Maschinentheorien / Theoriemaschinen · 2018. 3. 20. · Ingenieur andrej Platonov beginnt seinen...

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Transcript of Maschinentheorien / Theoriemaschinen · 2018. 3. 20. · Ingenieur andrej Platonov beginnt seinen...

  • Bernd MahrDer maschinelle Wille zur Selbstvernichtung ............................... 149

    Olaf arndt angst vor arbeit. assoziationen zum Begriff ‚roboter‘am Beispiel der Künstlergruppe BBM ...........................................177

    arTefakTe

    Joulia StraussCat-notation. Die erste Delphische Hymne an apollon .............. 197

    Viktor MazinDie Maschine Mensch oder La Mettries animatrix ...................... 233

    Christian kassungein apparat ist kein gestell ...........................................................257

    Bernhard J. DotzlerTechnotation. Babbage und die Macht der Zeichen .................... 269

    Markus krajewskiKommunikation mit Papiermaschinen.Über niklas Luhmanns Zettelkasten .............................................283

    anhang

    Bildnachweise .................................................................................308

    autorenverzeichnis .........................................................................309

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    Maschinen denken – eine einleitung

    1.

    „Der Mensch hat Maschinen!“ – antwortet der altmeister auf die Frage Zachar Pavlovičs, was den Menschen von den Vögeln unter-scheide, und er fährt fort: „Sie sind wunderschön, aber nach ihnen bleibt nichts zurück, weil sie nicht arbeiten! […] na ja, um nahrung und Wohnstatt kümmern sie sich irgendwie, aber wo sind ihre hand-werklichen erzeugnisse? Wo ist der Voreilwinkel ihres Lebens?“1 Denn so wie der Voreilwinkel dem antrieb der Dampflokomotive mechanisch vorauseilt und damit ihre Bewegung ermöglicht, so ist die geschichte des Menschen eine geschichte seiner in die Zukunft voreilenden technischen entwürfe. Der russische Schriftsteller und Ingenieur andrej Platonov beginnt seinen 1928 fertig gestellten, aber von der Zensur aufgrund seines dystopischen Charakters so-gleich verbotenen roman Čevengur mit der Vorstellung Zachar Pavlovičs. In seinem unaufhaltsamen Drang nach erkenntnis und seiner Leidenschaft für phantastische erfindungen unterscheidet er sich von den restlichen Dorfbewohnern, denen er zunehmend fremd gegenübersteht. Und genau wie sein Lehrer, der altmeister, schenkt er der „von Menschenhand unberührte[n] natur“ kei-

    1 Platonow, andrej: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Berlin 1990, 45.

  • 10

    nerlei Beachtung, da es bei Tieren und Bäumen „keinen einzigen bewußten Hammerschlag und keine genauigkeit handwerklicher Meisterschaft“ gibt.2 Dagegen weiß Zachar Pavlovič sich für alle ar-tefakte, besonders die aus Metall, zu begeistern, denn sie sind für ihn „voller Leben und in ihrer Konstruktion und Kraft sogar interes-santer und geheimnisvoller als der Mensch“.3 als ältester Sohn eines Lokomotivführers und Metallarbeiters wächst andrej Platonovič Klimentov in Voronež auf und beteiligt sich bereits in frühen Jahren an Versorgung und erziehung seiner neun geschwister. 1918 schreibt er sich mit achtzehn Jahren in seiner Heimatstadt an der elektrotechnischen abteilung der Poly-technischen Hochschule ein. In diesen Jahren beginnt auch seine literarische Tätigkeit. 1921 erscheint sein erstes Buch Ėliktrifikazija („elektrifizierung“), dem zahlreiche weitere Veröffentlichungen von erzählungen und gedichten folgen mit Titeln wie Raby mašin („Maschinensklaven“), Pro ėlektričestvo („Über elektrizität“), Ėfirnyj trakt („Ätherstrasse“), Izobretateli! („erfinder!“), Dynamo-mašina („Dy-namomaschine“). Diese ‚elektrifizierung des Wortes‘4 vedichtet sich in folgenden Versen:

    Unsere Hände – regulator des elektrischen Stroms,

    In unserem Herzen atmet seine unfassbare Kraft.

    Ohne Seele, ohne gott sind wir und arbeiten ohne Frist,

    Die elektrische Flamme goss uns ein neues Leben ein.5

    eine poetische Fortschreibung von Lenins Programm revolutio-närer elektrifizierung betreibt Platonov aber auch mit seiner eige-nen erfinderischen Tätigkeit. So reicht er am 31. Januar 1924 die Beschreibung einer Vorrichtung zur Aufrechterhaltung eines konstanten Spannungsstroms während der wechselnden Anzahl von Umdrehungen eines Wechselstromgenerators (abb. 1) zum Patent ein.6 es folgen eine Vor-

    2 ebd., 46.

    3 ebd.

    4 Vgl. dazu Kaminskij, Konstantin: Die elektrifizierung des Wortes: Motive und Su-jets der elektrizität im Frühwerk von andrej Platonov, Konstanz 2008.

    5 Platonov, andrej: Dynamo-mašina. In: ders.: Sočinenija, Moskva 2004, t. 1, 334.6 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 21d. nr.

    758, 7625 II/63.

    Hans-Christian von Herrmann, Wladimir Velminski

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    nerlei Beachtung, da es bei Tieren und Bäumen „keinen einzigen bewußten Hammerschlag und keine genauigkeit handwerklicher Meisterschaft“ gibt.2 Dagegen weiß Zachar Pavlovič sich für alle ar-tefakte, besonders die aus Metall, zu begeistern, denn sie sind für ihn „voller Leben und in ihrer Konstruktion und Kraft sogar interes-santer und geheimnisvoller als der Mensch“.3 als ältester Sohn eines Lokomotivführers und Metallarbeiters wächst andrej Platonovič Klimentov in Voronež auf und beteiligt sich bereits in frühen Jahren an Versorgung und erziehung seiner neun geschwister. 1918 schreibt er sich mit achtzehn Jahren in seiner Heimatstadt an der elektrotechnischen abteilung der Poly-technischen Hochschule ein. In diesen Jahren beginnt auch seine literarische Tätigkeit. 1921 erscheint sein erstes Buch Ėliktrifikazija („elektrifizierung“), dem zahlreiche weitere Veröffentlichungen von erzählungen und gedichten folgen mit Titeln wie Raby mašin („Maschinensklaven“), Pro ėlektričestvo („Über elektrizität“), Ėfirnyj trakt („Ätherstrasse“), Izobretateli! („erfinder!“), Dynamo-mašina („Dy-namomaschine“). Diese ‚elektrifizierung des Wortes‘4 vedichtet sich in folgenden Versen:

    Unsere Hände – regulator des elektrischen Stroms,

    In unserem Herzen atmet seine unfassbare Kraft.

    Ohne Seele, ohne gott sind wir und arbeiten ohne Frist,

    Die elektrische Flamme goss uns ein neues Leben ein.5

    eine poetische Fortschreibung von Lenins Programm revolutio-närer elektrifizierung betreibt Platonov aber auch mit seiner eige-nen erfinderischen Tätigkeit. So reicht er am 31. Januar 1924 die Beschreibung einer Vorrichtung zur Aufrechterhaltung eines konstanten Spannungsstroms während der wechselnden Anzahl von Umdrehungen eines Wechselstromgenerators (abb. 1) zum Patent ein.6 es folgen eine Vor-

    2 ebd., 46.

    3 ebd.

    4 Vgl. dazu Kaminskij, Konstantin: Die elektrifizierung des Wortes: Motive und Su-jets der elektrizität im Frühwerk von andrej Platonov, Konstanz 2008.

    5 Platonov, andrej: Dynamo-mašina. In: ders.: Sočinenija, Moskva 2004, t. 1, 334.6 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 21d. nr.

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    Abb.1: Andrej Platonov: Entwurf einer Vorrichtung zur Aufrechterhaltung eines

    konstanten Spannungsstroms, 1924.

    Abb.2: Andrej Platonov: Zeichnung einer Vorrichtung für die Stromzuleitung zum

    elektrischen Erwärmungswiderstand, 1934.

    Maschinen denken - eine einleitung

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    richtung für die Stromzuleitung zum elektrischen Erwärmungswiderstand (abb. 2)7 sowie eine elektromagnetische eichvorrichtung für Waa-gen (abb. 3).8 eine solche Poetik technischen erfindens prägt auch Platonovs ro-man Čevengur, der sich damit in größtmögliche Distanz zu einem rein instrumentellen Technikverständnis begibt. er zielt vielmehr auf eine erziehung zum Maschinellen und zu einem Leben im Zeichen technischen Konstruierens und Organisierens. Dies wird deutlich, wenn der eigentliche Held des romans, der ausgestoßene und gequälte Saša Dvanov, von Zachar Pavlovič, dessen Spitzname zudem noch „Dreiachtelbolzen“ lautet, aufgenommen und wie eine technische Zeichnung ‚erzeugt‘ wird. So wie man Details eines ent-

    7 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 21h, 10. nr. 38234, V1/00.

    8 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 42f, 25. nr. 38793, 6653 12/61.

    Abb.3: Andrej Platonov: Entwurf einer elektromagnetischen Eichvorrichtung für Waagen,1933.

    Hans-Christian von Herrmann, Wladimir Velminski

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    richtung für die Stromzuleitung zum elektrischen Erwärmungswiderstand (abb. 2)7 sowie eine elektromagnetische eichvorrichtung für Waa-gen (abb. 3).8 eine solche Poetik technischen erfindens prägt auch Platonovs ro-man Čevengur, der sich damit in größtmögliche Distanz zu einem rein instrumentellen Technikverständnis begibt. er zielt vielmehr auf eine erziehung zum Maschinellen und zu einem Leben im Zeichen technischen Konstruierens und Organisierens. Dies wird deutlich, wenn der eigentliche Held des romans, der ausgestoßene und gequälte Saša Dvanov, von Zachar Pavlovič, dessen Spitzname zudem noch „Dreiachtelbolzen“ lautet, aufgenommen und wie eine technische Zeichnung ‚erzeugt‘ wird. So wie man Details eines ent-

    7 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 21h, 10. nr. 38234, V1/00.

    8 Platonov, andrej: „Patent na izobretenie“, rOSPaTenT-archiv, Klass 42f, 25. nr. 38793, 6653 12/61.

    Abb.3: Andrej Platonov: Entwurf einer elektromagnetischen Eichvorrichtung für Waagen,1933.

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    wurfs auf einem Blatt anordnet und nach ihrer Funktionsweise de-finiert, so geschieht auch die Charakterbildung des Helden. Wäh-rend Zachar Pavlovič dabei aber ein wahrer Projektemacher bleibt und an jeder seiner erfindungen das Interesse verliert, sobald ihre Vollendung in Sicht ist, bildet sich bei Saša Dvanov ein symbiotisches Verhältnis zu den technischen artefakten heraus, wie es auch in sei-nen namen („der Zweifache“) eingeschrieben ist:

    Sascha interessierten Maschinen genau wie andere funktionierende und lebende

    gegenstände. er wollte sie weniger erkennen als fühlen und ihr Leben nachemp-

    finden. Wenn er von der arbeit heimkehrte, stellte es sich vor, eine Lokomotive

    zu sein, und erzeugte alle Laute, die eine fahrende Lok ausstößt. Im einschlafen

    dachte er, daß die Hühner im Dorf längst schliefen, und dieses Bewußtsein der

    gemeinschaft mit Hühnern und Lokomotiven gab ihm Befriedigung.9

    9 Platonow, andrej: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Berlin 1990, 45.

    Abb.4: Andrej Platonov: Entwurf einer Gaslokomotive, 1928.

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    Die Mechanismen der Lokomotive gehen in die Vorstellungen und in das gefühl Dvanovs ein, womit die Maschine in ein Verhältnis zum Menschen tritt, wie es in der Kulturgeschichte zuvor den Haus-tieren vorbehalten war. Dieser Schritt meint weder, den Menschen als Maschine zu begreifen, noch ihm mit Hilfe technischer Prothe-sen zur Vollkommenheit zu verhelfen. Stattdessen tritt das Maschi-nelle hier als neue künstliche Umwelt an die Stelle der natürlichen. Diese Verwandlung wird zum ende des ersten romanteils mit dem eintritt Saša Dvanovs in die bolschewistische Partei vollendet. Im weiteren Verlauf gibt Platonov seinem Bildungsroman allerdings eine dystopische Wendung, wenn er den Versuch, das kommuni-stische Kollektiv in der fiktiven Stadt Čevengur planmäßig und rück-sichtslos herauszubilden, katastrophal scheitern lässt. Dies musste auf Seiten der Parteiideologen auf Unverständnis und ablehnung stoßen. als exemplarisch kann hier ein Brief Maksim gorkis vom 18. September 1929 gelten, den er als antwort auf Platonovs Zusendung seines romans verfasste. Darin heißt es:

    Doch trotz der unbestreitbaren Vorzüge Ihrer arbeit glaube ich nicht, daß man

    sie drucken und veröffentlichen wird. Dem steht Ihre anarchistische Denkweise

    im Wege, die der natur Ihres ‚geistes‘ offenbar eigen ist. Ob Sie es wollten oder

    nicht, aber Sie haben der Beleuchtung der Wirklichkeit einen lyrisch-satirischen

    Charakter verliehen, und das ist für unsere Zensur natürlich unannehmbar. Bei

    all Ihrem Zartgefühl für die Menschen sind sie bei Ihnen ironisch gefärbt. Sie

    werden dem Leser weniger als revolutionäre, sondern eher als ‚komische Käuze‘

    und ‚Irre‘ erscheinen.10

    Platonov antwortete ihm postwendend:

    Vielleicht werden sich in den nächsten Jahren die gegenseitigen freundschaft-

    lichen gefühle in der Sowjetunion ‚vergegenständlichen‘, und dann wird es gut.

    Dieser Idee ist mein Werk gewidmet, und es bedrückt mich, dass es nicht veröf-

    fentlicht werden kann.11

    10 Brief Maksim gorkis an andrej Platonov vom 18. September 1929. Zit. nach De-büser, Lola: „Der anfang der kommunistischen gesellschaft“, in: Platonow, an-drej: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Berlin 1990, 487-522, hier 508f.

    11 ebd., 510-511. Zum ersten Mal, jedoch mit einigen Kürzungen, erscheint Pla-tonovs roman unter dem Titel Les herbes folles de Tchevengour 1972 in Paris und

    Hans-Christian von Herrmann, Wladimir Velminski

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    Die Mechanismen der Lokomotive gehen in die Vorstellungen und in das gefühl Dvanovs ein, womit die Maschine in ein Verhältnis zum Menschen tritt, wie es in der Kulturgeschichte zuvor den Haus-tieren vorbehalten war. Dieser Schritt meint weder, den Menschen als Maschine zu begreifen, noch ihm mit Hilfe technischer Prothe-sen zur Vollkommenheit zu verhelfen. Stattdessen tritt das Maschi-nelle hier als neue künstliche Umwelt an die Stelle der natürlichen. Diese Verwandlung wird zum ende des ersten romanteils mit dem eintritt Saša Dvanovs in die bolschewistische Partei vollendet. Im weiteren Verlauf gibt Platonov seinem Bildungsroman allerdings eine dystopische Wendung, wenn er den Versuch, das kommuni-stische Kollektiv in der fiktiven Stadt Čevengur planmäßig und rück-sichtslos herauszubilden, katastrophal scheitern lässt. Dies musste auf Seiten der Parteiideologen auf Unverständnis und ablehnung stoßen. als exemplarisch kann hier ein Brief Maksim gorkis vom 18. September 1929 gelten, den er als antwort auf Platonovs Zusendung seines romans verfasste. Darin heißt es:

    Doch trotz der unbestreitbaren Vorzüge Ihrer arbeit glaube ich nicht, daß man

    sie drucken und veröffentlichen wird. Dem steht Ihre anarchistische Denkweise

    im Wege, die der natur Ihres ‚geistes‘ offenbar eigen ist. Ob Sie es wollten oder

    nicht, aber Sie haben der Beleuchtung der Wirklichkeit einen lyrisch-satirischen

    Charakter verliehen, und das ist für unsere Zensur natürlich unannehmbar. Bei

    all Ihrem Zartgefühl für die Menschen sind sie bei Ihnen ironisch gefärbt. Sie

    werden dem Leser weniger als revolutionäre, sondern eher als ‚komische Käuze‘

    und ‚Irre‘ erscheinen.10

    Platonov antwortete ihm postwendend:

    Vielleicht werden sich in den nächsten Jahren die gegenseitigen freundschaft-

    lichen gefühle in der Sowjetunion ‚vergegenständlichen‘, und dann wird es gut.

    Dieser Idee ist mein Werk gewidmet, und es bedrückt mich, dass es nicht veröf-

    fentlicht werden kann.11

    10 Brief Maksim gorkis an andrej Platonov vom 18. September 1929. Zit. nach De-büser, Lola: „Der anfang der kommunistischen gesellschaft“, in: Platonow, an-drej: Tschewengur. Die Wanderung mit offenem Herzen, Berlin 1990, 487-522, hier 508f.

    11 ebd., 510-511. Zum ersten Mal, jedoch mit einigen Kürzungen, erscheint Pla-tonovs roman unter dem Titel Les herbes folles de Tchevengour 1972 in Paris und

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    2.

    „Das Denken jedes Zeitalters spiegelt sich in seiner Technik wider.“12 Dieser Satz findet sich in norbert Wieners programmatischer ab-handlung Cybernetics or Control and Communication in the Animal and the Machine, die 1948 zugleich in Paris und new York erschien, in Deutschland aber erst 1963 einen Verleger fand. Der darin gemach-te Vorschlag, die geschichte der Maschinen als Zugangsweg zu einer geschichte des Denkens zu begreifen, schließt seine Selbstanwen-dung mit ein, lässt er sich doch seinerseits auf einen maschinenhi-storischen einschnitt beziehen: den Übergang von mechanischen und thermodynamischen zu Informationsmaschinen. Mit der reihe ‚Uhr – Dampfmaschine – sensitive automaten‘ entwirft Wiener eine archäologie seiner gegenwart, die er als kybernetisches Zeitalter der Kommunikation und der regelung versteht. Weit davon entfernt, eine bloß technikhistorische Stufenfolge zu bezeichnen, kommt den Maschinen bei Wiener somit ein apriorischer Stellenwert zu, im Sinne von Michel Foucaults ‚historischem apriori‘, das „sich als die gesamtheit der regeln“ definiert, „die eine diskursive Praxis charakterisieren“.13 aufgegriffen wurde Wieners Kurzschluss zwi-schen geistes- und Maschinengeschichte schon wenige Jahre später von Jacques Lacan, der in seinem Seminar von 1954/55 feststellte: „Die Maschine verkörpert die radikalste symbolische aktivität beim Menschen, und sie war notwendig, damit sich die Fragen […] auf dem niveau stellen, wo wir sie stellen. […] Zwischen Hegel und Freud liegt die Heraufkunft einer Welt der Maschine“,14 nämlich der Dampfma-schine von Watts mit ihrem Fliehkraftregler. ebenso aber liegt, wie Friedrich Kittler später ergänzte, „zwischen Freud und Lacan der Computer, alan Turings Universale Diskrete Maschine von 1936“.15

    gleichzeitig in deutscher Übersetzung mit dem Titel Tschewengur bei Luchter-hand, Darmstadt. Die erste vollständige ausgabe des roman wird 1978 in Lon-don publiziert. In der Sowjetunion erscheint Čevengur erst 1988.

    12 Wiener, norbert: Kybernetik. regelung und nachrichtenübertragung im Lebe-wesen und in der Maschine, Düsseldorf/Wien 1963.

    13 Foucault, Michel: archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1981, 185.

    14 Lacan, Jacques: Das Seminar Buch II: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse, Weinheim/Berlin 1991, 99.

    15 Kittler, Friedrich: „Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine“, in: ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, 58-80, hier 65.

    Maschinen denken - eine einleitung

  • 16

    erst mit ihr aber ist die ‚Welt des Symbolischen‘, also das gesamte Spektrum des Zeichengebrauchs, als ‚eine Welt der Maschine‘ an-schreibbar geworden, einer Maschine wohlgemerkt, die alle Ähn-lichkeit mit dem Menschen, wie sie noch die (mechanischen) automaten des Barock und die (energetischen) roboter des Indus-triezeitalters kennzeichnete, hinter sich gelassen hat. Statt wie zu-vor als Unterscheidungsmarke zwischen Menschen und Maschinen (oder Tieren) zu gelten, erscheint Sprache nunmehr als subjektlose Signifikantenkette, deren Ordnung strengen regeln der Verknüp-fung und der ersetzung folgt. Sie kann damit, wie Claude e. Shan-non ebenfalls 1948 („a Mathematical Theory of Communication“) feststellte,16 probabilistisch als Markovkette angenähert werden. Wenn unter den Bedingungen von Turings (Papier-)Maschinenmo-dell und Shannons Informationstheorie Sprache und Denken ma-thematisch-technisch implementierbar werden, so ist damit keine kognitivistische Modellbildung gemeint, sondern eine strukturelle Beschreibung kultureller Praktiken. Sie zielt nicht auf eine erset-zung des Menschen durch Maschinen, sondern auf die Vermessung der Spielräume hochtechnisch gewordener gesellschaften. Mit den Maschinentheorien Turings, Shannons und Wieners ist die aufgabe entstanden, das Verhältnis von Kultur und Technik neu zu bestimmen. Zu den frühen Zeugnissen einer solchen anstren-gung gehört neben Jacques Lacans Psychoanalyse auch gotthard günthers Philosophie der ‚transklassischen‘, „mit ‚Denken‘ und ‚Bewußtstein‘ begabten Maschine“, in der „der Mensch eine analo-gie des eigenen Ichs“ gestaltet.17 Orientiert am Modell des kyberne-tischen Servomechanismus entwickelte Marshall McLuhan in den sechziger Jahren in Toronto sein kulturhistorisches Konzept einer Symbiose von Mensch und Technik.18 Zur gleichen Zeit entwarf gil-bert Simondon in Paris eine Philosophie des technischen Objekts, die den Menschen als Koordinator und erfinder von Maschinen be-

    16 Shannon, Claude e.: „eine mathematische Theorie der Kommunikation“, in: ders.: ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und nachrichtentheorie, Berlin 2000, 7-100.

    17 günther, gotthard: Das Bewußtsein der Maschinen. eine Metaphysik der Kyber-netik, Baden-Baden 1957.

    18 McLuhan, Marshall: „geschlechtsorgan der Maschinen“, Playboy-Interview mit eric norden (März 1969), in: Baltes, Martin/Höltschl, rainer/Marchand, Philip (Hg.): absolute Marshall McLuhan, Freiburg 2002, 7-55.

    Hans-Christian von Herrmann, Wladimir Velminski

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    erst mit ihr aber ist die ‚Welt des Symbolischen‘, also das gesamte Spektrum des Zeichengebrauchs, als ‚eine Welt der Maschine‘ an-schreibbar geworden, einer Maschine wohlgemerkt, die alle Ähn-lichkeit mit dem Menschen, wie sie noch die (mechanischen) automaten des Barock und die (energetischen) roboter des Indus-triezeitalters kennzeichnete, hinter sich gelassen hat. Statt wie zu-vor als Unterscheidungsmarke zwischen Menschen und Maschinen (oder Tieren) zu gelten, erscheint Sprache nunmehr als subjektlose Signifikantenkette, deren Ordnung strengen regeln der Verknüp-fung und der ersetzung folgt. Sie kann damit, wie Claude e. Shan-non ebenfalls 1948 („a Mathematical Theory of Communication“) feststellte,16 probabilistisch als Markovkette angenähert werden. Wenn unter den Bedingungen von Turings (Papier-)Maschinenmo-dell und Shannons Informationstheorie Sprache und Denken ma-thematisch-technisch implementierbar werden, so ist damit keine kognitivistische Modellbildung gemeint, sondern eine strukturelle Beschreibung kultureller Praktiken. Sie zielt nicht auf eine erset-zung des Menschen durch Maschinen, sondern auf die Vermessung der Spielräume hochtechnisch gewordener gesellschaften. Mit den Maschinentheorien Turings, Shannons und Wieners ist die aufgabe entstanden, das Verhältnis von Kultur und Technik neu zu bestimmen. Zu den frühen Zeugnissen einer solchen anstren-gung gehört neben Jacques Lacans Psychoanalyse auch gotthard günthers Philosophie der ‚transklassischen‘, „mit ‚Denken‘ und ‚Bewußtstein‘ begabten Maschine“, in der „der Mensch eine analo-gie des eigenen Ichs“ gestaltet.17 Orientiert am Modell des kyberne-tischen Servomechanismus entwickelte Marshall McLuhan in den sechziger Jahren in Toronto sein kulturhistorisches Konzept einer Symbiose von Mensch und Technik.18 Zur gleichen Zeit entwarf gil-bert Simondon in Paris eine Philosophie des technischen Objekts, die den Menschen als Koordinator und erfinder von Maschinen be-

    16 Shannon, Claude e.: „eine mathematische Theorie der Kommunikation“, in: ders.: ausgewählte Schriften zur Kommunikations- und nachrichtentheorie, Berlin 2000, 7-100.

    17 günther, gotthard: Das Bewußtsein der Maschinen. eine Metaphysik der Kyber-netik, Baden-Baden 1957.

    18 McLuhan, Marshall: „geschlechtsorgan der Maschinen“, Playboy-Interview mit eric norden (März 1969), in: Baltes, Martin/Höltschl, rainer/Marchand, Philip (Hg.): absolute Marshall McLuhan, Freiburg 2002, 7-55.

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    greift.19 Daran knüpften einige Jahre später gilles Deleuze und Félix guattari mit ihrer umfangreichen Studie Capitalisme et Schizophrénie an, die in polemischer Wendung gegen Sigmund Freuds Ödipalisie-rung der Kultur den maschinellen Charakter des Unbewussten her-vorhebt und die revolutionäre Befreiung (des Wunsches) aus einer Menschen und Techniken umfassenden Verkettung hervorgehen lässt.20

    „Pour redonner à la culture le caractère veritablement général qu’elle a perdu, il faut pouvoir réintroduire en elle la conscience de la nature des machines, de leurs relations mutuelles et de leurs rela-tions avec l’homme, et des valeurs impliquées dans ces relations.“21 Die ‚natur der Maschinen‘, über die es die Kultur, Simondon zufol-ge, aufzuklären gilt, liegt nicht im automatismus, sondern im grad ihrer Offenheit oder nicht-Determinierung. Sie ermöglicht es, dass zwischen Menschen und Maschinen ein Verhältnis der Ko-operation oder Symbiose entsteht. „La machine“, so Simondon weiter, „est ce que par quoi l’homme s’oppose à la mort de l’univers; elle ralentit, comme la vie, la dégradation de l’énergie, et devient stabilisatrice du monde.“22 Im Übergang von energie zu Information gewinnen die Maschinen einen negentropischen Charakter. Zugleich erfährt die ‚Welt‘ eine neue Beschreibung in kybernetischen Modellen, womit Maschinentheorien und Theoriemaschinen zu zwei Seiten einer Medaille werden.

    3.

    am anfang dieses Bandes stand ein kulturwissenschaftlicher Work-shop am Institut für Slawistik der Humboldt-Universität zu Berlin. Den ausgangspunkt der Diskussion bildete ein Vortrag Igor Tchu-barovs, der sich zu diesem Zeitpunkt als Stipendiat der Humboldt-Stiftung in Berlin aufhielt. an die Vorstellung seiner Thesen zu Platonovs „literarischen Maschinen“ schloss sich der Versuch an,

    19 Simondon, gilbert: Du mode d’existence des objets techniques, Paris 1958.

    20 Deleuze, gilles/guattari, Félix: anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Franfurt am Main 1974, und dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizo-phrenie, Berlin 1992.

    21 Simondon, gilbert: Du mode d’existence des objets techniques, Paris 1958, 13.

    22 ebd., 15f.

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    eine Brücke zwischen dem modernen Maschinismus der russischen avantgarde und postmodernen Maschinentheorien zu schlagen. eine erste Publikation fand im rahmen der russischen Zeitschrift Logos statt, die dem Thema einen eigenen Band widmete. er wurde im Mai 2010 auf einem Symposium an der Moskauer Staatlichen Lomonosov Universität vorgestellt. auch der vorliegende Band dokumentiert die durchaus kontroversen Positionen des Berliner Workshops, ergänzt um einige wenige zusätzliche Beiträge. Im Vor-dergrund steht jeweils das Interesse, kulturwissenschaftliche arbeits-weisen und Konzepte im Umgang mit der Frage des Maschinellen vorzuführen. Den autoren des Bandes möchten die Herausgeber dafür danken, dass sie sich auf dieses deutsch-russische Projekt ein-gelassen haben. nicole rettig (Konstanz) gilt unser Dank für die Durchsicht des Manuskripts. Für das geduldige Interesse am Thema danken wir Benjamin Kloss (Berlin) vom Peter Lang Verlag.Kurz bevor die letzten Korrekturarbeiten an diesem Band abge-schlossen wurden, verstarb in Berlin Friedrich Kittler, dem einige der hier Beteiligten, darunter die Herausgeber, nicht weniger ver-danken als den Weg zur Wissenschaft. Ihm, dessen aufsatz „Die Welt des Symbolischen – eine Welt der Maschine“ die russische Version dieser Textsammlung einleitet, ist dieses Buch gewidmet.

    Berlin, 19. Oktober 2011

    Hans-Christian von Herrmann Wladimir Velminski

    Hans-Christian von Herrmann, Wladimir Velminski