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Kindernetzwerk e.V. für Kinder, Jugendliche und (junge) Erwachsene
mit chronischen Krankheiten und Behinderungen
Leitfaden Therapieverfahren bei Cerebralparesen
Eine Materialiensammlung von
www.kindernetzwerk.de | www.netzwerk‐cerebralparese.de
Copyright: Kindernetzwerk e.V. – Bundesgeschäftsführer: R. Schmid
Netzwerk Cerebralparese e.V. – Vorsitzender: Dr. A. Sprinz, Schatzmeister: Dr. E. Bialas
Leitfaden Therapieverfahren bei Cerebralparesen
Stand: November 2017
Hauptautoren & Redaktion:
Pädiatrischer Beraterkreis von
Kindernetzwerk e.V.
und
Netzwerk Cerebralparese e.V.
mit
Raimund Schmid (Aschaffenburg)
Dr. Jürgen Seeger (Frankfurt)
Dr. Andreas Sprinz (Kempten)
Prof. Dr. Hans‐Michael Straßburg (Würzburg)
Dr. Björn‐Christian Vehse (Siegen)
Weitere Mitglieder des Autorenteams:
PD Dr. Steffen Berweck (Vogtareuth)
Andrea Espei (Osnabrück)
Dr. Ulf Hustedt (Hattingen)
PD Dr. Delia Lorenz (Würzburg)
Prof. Dr. Bernd Wilken (Kassel)
Prof. Hannes Haberl
Dr. Theodor Michael
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis 4 1. Vorwort
Zielsetzung und Nutzung dieser (Online)‐Handreichung für Betroffene, Eltern und Fachleute
5
2. Grundlagen
2.1. Das Leben mit Kindern und Jugendlichen mit einer Cerebralparese
8
2.2. „Gross Motor Function Classification System“ – Klassifikation und The‐rapiekurven für Kinder mit Cerebralparesen – Version 3/2014
10
2.3. Versorgung 3.0: Ein modularer, qualitätsgesicherter und anerkannter Behandlungspfad zur langfristigen Versorgung – Vorschlag von Netz‐werk Cerebralparese e.V.
15
Die nachfolgenden Artikel werden ausschließlich in der Online‐Version dieses Leitfadens zur Verfügung gestellt.
2.4.
Begriffserklärungen
3. Therapieverfahren
4. Autorenliste
5. Links zu den einzelnen Therapieverfahren
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1. Vorwort Zielsetzung und Nutzung dieser (Online)‐Handreichung für Betroffene, Eltern und Fachleute Von Raimund Schmid (für den Pädiatrischen Beraterkreis von Kindernetzwerk e.V. und für den Beraterkreis von Netzwerk Cerebralparese e.V.)
Welche Therapie ist die richtige für mein Kind? Diese Frage stellen sich wohl alle Eltern eines Kindes
oder Jugendlichen mit Cerebralparese oder cerebral bedingten Bewegungsstörungen.
Dabei stehen in Deutschland sehr viele Therapiemethoden, Behandlungsverfahren und auch
Experten zur Verfügung. Kaum einer weiß, wie viele Behandlungsverfahren es überhaupt gibt. Und
bei vielen Therapiemethoden ist nicht genau bekannt, was sie im Detail zu leisten imstande sind
beziehungsweise wo ihre Grenzen liegen.
Als erste Überblickssammlung hat das Kindernetzwerk bereits im Jahr 2006 in enger Kooperation mit
der damals gemeinsam von Fachleuten wie Betroffenen getragenen CP‐Initiative des
Kindernetzwerks sowie dem pädiatrischen Beraterkreis im Kindernetzwerk, die Materialiensammlung
„Therapieverfahren bei infantilen Cerebralparesen“ herausgegeben. In dieser 136 Seiten
umfassenden Dokumentation wurden insgesamt 27 Therapiemethoden aufgeführt und beschrieben.
Mit einbezogen wurden darin physiotherapeutisch orientierte Verfahren, manualtherapeutische
Verfahren, neurophysiologische Verfahren, pharmakologische Ansätze sowie operative
Möglichkeiten. Für Betroffene, wie auch für Experten war dieser erste Versuch einer
Materialienzusammenstellung sicherlich zur damaligen Zeit ein großer Fortschritt, da es bis 2006
bundesweit keine einzige Publikation gab, die nahezu alle Therapiemethoden der Cerebralparese in
einer einzigen Publikation patientennah zusammengefasst hatte.
Allerdings hatte diese Dokumentation auch Schwächen. Die Darstellung der jeweils aufgeführten
Methoden basierte allein auf den Angaben von Vertretern der jeweiligen Therapierichtungen, die
damit auch allein für die inhaltlichen Aussagen verantwortlich waren. Zwar sind diese Angaben dann
nochmals von der CP‐Initiative und dem pädiatrischen Beraterkreis im Kindernetzwerk überprüft
worden, sodass zumindest grobe Falschaussagen noch korrigiert werden konnten. Dennoch blieb ein
großes Manko, dass viele Therapieverfahren zu positiv dargestellt wurden. Die Anbieter der
jeweiligen Therapiemethoden hatten ‐ aus verständlichen Gründen ‐ ein nur sehr eingeschränktes
Interesse, auch Nachteile oder zumindest Grenzen der jeweiligen Methoden zu benennen.
Schon 2006 hieß es im Editorial zur Materialiensammlung, dass „die jetzt vorgelegte Dokumentation
nur ein Anfang sein kann.“ Dies hat nun das Kindernetzwerk zusammen mit dem Verein Netzwerk
Cerebralparese e. V. (www.netzwerk‐cerebralparese.de) aufgegriffen und nach vorbereitenden
Treffen im Jahr 2015 nun den nächsten längst überfälligen Schritt vollzogen. Um die Inhalte stärker
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auf neue evidenzbasierte Therapieansätze und weniger auf (möglicherweise dubiose) Heils‐
versprechungen auszurichten, wurde bei den redaktionellen Sitzungen beschlossen, eine neue
Sammlung von Therapieverfahren im Bereich der Cerebralparese mit einigen entscheidenden
Neuerungen herauszugeben:
1. Die jetzt vorliegende Sammlung von Therapieverfahren wird nicht wie bei der ersten
Kindernetzwerk‐Materialiensammlung aus dem Jahr 2006 abschließend sein. Da es sich bei der
aktuellen Übersicht über die Therapieverfahren um eine Online‐Handreichung handelt, können
jederzeit neue Therapieverfahren hinzukommen, die Beschreibungen verändert werden oder
gegebenenfalls auch Verfahren aus der Liste gestrichen werden. Diese Flexibilität ermöglicht es
nun, die Sammlung der Therapieverfahren stets auf einem aktuellen Stand zu halten.
2. Die einzelnen Therapieverfahren werden – wie auch schon in der Erstauflage –nach einem
einheitlichen Muster vorgestellt. Anders als in der Erstauflage werden nun allerdings weniger
subjektive, sondern mehr qualitative Bewertungen berücksichtigt. Dies spiegelt sich ins‐
besondere im abschließenden Punkt der beschriebenen Therapieverfahren wider, in dem eine
„Kritische Stellungnahme“ erfolgt, die zunächst von den jeweiligen Autoren stammt, aber dann
insgesamt von dem CP‐Experten im Kindernetzwerk und auch aus dem Netzwerk Cerebralparese
konsentiert worden ist. Wenn auch diese Bewertung aufgrund häufig fehlender fundierter
Studien und Daten nicht immer einfach vorgenommen werden konnte, kann sie dennoch
betroffenen Patienten und ihren Familien sowie Ärzten als Orientierung dienen, sich über die
jeweiligen Verfahren ein objektiveres Bild als bislang zu verschaffen.
3. In Ergänzung zur Erstauflage findet sich jetzt am Ende jedes Kapitels zu den einzelnen
Therapieverfahren auch eine Literaturübersicht. Eine besondere Neuerung ist aber die aktuelle
Linkliste, in der die Nutzer rasch zu weiterführenden Informationen gelangen können. Diese Link‐
Adressen können in der Online‐Version natürlich direkt angeklickt werden. Dies ermöglicht, auch
immer wieder auf aktualisierte Informationen rasch zugreifen zu können.
4. Der Online‐Handreichung ist neben dieser erläuterten Einführung zur Anwendung und Nutzen
dieser Publikation erstmals auch ein zusammenfassender Text für ein modulares, qualitäts‐
gesichertes und interdisziplinäres Versorgungskonzept für Kinder und junge Menschen mit
Cerebralparesen vorgeschaltet. Der Textbeitrag ist ein Plädoyer für eine möglichst optimale
Vernetzung mit einem koordinierten Versorgungspfad in dem gerade für CP‐Patienten
ansonsten sehr unkoordinierten Gesundheitssystem. Denn jedes einzelne hier vorgestellte
Therapieverfahren kann nur dann seine volle Wirkung entfalten, wenn es in ein mit Patienten
und Angehörigen abgestimmtes, integriertes und umfassendes Gesamt‐Behandlungskonzept von
ärztlichen und nicht ärztlichen Fachleuten eingebettet ist. Der Textbeitrag von Kindernetzwerk‐
Geschäftsführer Raimund Schmid ist eine gekürzte, kompakte und verständliche Zusammen‐
fassung der Textversion des Netzwerks Cerebralparese, der in der Zeitschrift Neuropädiatrie in
Klinik und Praxis im Jahr 2015 als Fachbeitrag für Mediziner und insbesondere Neuro‐ und
Sozialpädiater erschienen ist.
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5. Trotz aller Sorgfalt und aller Objektivitätsbemühungen von Seiten des Kindernetzwerks und des
Netzwerks Cerebralparese erhebt auch diese Online‐Handreichung keinen Anspruch auf
Vollständigkeit und auf die „absolute Wahrheit“. Insofern sind die Initiatoren auch diesmal auf
die künftige Mitwirkung von engagierten Lesern, Nutzern und anderen Professionellen
angewiesen. Nur so kann diese Online‐Handreichung immer weiter verbessert, ausgebaut und
inhaltlich qualifiziert werden, zumal sich die Erkenntnislage auch in immer kürzeren
Zeitabständen fortlaufend verändert und erweitert.
Abschließend sei an dieser Stelle allen Autorinnen und Autoren gedankt, die sich die Mühe gemacht
haben, die einzelnen Therapieverfahren zu durchleuchten und kompakt, verständlich und möglichst
qualitätsgesichert aufzubereiten. Ein großer Dank richtet sich auch an die Initiatoren des Netzwerk
Cerebralparese und des Beraterkreises von Kindernetzwerk e. V., die gemeinsam dieses Projekt
überhaupt erst in Gang gebracht und dann als Redaktionsteam auch tatsächlich umsetzt haben.
Das Ergebnis, das Sie nun vorfinden, kann sich unseres Erachtens durchaus sehen lassen. Natürlich
freuen wir uns jetzt auf Ihre Reaktionen und auf Ihr Feedback. Vor allem hoffen wir aber, dass die
vorgestellte Sammlung insbesondere in der Praxis einen hohen Nutzwert für die betroffenen Kinder
und Jugendlichen finden wird.
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2. Grundlagen
2.1. Das Leben mit Kindern und Jugendlichen mit einer Cerebralparese
Von Prof. Dr. Hans‐Michael Straßburg
Neben den hier vorgestellten Therapieverfahren gibt es noch sehr viele andere Gesichtspunkte, die
für das Alltagsleben des Kindes oder Jugendlichen mit einer Cerebralparese und für seine Eltern sehr
wichtig sind. Diese Punkte können nachfolgend nur kurz erwähnt werden.
So wichtig Therapien bei einer CP auch sind, sie dürfen das Leben des Kindes und seiner Eltern nicht
beherrschen. Grundsätzlich hat ein Kind mit einer CP, gleich welchen Ausmaßes, die gleichen
Bedürfnisse wie andere Kinder.
Das heißt:
Ein Kind mit CP will und soll sich möglichst viel selbständig bewegen!
Wie alle anderen Kinder profitieren auch Kinder mit CP vor allem von verschiedenen
Spielangeboten, sowohl für sich alleine, als auch mit anderen Kindern oder auch mit
Unterstützung und Teilnahme von Erwachsenen.
Kinder mit CP wollen und sollen jeden Tag an die frische Luft. Bei richtiger Kleidung gibt es
keine anderen Einschränkungen als bei gesunden Kindern. Der Aufenthalt im Freien ist gut
für die Atemwege, das Immunsystem, den Knochenstoffwechsel und vieles mehr.
Kinder mit CP brauchen einen erholsamen, ausreichend langen Schlaf. Bei Schlafstörungen
sollten möglichst die Ursache gesucht und gefunden werden, und dann sollte eine gezielte
Behandlung erfolgen.
Kinder mit CP brauchen eine möglichst vielfältige, schmackhafte und verträgliche Ernährung.
Bei Kau‐ und Schluckproblemen gibt es viele Hilfs‐ und Therapieangebote. Insbesondere soll
eine Mangelernährung, aber auch eine übermäßige Nahrungszufuhr mit Übergewicht
vermieden werden. Erhebliche Beschwerden können besonders bei schwerer CP durch eine
Verschlussstörung des Magens mit Rückfluss von saurem Mageninhalt in die Speiseröhre
entstehen, dem sogenannten gastro‐ösophagealen Reflux (GÖR)1. Dadurch kann es zu einer
Entzündung der Speiseröhrenschleimhaut und Schmerzen kommen. Zu seiner Behandlung
gibt es verschiedene Möglichkeiten.
Es ist wichtig, bei Kindern mit CP auf die regelmäßige Stuhl‐ und Harnblasenentleerung zu
achten, gegenbenenfalls mit Hilfe zusätzlicher Therapiemaßnahmen.
Eine Cerebralparese kann sehr oft Schmerzen verursachen, zum Beispiel durch eine
Fehlhaltung des Körpers, durch die Spastik oder Dystonie2 (Muskelverspannungen),
Knochenhautreizungen, eine Entzündung der Speiseröhre, eine Stuhlverstopfung oder
andere Ursachen sollten möglichst vermieden werden. Zumindest sollten alle Beteiligten
bemerken, wenn Kinder und Jugendliche mit CP Schmerzen haben. Dann sollten die
Schmerzen gezielt behandelt werden.
1 siehe Begriffserklärungen, Kapitel 0, Seite 14 2 siehe Begriffserklärungen, Kapitel 0, Seite 14
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Für jeden Menschen ist es von besonderer Bedeutung, sich für seine Umwelt verständlich zu
machen. Menschen mit CP haben oft eine undeutliche Aussprache bzw. können kaum
verständliche Laute bilden. Mit Hilfe verschiedener Methoden der unterstützten
Kommunikation können sie sich aber oft verständlich machen und haben so einen
wesentlichen Gewinn an Lebensqualität.
Vor allem brauchen Kinder und Jugendliche mit CP andere Menschen, die Zeit für sie haben,
mit ihnen zusammen sein wollen, zu denen sie Vertrauen haben – kurz: sie brauchen
Freunde, so wie jeder Mensch.
Eltern von Kindern und Jugendlichen mit CP beschäftigen sich mit noch vielen weiteren Fragen,
zum Beispiel:
Soll und kann mein Kind einen normalen Kindergarten besuchen?
Ist die Betreuung in einer sonderpädagogischen Kindertagesstätte sinnvoller?
Welches ist die richtige Schule für mein Kind?
Wann ist eine stationäre Behandlung in einer Sozialpädiatrischen Klinik oder einer
Rehabilitations‐Einrichtung sinnvoll?
Wie können zusätzliche Fördermaßnahmen finanziert werden?
Ab wann sollte ein Behinderten‐Ausweis ausgestellt werden?
Wer übernimmt die Betreuung, wenn mein Kind erwachsen wird?
Vielleicht gibt es auch ungeklärte Fragen zur Entstehung der CP, zur Frage der Haftung,
zum Anspruch auf Schmerzensgeld und vieles mehr.
Für diese und viele weitere Themen brauchen Eltern vertrauenswürdige Berater. Nach unserem Verständnis sollten alle Kinder und Jugendlichen mit einer CP oder ähnlichen Erkrankungen in einer spezialisierten neuropädiatrischen Praxis oder in einem Sozialpädiatrischen Zentrum in der Nähe des Wohnortes betreut werden. Dort können spezialisierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter (Ärzte/innen, Sozialberater/innen) diese und andere Fragen beantworten. Wenn Sie Fragen haben, wo Ihr Kind betreut werden kann, so können Sie sich an folgende Organisationen wenden: Kindernetzwerk e.V.: www.kindernetzwerk.de Netzwerk Cerebralparese e.V.: www.netzwerk‐cerebralparese.de
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2.2. „Gross Motor Function Classification System“ – Klassifikation und Therapiekurven für Kinder mit Cerebralparesen – Version 3/2014
Von Florian Heinen, A. Sebastian Schröder, Ulla S. Michaelis, Sabine Stein, Steffen Berweck, Volker Mall Korrespondenzadresse: www.cp‐netz.de Modifizierter ZEBRA‐Consensus Übersetzung in möglichst leicht verständliche Sprache: Andreas Sprinz (2016)
Welche Behandlung wann sinnvoll sein kann.
Wie es funktioniert und was die Beschränkungen der verschiedenen Arten der Behandlung
sind.
Die Darstellung der Therapiekurven kann im Internet aufgerufen werden. Adresse:
http://www.klinikum.uni‐muenchen.de/mashup/blaetterkatalog_ispz_gmfcs/.
Orthopädie Für wen, für was?
Behandlungsmöglichkeiten für Patienten mit GMFS‐Grad I bis V
Je höher der Schweregrad nach GMFCS, desto früher sollte eine orthopädische Mit‐Behandlung erfolgen
Grundsatz
ein spezialisierter Kinderorthopäde gehört zu jeder Behandlung eines Patienten mit CP Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
durch Operationen können Fehlstellungen von einem oder mehreren Gelenken ausgeglichen werden
Verformungen von Knochen und Veränderungen von Muskeln sollen vermieden werden
bereits aufgetretene Knochenverformungen können zur Verbesserung der Funktion oder zur Erleichterung der Pflege und Linderung von Folgeschäden ausgeglichen werden
Beispiele
bei GMFCS I Spitzfuß mit bleibenden Verformungen und mit Unfähigkeit zur vollständigen Knie‐Streckung, Plattfuß
bei GMFCS II: wie bei I, sog. Klumpfuß, auch wenn zusätzlich ein Spitzfuß besteht; erschwertes Aufrichten und Strecken im Knie
bei GMFCS III: wie bei II und zusätzlich unvollständige Fähigkeit der Streckung im Hüftgelenk, Auskugelung im Hüftgelenk, Probleme der Kniescheibe
GMFCS IV‐V: wie vorher und Verkrümmung der Wirbelsäule, bleibende Veränderungen an Armen und Händen
Grenzen
mögliche zusätzliche Erkrankungen
Umstritten sind die bislang fehlenden Belege zur sicheren Wirksamkeit,
es ist wissenschaftlich nicht ausreichend bewiesen, welche Operation wann hilft
Gefahr von einer zu großen Korrektur und von notwendigen Nach-Operationen bei erneuten Verformungen
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Intrathekales Baclofen Für wen, für was?
sinnvoll für Patienten ab GMFCS‐Grad IV (selten III) Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
Verminderung der spastischen Muskelspannungserhöhung am ganzen Körper,
zusammen mit mehr Lebensqualität (z.B. durch besseres Sitzen, mehr Beweglichkeit, leichteres Tragen von Schienen, erleichterte Körperpflege, weniger Schmerzen, besserer Schlaf, mehr Körpergewicht, weniger Medikamente, die auch müde machen können)
Wie funktioniert es?
durch direkte Wirkung auf die Schlüsselstellen im Rückenmark und Gehirn werden krankhafte Bewegungen gehemmt
im Vergleich zur Gabe in Tablettenform wird bei der Pumpentherapie etwa 100 bis 1000 mal weniger Wirkstoff benötigt
Grenzen
die Veränderungen an Muskeln, Gelenken und Knochen können nicht beeinflusst werden
in einigen Fällen reagieren Patienten mit Muskelschwäche
auch technische Schwierigkeiten oder Infektionen sind mögliche Komplikationen
Wirbelsäulenverkrümmungen können sich verbessern oder verschlechtern
Botulinumtoxin Für wen, für was?
sinnvoll für spastische Bewegungsstörungen bei GMFCS I bis V Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
Veränderung von Muskelspannungen bei (über‐) aktiven Muskeln, die an einem oder mehreren Gelenken wirken (sog. Multilevel‐Behandlung)
Wie funktioniert es?
eine örtlich auf einzelne Muskeln begrenzte Hemmung von den Botenstoffen an der Verbindung zwischen Nerven und Muskeln
führt zu weniger Muskelspannung, je mehr Medikament desto weniger Muskelspannung
durch die Wirkung auf den Muskel und seine Nervenregelkreise hat der Muskel bis zu 20% weniger Kraft
die Wirkung hält etwa 3 bis 6 Monate an
die Behandlung wird bei den meisten Patienten bis zu 3x im Jahr durchgeführt Beispiele
Patienten mit GMFCS I bis max. III:
Botulinumtoxin wird zur Verbesserung der Funktion der Muskeln eingesetzt
durch die Verkleinerung der Überspannung der Muskeln kann ein Ausgleich zwischen den Beuge‐ und Streckmuskeln erreicht werden, wenn die Beine oder Arme noch voll beweglich sind
durch die Behandlung kann auch das Auftreten von bleibenden Verformungen, hinausgezögert werden, z.B. die Hemmung der vollständigen Kniestreckung
durch Botulinumtoxin‐Behandlung kann das Tragen von Schienen usw. erleichtert werden
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Patienten mit GMFCS Level IV bis V:
die Funktion von Arm oder Bein kann nur selten verbessert werden
bei einigen Patienten kann Botulinumtoxin aber helfen, Hilfsmittel besser zu bedienen.
es ist bei vielen Patienten sinnvoll zur Verringerung von Schmerzen.
es kann auch sinnvoll sein, weil damit die Pflege der Patienten einfacher wird, oder weil sie damit besser sitzen, liegen oder stehen können
manche Patienten können die Schienen besser tragen
der zu große Speichelfluss kann verringert werden Grenzen
die Muskeln können für gewisse Zeit zu schwach werden
eine Wirkung auf zu viele Muskeln bzw. den ganzen Körper ist bei einzelnen Patienten möglich
Orale Medikation (Medizin, die geschluckt wird)
Für wen, für was?
sinnvoll für spastische Bewegungsstörungen bei GMFCS IV und V, manchmal auch bei GMFCS III Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
umfassende Senkung der Muskelspannung, z.B. zur Linderung von Schmerzen, zur einfacheren Lagerung und Pflege
auch als Übergangslösung vor und nach Operationen Wie funktioniert es?
Senkung von der Muskelspannung von allen spastischen Muskeln Grenzen
Müdigkeit, Schläfrigkeit, Denkschwäche, allgemeine Schwäche, Atembeschwerden, Verlust der Wirkung
Orthesen, Hilfsmittel, Mobilitätshilfen (Schienen und Hilfsmittel) Für wen, für was?
sinnvoll für spastische Bewegungsstörungen bei GMFCS I bis V
sinnvoll, wenn die Ärzte mit den Technikern eng zusammenarbeiten Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
Verbesserung von Liegen, Sitzen, Stehen, Greifen, der Teilhabe
Vorbeugung und/oder Verbesserung von Muskelverkürzungen Wie funktioniert es?
Erhaltung und Verbesserung der Funktion von Armen und Beinen, besseres Aufrichten des Körpers
Beispiele
siehe Beitrag Hilfsmittelmatrix Grenzen
keine einheitlichen Grundsätze zur Versorgung, daher unterschiedliche Versorgungen
Patienten nehmen Hilfsmittel sehr unterschiedlich an
es ist nicht ausreichend wissenschaftlich bewiesen, welche Hilfsmittel wirken
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Funktionelle Therapien (Behandlungen zur Förderung der Entwicklung) Für wen, für was?
sinnvoll für spastische Bewegungsstörungen bei GMFCS I bis V
die Behandlungen sollen die Entwicklung begleiten
die Behandlungen sollen ein Ziel verfolgen, sie können fortlaufend durchgeführt werden oder in bestimmten Abschnitten und mit Pausen
Ziele der Behandlung
werden für jeden einzelnen Patienten festgelegt
Unterstützung der Bewegungs‐Entwicklung
sog. Handling („richtiges Anfassen“), Anleitung der Eltern
Ermutigung des Patienten
Übung für den Gebrauch, Übung für die Kraft, Übung für die Ausdauer
Messen vom Zustand oder Messen von Änderungen Wie funktioniert es?
Therapie für das Problem des Patienten
je nach Schweregrad der CP mit unterschiedlicher Stärke
Üben von der aktiven Funktion, Bewegungen nachahmen
Dehnung, um die Länge vom Muskel zu erhalten
Lernen von Bewegungen durch Wiederholen
Verstärkung der Wirkung nach Behandlung mit Botulinumtoxin
Veränderung vom Gleichgewicht zwischen den Muskeln, z.B. Beuger und Strecker an einem Gelenk; damit sich im Alltag die Muskeln besser einsetzen lassen für die Ziele (wie sie funktionieren, wie der Patient am Leben teilhaben kann, wie der Patient gepflegt werden kann)
Grenzen
es ist unklar, welche Art der Therapie für welche Ziele die beste ist
es ist wissenschaftlich nicht ausreichend bewiesen, wie viel und wie oft die Therapie gemacht werden muss
einige Konzepte sind nur zum Teil wissenschaftlich untersucht
Klassifikation nach GMFCS
Mit dieser Einteilung wird das Ausmaß von Bewegungseinschränkungen der sogenannten Groß‐
Motorik beschrieben, also der Fähigkeit zu sitzen, zu stehen, zu gehen usw.. Die Einteilung erfolgt in
fünf Schweregrade und wird durch die Fachleute durchgeführt. Ein Fragebogen für Eltern hilft bei der
Einteilung. Dieser Fragebogen ist in den spezialisierten Einrichtungen erhältlich.
Quellen
Online‐Version der Therapiekurven im Web: http://www.klinikum.uni‐
muenchen.de/mashup/blaetterkatalog_ispz_gmfcs/
GMFCS ‐ E & R © Robert Palisano, Peter Rosenbaum, Doreen Bartlett, Michael Livingston, 2007
CanChild Centre for Childhood Disability Research, McMaster University
GMFCS © Robert Palisano, Peter Rosenbaum, Stephen Walter, Dianne Russell,
Ellen Wood, Barbara Galuppi, 1997
CanChild Centre for Childhood Disability Research, McMaster University
(Reference: Dev Med Child Neurol 1997;39: 214‐223)
Deutsche Übersetzung von Ulla S. Michaelis1, Michaela Linder‐Lucht1, Sabine Stein1, Ute Breuer2
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1 Arbeitsgruppe Bewegungsstörungen, Zentrum für Kinder‐ und Jugendmedizin, Freiburg 2 Pädiatrische Neurologie I Entwicklungsneurologie I Sozialpädiatrie, LMU München
CanChild Centre for Childhood Disability Research
Institute for Applied Health Sciences,
McMaster University, 1400 Main Street West,
Room 408, Hamilton, ON,
Canada L8S 1C7
Tel: 905‐525‐9140 ext. 27850 Fax: 905‐522‐6095
E‐mail: [email protected]
Website: www.canchild.ca
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2.3. Versorgung 3.0: Ein modularer, qualitätsgesicherter und anerkannter Behandlungspfad zur langfristigen Versorgung – Vorschlag des Netzwerk Cerebralparese e.V.
Von Andreas Sprinz, Björn‐Christian Vehse, Daniel Herz, Enno Bialas
(Originaltitel der Veröffentlichung: „Netzwerk Cerebralparese ‐ Entwurf eines modularen, qualitätsgesicherten und konsentierten Versorgungspfades zur langfristigen Versorgung“ (erschienen in: Neuropädiatrie in Klinik und Praxis, 14. Jg. 2015, Nr. 2, Seite 46‐52) Übertragung: Raimund Schmid
Cerebralparesen (CP) gehören zu den häufigsten Ursachen von Behinderungen des Bewegungssystems im Kindes‐ und Jugendalter. Da mit der CP häufig viele Funktionen beeinträchtigt sind, erfordern die lebenslangen Behinderungen eine langfristige ausgelegte Versorgung. Diese Behandlung und Betreuung stellt eine große Belastungsprobe für die Patienten, Familien und alle notwendigen ärztlichen, therapeutischen, sozialen und technischen Dienste dar. Und dabei muss zugleich ein schwieriger Spagat gemeistert werden: Die Erkenntnisse zu Therapien haben zwar enorm zugenommen, dennoch fehlen vielfach die Möglichkeiten für eine angemessene oder gar optimale Versorgung. Das liegt auch an der großen Zahl der betroffenen Kinder. Es werden in Deutschland jedes Jahr rund 1.250 bis 1.800 Kinder geboren, die eine CP bekommen. Für die Patienten ist es aufgrund der Vielzahl der Probleme sehr wichtig, dass alle Beteiligten gut zusammenarbeiten (können). Im Alltag ist das jedoch häufig eine kaum oder nur schwer zu beherrschende Aufgabe. Obwohl es wissenschaftliche Bewertungen einzelner Therapieformen, Beurteilungen von Methoden und Leitlinien für einzelne Teile des Krankheitsbildes gibt, fehlen abgestimmte Gesamtkonzepte, die wissenschaftlich geprüft sind und in der Durchführung überwacht werden. In Deutschland kann keine Institution alleine für alle Patienten alle erforderlichen Behandlungs‐elemente anbieten. Für die Patienten heißt das häufig auch: viele, oft wechselnde Kontaktpersonen und beteiligte Institutionen für die verschiedenen Aufgaben, hoher Termindruck und zu wenig Abstimmung zwischen den Behandlungselementen. Eltern und die beteiligten Fachkräfte schaffen es kaum, alles unter einen Hut zu bringen! Um diese Probleme gemeinsam zu lösen, hat eine Gruppe von Ärzten (unter anderem aus der DRK Kinderklinik Siegen, dem Marienstift Arnstadt und dem Zentrum für interdisziplinäre Neuropädiatrie Kempten) in Abstimmung mit der Freiburger Initiative CP‐Netz (www.cp‐netz.de) eine Initiative gegründet. Ihr Ziel ist es, nach und nach einen Versorgungspfad für CP‐Patienten zu entwickeln, der aus einzelnen, überschaubaren Bausteinen (sogenannten Modulen) besteht.
In den Modulen arbeiten alle beteiligten Experten zusammen, auch wenn Sie zu verschiedenen Stellen gehören. Der Versorgungspfad richtet sich nach den Bedürfnissen der Patienten und nach den Aufgaben im Alltag. Dafür ist fachgruppenübergreifende und flächendeckende Abstimmung erforderlich.
Für diese Abstimmung haben sich zwischen Ende 2011 und Ende 2014 neben der Initiatorengruppe über 100 Experten aus ganz NRW und darüber hinaus in vielen Sitzungen ausgetauscht. Sie haben sich auf die Grundlagen und vor allem die ersten sechs Module des Versorgungspfades geeinigt.
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Mit zunehmendem Arbeitsumfang wurde am 16. Oktober 2013 in Dortmund ein gemeinnütziger Verein gegründet, der den Namen „Netzwerk Cerebralparese e.V. – Verein zur Förderung vernetzter CP‐Versorgung“ trägt (www.netzwerk‐cerebralparese.de).
Doch wie unterscheiden sich die vom Netzwerk Cerebralparese formulierten Versorgungskonzepte von herkömmlichen Behandlungsansätzen? In der Regelversorgung „kreisen“ die Versorger zeitlich begrenzt zur Lösung eines bestimmten Problems um einen chronisch kranken Patienten. Häufig sind die Behandler untereinander nicht aus‐reichend vernetzt. Beim Auftreten von weiteren Fragestellungen beziehungsweise anderen Problemen scheidet der Patient jedoch mangels Zuständigkeit aus diesem „Kreislauf“ aus. Günstigstenfalls sucht sich der Patient neue Versorger, die wiederum einen neuen Kreislauf um ihn bilden. Sehr häufig steht der Patient dann jedoch unvermittelt ganz ohne vertraute Behandler da. Eine fortlaufende, langfristige Koordination der Maßnahmen fehlt. Um dieses Risiko zu vermeiden sieht das Versorgungsmodell des Netzwerk Cerebralparese einen langfristig und kontinuierlich zuständigen Arzt (in der Regel des behandelnden Kinderneurologen) als Fallkoordinator vor. Diesem kommt die Aufgabe zu, die Behandlung in allen Aspekten zu steuern und den Patienten bzw. die Angehörigen zu beraten. Im Gegensatz zu üblichen Casemanagern (zum Beispiel nach SGB XII) ist dies eine ureigene ärztliche Aufgabe, auch weil dazu höchste medizinische Fachkompetenz erforderlich ist. Umso wichtiger ist es aber auch, dass der verantwortliche und koordinierende Arzt wesentliche Teilaufgaben an nicht‐ärztliche Mitarbeiter im Netzwerk delegieren kann, da nur so eine Rundum‐Versorgung mit allen notwendigen Fachgebieten möglich wird. Gemeinsam mit dem Patienten entwickeln die zuständigen Ärzte und Therapeuten jeweils einen Behandlungsplan für die nächste Zeit, auf der Basis der persönlichen Bedürfnisse des Patienten. So entsteht ein individueller, bedarfsgerechter Versorgungspfad für jeden einzelnen Patienten. Rund 100 Experten haben sich in bislang über 50 Sitzungen auf die Behandlungsgrundlagen geeinigt und die ersten sechs Module (Behandlungsbausteine) des Behandlungspfades erarbeitet. Das sind die schon fertiggestellten Module, kurz zusammengefasst: 1. Modul: Abklärungs‐Diagnostik bei CP (‐Verdacht)
Für eine möglichst effektive Therapie ist die frühestmögliche Diagnosestellung unabdingbar. Die Diagnose einer CP wird vor allem klinisch gestellt, ergänzt durch eine Magnet‐Resonanz‐Tomo‐graphie (MRT, Kernspin‐Tomografie) des Kopfes, bei unilateraler (einseitiger) CP auch durch eine spezielle Untersuchung der Gerinnungsaktivität. Neben der ärztlichen Untersuchung ist eine unabhängige Befunderhebung durch eine erfahrene Physiotherapeutin erforderlich (Vier‐Augen‐Prinzip). Eine unklare Diagnose erfordert bei anhaltender Symptomatik eine erneute Diagnostik, spätestens im vierten Lebensjahr.
2. Modul: (Re‐) Evaluation und Koordination Neben der klinischen Untersuchung durch den CP‐erfahrenen Neuro‐ oder Sozialpädiater oder Kinderorthopäden werden standardisierte Tests und gegebenenfalls auch computergestützte Verfahren wie die 3D‐Bewegungsanalyse, eingesetzt. Die Abstimmung mit dem Patienten und im Team über Ziele und Behandlungsergebnisse, die Beratung der Patienten und ihrer Familien und die Koordinierung weiterer Module und gegebenenfalls sonstiger Behandlungen erfolgt ebenfalls in diesem Modul. Das Modul wird bedarfsabhängig wiederholt.
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3. Modul: Physiotherapie Die Physiotherapie bildet die therapeutische Basis der CP‐Behandlung. Besonders in Verbindung mit anderen Therapien ‐ vor allen nach Botulinumtoxin‐Injektionen ‐ ist die Physiotherapie angezeigt. Moderne Physiotherapiekonzepte zur CP schließen bedarfsgerecht auch Laufband‐Therapie, gerätegestütztes Krafttraining oder robotergestützte Verfahren ein.
4. Modul: Hilfsmittelversorgung Hilfsmittel sind Bestandteil der Therapien in jedem Alter. Die Netzwerk‐Initiatoren haben für dieses Modul eine neue Hilfsmittelmatrix entwickelt, die je nach Alter und Schweregrad der CP Hinweise zu sinnvollen Hilfsmitteln gibt. Wiedervorstellungen zur Hilfsmittel‐Kontrolle werden je nach Alter, Wachstum und Abnutzung der Hilfsmittel durchgeführt, in der Regel jedoch mindestens einmal pro Jahr.
5. Modul: Kinder‐ und Neuroorthopädie Nach der Erstdiagnose der CP sollte eine erste kinderorthopädische Untersuchung innerhalb von 3 bis 6 Monaten erfolgen. Die Kinderorthopäden überprüfen die Funktionen und die Stellung des Bewegungsapparates und initiieren die gegebenenfalls erforderliche Anschlussdiagnostik (zum Beispiel Röntgen). Auf dieser Grundlage erfolgt die konservative und gegebenenfalls auch operative Therapie.
6. Modul Medikamenten‐Therapie (einschließlich Botulinumtoxin‐Behandlung):
Teilmodul A: Die oralen Medikamente gegen Spastik haben in der Therapie zur Verbesserung von Bewegungen und Funktionen nur eine geringe Bedeutung. In der nicht‐funktionellen und lindernden Therapie sind sie jedoch unverzichtbar –obwohl die Wirkung oft nur mäßig ist und häufig Nebenwirkungen auftreten.
Teilmodul B: Einen sehr wichtigen Therapiebaustein stellen Botulinumtoxin‐ (BoNT‐) Injektionen3 dar. Auch bei BoNT ist ein frühzeitiger Therapiebeginn mit geringen Dosen zur Unterstützung des motorischen Lernens sinnvoll. Eine enge Verzahnung mit Folge‐ beziehungsweise Begleittherapien, zum Beispiel Physiotherapie und Intensivtrainingsmethoden hilft einen guten Therapieerfolg zu erzielen. Deshalb ist diese Kopplung bei einem Therapie‐ansatz zur Verbesserung von Funktionen zwingend. BoNT spielt auch eine wichtige Rolle in der Therapie der spastik‐assoziierten Schmerzen, die die Lebensqualität der Patienten oft massiv einschränken. Teilmodul C: Die Intrathekale Baclofentherapie (ITB) ist ebenfalls ein wichtiger Therapie‐baustein. Sie dient der Verminderung von spastikbedingten Schmerzen, der Verbesserung der Lagerungs‐ und Sitzmöglichkeiten oder kann auch in sehr schwierigen Fällen zur Linderung und Verbesserung der Pflege eingesetzt werden. Sie verbessert damit auch die Teilhabemöglichkeiten der Patienten. Teilmodul D: Weitere pharmakotherapeutische Ansätze, zum Beispiel Schmerzblockaden oder Phenol‐Injektionen haben derzeit aus klinischen oder historischen Gründen im deutschsprachigen Raum keine große Bedeutung.
3 siehe Begriffserklärungen Kapitel 0, Seite 14
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Vernetzung: Das A & O bei der Behandlung der Cerebralparese Die Module bilden einen bedarfsgerechten Versorgungspfad durch entsprechende Vernetzung. Neben den persönlichen Kontakten in interdisziplinären Sprechstunden und Teambesprechungen bildet der Austausch standardisierter elektronischer Dokumentationen aus den einzelnen Modulen die Basis der Vernetzung auch über die Grenzen der einzelnen Einrichtungen hinweg. Dazu hat das Netzwerk entsprechende Verfahren entwickelt, die institutionsübergreifend und datenschutzgeprüft funktionieren. Dies führt zu einer Verbesserung der Gesamtabstimmung der Therapien, das ist „Therapie 3.0“. Die Auswahl und Reihenfolge der Module erfolgt nach dem Bedarf des Patienten, nach Beratung im Team und mit dem Patienten. Wichtig: Neue Module können je nach zukünftigen Erkenntnissen problemlos eingefügt werden. Die Entwicklung des Netzwerkes ist noch längst nicht abgeschlossen – und sie wird es nie sein, da immer wieder neue Kooperationspartner – wie zum Beispiel Kindernetzwerk e.V. als der Dachverband der Eltern‐Selbsthilfe in Deutschland ‐ hinzukommen. Auch werden fortlaufend neue therapeutische Bausteine und weitere Module erprobt, so zum Beispiel robotergestützte Therapien und Intensiv‐trainings, die einiges versprechen, deren Nutzen aber noch nicht abschließend wissenschaftlich belegt ist. Weitere Fortschritte könnten sich auch aus den ermutigenden Ergebnissen konsequenter Hüft‐Überwachungsprogramme in Skandinavien ergeben. Mit Hilfe solcher Programme lassen sich Folgeerkrankungen der Hüftschäden durch CP wirkungsvoll reduzieren. Es ist daher wünschenswert, diese Programme auch in ganz Deutschland umzusetzen. Mit der im Modul 5 „Kinderorthopädie“ entwickelten Wirbelsäulen‐Ampel könnte erreicht werden, dass es zukünftig besser gelingt, Skoliosen, also Verkrümmungen der Wirbelsäule, rechtzeitig zu entdecken. Dann kann eine frühzeitig einsetzende Therapie die schwerwiegenden Folgen dieser Erkrankung mindern. Fazit und Schluss Keine Institution und kein noch so qualifizierter Mediziner allein kann allen CP‐Patienten alle notwendigen Möglichkeiten alltagstauglich zur Verfügung stellen. Einen Ausweg bietet die hier vorgestellte ressourcenschonende und möglichst optimale Vernetzung durch einen koordinierten Versorgungspfad. Nur eine solche abgestimmte Vernetzung wirkt unmittelbar verbessernd auf die Lebensqualität der Patienten. Das ist das Ziel von Therapie 3.0. Durch den Austausch im Team und die festgelegten Qualitätsstandards können für den Patienten wie für die Versorger entscheidende „Stolpersteine aus dem Weg geräumt“ werden. Auch das steigert die Effizienz der Behandlung und die Therapietreue (Compliance) der zumeist sehr jungen Kinder. Da für alle Patienten gleiche klinische, organisatorische und administrative Standards gelten, können die Module unabhängig vom Wohnort oder der Zugehörigkeit des allerdings in jedem Fall qualifizierten Fallmanagers/Behandlers flächendeckend im Land eingesetzt werden. Es bleibt zu hoffen, dass künftig möglichst viele neu diagnostizierte CP‐Patienten aber auch alle anderen zusammen mit ihren Eltern und Familien davon profitieren mögen.
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Linksammlung ‐Therapieverfahren bei Cerebralparesen‐ Akupunktur http://www.kindernetzwerk.de/akupunktur‐therapieverfahren‐bei‐cerebralparesen
Baclofen (Intrathekale)‐Therapiehttp://www.kindernetzwerk.de/intrathekale‐baclofen‐therapie‐bei‐cerebralparesen
Bobath‐Konzepthttp://www.kindernetzwerk.de/bobath‐konzept‐therapieverfahren‐bei‐cerebralparesen
Botulinum‐Neurotoxin‐Injektionenhttp://www.kindernetzwerk.de/botulinum‐neurotoxin‐injektionen‐therapieverfahren‐bei‐cp
Castillo Morales Therapie und andere logopädische Behandlungsmethodenhttp://www.kindernetzwerk.de/castillo‐morales‐therapie‐bei‐cerebralparese
Craniosacrale Therapie http://www.kindernetzwerk.de/craniosacrale‐therapie‐therapieverfahren‐bei‐cerebralparese
Ergotherapie für Kinder und Jugendlichehttp://www.kindernetzwerk.de/ergotherapie‐bei‐cerebralparesen
Feldenkrais‐Methode http://www.kindernetzwerk.de/feldenkrais‐methode‐bei‐cerebralparese
Konduktive Förderung – Das Petö‐Konzepthttp://www.kindernetzwerk.de/konduktive‐foerderung‐das‐petoe‐konzept
Neurointensiv‐Rehabilitation bei ICP nach Kozijavkinhttp://www.kindernetzwerk.de/konzijavkin‐methode‐therapieverfahren‐bei‐cerebralparesen
Mototherapie http://www.kindernetzwerk.de/mototherapie‐bei‐cerebralparese
Operative Therapie http://www.kindernetzwerk.de/operative‐therapie‐bei‐cerebralparese
Osteopathie http://www.kindernetzwerk.de/osteopathie‐und‐osteopathische‐verfahren‐bei‐cerebralparese
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Selektive dorsale Rhizotomie http://www.kindernetzwerk.de/selektive‐dorsale‐rhizotomie‐bei‐cerebralparese
Tiefe Hirnstimulation und Repetitive Transkranielle Magnetstimulationhttp://www.kindernetzwerk.de/tiefe‐hirnstimulation‐und‐repetitive‐magnetstimulation
Die Ulzibat‐Methode / Die Nuzzo‐Methodehttp://www.kindernetzwerk.de/ulzibat‐methode‐bei‐cerebralparese
Unterstützte Kommunikationhttp://www.kindernetzwerk.de/unterstuetzte‐kommunikatiion‐bei‐cerebralparese
Vojta‐Therapiehttp://www.kindernetzwerk.de/vojta‐therapie‐bei‐cerebralparese
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