres schwarzes Kleid, das sowohl Alltagskluft als auch Teil einer Sonntagstracht hätte sein können. Wir wä-ren beinahe zusammengestossen. Während ich auf Züridütsch irgend etwas Entschuldigen-des murmelte, ging sie weiter als ob nichts gewesen wäre. Und obwohl sie beinahe durch mich hindurch gegangen war, hatte sie mich keines Blickes gewürdigt. «Je vous souhaite une bonne journée!», rief ich ihr nach. Doch sie ging unbeirrt bis zur Spitze des Piers weiter.

Ich betrat das «Petit Môle», sagte «Grüezi mitenand» und setzte mich an meinen Stamm-platz im hinteren Teil des Gastraumes, von wo aus ich das ganze Restaurant überblicken konnte. Yoric begrüsste mich wie immer sehr herzlich und machte mit der Hand ein Zeichen über den Tresen, als ob er per Fernbedienung sein Auto entriegeln würde. Ich nickte und kurz darauf brachte er mir eine Pression. Wenn ich weiterfahren musste, trank ich der Promil-legrenze wegen ein Bier, übernachtete ich im Dorf, orderte ich wie die Einheimischen Wein. Heute bestellte ich Krampouezhenn mit Crevetten, Coquillages und Crème fraîche. Bei uns sind die Buchweizenpfannkuchen als Gallettes bekannt. Yoric verschwand in der Küche und brachte mir nach etwa zehn Minuten mein Omelett. Während des Essens dachte ich über das Zusammentreffen mit der jungen Frau nach. Ich habe sie bereits die letzten zwei oder drei Mal gesehen, als ich in Kergulec Halt gemacht hatte. Meistens war sie vorne an der Mole ge-standen und hatte auf das Meer gestrarrt.

«Du hast die Loane gesehen», sagte Yoric und lachte: «Herzlich willkommen bei den Ein-heimischen. Das kostet dich mindestens eine Lokalrunde!» Ich schaute ihn verdutzt an, während er zu den drei alten Männern, die am Stammtisch bei einem Glas Wein sassen, et-was auf Bretonisch zurief, was wohl bedeuten sollte, dass ich Loane gesehen hätte und bezah-len würde. Die drei Senioren schauten mich alle an, dann begannen sie zu lachen, erhoben ihre Weingläser und prosteten mir zu. Keine Ahnung, was sie an meinem Zusammentreffen mit dieser jungen Frau derart amüsierte. Sie lachten und klatschten begeistert in die Hände

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und riefen einander immer wieder etwas auf Bretonisch zu. Ich konnte daraus einzig wieder-holt den Namen Loane verstehen. Meine Verwunderung mit einem Schluck Bier hinunter-spülend, zitierte ich in Gedanken frei nach Obelix: «Die spinnen, die Bretonen.»

«Was hat es mit dieser Loane auf sich, dass es hier drin ob der simplen Tatsache, dass ich sie ein oder zwei Mal gesehen habe, schlimmer zu und her geht als an der Zürcher Street Para-de?», fragte ich Yoric, als er sich mit einem Glas Chouchen neben mich setzte. «Du hast einen Geist gesehen», sagte er nicht ohne den nötigen Ernst in seiner Stimme.«Einen Geist?», fragte ich ungläubig. Yoric nickte. «Du nimmst mich auf den Arm», sagte ich. Doch der Wirt schüttelte den Kopf.«Komm schon, das 21. Jahrhundert hat doch mittlerweile auch in der Bretagne begonnen?»«Das hat es», sagte Yoric traurig, «du brauchst bloss den Wirtschaftsteil der Zeitung zu lesen, da wimmelt es nur so von Geistern.»«Hör mal, dein Spass in Ehren. Wer war die junge Frau?»«Wie ich dir gesagt habe, war das die Loane. Sie ist das Gespenst von Kergulec.» Ich glaube nicht an Geister. Weder an solche in englischen Schlössern – das wäre übrigens ein gutes Thema für meine Kolumne im nächsten Jahr – noch an lokale bretonische Ge-spenster. Und als aufgeklärter Schweizer fiel es mir auch schwer, Wilhelm Tell für bare Münze zu nehmen, den mir die rechtsnationale Propaganda in schöner Regelmässigkeit patriotisch trunken in voller Inbrunst als helvetischen Nationalheiligen um die Ohren haute. Doch war ich Journalist genug, um hier die Geschichte für meine nächste Kolumne zu wittern. Und so bat ich Yoric, mir zu erzählen, was es mit Loane auf sich habe.«Aber bitte nicht ohne», sagte der Wirt und stand auf. Nach einem Moment kehrte er mit zwei Gläsern Chouchen an den Tisch zurück.«Ich muss noch fahren», wehrte ich ab.«Das wirst du. Falls es dir zu viel wird, lege einfach die Musik auf, die du gespielt hast, als du mich damals nach Haus gefahren hast, die beruhigt.» Ich überlegte scharf, welche Musik er

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meinen könnte. Vor ein paar Jahren hatte ich in Kergulec übernachtet und Yoric nach Hause gefahren. Er war beim Baden von einer Welle umgerissen worden und hatte sich dabei das Bein gebrochen. Da er an jenem weit entfernten Abend noch immer an Krücken gegangen war, hatte ich einen auf Privatchauffeur gemacht. Ich studierte, was ich wohl für eine CD im Autoradio gespielt hatte, da meinte Yoric, dass sie von einem weltbekannten Sänger aus dem grösseren Teil von König Artus Königreich stammte. «Comme d’habitude McCartney», dachte ich. Seither habe ich einen iPod gekauft und diesen am Autoradio angeschlossen und fuhr somit das gesamte Werk Paul McCartneys und noch fast 1000 andere Alben der Musikgeschichte, von Johann Sebastian Bach bis zu den Berner Mundartrockern von Züri West, mit mir spazieren. Yoric zündete sich eine Gitane an: «Wir sind unter uns und Paris ist weit entfernt», sagte er beiläufig. Ich schaute mich um, auch die drei Senioren am Stammtisch rauchten und unterhielten sich auf Bretonisch. Also griff ich mir in die Tasche meines Jackets und holte mir einen Zino Brasil hervor. «Ca va, Paris ist etwa auf halbem Weg von hier nach Zürich», wiegelte ich ab, während mir Yoric Feuer gab. Ich nahm einen tiefen Zug von meinem Zigarillo und lauschte der Erzäh-lung des Bretonen:«Es war im Herbst 1827, Ende Oktober oder Anfang November. Es war noch dunkel, als die Fischerboote aus Kergulec abgelegt hatten. Der Atlantik war ruhig, vielleicht beinahe zu ru-hig. Was weiss ich? Ich bin ja nicht dabeigewesen. Der Morgen kam und auch der Mittag, ihnen folgten der Wind, die Wellen, die Wolken und der Regen. Es wurde Nacht, ein neuer Tag brach an, dem ein weiterer folgte, an dem man dann die Kirchenglocken läutete. Doch die Schiffe blieben draussen. Bis heute.»«Was ist passiert?», fragte ich.«Sturm», antwortete Yoric, «bis auf ein arg zerzaustes Boot war keines zurückgekehrt.»«Das muss eine Tragödie für das Dorf gewesen sein», sagte ich.«Ach was, der Atlantik gibt und der Atlantik nimmt. So halten wir das hier», entgegnete Yoric.«Und Loane?», fragte ich rauchend.«Sie gehörte zu den Witwen im Dorf, hatte im Sommer ihr drittes Kind geboren. Sie konnte

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den Tod ihres Mannes nicht akzeptieren. Den ganzen Herbst über war sie jeden Tag zur Mole hinaus gegangen und hatte bis zum Sonnenuntergang auf die Rückkehr der Schiffe ge-wartet.» Das unförmige Kleid der Frau von vorhin war ein Trauerkleid gewesen…Ob so viel Trauer und Liebe berührt, oder ob des Rauches im Restaurant, wischte ich mir eine Träne ab.«‹Ihr werdet sehen, sie kommen eines Tages zurück. Bis dahin gehe ich jeden Mittag an die Mole hinaus›, soll Loane jeweils gesagt haben. Doch die Einheimischen hatten sie nicht ernst genommen. Zunächst haben sie hinter vorgehaltener Hand getuschelt, ehe die Leute Loane auf dem Kirchplatz für verrückt erklärt hatten. Denn unterdessen war es Winter ge-worden. Loane aber, die seit dem Unglück keine Messe verpasst und täglich für die Bootsbe-satzungen eine neue Kerze angezündet hatte, fehlte ausgerechnet in der Christmette. Es war eine klare Nacht gewesen, so sagt man, die Sterne hatten weiss gefunkelt, die Wellen des At-lantiks ebenso geschimmert, so als ob Schimmel auf den Wogen des Ozeans vor dem kalten Nordwestwind geflohen wären. Nach der Messe waren der Priester, der Dorfarzt und der Lehrer zu Loanes Haus gegangen. Gott erbarme sich ihren armen Seelen, denn was sie dort vorgefunden haben, hat sie ihr restliches, armseliges Leben nicht mehr losgelassen.»Yoric trank einen Schluck Chouchen und meinte danach beinahe entschuldigend: «Ich bin damals nicht dabeigewesen. Aber man sagt, dass Loane zuerst die Kinder mit dem Scheuer-haken erschlagen hat, ehe sie sich in ein Messer stürtze. Sie wollte verhindern, dass man ihr die Kinder wegnähme und sie in ein Refuge in Quimper oder Vannes steckte.»«Und ihr Landeier spottet immer über die kriminellen Städte, wenn ihr solche Horrorge-schichten in eurer Dorfhistorie habt?», frotzelte ich. «Die arme Frau. Was hatte sie durchma-chen müssen?», fragte ich rauchend und schaute meinem Rauch nach. Schlussendlich ent-gegnete ich: «Das kann nicht sein, heute Morgen waren Loanes Kleider intakt. Weshalb sollte sich ein verzweifelter Geist die Mühe machen, nach seinem Tod die Kleider zu tau-schen, wenn er zu spuken gedenkt? Da wäre er mit seinen Wundmalen und blutigen Kleider-fetzen doch viel gruseliger. Nein, Loane und die Kinder wurden ermordert. Nur deshalb er-scheint sie in ganzen Kleidern, um noch immer auf das ungesühnte Verbrechen hinzuweisen.»

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«Eh ben alors», meinte Yoric und kratzte sich am Hinterkopf, «toi, tu es le gribouilleur.» Er rief den drei Alten etwas auf Bretonisch zu. Ungläubig setzten sie sich an meinen Tisch und ich musste ihnen nochmals meine These erläutern. Danach diskutierten sie angereget, offenbar war in den bald zweihundert Jahren noch nie jemand auf die Idee gekommen, dass die arme Loane überfallen und ermordert worden sein könnte. Beasty me lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Chouchen. Woher ich kommen würde, fragte mich auf einmal der älteste.«Zürich», antwortete ich. «Ah, la Suisse», lächelte er.«C’est du chocolat», sagte der zweite.«Pünktliche Züge und Ricola», ergänzte der dritte, griff in seine Tasche und holte ein Pack besagter Kräuterbonbons aus seiner Tasche.«La Suisse c’est du chocolat et des Ricola», entgegnete ich stirnrunzelnd. Doch der brave Yoric rettete mich: «Du weisst, dass die katholische Kirche Selbstmördern ein ordentliches Be-gräbnis verwehrt. Und dann einer verzweifelten Witwe erst, die zuvor noch ihre Kinder getö-tet hat. Ich glaube, das jüngste war noch nicht einmal getauft… Allein dies war ein himmli-sches Desaster. Und nun kommst du aus dem fernen Zürich und belegst schlüssig, dass die armen Seelen, Gott habe sie selig, ermordet worden sind.»«Ihr glaubt mir?», fragte ich erstaunt. Die vier Bretonen schauten mich ernst an und nickten.«Weshalb sollte die arme Loane seither jeden Tag zur Mole laufen, und dies seit zweihundert Jahren, wenn man sie nicht der Chance beraubt hätte, die Rückkehr der Schiffe zu erleben?», fragte Yoric rethorisch.«Selbstmörder haben die Welt satt. Weshalb sollten sie nach ihrem Tod noch auf Erden spu-ken?», fragte der älteste.«Was waren unsere Vorfahren doch dumm!», schüttelte der mit den pünktlichen Zügen den Kopf und nahm ein weiteres Ricola. «Voilà», entgegnete Yoric. «Du musst mit ihr sprechen», sagte Chocolat. «Du bist Journalist, du stellst die richtigen Fragen. Wir müssen wissen, ob sie umgebracht worden ist, und von wem.»

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«Und weshalb sollte Loane mit mir sprechen? Heute Mittag ist sie beinahe durch mich hin-durch gegangen.»«Du bist jung», antwortete Ricola.«Danke, aber Loane ist fast zehn Jahre jünger als ich…»«Aber du bist hübsch…», sagte der älteste.«Und wenn du uns gefällst, wirst du ihr auch gefallen», flachste Ricola. «Chabis, verzellet das am Fährimaa, Buebe!», zischte ich.«Ich ginge ja schon an deiner Stelle», sagte Yoric und legte beruhigend seine Hand auf mei-nen Arm. «Du weisst, du bist Schreiberling und ich Gastwirt. Wir beide erzählen Geschich-ten, das gehört zu unserem Metier. Aber ich bin der Diskretion verpflichtet und sollte eigent-lich nur zuhören. Du als Journalist stellst Fragen, davon lebst du.»«Also gut, dann bin ich der erste Journalist, der ein Interview mit einem Geist führt», fügte ich an. Der Chouchen hinterliess seine Spuren.«A la tienne!», rief der älteste und prostete mir zusammen mit Chocolat und Ricola zu. «Wenn sie mit dir spricht, dann bezahlen wir selbst», feixte der alte. «Und sonst bist du dran. Jeder, der die Loane sieht, muss eine Lokalrunde bezahlen.»

Eine halbe Stunde später ging ich langsam auf den Pier zu. Ich sah niemanden. Schon gar kei-ne trauernde Witwe in einer bretonischen Tracht von vor zweihundert Jahren. Wenn ich mich schon zum Gespött der Einheimischen machte, dann doch wenigstes mit Stil, dachte ich und schritt lässig, einen weiteren Zino Brasil rauchend, hinaus auf den Pier, an dem die zwei oder drei müden Trawler vertäut waren. Noch immer sah ich niemand vor mir, da tauchte sie unvermittelt vor mir auf. Sie schritt auf mich zu und ging an mir vorüber, ohne mich eines Blickes zu würdigen. Nein, das durfte nicht wahr sein, ich lief ihr hinterher und rief ihren Namen. In dem Moment als ich mir bewusst wurde, dass ihr nicht mehr folgte, hörte ich ihre Schritte hinter mir. Ich drehte mich auf den Absätzen um und stand beinahe Gesicht an Gesicht mit Loane. «Hören Sie… Ich bin Journalist… Ich schreibe für ein Reisemagazin aus Hamburg… Ich

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komme aus Zürich… 1827… Was ist damals geschehen?», stammelte ich unbeholfen in besserem Français fédérale. Mein Herz schlug mir bis zum Halszäpfchen hoch.«Ich habe Sie noch nie hier gesehen, Monsieur», sagte Loane in stark bretonisch gefärbtem Französisch. Für einen Moment hatten wir Blickkontakt. Loane hatte grüngraue Augen. «Bitte sagen Sie den Leuten vom Dorf, dass die Schiffe heute heimkommen», fuhr sie mit ihrer sanften Stimme fort. Hatte ich vorhin im «Petit Môle» bloss vor mich hin schwadro-niert, so konnte ich mir allein wegen ihrer zarten Stimme kaum vorstellen, vor einer Kinds-mörderin zu stehen. «Wurden Sie und ihre Kinder ermordet, oder…», hakte ich nach.«Oder was, jeune homme? Woher kommen Sie?»«Je viens de Zurich.»«Kenn’ ich nicht. C’est où?»«Das ist etwa zwei Mal von hier nach Paris»«So weit entfernt? Paris ist eine Weltreise von hier. Und die Welt ist rund. Dann sind sie mit dem Schiff aus dem Westen gekommen?» Ich musste wohl ziemlich verdattert diesen bretoni-schen Geist angeschaut haben. Auf jeden Fall griff Loane sanft nach meinem Arm.«Ich habe weder meine Kinder noch mich getötet. 1827 war ein böses Jahr für Loane.»«Aber wer war es dann?»«Der Dorfkrämer, er hatte schon vor dem Sturm mit meinem Mann Streit, weil er unser Land erwerben wollte. Er war vor der Christmette in mein Haus eingedrungen und hat mich ge-drängt. Als ich mich gewehrt habe, ist er wahnsinnig geworden.»«Loane…», sagte ich verwirrt.«Sie sind der letzte, der mich hier sehen wird, Süric. Wie ist ihr Name?» Stammelnd nannte ich meinen Namen. «Sie heissen wirklich Yves, Süric? Das ist ein bretonischer Name. St Yves ist der Schutzpatron der Richter und Verteidiger. Sein Grab ist in der Kirche von Tréguier. Also können Sie doch nicht von so weit herkommen, wie sie mich glauben machen wollten. Ich werde dennoch beim heiligen Petrus ein gutes Wort für Sie einlegen, damit er Sie in sein nächstes Gebet einschliesst.

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Sie sind der erste, der sich für die Wahrheit interessiert hat. Adieu!», sagte sie und lächelte mich an. Von meinem heiligen Namensvetter hatte ich schon gehört und sogar einmal einen Kaffee im Restaurant neben seiner Grabeskirche getrunken. Doch habe ich nicht eben mit einem Geist gesprochen, der bei Petrus ein Wort für mich einlegen wird, obwohl ich als Protestant di-rekten Zugang zum Herrgott habe?

«Merde alors, foutez-moi la paix!», schimpfte ich, als ich das «Petit Môle» betrat und die drei Alten noch immer feixten, dass sie mich mit Loane gesehen hätten. Es gab offenbar nur je-mand, der seit 1827 mit ihr gesprochen hat. Ausgerechnet ich, der Journalist aus dem fernen Zürich. Loane wusste nicht wo Zürich lag. Sie ignorierte mich zunächst, so wie ich das auch getan hätte, wenn ich mich mir als Journalist vorgestellt hätte. Journalist, was ist das schon? Und dann noch Reisejournalist? Je vous en prie Mesdames et Messieurs…«Sie hat mir etwas mitgeteilt», sagte ich und muss dabei so überzeugend geklungen haben, dass die drei Alten ihren Spott umgehend einstellten. «Aber nicht ohne», sagte ich und Yoric verstand. Er kehrte mit einem Tablett Gläsern und einer Flasche Chouchen zurück. Wir setzten uns an den Stammtisch.«Ecoute», sagte der Wirt, «die Geschichte mit dem Sturm stimmt wirklich. Und seither ha-ben auch immer wieder Fremde Loane gesehen. Aber noch nie hat jemand mit ihr sprechen können, weder Einheimische noch Fremde.»«Sie geht auf die Leute zu, und manchmal mitten durch sie hindurch», sagte der Älteste.«So wie bei mir heute morgen», sagte ich. «Bevor ich ins ‹Petit Môle› gekommen bin, habe ich auf der Mole aufs Meer geschaut, da war sie plötzlich aufgetaucht und ist beinahe durch mich hindurchgegangen, als ob ich der personifizierte St. Gotthard Tunnel wäre.»«Was hat dir Loane vorhin gesagt», fragte Yoric eindringlich.«Dass sie ist ermordet worden ist», antwortete ich und wartete auf die Reaktion der vier.«Das ist unmöglich!», sagte Yoric bestimmt. Die drei Senioren nickten gewichtig. «Wer ist ihr Mörder?», fragte schlussendlich Chocolat.«Der Krämer. Loane erwähnte, dass er schon zu Lebzeiten ihres Mannes das Land ihres

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Hauses gewollt hatte. Er versuchte sie zu vergewaltigen, und als sie sich wehrte, brachte er sie und die Kinder ohne mit der Wimper zu zucken um.»«1828 hatte der Krämer das Haus und Land von Loanes Familie gekauft», sagte der älteste.«In seiner Familie stellen die Söhne bis heute den jungen Frauen des Dorfes nach», zischte Ricola verächtlich. Ehe Yoric noch etwas sagen konnte, knallte die Türe des «Petit Môle» auf und ein achtjähriger Knabe betrat ausser Atem das Restaurant.«Die Schiffe…», keuchte er, «wie Loane immer sagt… der Atlantik hat sie freigegeben… Eines liegt kurz vor dem Hafen und ist von der Mole aus zu sehen.»

Yoric und ich sassen drei Wochen nach der ganzen Aufregung bei einer überdurchschnittlich guten und entsprechend teuren Flasche Bordeaux im «Petit Môle», wo ich im Gästezimmer übernachtete. Das plötzliche Auftauchen der Schiffswracks vor der Küste hatte sämtliche Medien in Kergulec angeschwemmt. Ich habe es vorgezogen, mit Rückendeckung der Re-daktion in Hamburg, mich gegenüber meinen Standesgenossen als ahnungsloser Tourist auf die Seite der schweigenden Einheimischen zu schlagen. Meine Kolumne hat sich seither von selbst geschrieben und sie war vier Mal so lange geworden, als ich Platz zur Verfügung gehabt hätte. Da man aber Loane seit dem Auftauchen der Schiffe nicht mehr gesichtet hatte, würde mein bescheidener Bericht in seiner vollen Pracht Titelthema der nächsten Ausgabe werden, die den Schwerpunkt Hafenlegenden haben wird. Mit Yoric vereinbarte ich, dass aus dem zusätzlichen Honorar eine ordentliche Abschiedsfeier für Loane und die Kinder bezahlt würde.

Als ich am Abend nach der Gedenkfeier auf die Strasse vor das «Petit Môle» hinaustrat, ich kann es beschwören, hat mir Loane mit den Kindern vom Pier aus zugewinkt. Nur leider gibt es für diese Begegnung keine Zeugen.

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Strandkorbgeschichte

Das war wohl der berüchtigte Schritt zu viel gewesen, denn auf einmal ging es abwärts. Ra-sant abwärts. Ehe sichs Bagaluten Sibo versah, fand er sich kopfüber im freien Fall wieder. Um nicht ungespitzt in den Boden zu rammen, begann er mit den Armen zu rudern. Bedrohlich schnell näherte er sich dem Grund. Um sich noch drehen zu können, musste er die Harfe und die Flasche loslassen. Konnte er die Harfe noch verschmerzen, schmerzte ihn der Verlust der Flasche umso mehr. Langsam, viel zu langsam, veränderte sich seine Position. Der Wind pfiff ihm um die Ohren, schon hatte er die letzten Wolken hinter sich, als er sich erst in der Horizontalen befand. Wild um sich tretend und mit den Armen rudernd, drehte sich Bagalu-ten Sibo langsam in Position, während er auf den Erdboden zuraste. Er schlang seine Arme um die Knie und schloss die Augen in Erwartungen des unvermeidlichen Schlages, der so sicher wie das Amen in der Kirche folgen würde. Und er kam, der Schlag. Heftig, sehr heftig sogar. Doch der Aufprall, Gott sei Dank auf dem Gesäss, raubte ihm nicht nur die Luft, son-dern liess ihm auch die Sinne schwinden. Wäre er noch bei Bewusstsein gewesen, Bagaluten Sibo hätte sich gewundert, dass Schwarz so schwarz und so bunt zugleich sein konnte.

Anneke hielt Baas Aap das Kookje hin, ehe sie herzhaft in das Plätzchen biss. Während sie kaute, blickte sie über die bunten, auf dem Havelaarder Strand verteilten Strandkörbe und die gekräuselten Wellen der Nordsee, da sah sie etwas am Himmel aufleuchten. «Siehst du das, Baas Aap?», fragte sie und drückte den von ihrer Mutter gestrickten Affen, den sie ihr zu ihrem ersten Geburtstag geschenkt hatte, fest an sich. Das Licht wurde immer heller, je näher es der Erde kam. Dann verschwand es hinter einem grünen Strandkorb mit einer blauen Nummer. Eine Staubwolke stieg über den Strandkorb auf und legte sich wieder.«Mama, ich hab’ einen Engel vom Himmel fallen sehen», sagte Anneke. «Alles fein in de Reech, mien Leev», antwortete ihre Mutter, ohne den Blick von ihrem iPhone zu nehmen, worauf sie den neuesten Klatsch auf Facebook mit einem Gefällt mir likte. «Aber ich habe wirklich einen Engel vom Himmel fallen sehen!», protestierte Anneke.

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«Ja, ja», entgegnete ihre Mutter abwesend. Mit einem empörten Schrei warf Anneke eine Hampfel Sand nach ihrer Mutter. «Wullt du wat up de Juken hebben?», fragte sie düll und stammelte nach Annekes «Nie hast du Zeit für mich!» bloss noch verwirrt: «Wat?» Schmollend drehte ihr ihre Tochter den Rücken zu und gab sich demonstrativ mit dem Af-fen ab. Hilflos verwarf die Mutter die Hände, dabei war sie extra mit Anneke zum Havelaar-der Strand gekommen, damit die Kleine im Sand spielen konnte… Vergebens wartete sie auf eine Erleuchtung und auch auf Facebook tat sich verdächtig wenig.

«Zum Glück kümmert sich der Chef persönlich um die Lebenden. Die Toten machen uns Mühe genug…», sprach der Erzengel Gabriel halb tadelnd, halb vorwurfsvoll. «Nachdem man mir mitgeteilt hat, dass du von deiner Wolke gefallen bist, bin ich umgehend zum Have-laarder Strand geflogen, um dich wieder zurück in den Himmel zu bringen.«Ohne eine Flasche Klaren?», fragte Bagaluten Sibo schelmisch.«Wenn du weiterhin im Himmel so weitersäufst wie auf Erden, wirst du durch das jüngste Gericht fallen», entgegnete Gabriel ärgerlich. «Wegen einer himmlischen Flasche Klaren bin ich auch wie ein dicker Tuffeltiek auf die Erde geplumpst» bekannte Bagaluten Sibo kleinlaut.

«Mama, kiek ins, dat mooi Jüffel!», rief Anneke begeistert. Der Golden Retriever blickte in Richtung des Rufes und glaubte, Baas Baar in den Händen des kleinen Mädchens zu sehen. Kinder können leicht erschrecken, das hatte er schmerzvoll gelernt. So gab er sich Mühe, sich nicht allzusehr zu beeilen und ging wedelnd auf Anneke zu. «Jiffer!», rief ihm Tommeke nach. «Alles fein in de Reech!», schien der Jüffel zurück zu wedeln und drückte kurz danach seine feuchte Nase auf Baas Aap. «Wuff», blaffte Jiffer enttäuscht.«Lorbass, dat is nixnich!», sagte Tommeke und schaute entschuldigend zu Annekes Mutter.

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«Wo zum Harfen-Stimmer hast du bloss gesteckt?», fragte Gabriel genervt.«Na hier, auf dem Havelaarder Strand. Wie du weisst, bin ich in Fiskerstedt aufgewachsen.»«Hier hab’ ich dich auch gesucht. Doch als ich meinen Fuss auf die Erde gesetzt habe, sah ich mich umzingelt von einer Legion Strandkrabben, die mit ihren Scheren geklappert haben.»«Das tun Krabben in der Regel, wenn man sie erschreckt…», bemerkte Sibo spitz.«Erst als ich mein Schwert gezogen habe, stoben sie gesenkten Hauptes auseinander», ent-gegnete Gabriel.

«Alles fein in de Reech!», lächelte Annekes Mutter. «Ik bün Mareike un dat is Anneke.»

«Ich habe dich überall gesucht. Wo bist du gewesen?», fragte Gabriel erneut.«Als ich nach dem Absturz zu mir gekommen bin, war es bereits Nacht. Ich habe mich in ei-nen Strandkorb gesetzt und habe eine Runde geschlafen. Als ich am Morgen erwachte, er-kannte ich, dass ich auf dem Havelaarder Strand gelandet bin. Auf diesen Schreck hin brauch-te ich etwas zu trinken. Und so bin ich nach Fiskerstedt gegangen, wo man früher den besten Klaren und die leichtesten Mädchen gefunden hat. Doch wie hat sich seit meinem Tod die Welt verändert? Die meisten Mädchen baden oben ohne, dafür gibt’s in Fiskerstedt nichts mehr zu trinken. Wo bleibt da der ganze Spass?», jammerte Sibo. «Maak, dat du de Dreih kriggst», sagte Gabriel, «sonst kriegst du Probleme mit dem Chef.» «Ich glaube, der ist anderweitig beschäftigt. Wir könnten noch im ‹Aule Admirol› einen Klaren heben gehen. Der ist zwar etwas wässrig, dafür können wir einem Happy End bei-wohnen», entgegnete Bagaluten Sibo.

«Tommeke», lächelte Tommeke und zeigte auf Jiffer: «Jiffer, mien Jüffel.» Vergnügt quietschte Anneke, als ihr Jiffer mit seiner schlabbrig feuchten Zunge übers Gesicht fuhr. «Jüffel schullt man sien», sagte Mareike.«Jüffel schullt man sien», antwortete Tommeke. Lächelnd schaute er zunächst Jiffer und An-neke an, danach Mareike. Hier kreuzten sich ihre Blicke…

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Page 19: Strandkorbgeschichten

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Logbuch

An Weihnachten 2014 sah ich beim Italiener am Lindenplatz in Zürich-Altstetten Strandkörbe auf der Terrasse stehen. Das Bild gefiel mir und ich dachte, dass «Strandkorbgeschichten» ein guter Titel wäre.

«Reportage» schrieb ich 1998 während der Deutschprüfung meiner kaufmännischen Lehrabschlussprüfung. Eine der Aufgaben war die Beschreibung eines Bildes, das drei Senioren von hinten zeigte, die mit Plastiktüten in der Hand neben einem Papierkorb an einer Mauer standen. Ich habe die Geschichte in etwas weniger als einer Stunde (von anderthalb) verfasst und für mich ins Reine geschrieben. Meine Gesamtnote betrug 5,5 (von 6), zu gleichen Teilen gewichtet aus der Grammatik, der mündlichen Note und dem Aufsatz (Reportage).

«Loane» ist das typische Beispiel einer sich beim Schreiben verselbstständigenden Geschichte. Ich gab mir dieselbe Zeit wie einst bei «Reportage». Um nicht auf die Uhr schauen zu müssen, beschloss ich, die Geschichte während der TV-Übertragung eines Fussballspieles zu schreiben. Die Grasshoppers hatten im Sommer 2015 einen Lauf und schossen durchschnittich drei Tore pro Spiel. Als der Match fertig war, hatte ich die Geschichte nur in Stichworten no-tiert und benötigte noch den gesamten Restnachmittag und Abend, um die erste Fassung zu beenden. Der franzöische GC-Stürmer Yoric Ravet, der während des Spieles ein Tor erzielte, stand für den Namen des Wirtes des «Petit Môle» Pate. Dafür brauchte ich für das Schreiben der «Havelaarder Strandkrabbe» und von «Lungomare» kaum länger als man benötigt, die Geschichten zu lesen.

Für die Kurzgeschichte «bis zum Ende der Welt» adaptierte ich den U2-Song «Until The End Of The World» und benützte für den

Dialog zwischen Jesus und Judas Bonos Songtext. Seit ich 1991 den Song zum ersten Mal gehört habe, war er für mich das Gespräch zweier ehemaliger Liebhaber. Dass es sich um das Zusammentreffen von Jesus Christus und Judas Ischariot handelt, realisierte ich 23 Jahre später, als ich im Rahmen der Veröffentlichung des Albums «Songs Of Innocene» (2014) über dessen biblischen Bezüge schrieb. Aus narrativen Gründen liegen meiner Geschichte die Live-Versionen von U2 zu Grunde, welche die Band 1992, 2001 und 2010 an ihren Konzerten in Zürich gespielt hat. In der Originalversion auf «Ach-tung Baby» wirft Judas Jesus vor, beim letzten Abendmahl schlecht gelaunt gewesen zu sein. Live lässt Bono dies Jesus bekennen. Zudem bricht er das Brot (24. Juli 2001) und bemerkt am Schluss, dass dies nicht das Ende der Welt sei (27. Mai 1992).

Schweizerdeutsch ist einer der reichsten deutschen Dialekte, da er an der Grenze zum französischen, italienischen und räto-romanischen Sprachraum gesprochen wird. In meinen Texten spiele ich gerne mit diesen Einflüssen. Bei «an’n Strann» habe ich meine sprachlichen Spielregeln für das Plattdeutsche angewendet. Zunächst schrieb ich die hochdeutsche Fassung und brachte mittels Internetwörterbüchern und Sylter Korrektorrat den niedersäch-sisch-plattdeutschen Feinschliff an. Doch nicht alles, was nach Platt klingt, ist auch wirklich Platt… Anneke wurde durch ein Mädchen inspiriert, das einen Puppen-Affen hat und im Bus nicht mehr im Kinderwagen sitzen muss. Die «Strandkorbgeschichte» schrieb ich wiederum während eines Spieles von GC, das leider mit wehenden Fahnen und ohne Tor von Yoric Ravet verloren ging. Immerhin habe ich die Geschichte in Matchdauer verfasst. Yves Baer, 6. Dezember 2015

Glossar

Panamakanalschleusen

Länge x Breite: 1075 x 110 Fuss (327,66 x 33,53 Meter). Maximal zugelassene Schiffsgrösse: 965 x 106 Fuss (289,6 x 32,6 Meter) mit 37 Fuss (11,3 Meter) Tiefgang.

Chouchen

Bretonischer Honigschnaps

Cotriade/Bouillabaise

Fischschuppe.

Steak-frites

franz: Schnitzel mit Pommes-Frites.

Pression

franz: ein Glas Bier

Coquillages

franz: Meeresfrüchte

Crême Fraîche

Saurerahm aus Kuhmilch mit min. 30% Fettgehalt

Eh ben alors, toi, tu es le gribouilleur.

franz: Na gut, du bist der Schreiberling.

La Suisse c’est du chocolat et des Ricola.…

franz: Die Schweiz bedeutet Schokolade und Ricola…

Chabis, verzellet das am Fährimaa, Buebe.

züridütsch: Quatsch, erzählt keinen Bockmist, Jungs bzw.Quatsch, haltet die Klappe, Jungs. 37

A la tienne.

franz: Auf dein Wohl.

Je viens de Zurich.

franz: Ich komme aus Zürich.

Je vous en prie Mesdames et Messieurs…

franz: Ich bitte Sie, meine Damen und Herren…

Baas Aap/Baas Baar

platt: Meister Affe/Meister Bär

mien Leev

platt: Mein Liebes

Hampfel

zürichdeutsch: eine Hand voll

Wullt du wat up de Juken hebben?

platt: Wotsch Tätsch? Willst du was an die Ohren?

düll

platt: zornig, wütend, erbost

Tuffeltiek

platt: Kartoffelkäfer

Kiek ins, dat mooi Jüffel!

Schau mal, der schöne Hund!

«Maak, dat du de Dreih kriggst»

platt.Mach, dass du wegkommst.

Page 20: Strandkorbgeschichten

Kompass

Reportage

Werke-Katalog No. 189; 2. Juni 1998

an’n Strann

Werke-Katalog No. 695; 17. – 19. April 2015

das Foto

Werke-Katalog No. 703; 31. Mai/23. & 24. August 2015

bis zum Ende der Welt

Werke-Katalog No. 710; 28. August 2015

die Havelaarder Strandkrabbe

Werke-Katalog No. 712; 9. September 2015

Loane

Werke-Katalog No. 713; 12./25. September 2015

Lungomare

Werke-Katalog No. 714; 25. September 2015

Strandkorbgeschichte

Werke-Katalog No. 719; 6. Dezember 2015

Das alles und noch viel mehr…

… findet sich in der Kurzgeschichten Sélection auf Yves Baers Webseite. In über 30 Storys aus 24 Jahren sind die Buchstaben los, lässt sich Dieter Hamann klonen, rettet Jörg Jenatsch die Drei Bünde, nimmt Inspektor Klies eine Anzeige entgegen, ist man Augenzeuge eines Musenkusses und der kleine Herr Gross hat seinen grossen Tag.

Die Lyrics Sélection ist die repräsentative Auswahl der rund 200 schönsten, berührendsten und witzigsten lyrischen Federstri-che von Yves Baer, die er in 25 Jahren verfasst hat; darunter «Elefanten nagen», «Krieg und Frieden», «kleines Liebesge-dicht», «ich bestellte Armeen», «Philosophenhöck», «Rivi-era» und «wo ich geboren wurde und was mein Name ist».

www.vzfb.ch/bellet/stories_selection.htmlwww.vzfb.ch/lyrics/lyrics%20selection.html