Das übernatürlich Grauen in der Literatur - Golkonda...

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Leseprobe

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Kommentierte Ausgabe

Herausgegeben, mit einer Einleitung &

Anmerkungen versehen von S. T. Joshi

Aus dem Amerikanischen übersetzt von

Alexander Pechmann

Mit einer Bibliographie vonS. T. Joshi & Robert N. Bloch

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The Annotated Supernatural Horror in LiteratureDie Originalausgabe erschien 2000 bei Hippocampus Press

in New York; die Übersetzung folgt der 2., durchgesehenen

Auflage (2012)

Die Einleitung erschien erstmals auf Deutsch inPandora 2 (Berlin: Shayol, 2007).

© 2000, 2012 by Hippocampus PressEinleitung, Kommentar etc. © 2000, 2012 by S. T. Joshi

Mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor

© der bibliographischen Ergänzungen 2014 by Robert N. Bloch

© dieser Ausgabe 2014 by Golkonda Verlag GmbHAlle Rechte vorbehalten

Lektorat: Hannes RiffelRedaktion: Andreas FliednerRegister: Hardy Kettlitz & Hannes RiffelKorrektur: Heide FranckGestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]Satz: Hardy KettlitzDruck: Schaltungsdienst Lange

Golkonda VerlagCharlottenstraße 3612683 [email protected]

ISBN: 978-3-944720-21-0

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Vorbemerkung 6

Einleitung 9

DAS ÜBERNATÜRLICHE GRAuEN

IN DER LITERATuR 33

I. Einführung 34

II. Die ersten Horrorgeschichten 40

III. Der frühe Schauerroman 49

IV. Der Höhepunkt des Schauerromans 58

V. Die Erben der Schauerliteratur 66

VI. Gespenstergeschichten aus Frankreich und Deutschland 80

VII. Edgar Allan Poe 89

VIII. Die Tradition der unheimlichen

Literatur in Amerika 101

IX. Die Tradition der unheimlichen

Literatur in Großbritannien 123

X. Die modernen Meister 140

ANHANG

H. P. Lovecrafts liebste unheimliche Erzählungen 167

Bibliographie der Autoren und Werke 169

Register 234

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

V o r b e m e r k u n g

H. P. Lovecrafts »Das übernatürliche Grauen in der Literatur« hat als beste historische Abhandlung über das Genre in wei-ten Kreisen Anerkennung gefunden, und doch haben meines Erachtens weder Lovecraft-Spezialisten noch Experten für unheimliche Literatur dieses Dokument so gründlich genutzt, wie sie es hätten tun können. Diese Ausgabe ist ein Versuch, beiden Gruppen von Literaturwissenschaftlern – und ebenso gewöhnlichen Lesern – zu zeigen, wie viel wir von Lovecraft lernen können.

Als ich den Text aufarbeitete, bin ich ein wenig von den Prin-zipien abgewichen, denen ich bei der Herausgabe des erzähle-rischen Werkes von Lovecraft folgte (Arkham House, 1984–89, 4 Bände). Obwohl ich alle relevanten Textausgaben vergli-chen habe – den REcLuSE (1927), den Seriendruck in FAnTASy

FAn (1933–35), die erste Buchausgabe (The Outsider and Others, 1939) –, habe ich Lovecrafts Titelangaben berichtigt, um sie den heutigen Standards anzupassen. So sind alle Bücher, langen Gedichte und Theaterstücke (gleich welcher Länge) kursiv, alle Kurzgeschichten, kurzen Gedichte und Artikel in doppelten Anführungszeichen gedruckt, Zeitschriften- und Serientitel in KAPiTäLcHEn. Lovecrafts beträchtliche Ergänzungen des Essays nach der ersten Veröffentlichung werden durch eckige Klam-mern gekennzeichnet.

Die Bibliographie am Ende des Bandes gibt detaillierte infor-mationen über alle Autoren (außer den nur am Rande erwähn-ten) und Werke, die in Lovecrafts Abhandlung genannt werden. ich habe in fast allen Fällen versucht, folgende Punkte zu klären: 1. Die Erstveröffentlichung des fraglichen Werks. 2. Wohlfeile moderne oder wissenschaftliche Editionen. 3. Literaturwissen-schaftliche Texte über das Werk oder (falls vorhanden) über

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Vorbemerkung

den Autor. nur bei Lovecrafts »modernen Meistern« (Arthur Machen, Algernon Blackwood, Lord Dunsany und M. R. James) sowie clark Ashton Smith habe ich mir erlaubt, bibliographi-sche informationen zu Werken hinzuzufügen, die von Lovecraft nicht erwähnt werden. Weitere unheimliche Werke der anderen Autoren finden sich in den Anmerkungen. Bei fremdsprachigen Werken habe ich sowohl die Erstveröffentlichung des Original-texts als auch der englischen Übersetzung angeführt. [in der vorliegenden Übersetzung werden deutsche und französische Werke stets mit dem Originaltitel, nicht mit dem Titel der engli-schen Übersetzung zitiert. – AdÜ] Das Kürzel »LL« am Ende einer Anmerkung bedeutet, dass Lovecraft eine Fassung des Textes in seiner eigenen Bibliothek besaß.

ich schulde verschiedenen Personen und institutionen Dank für ihre unterstützung bei der Zusammenstellung dieses Buches. ich habe meistens in der John Hay and John D. Rocke-feller Library der Brown university gearbeitet und ebenso fol-gende Bibliotheken genutzt: Providence Public Library, Muncie Public Library in indiana, Bracken Library der Ball State univer-sity, new york university Library und new york Public Library. Folgende Personen haben informationen beigesteuert: Berry L. Bender, Ronald R. Burleson, Peter cannon, Jason c. Eckhardt, Steve Eng, William Fulwiler, Jeffrey Greenbaum, T. E. D. Klein, Robert M. Price und David E. Schultz.

[Bei den Erweiterungen und Ergänzungen der Bibliographie um deutsche Übersetzungen werden vorwiegend die deutschen Erstausgaben genannt sowie, soweit vorhanden, eine aktuelle Ausgabe. Es werden nicht sämtliche deutsche Ausgaben oder Übersetzungen angeführt. Einige ungenauigkeiten im Original wurden stillschweigend berichtigt — Robert n. Bloch]

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

A b k ü r z u n g e n i n d e n A n m e r k u n g e n

AdÜ Anmerkung des ÜbersetzerscE Collected Essays (Hippocampus Press, 2004–06,

5 Bände)D Dagon and Other Macabre Tales (überarbeitete Aus-

gabe, Arkham House, 1986)DH The Dunwich Horror and Others (überarbeitete Aus-

gabe, Arkham House, 1984)ES Essential Solitude: The Letters of H. P. Lovecraft and

August Derleth (Hippocampus Press, 2008, 2 Bände)FDOc S. T. Joshi, Hrsg., H. P. Lovecraft: Four Decades of Criti-

cism (Ohio university Press, 1980)JHL John Hay Library, Brown university (Providence, Ri)LAL Lovecraft at Last von Lovecraft und Willis conover

(1975)LL S. T. Joshi, Lovecraft’s Library: A Catalogue, überarbei-

tete Ausgabe (Hippocampus Press, 2012)MM At the Mountains of Madness and Other Novels (über-

arbeitete Ausgabe, Arkham House, 1985)MW Miscellaneous Writings (Arkham House, 1995)OFF O Fortunate Floridian: H. P. Lovecraft’s Letters to R. H.

Barlow (university of Tampa Press, 2007)SHL »Supernatural Horror in Literature«SL Selected Letters (Arkham House, 1965–76, 5 Bände)

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Einleitung

e i n l e i t u n g

im november 1925, als Lovecraft allein in der clinton Street 169 in Brooklyn wohnte, erhielt er von seinem Freund W. Paul cook ein Angebot, für dessen legendäres Amateurmagazin THE REcLuSE einen Artikel über »das Element des Schreckens & des Phantastischen in der Literatur«1 zu schreiben. Auf diese harmlose und fast beiläufige Weise entstand einer der wohl bedeutendsten – mit Sicherheit einer der längsten – Essays, die Lovecraft verfasst hat; ein literaturwissenschaftliches Werk, das hinsichtlich des Scharfsinns der historischen Analyse und der prägnanten und gründlichen untersuchung von modernen Meistern der Phantastik wie Arthur Machen, Algernon Black-wood, Lord Dunsany, M. R. James, William Hope Hodgson, Amb-rose Bierce und vielen anderen bis heute unübertroffen ist. Es ist eine traurige Tatsache, dass sich die meisten der besseren untersuchungen der unheimlichen Phantastik – Edith Birkheads The Tale of Terror (1921), Eino Railos The Haunted Castle (1927), Maurice Lévys Le roman »gothique« anglais (1968) – gänzlich oder zum Großteil mit dem Schauerroman des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts beschäftigen. Mit der Erforschung der ungeheuren Menge hervorragender unheimlicher Phantastik, die von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute geschrieben wurde, tut sich die moderne Literaturwissenschaft hingegen ungewöhnlich schwer. Doch Lovecrafts Abhandlung gewinnt ihre Bedeutung nicht allein, weil sie das ganze Spektrum der Horrorliteratur von der Antike bis in die 1930er Jahre behandelt, sondern gewährt zudem einen Einblick in Lovecrafts eigene Theorie und Praxis des Schreibens unheimlicher Erzählungen.

1 Lovecraft an Lillian D. clark, 11. bis 14. nov. 1925 (Manuskript, JHL).

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

»ich werde mir für die Vorbereitung Zeit lassen«2, bekundete Lovecraft, und genauso geschah es auch. Bis 1925 hatte er natür-lich viele der bis dahin erschienenen bedeutenden Werke der unheimlichen Phantastik gelesen, doch er wusste, dass er die Lektüre in großem umfang würde wiederholen müssen, um seiner Aufgabe gerecht zu werden. Tatsächlich stieß Lovecraft anscheinend erst im Dezember 1925 auf die Werke von M. R. James,3 und Blackwoods »The Willows« – eine unheimliche Erzählung, die er letztlich als die beste in der gesamten Literatur bezeichnete – hatte er erst im Jahr zuvor gelesen.4 Machen hatte er 1923 entdeckt (vgl. SL i.228, 233f.), Bierce und Dunsany 1919.5

nachdem er cooks Anfrage erhalten hatte, gab Lovecraft sofort seine planlose Lektüre unheimlicher Phantastik auf und beschäftigte sich gründlicher und systematischer mit den Klas-sikern des Genres, wobei er intensiv die new york Public Library und die Brooklyn Public Library nutzte. Anscheinend begann er den Essay Ende 1925 zu schreiben. Bis Januar 1926 hatte er bereits die ersten vier Kapitel verfasst (über den Schauerroman, bis einschließlich Maturins Melmoth the Wanderer) und las Emily Brontës Wuthering Heights, um am Ende des fünften Kapitels darüber zu schreiben;6 bis März vervollständigte er Kapitel Vii über Poe,7 und bis Mitte April hatte er »den halben Arthur Machen« (Kapitel X) durchgearbeitet.8 Der Essay wurde wahr-scheinlich im Großen und Ganzen bis Mai fertiggestellt, denn zu dieser Zeit erwähnt Lovecraft, er habe das Werk Walter de la Mares noch nicht gelesen – den er letztlich knapp unter den noch lebenden »modernen Meistern« der Phantastik (Machen, Blackwood, Dunsany und James) einstufte –, doch er müsse ihn »unbedingt noch lesen, um dem Artikel den letzten Schliff zu geben«. Angesichts von Lovecrafts Abneigung, eine Schreib-

2 Ebendort.

3 Lovecraft an Lillian D. clark, 13. Dez. 1925; Letters from New York (San Fran-cisco: night Shade, 2005), S. 253.

4 Lovecraft an Lillian D. clark, 29./30. Sept. 1924; Letters from New York, S. 63.

5 Zu Dunsany siehe SL i.91f.; zu Bierce SL ii.222.

6 Siehe SL ii.36 (5. Jan. 1926).

7 Lovecraft an Lillian D. clark, 5. März 1926 und 6. März 1926 (JHL).

8 Lovecraft an Lillian D. clark, 12./13. April 1926; Letters from New York, S. 301.

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Einleitung

maschine zu benutzen, bedeutet dies wohl, dass der Aufsatz immer noch nur handschriftlich vorlag und er lediglich hin und wieder etwas einarbeitete. Anfang Juni, nachdem er de la Mare gelesen hatte, räumte er ihm dann tatsächlich nicht nur »einen Platz« (SL ii.57) in dem Essay ein, sondern fügte »hier & da Absätze hinzu« (SL ii.57–58) und setzte auch die beiläufige Lektüre fort. Bis Mitte Oktober 1926 notiert Lovecraft, er habe »das Abtippen des nun vollendeten Aufsatzes über unheimliche Phantastik wegen einiger neu entdeckter Quellenmaterialien in der Providence Public Library aufgeschoben« (SL ii.77). (Lovecraft war im April 1926 von new york nach Providence zurückgekehrt.) Worum es sich bei diesem neuen Material handelte, wissen wir nicht, doch scheint Lovecraft das Typoskript bis Ende des Jahres fertiggestellt und an cook geschickt zu haben. Allerdings ist die Geschichte der Erstveröffentlichung von »Supernatural Horror in Literature« damit noch nicht beendet: Sogar im Mai 1927, als der Essay schon gesetzt worden war, machte Lovecraft weiter-hin letzte Ergänzungen auf den Druckfahnen – hauptsächlich, um auf die Werke von F. Marion crawford (von dem er zuvor nur »The upper Berth« angeführt hatte) und Robert W. cham-bers (SL ii.122, 127) hinzuweisen. THE REcLuSE – nur eine einzige Ausgabe ist je erschienen – kam im August 1927 heraus,9 wobei beinahe die Hälfte Lovecrafts Essay gewidmet war.

Doch Lovecraft machte weiterhin notizen zu seinem Essay, um ihn später neu zu veröffentlichen. Eine Liste von »Büchern, die in der neuausgabe des Phantastik-Artikels erwähnt werden sollten«, ist am Ende seines Commonplace Book10 erhalten, und die meisten Werke aus dieser Liste – John Buchans Witch Wood (1927), Leonard clines The Dark Chamber (1927), H. B. Drakes The Shadowy Thing (1928) usw. – werden tatsächlich in der überar-beiteten Version des Essays besprochen. Einige der dort notier-

9 SL ii.60. in den SL ist dieser Brief auf Juli 1926 datiert, aber das ist sicher ein Fehler. Stattdessen muss es Juli 1927 heißen, denn in dem Brief wird erwähnt, die beiden Romane The Dream-Quest of Unknown Kadath und The Case of Charles Dexter Ward seien bereits abgeschlossen, und diese wurden zwischen Ende 1926 und Anfang 1927 verfasst.

10 Abgedruckt in David E. Schultz’ Ausgabe des Commonplace Book (West Warwick, Ri: necronomicon Press, 1987), i.14/15.

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

ten Texte wurden jedoch nicht aufgenommen; dabei handelt es sich um (Klammern im Text stammen von Lovecraft):

R. E. Spencer – The Lady Who Came to Stay (1931)[Hogg – Memoirs of a Justified Sinner?] und weitereBlackwood – »chemical« <aus Asquiths Ghost Book

[1927]>»The undying Thing« von Barry Pain (in Stories in the

Dark, 1901)

Lovecraft schrieb in Briefen häufig darüber, ob verschiedene Autoren unheimlicher Phantastik es wert seien oder nicht, in seine Abhandlung aufgenommen zu werden. Die Möglichkeit einer neuausgabe ergab sich jedoch erst Ende 1933, als charles D. Hornig den Essay als Serie in seinem Fanzine THE FAnTASy

FAn abdrucken wollte. Offenbar überarbeitete Lovecraft den Essay am Stück und nicht abschnittsweise im Lauf der Veröffent-lichung der einzelnen Teile (Oktober 1933 – Februar 1935); tat-sächlich scheint er Hornig lediglich eine Kopie von THE REcLuSE mit Randbemerkungen und einigen Schreibmaschinenseiten mit wichtigen Ergänzungen geschickt zu haben.11 Dies wird durch die Art der Überarbeitungen bestätigt: neben unbedeu-tenden änderungen des Satzbaus gibt es kaum neuerungen im Text, außer folgenden Ergänzungen:

Kapitel Vi: der kleine Absatz über H. H. Ewers und ein Teil des letzten Absatzes (über Meyrinks Der Golem);

Kapitel Viii: der Abschnitt, der mit der Diskussion von crams »The Dead Valley« beginnt, bis hin zu jenem, der die Geschichten von Edward Lucas White behandelt; der letzte Absatz über clark Ashton Smith wurde erweitert;

11 Vgl.: LaL, S. 86 und 97. Außerdem diese Bemerkung in einem Brief an J. V. Shea vom 8. bis 22. nov. 1933 (JHL): »[Etidorpha von John uri Lloyd] hat es nur ganz knapp nicht mehr in meine Abhandlung geschafft«, was darauf hinweist, dass die ganze Überarbeitung (oder zumindest die Überarbeitung von Kapi-tel Viii, wo dieser Text vermutlich zur Sprache gekommen wäre) bereits abge-schlossen war. Es ist unwahrscheinlich, dass Lovecrafts Bemerkung ein urteil über Etidorpha beinhaltet, z. B. dass der Roman es nicht verdient hätte, in seine Abhandlung aufgenommen zu werden.

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Einleitung

Kapitel iX: der Absatz über Buchan, ein Großteil des langen Abschnitts über die »unheimliche Kurzgeschich- te« sowie ein langer Abschnitt über Hodgson.

Von diesen Abschnitten wurde jener über Hodgson separat im August 1934 hinzugefügt12 (es handelt sich um eine ältere Fassung des Essays, der später als »The Weird Works of William Hope Hodgson«13 veröffentlicht wurde), während der Text über den Golem ab Mai 1935 überarbeitet wurde, nachdem Lovecraft (dessen ursprüngliche notiz zum Golem auf der Filmversion basierte) den eigentlichen Roman gelesen und die großen unterschiede zum Film beunruhigt zur Kenntnis genommen hatte.

Die Artikelserie in THE FAnTASy FAn endete jedoch mitten in Kapitel Viii, da das Magazin im Februar 1935 einging. im Spät-sommer 1936 plante Willis conover, den Text in seinem SciEncE-

FAnTASy cORRESPOnDEnT an der Stelle fortzusetzen, wo er in THE FAnTASy FAn abgebrochen worden war; das Projekt wurde nie verwirklicht, obwohl Lovecraft conover im Voraus das kom-mentierte Exemplar von THE REcLuSE schickte, das Hornig an ihn zurückgesandt hatte (LAL 86, 97), und zudem noch eine Zusam-menfassung der ersten acht Kapitel des Textes verfasste, damit conover sie als Einleitung zur Fortsetzung drucken konnte.14

Die Erstveröffentlichung des vollständigen, überarbeiteten Textes von »Supernatural Horror in Literature« erschien in The Outsider and Others (1939), herausgegeben von August Derleth. Welche Textfassung Derleth für seine Ausgabe verwendet hat,

12 »ich habe einen Abschnitt [über Hodgson] vorbereitet, um ihn meiner Ab-handlung an passender Stelle einzufügen (gegen Ende von Kapitel iX), & habe ihn an Hornig geschickt.« Lovecraft an R. H. Barlow, 22. Aug. 1934 (OFF S. 168). Offenbar war bereits eine vollständig revidierte Fassung an Hornig geschickt worden.

13 »inzwischen habe ich auf [Herman c.] Koenigs Bitte hin einen kurzen Arti-kel über Hodgsons Geschichten verfasst – er wird ihnen zusammen mit einem biographischen Artikel von ihm selbst zugehen.« Lovecraft an Wilson Shepherd, 29. Mai 1936 (JHL).

14 Diese Zusammenfassung, erstmals in WEiRD TALES 2 (47. Jg., Herbst 1973), S. 52–56 abgedruckt, ist von conover separat unter dem Titel Supernatural Hor-ror in Literature as Revised in 1936 (Arlington, VA: carrollton-clark, 1974) heraus-gegeben worden und findet sich darüber hinaus in LaL, S. 147–153.

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

bleibt ein Rätsel: Die abgebrochene Serie in THE FAnTASy FAn kann es nicht gewesen sein, da er einige kleine änderungen im Wort-laut unterschlägt, die Lovecraft darin vorgenommen hatte. cono-vers Exemplar von THE REcLuSE kann er auch nicht genutzt haben, da dieses noch 1975 (vgl. LAL 110 und 259) in conovers Besitz war. conover tippte jedoch »ungefähr die Hälfte« des ganzen Essays ab, arbeitete sämtliche änderungen ein und schickte das Typo-skript an Lovecraft. Lovecraft bestätigte den Eingang des Textes und machte einige letzte Korrekturen (LAL 219). Seine tödliche Erkrankung hinderte ihn jedoch daran, das Typoskript an cono-ver zurückzusenden. Möglicherweise entdeckte Derleth dieses Typoskript in Lovecrafts Papieren, nachdem R. H. Barlow sie der John Hay Library gestiftet hatte, und legte es zusammen mit dem Text aus THE REcLuSE seiner Ausgabe zugrunde. Falls dies zutrifft, hat er das Typoskript nie an die Bibliothek zurückgegeben, da unbekannt ist, wo es sich heute befindet.

Wenn wir davon ausgehen, dass Derleth Lovecrafts Ergän-zungen so druckte, wie dieser sie gedruckt haben wollte (und es gibt keinen Grund, daran zu zweifeln, auch wenn uns Der-leths Revision des Textes fragwürdig erscheinen mag), müssen wir feststellen, dass Lovecraft bei der Überarbeitung nicht son-derlich sorgfältig vorging. Seine Ergänzungen sind sporadisch, ohne wirkliches Bemühen, das neue Material in die Entwick-lungsgeschichte der unheimlichen Phantastik einzufügen, und zweifellos ohne eine systematische oder umfassende Durch-sicht des Gesamttextes auch nur in Betracht zu ziehen (eine Arbeit, die für Lovecraft wohl die schrecklichste aller Aufgaben nach sich gezogen hätte – das Abtippen). Besonders erstaun-lich ist, dass das letzte Kapitel die phantastischen Spätwerke von Blackwood, Machen (mit Ausnahme von The Green Round [1933], das von Lovecraft kurz nach Erscheinen gelesen wurde [SL iV.397]) und Dunsany (insbesondere The King of Elfland’s Daughter, The Blessing of Pan und The Curse of the Wise Woman, die er alle gelesen hatte [SL i.356; ii.277; iV.390; V.268, 353–54) nicht berücksichtigt. Tatsächlich mochte Lovecraft Dunsanys Spätwerk nicht besonders, doch wäre zumindest eine knappe Zusammenfassung dieser und anderer Werke angemessen gewesen.

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Einleitung

An dieser Stelle ist es vielleicht sinnvoll, die Frage aufzuwer-fen, wie vollständig Lovecrafts Abhandlung überhaupt ist. Die Kritiker waren wenig geneigt, sich Fred Lewis Pattees urteil anzuschließen, der Essay habe »nichts Wichtiges ausgelassen«15: Peter Penzoldt tadelte Lovecraft, weil dieser Oliver Onions und Robert Hitchens nicht einmal erwähnt,16 während Jack Sullivan Lovecraft nicht zu unrecht wegen seiner überaus knappen Erwähnung von Le Fanu ins Gebet nahm.17 E. F. Bleiler schrieb:

Lovecraft verfügte über vorzügliche Kenntnisse der Phantastik zur Zeit König Edwards Vii. und der Gegen-wart, doch sein Wissen über älteres Material war be -grenzt. Was er über den Schauerroman wusste, hatte er bei Edith Birkhead und Montague Summers aufge-schnappt, und darüber ist er kaum hinausgegangen. Von viktorianischer Literatur hatte er nur wenig Ahnung. Le Fanu übergeht er mit einem knappen Kommentar, und die Werke der Mrs J. H. Riddell, Mrs Henry Wood, Mary Braddon, Rhoda Broughton und anderen scheint er nicht gekannt zu haben.18

Diese Bemerkung enthält viel Wahres, einige Fehler – Lovecraft lernte Montague Summers’ untersuchung erst relativ spät in seinem Leben kennen – und einiges ohne Belang. Tatsächlich beweist Lovecraft seine Kenntnis der besten viktorianischen Phantasten mit der Bemerkung, »die Viktorianer begeisterten sich sehr für unheimliche Phantastik – Bulwer-Lytton, Dickens, Wilkie collins, Harrison Ainsworth, Mrs Oliphant, George W. M. Reynolds, H. Rider Haggard, R. L. Stevenson füllten damit unzäh-

15 Rezension von Supernatural Horror in Literature (Ben Abramson, 1945), AME-RicAn LiTERATuRE 18 (1946), S. 175.

16 Vgl. The Supernatural in Fiction (1952); teilweise nachgedruckt in FDOC, S. 63f. (aber vgl. auch meine Anmerkung dort).

17 Vgl. Elegant Nightmares: The English Ghost Story from LeFanu to Blackwood (Athens: Ohio university Press, 1978), S. 32.

18 Brief an die Redaktion, TiMES LiTERARy SuPPLEMEnT, 17. Juli 1981, S. 814. Der Brief war eine Reaktion auf S. S. Prawers Lob von »Supernatural Horror in Litera-ture« in seiner Besprechung von FDOC im TiMES LiTERARy SuPPLEMEnT (19. Juni 1981), S. 687.

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

lige Seiten«, und dass er die von Bleiler genannten Autoren überging – von denen keiner den geringsten Einfluss in der Geschichte der unheimlichen Phantastik hatte –, kann man nicht bedeutsam nennen. Richtig ist, dass Lovecrafts Lektüre der Schauerliteratur nicht wirklich umfassend war, aber es trifft ebenfalls zu, dass die meisten der paar Hundert Schauer romane, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert geschrieben wur-den, seine Bezeichnung als »langweiliger Haufen Schund« voll-auf verdienen. Für seine kurzen Beispiele der Phantastik in der antiken Literatur hat Lovecraft (obwohl er einige davon aus Sekundärquellen bezog)19 gewiss Lob verdient, doch wundert es mich ein wenig, dass er die griechischen Epen nicht erwähnt (die verschiedenen unterweltsreisen bei Homer20, Vergil21, Ovid22 und anderen), die griechischen und römischen Tragödien übergeht (insbesondere Texte wie den grausigen Schluss der Medea23 von Euripides und die blutrünstigen Dramen Senecas, welche die direkten Vorläufer der von Lovecraft angeführten elisabethani-schen Tragödien sind) sowie einzelne Werke wie Lukians Wahre Geschichte oder catulls Attis-Gedicht 63, die er gelesen haben muss, weglässt.24 Vielleicht wollte er diesem sehr frühen Material nicht zu viel Bedeutung beimessen, da er vollkommen zurecht behauptete, »die typische Erzählung unheimlicher Phantastik

19 Lovecrafts Zitat aus dem Brief von Plinius dem Jüngeren an Sura (Dagon, S. 371) stammt aus den Masterpieces of Mystery (1920) von Joseph Lewis French. Lovecrafts Bezugnahme auf »Philinnion und Machates« von Phlegon (dto.) stammt wahrscheinlich aus den Greek and Roman Ghost Stories (1912) von Lacy collison-Morley.

20 Odyssee, 11. Buch (Odysseus).

21 Georgica, 4. Buch (Orpheus); Aeneis, 6. Buch (Aeneas).

22 Metamorphosen, 10. Buch (Orpheus) – wahrscheinlich eine Parodie auf Ver-gil.

23 »Der entsetzliche Tod von Glauke und Kreon wird in aller Breite in dem fürchterlichen Stil beschrieben, den Euripides so meisterlich beherrschte – rei-ner Grand Gignol.« H. D. F. Kitto, Greek Tragedy (1939), Kapitel 8.

24 Lukians Werk hat wahrscheinlich The Dream-Quest of Unknown Kadath be-einflusst, denn in beiden Texten findet sich eine fast identische Szene, in der sich eine Galeere plötzlich in die Luft erhebt. Zu catull vgl. »The Rats in the Walls« (1923): »Als Atys erwähnt wurde, erfasste mich ein Schauder, denn ich hatte catull gelesen und wusste einigermaßen über die entsetzlichen Rituale der Götter des Ostens Bescheid, die anscheinend ohne unterschied zusammen mit Kybele verehrt wurden« (DH 37).

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Einleitung

in der Literatur im Allgemeinen« sei »ein Kind des 18. Jahrhun-derts«.

Eine der bemerkenswertesten Eigenheiten des Textes ist, zieht man unser Wissen über Lovecraft in Betracht, das Ausmaß, in dem er anderen Autoren Qualitäten zuschreibt, die im Grunde eher in seinen eigenen Arbeiten zu finden sind. insbesondere hebt er das »Kosmische« – das zentrale Prinzip seines Werks, das auf der Vorstellung von ungeheuren Abgründen aus Zeit und Raum sowie der relativen Bedeutungslosigkeit der Mensch-heit beruht – bei vielen Autoren hervor, deren wirkliches Ver-ständnis für das kosmische Prinzip wahrscheinlich sehr gering war. So wird von Melmoth the Wanderer behauptet, der Roman offenbare »eine Kenntnis der wichtigsten Quellen echten kos-mischen Grauens«, und Machen wird als der beste »lebende Schöpfer kosmischen Grauens« gepriesen. Das Wort »kosmisch« könnte hier lediglich eine rhetorische Ausschmückung sein, denn bereits 1930 glaubte Lovecraft, »das Kosmische bei Bierce, [M. R.] James & sogar Machen« zu finden (SL iii.196), während er 1932 geradeheraus anmerkte, dass Machens Vorstellungskraft »nicht kosmisch« sei (SL iV.4). Über Dunsany erfahren wir: »Seine Sichtweise ist wahrhaftig die kosmischste in der gesamten Lite-raturgeschichte.« Doch 1936 überdachte Lovecraft seine Bewer-tung: »Was ich bei Machen, James, de la Mare, Shiel & sogar bei Blackwood und Poe vermisse, ist ein Gespür für das Kosmische. Dunsany ... ist der Kosmischste von allen, doch kommt er dabei nicht besonders weit« (SL V.341). Am bemerkenswertesten ist jedoch sein urteil über Poe:

Poe ... erkannte die wesentliche unpersönlichkeit des wahren Künstlers; und wusste, dass die Funktion litera-rischer Fiktion nur darin besteht, Ereignisse und Gefühle so zum Ausdruck zu bringen und zu interpretieren wie sie sind, unabhängig davon, in welche Richtung sie stre-ben oder was sie bekunden – gut oder böse, anziehend oder abstoßend, anregend oder deprimierend – wobei der Autor stets als lebhafter und distanzierter chronist fungiert und weniger als Lehrmeister, Sympathisant oder Meinungsverkäufer.

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

Poe-Experten mögen bei der Behauptung, Poe sei »unpersön-lich« und »distanziert«, die Stirn runzeln, obwohl es gewiss der Wahrheit entspricht, dass Poe die schulmeisterliche Moral der vorherrschenden viktorianischen Gesinnung verachtete; doch erinnern wir uns an Lovecrafts Darlegung seiner eigenen ästhe-tik der unheimlichen Phantastik von 1927:

Alle meine Erzählungen basieren im Wesentlichen auf dem Grundsatz, dass gewöhnliche menschliche Gesetze & interessen im ungeheuren Gesamtkosmos weder Gül-tigkeit noch Bedeutung haben ... um zum Wesen des wahrhaftigen Kosmos [d. h. zum Kosmischen] vorzudrin-gen, ob zeitlich, räumlich oder dimensional, muss man vergessen, dass solche Dinge wie organisches Leben, Gut & Böse, Liebe & Hass & alle hiesigen Eigenschaften einer unbedeutenden & vergänglichen Rasse namens Menschheit überhaupt existieren. (SL ii.150)

Es wäre jedoch ungerecht anzunehmen, dass Lovecrafts Ana-lysen auf diese Weise widerlegt würden. Sowohl seine Ein-schätzungen einzelner Schriftsteller als auch die allgemeinen Bemerkungen über die ästhetischen Grundlagen unheimlicher Phantastik in seinem Essay – die Wichtigkeit von »Atmosphäre«, die kosmische Perspektive, die Bevorzugung von Eindrücken und Bildern gegenüber »bloßen Handlungsstrukturen« – haben sich als gültig erwiesen und wurden von nachfolgenden Stu-dien kaum übertroffen.

Es ist also leicht, Lovecraft im nachhinein zu kritisieren und sich über das jeweilige Lob für diesen oder jenen Autor zu be -schweren;25 doch kann niemand leugnen (noch hat es irgend-wer bislang getan), dass Lovecrafts Werk in den Worten Bleilers

25 T. O. Mabott bemerkt in seiner Rezension von The Outsider and Others (AMERicAn LiTERATuRE 12, 1940), dass Lovecraft dazu neigt, »Stevenson zu un-terschätzen«, während sowohl er als auch Edmond Wilson (»Tales of the Mar-vellous and the Ridiculous« [1945], nachgedruckt in FDOC, S. 46f.) den Eindruck haben, Lovecraft würde Dunsany in übertriebenem Maße loben. (Wilson war auch der Meinung, dass Lovecraft Machen zu hoch einschätzte.) Keins dieser urteile ist von der späteren Kritik erhärtet worden.

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Einleitung

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

I. Einführung

Angst ist die älteste und stärkste Empfindung des Menschen, und die älteste und stärkste Angst ist die Furcht vor dem unbekannten. Diese Tatsachen werden wenige Psychologen bestreiten, und gibt man zu, dass sie der Wahrheit entspre-chen, muss dies den Anspruch der unheimlichen Horrorge-schichte als ernsthafte literarische Gattung von Rang endgül-tig begründen. Gegen dieses Argument schießen sowohl eine materialistische Sophisterei, die an alltäglichen Emotionen und sichtbaren Ereignissen festhält, als auch ein naiver und fader Idealismus, der das ästhetische Motiv verurteilt und nach einer belehrenden Literatur ruft, die den Leser auf ein angemessenes Niveau von einfältigem Optimismus erhebt, alle ihre Pfeile ab.1 Doch die unheimliche Erzählung hat trotz aller Anfeindungen überlebt, sich weiterentwickelt und zu bemerkenswerten Höhen der Perfektion aufgeschwungen, denn sie basiert auf einem grundlegenden und elementaren Prinzip, dessen Wirkung zwar nicht immer universell ist, aber auf hinreichend empfindsame Gemüter zwangsläufig einschneidend und dauerhaft wirkt.2

Die Anziehungskraft des gespenstisch Makabren ist im Allge-meinen beschränkt, weil es vom Leser ein gewisses Maß an Vor-stellungskraft und die Fähigkeit verlangt, den Alltag hinter sich zu lassen. Vergleichsweise wenige sind ausreichend frei vom Bann des Alltagstrotts, um auf Klopfzeichen aus einer anderen Welt zu hören, und Geschichten über normale Gefühle und Ereignisse oder über gewöhnliche emotionale Abweichungen von solchen Gefühlen und Ereignissen werden stets den ersten

1 Vgl. »The Defence Reopens!« (1921): »Es ist nicht die Aufgabe [des Phantas-ten], hübsche Kleinigkeiten zu ersinnen, um Kinder zu erfreuen, eine nützliche Moral aufzuzeigen, oberflächlich ›Erhebendes‹ für den nachzügler des Viktori-anischen Zeitalters auszuhecken oder unlösbare menschliche Probleme didak-tisch wiederzukäuen« (CE 5.47).

2 Vgl. »The Defence Reopens!«: »[Der Phantast] ist der Poet der Zwielichtvi-sionen und Kindheitserinnerungen, doch er singt nur für die Empfindsamen« (CE 5.47).

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I. Einführung

Rang im Geschmack der Mehrheit einnehmen – vielleicht zu Recht, da diese alltäglichen Dinge natürlich den größeren Teil der menschlichen Erfahrung ausmachen.

Doch es wird immer empfindsame Menschen geben, und manchmal dringt ein merkwürdiger Anflug von Phantasie in einen dunklen Winkel sogar des härtesten Schädels, sodass keine noch so große Anstrengung der Vernunft, keine Reform oder freudsche Analyse3 den Schauder des Flüsterns der Kamin-ecke oder des einsamen Waldes gänzlich aufheben kann. Hier wirkt eine psychologische Anlage oder Tradition, die so real und so tief in der mentalen Erfahrung verwurzelt ist wie jede andere Anlage oder Überlieferung der Menschheit. Sie ist ebenso alt wie das religiöse Empfinden, eng verwandt mit vielen seiner Aspekte und viel zu sehr Teil unseres innersten biologischen Erbes, um ihre ausgeprägte Macht über eine sehr wichtige, wenn auch kleine Minderheit unserer Spezies zu verlieren.

Die ersten Instinkte und Gefühle des Menschen prägten seine Reaktion auf die umwelt, in der er existierte.4 Eindeutige, auf Lust und Schmerz basierende Gefühle5 entstanden rund um Phä-nomene, deren ursachen und Wirkungen er verstehen konnte, während um jene, die er nicht verstand – und in der Frühzeit wimmelte das universum von ihnen –, natürlicherweise solche Verkörperungen, wundersamen Interpretationen und Gefühle der Ehrfurcht und Angst gewoben wurden, auf die eine Rasse, die über wenige und schlichte Vorstellungen sowie begrenzte Erfahrungen verfügt, unweigerlich verfällt. Das unbekannte, das eben auch unvorhersehbar war, wurde für unsere primi-

3 Lovecraft hegte stets eine gewisse Verachtung für die psychologischen The-orien Sigmund Freuds, obwohl er ihren revolutionären Einfluss auf die Kultur erkannte: Erwähnt sei der beiläufige Verweis auf »Freud und sein kindischer Symbolismus« (D 23) im ersten Absatz der überarbeiteten Fassung von »Beyond the Wall of Sleep«.

4 Die folgende anthropologische Analyse basiert wahrscheinlich auf Love-crafts Lektüre solch zentraler wissenschaftlicher Werke wie E. B. Tylors Primitive Culture (1871), John Fiskes Myths and Myth-Makers (1872) und Sir James George Frazers The Golden Bough (1890–1915).

5 Ein Widerschein von Lovecrafts Festhalten an der zentralen Lehre der Epiku-reer, nach welcher das Ziel des Lebens darin besteht, den Genuss zu maximie-ren, indem man das Leid minimiert und so Seelenfrieden (ataraxia) erreicht. Vgl. SL i.87, 135, »Life for Humanity’s Sake« (CE V.45–46).

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tiven Vorväter eine schreckliche und allmächtige Quelle der Wohltaten und Katastrophen, welche die Menschheit aus rät-selhaften und vollkommen unirdischen Gründen heimsuchten und somit zweifellos zu Existenzsphären gehörten, von denen wir nichts wissen und an denen wir keinen Anteil haben. Auch das Phänomen des Traums trug dazu dabei, die Vorstellung einer unwirklichen oder spirituellen Welt aufzubauen, und ganz allgemein führten alle Bedingungen des wilden, urzeitlichen Lebens so zwingend zu einem Gefühl für das Übernatürliche, dass wir uns nicht darüber wundern müssen, wie gründlich das ureigene ererbte Wesen des Menschen mit Religion und Aberglauben durchsetzt ist. Als schlichte wissenschaftliche Tatsache betrachtet ist diese Durchdringung, insofern sie das unterbewusste und die Instinkte betrifft, im Grunde eine Kon-stante des menschlichen Daseins. Denn obwohl das Reich des unbekannten seit Tausenden von Jahren stetig geschrumpft ist, überflutet ein unerschöpfliches Reservoir des Geheimnisvollen immer noch einen Großteil des äußeren Kosmos,6 während all den Dingen und Prozessen, die einst geheimnisvoll waren, ein riesiger Bodensatz machtvoller ererbter Assoziationen anhaf-tet, wie gut sie inzwischen auch erklärt sein mögen. Darüber hinaus sind die alten Instinkte in unserem Nervengewebe phy-siologisch fixiert, wo sie untergründig selbst dann weiterwirken würden, wenn unser Bewusstsein von allen Quellen des Stau-nens gereinigt wäre.

Weil wir uns an Schmerz und Todesgefahr lebhafter erinnern als an angenehme Empfindungen, und weil unsere Gefühle für die wohltätigen Aspekte des unbekannten von Anbeginn an durch konventionelle religiöse Rituale gebunden und formali-siert wurden, fanden die dunkleren und bösartigeren Seiten der kosmischen Geheimnisse ihren Ort hauptsächlich in unserer populären übernatürlichen Folklore. Auch diese Tendenz wird durch die Tatsache verstärkt, dass unsicherheit und Gefahr stets eng miteinander verbunden sind, wodurch aus jeder unbe-kannten Welt eine Welt wird, in der die Gefahr und das Böse

6 Lovecraft sollte dieses Konzept zur Grundlage vieler seiner besten Erzäh-lungen machen, insbesondere so »kosmischer« Werke wie At the Mountains of Madness (1931) und »The Shadow out of Time« (1934/35).

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I. Einführung

lauern. Fügt man diesem Gefühl der Angst und des Bösen die unvermeidliche Faszination des Staunens und der Neugier hinzu, so entsteht eine Mischung aus heftigen Emotionen und Anregungen der Phantasie, die zwangsläufig so lange wirk-sam bleiben muss, wie die menschliche Rasse existiert. Kinder werden sich immer vor der Dunkelheit fürchten, und Männer, deren Gemüt empfindsam auf ererbte Impulse reagiert, werden stets bei dem Gedanken an die verborgenen und unermess-lichen Welten voll seltsamen Lebens zittern, die vielleicht in den Abgründen jenseits der Sterne pulsieren oder scheußlich auf unserem Erdball lasten, in gottlosen Dimensionen, die nur von den Toten und Mondsüchtigen erblickt werden können.

Vor diesem Hintergrund ist die Existenz einer Literatur des kosmischen Grauens nicht verwunderlich. Sie hat seit jeher existiert und wird immer existieren, und man kann keinen bes-seren Beweis für ihre Zählebigkeit anführen als den Impuls, der damals wie heute Schriftsteller mit vollkommen unterschied-lichen Neigungen dazu treibt, sich in einzelnen Geschichten an ihr zu versuchen, so als wollten sie gewisse unwirkliche Gebilde aus ihrem Geist austreiben, die ihnen sonst keine Ruhe lassen würden. So schrieb Dickens mehrere Gruselgeschichten, Brow-ning das erschreckende Gedicht »Childe Roland«, Henry James The Turn of the Screw, Dr. Holmes den feinsinnigen Roman Elsie Venner, F. Marion Crawford »The upper Berth« und eine Reihe weiterer Texte dieser Art, die Sozialreformerin Mrs Charlotte Perkins Gilman verfasste »The Yellow Wall Paper«, während der Humorist W. W. Jacobs jene vortreffliche kleine melodra-matische Geschichte mit dem Titel »The Monkey’s Paw« fabri-zierte.

Diese Art von Literatur des Grauens darf nicht mit jener ver-wechselt werden, die oberflächlich betrachtet ähnlich erscheint, doch in psychologischer Hinsicht völlig verschieden ist – die Literatur der lediglich physischen Angst und des alltäglichen Grauens.7 Solche Texte haben natürlich ihren Platz, ebenso wie die konventionelle oder sogar schrullige oder humorvolle Geister geschichte, in der die Formelhaftigkeit der Handlung

7 D. h. die conte cruel. Siehe unten (S. 86).

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

oder das wissende Zwinkern des Autors das wahre Gefühl des morbiden unwirklichen außer Kraft setzen.8 Doch zäh-len solche Werke nicht zur Literatur der kosmischen Angst im reinsten Sinne. Die echte unheimliche Erzählung bietet etwas mehr als heimtückischen Mord, blutige Knochen oder eine von Bettlaken umhüllte Gestalt, die der Regel entsprechend mit den Ketten rasselt. Eine bestimmte Atmosphäre atemloser und unerklärlicher Furcht vor äußeren, unbekannten Mäch-ten muss vorhanden sein, und es muss eine Andeutung jener schrecklichsten Vorstellung des menschlichen Verstandes geben, welche mit einem dem Thema gebührenden Ernst und auf ahnungsvolle Weise zum Ausdruck gebracht wird – eine bösartige und einzigartige Aufhebung oder Überwindung jener feststehenden Naturgesetze, die unseren einzigen Schutzwall gegen die Angriffe des Chaos und der Dämonen des unergründ-lichen Weltalls darstellen.

Wir können natürlich nicht erwarten, dass alle unheimlichen Erzählungen vollkommen irgendeinem theoretischen Modell entsprechen. Kreative Geister sind unstet, und die besten Stoffe haben ihre Schwachstellen. Darüber hinaus entsteht die beste unheimliche Literatur oft unbewusst. Sie findet sich, in Form von einzelnen denkwürdigen Fragmenten, in Texten, die in ihrer Gesamtwirkung auf etwas ganz anderes zielen können. Atmosphäre ist das Allerwichtigste, denn der maßgebliche Prüfstein der Glaubwürdigkeit ist nicht die Gliederung einer Handlung, sondern das Erzeugen bestimmter Gefühle. Im Allgemeinen kann man sagen, dass eine unheimliche Erzäh-lung, die belehren oder eine gesellschaftliche Wirkung erzielen möchte,9 oder eine, in der letztlich eine natürliche Erklärung für

8 »Humor als Bestandteil unheimlicher Geschichten gefällt mir nicht – tat-sächlich halte ich ihn eindeutig für ein verwässerndes Element« (SL iV.83). Love-craft dachte wahrscheinlich an Werke wie Wildes »The canterville Ghost« und H. G. Wells’ »The inexperienced Ghost«. Dass Lovecraft sich nicht zu schade war, sehr raffinierten Humor in sein eigenes Werk einfließen zu lassen, und dass sich dies mit der hier vorgestellten Theorie vereinbaren lässt, zeigt Donald R. Burle-son, »Humour beneath Horror«, LOVEcRAFT STuDiES nr. 2 (Frühjahr 1980), S. 5f.

9 Vgl. Lovecrafts gleichartige Kritik hinsichtlich der Science Fiction: »Soziale und politische Satire sind nie wünschenswert, da solche intellektuellen und hintergründigen Themen der Erzählung die Kraft nehmen, einer Stimmung Ge-

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I. Einführung

das Grauen gefunden wird,10 keine wirkliche Geschichte kos-mischen Grauens ist. Allerdings enthalten solche Geschichten in einzelnen Abschnitten oft stimmungsvolle Szenen, die jede Bedingung der echten übernatürlichen Literatur des Grauens erfüllen. Deswegen dürfen wir eine unheimliche Geschichte nicht nach der Absicht des Autors oder dem bloßen Aufbau der Handlung beurteilen, sondern nach dem emotionalen Niveau, das sie an ihrer am weitesten von unserer alltäglichen Reali-tät entfernten Stelle erreicht. Werden die richtigen Gefühle geweckt, muss ein solcher »Höhepunkt« wegen seiner spezi-ellen Vorzüge als unheimliche Literatur anerkannt werden, unabhängig davon, wie prosaisch er später verflacht wird. Der eine Prüfstein des wahrhaft unheimlichen ist dieser – ob im Leser ein tief greifendes Angstgefühl geweckt wird, ein Gefühl, mit unbekannten Sphären und Mächten in Berührung gekom-men zu sein, eine subtile Haltung furchtsamen Lauschens, wie nach dem Flattern schwarzer Schwingen oder dem Kratzen außerweltlicher Gestalten und Wesen an der äußersten Grenze des bekannten universums. und je vollständiger und einheit-licher eine Geschichte diese Stimmung bewahrt, desto besser ist sie natürlich als Kunstwerk dieses speziellen Genres.

stalt zu verleihen.« »Some notes on interplanetary Fiction« (CE ii.181). Lovecraft war ein hartnäckiger Gegner des Didaktischen in der Literatur.

10 Ein deutlicher Verweis auf Ann Radcliffe und ihre nachahmer; siehe unten (S. 54–57).

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

II. Die ersten Horrorgeschichten

Wie bei einer Erzählform, die so eng mit urgefühlen verbunden ist, nicht anders zu erwarten, ist die Horrorgeschichte so alt wie das menschliche Denkvermögen und die Sprache.

Das kosmische Grauen erscheint als Bestandteil der frühesten Folklore aller Völker und manifestiert sich in den ältesten Bal-laden, Chroniken und heiligen Schriften. Es war vermutlich ein wichtiger Aspekt der hochkomplexen zeremoniellen Magie mit ihren Ritualen zur Beschwörung von Dämonen und Geis-tern, die sich seit der prähistorischen Zeit entwickelt hatte und die ihre Blütezeit in Ägypten und den semitischen Nationen erlebte. Texte wie das Buch Henoch1 und die Claviculae Salo-mons2 illustrieren die Macht des unheimlichen über das antike orientalische Denken recht gut, und auf derlei Texten basier-ten dauerhafte Glaubenssysteme und Überlieferungen, deren Widerhall sogar bis in die Gegenwart undeutlich zu vernehmen ist. Spuren dieser transzendentalen Angst findet man in der klassischen Literatur, und es gibt Hinweise darauf, dass sie in einer Balladendichtung, die sich parallel zur Klassik entwickelte, aber mangels schriftlicher Überlieferung verloren ging, eine noch wichtigere Rolle spielte. Während des in schwärmerische

1 Lovecraft bezieht sich vermutlich auf das erste Buch Enoch; es gibt zwei weitere. Enoch war der siebte Patriarch nach Adam (Genesis 5:18); um seinen namen kreisen viele Werke und Legenden. Das Buch Henoch (Teil der Pseud-epigraphen des Alten Testaments) ist ein zusammengesetztes Werk, das grob auf das zweite und erste Jahrhundert v. chr. datiert wird und von Henochs Him-melsreisen berichtet. Ein Teil enthält eine prophetische Beschreibung der Auf-lösung des universums. Eine englische Übersetzung findet sich in R. H. charles’ The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament (Oxford 1913, neu 1963), Bd. ii [erste deutsche Übersetzung dieser apokryphen Schrift: Andreas Gottlieb Hoffmann (Hrsg.), Das Buch Henoch (Jena, 1833). AdÜ].

2 Der Clavicula (singular) oder Salomons Schlüssel ist ein Buch der jüdischen Magie unbekannten Datums. Angeblich ist es uralt, doch wird es erst seit dem 17. Jahrhundert erwähnt. Seine zwei Bücher (der Große Schlüssel und der Kleine Schlüssel) diskutieren Themen wie Zaubersprüche, Rituale, Talismane und Geis-terbeschwörung. Die erste englische Übersetzung war The Key of Salomon the King, übers. v. S. Liddell MacGregor Mathers (London: Redway, 1889).

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II. Die ersten Horrorgeschichten

Dunkelheit gehüllten Mittelalters drängte diese Angst macht-voll dazu, sich auszudrücken, und man war im Morgen- und Abendland gleichermaßen eifrig dabei, das dunkle Erbe sowohl der zufälligen volkstümlichen Überlieferung wie der akade-misch formulierten Magie und des Kabbalismus3 zu bewahren und zu erweitern. Hexe, Werwolf, Vampir und Ghul brüteten unheilvoll auf den Lippen der Barden und der alten Frauen4 und mussten kaum ermutigt werden, um den letzten Schritt über jene Grenze zu wagen, die den gesungenen Vortrag oder das Lied von der methodischen literarischen Komposition schei-det. Im Orient neigte die unheimliche Erzählung dazu, eine prächtige Färbung und Lebhaftigkeit anzunehmen, die sie fast in reine Phantasie verwandelte. Im Okzident, wo der mystische Teutone aus seinen schwarzen Nordwäldern hervorgetreten war und der Kelte sich an seltsame Opfer in Druidenhainen erinnerte, erreichte sie eine erschreckende Intensität und eine überzeugend ernste Atmosphäre, welche die Macht des teils erzählten, teils angedeuteten Grauens verdoppelte.

Der abendländische Schatz an Horrorgeschichten verdankt einen Großteil seiner Macht zweifellos der verborgenen, aber oft vermuteten Gegenwart eines schrecklichen Kults nächtlicher Götzendiener, deren seltsame Bräuche – die aus prä arischen und vorlandwirtschaftlichen Epochen stammten, als ein vierschrö-tiges Volk von Mongoliden mit seinen Herden Europa durch-streifte – in den abstoßendsten Fruchtbarkeitsriten unvordenk-licher Zeiten wurzelten.5 Diese geheime Religion, die trotz der äußerlichen Herrschaft der druidischen, griechisch-römischen und christlichen Lehren über Jahrtausende unter Bauern im Verborgenen weitergegeben wurde, war durch den wilden »Hexensabbat« in einsamen Wäldern und auf fernen Berggip-

3 Zum Kabbalismus siehe unten (S. 87).

4 »alte Frauen« im Original »grandam«, eine Zusammensetzung aus »grand« und »dame«. Vgl. »The nameless city« (1921): »Keine Legende ist alt genug, ihr einen namen zu geben oder daran zu erinnern, dass sie je von Leben erfüllt war, doch man flüstert darüber an Lagerfeuern, und die alten Frauen [grandams] murmeln davon in den Zelten der Scheichs« (D 98).

5 Diese Vorstellung Lovecrafts stammt aus Margaret A. Murrays The Witch Cult in Western Europe (Oxford: clarendon Press, 1921); vgl. SL iii.181. Murrays The-sen werden von der modernen Anthropologie verworfen.

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H. P. Lovecraft • Das übernatürliche Grauen in der Literatur

feln in der Walpurgisnacht und der Nacht vor Allerheiligen, den traditionellen Paarungszeiten der Ziegen, Schafe und Rinder, gekennzeichnet. Sie wurde zur Quelle eines reichen Schatzes an Hexenlegenden und provozierte ausgedehnte Hexenverfol-gungen, unter denen diejenige in Salem das wichtigste ame-rikanische Beispiel darstellt.6 Wesensverwandt und vielleicht auch faktisch mit dieser Geheimreligion verbunden war jenes entsetzliche System einer invertierten Theologie oder Satans-anbetung, das Gräuel wie die berühmte »Schwarze Messe« hervorbrachte. Obwohl sie denselben Zwecken dienten, sollten wir davon die Aktivitäten all jener unterscheiden, deren Ziele ein wenig wissenschaftlicher oder philosophischer waren – der Astrologen, Kabbalisten und Alchemisten wie Albertus Magnus7 oder Raimundus Lullus8, die in solch barbarischen Zeitaltern unweigerlich scharenweise auftreten. In welchem Maße und wie tief das mittelalterliche Europa von diesem Geist des Grauens durchdrungen war, der durch die dunkle Verzweiflung, welche die Pestepidemien mit sich brachten, noch verstärkt wurde, kann man ausgezeichnet ermessen, wenn man die grotesken Skulp-turen betrachtet, die heimlich in viele der besten Werke der spätgotischen sakralen Architektur eingeschmuggelt wurden – die dämonischen Wasserspeier von Notre Dame und Mont St. Michel sind hierfür die bekanntesten Beispiele.9 Zudem sollte

6 Zu Lovecrafts Verknüpfung der Hexenkult-Theorie Murrays mit den Hexen-prozessen von Salem siehe SL iii.178f.

7 Albertus Magnus (1193?–1280), [deutscher] Aristoteliker und Lehrer von Thomas von Aquin. in einigen legendarischen Überlieferungen wird ihm eine nähe zur Magie unterstellt. Von den ihm zugeschriebenen 21 Bänden mit al-chemistischen Schriften sind, wenn überhaupt, nur die wenigsten authen-tisch. Seine Opera Omnia wurden von Bernhard Geyer herausgegeben (West-falen: Aschendorff, 1951f.). Siehe Paola Zambelli, The Speculum Astronomiae and Its Enigma: Astrology, Theology and Science in Albertus Magnus and His Contem-poraries (1992).

8 Raimundus Lullus (ca. 1235–1316) oder Ramon Lull, spanischer Platoniker, schrieb einige alchemistische Werke und war in ganz Europa berühmt. Sei-ne Werke wurden im katalanischen Original herausgegeben von M. Obrador et al. (1905–32; 21 Bände). Siehe auch J. n. Hillgarth, Ramon Lull and Lullism in Fourteenth-Century France (1971); E. A. Peers, Ramon Lull: A Biography (1929); A. E. Waite, Raymond Lully, Illuminated Doctor, Alchemist and Christian Mystic (1922).

9 Zum Motiv des Wasserspeiers bei Lovecraft siehe George T. Wetzel, »The cthulhu Mythos: A Study« (FDOC 88f.). Wetzel führt die Erwähnung von Wasser-

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II. Die ersten Horrorgeschichten

man bedenken, dass in der ganzen Epoche, bei Gebildeten und ungebildeten gleichermaßen, ein unangefochtener Glaube an jegliche Form des Übernatürlichen existierte, von den sanftesten christlichen Lehren zu den ungeheuerlichsten Morbiditäten der Hexerei und schwarzen Magie. Die Magier und Alchemisten der Renaissance – Nostradamus10, Trithemius11, Dr. John Dee12, Robert Fludd13 und ähnliche – kamen keineswegs aus dem Nichts.

Auf diesem fruchtbaren Boden gediehen Typen und Gestalten düsterer Mythen und Legenden, die bis heute, mehr oder weni-ger durch moderne Erzählformen maskiert oder verändert, in

speiern [»gargoyles«] in Lovecrafts Commonplace Book zurück auf George Mac-donalds Phantastes (in SHL nicht erwähnt).

10 nostradamus (Michel de notredame, 1503–1566) schrieb eine Reihe von Prophezeiungen, die ursprünglich in vier Centurien veröffentlicht und auf den Index Expurgatorius gesetzt wurden. Engl. Textausgaben: The Complete Prophe-cies of Nostradamus, übers. v. Henry c. Roberts (1947); The Prophecies of Nost-radamus, übers. v. Erika cheetham (1974). Vgl. auch charles A. Ward, Oracles of Nostradamus (1892), Roger Frontenac, Le Clef sècrete de Nostradamus (1950) und James Randi, The Mask of Nostradamus (1993) [deutsch: Helmut Werner (Hrsg.), Nostradamus – Der vollständige Text seiner Prophezeiungen (2011). AdÜ].

11 Johannes Trithemius (1462–1516), deutscher Abt und Mystiker, verfasste mehrere kuriose religiöse und philosophische Werke, darunter Steganographia (1500; publ. 1606) und De Lapide Philosophorum (1619). Letzteres wurde von Love craft in The Case of Charles Dexter Ward (MM 121) (ungenau) zitiert. Siehe noel L. Brann, The Abbot Trithemius (1462–1516): The Renaissance of Monastic Humanism (1981) und Wayne Shumaker, Renaissance Curiosa (1982).

12 John Dee (1527–1608) war ein berühmter englischer Mathematiker, Hof-astrologe und Berater von Königin Elisabeth i. Frank Belknap Long machte ihn in »The Space-Eaters« (1927) zum ersten englischen Übersetzer von Lovecrafts Necronomicon, und Lovecraft übernahm Longs Angabe (siehe »History of the Necronomicon« [1927; MW 53]). George Hays Fälschung The Necronomicon (1978) gibt vor, eine Ausgabe überlieferter Fragmente von Dees Übersetzung zu sein. Zu Dee siehe David Mccormick, John Dee, Scientist, Geographer, Astrologer and Secret Agent to Elizabeth I (1968), Francis A. yates, Theatre of the World (1969), Pe-ter J. French, John Dee: The World of an Elizabethan Magus (London: Routledge & Kegan Paul, 1972) und nicholas H. clulee, John Dee’s Natural Philosophy (1988).

13 Robert Fludd (1574–1637), englischer Arzt und Rosenkreuzer, stark beein-flusst von Paracelsus, schrieb eine Anzahl astrologischer und alchimistischer Werke, einschließlich Clavis Philosophiae et Alchymiae (1633) und Philosophia Moysaica (1638). Siehe J. B. craven, Doctor Robert Fludd (1902), Serge Hutin, Robert Fludd (Paris, 1971), Allen G. Debus, Chemistry, Alchemy and the New Phi-losophy 1550–1700 (1987) und William H. Huffman, Robert Fludd and the End of the Renaissance (1988). Fludd wird ebenfalls von Lovecraft in The Case of Charles Dexter Ward (MM 121) erwähnt.

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der unheimlichen Literatur ihren Platz haben. Viele von ihnen wurden frühesten mündlichen Überlieferungen entnommen und bilden einen Teil des ewigen Erbes der Menschheit. Die Schattengestalt, die erscheint und die Bestattung ihrer Knochen fordert, der dämonische Liebhaber, der kommt, um seine noch lebende Braut zu holen, der Todesdämon oder Psychopompos14, der auf dem Nachtwind reitet,15 der Wolfsmensch, die versiegelte Kammer, der unsterbliche Hexenmeis ter16 – all diese Gestalten kann man im kuriosen Sagengut des Mittelalters finden, das der verstorbene Mr Baring-Gould so überzeugend in Buch-form zusammengestellt hat.17 Wo immer das mystische Blut der Nordvölker am stärksten war, wurde die Atmosphäre der populären Geschichten am intensivsten, denn die lateinischen Rassen haben einen tief verwurzelten rationalen Zug, durch den noch ihrem seltsamsten Aberglauben viele der bezaubernden Zwischentöne fehlen, die für unser eigenes waldgeborenes und eisgenährtes Geflüster so charakteristisch sind.

Ebenso wie die Fiktion sich zunächst vor allem in der Poesie manifestierte, hält auch das unheimliche zum ersten Mal in der Poesie dauerhaften Einzug in die Standardliteratur. Seltsamer-weise sind die meisten Beispiele aus der Antike jedoch in Prosa verfasst – die Werwolf-Episode bei Petronius,18 die schauer-

14 Psychopompos, griechisch »Seelengeleiter« (Beiname des Götterboten Hermes). Von Lovecraft verwendet in dem Gedicht »Psychopompos« (1917–18) und in »The Dunwich Horror« (1928), wo Ziegenmelker [nachtvögel] die Seelen-geleiter sind. Siehe auch unten zu Hawthornes House of the Seven Gables (S. 106).

15 Vgl. »Psychopompos«: »ich bin der, der nächtens heult; ... Mein Atem ist des nordwinds Hauch« (The Ancient Track, S. 30).

16 Bei Lovecraft eine wichtige Figur im Zusammenhang mit seiner Verwen-dung der Hybris oder des Faustmotivs. Vgl. Figuren wie Joseph curwen (The Case of Charles Dexter Ward) und Ephraim/Asenath Waite (»The Thing on the Doorstep«).

17 Sabine Baring-Gould (1834–1924), Curious Myths of the Middle Ages (1866; LL 66). Zum Einfluss dieses Buches auf Lovecrafts »The Rats in the Walls« siehe Steven J. Mariconda, »Baring-Gould and the Ghouls«, cRyPT OF cTHuLHu nr. 14 (St. John’s Eve, 1983), S. 3–7, 27. Ein moderner neudruck des Werks von Baring-Gould (London: Jupiter Books, 1977) ist stark gekürzt.

18 D. h. Kapitel 61–62 im Satyricon. Das überlieferte Werk ist nur ein kleiner Teil des Originals [Petronius’ Satyrica oder Satyricon libri umfasst bis zu 24 Bände, von denen lediglich Auszüge aus den Bänden 14–16 erhalten sind. AdÜ].

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lichen Passagen bei Apuleius,19 der kurze, aber berühmte Brief von Plinius dem Jüngeren an Sura und die alte Sammlung Über merkwürdige Erscheinungen des freigelassenen griechischen Sklaven von Kaiser Hadrian, Phlegon.20 Bei Phlegon finden wir zum ersten Mal jene schreckliche Geschichte von der Leichen-braut, »Philinnion und Machates«,21 die später von Proklos22 nacherzählt wurde und in der Neuzeit Goethes Ballade »Die Braut von Korinth« und Washington Irvings »German Stu-dent« inspirierte. Doch in jener Zeit, als die alten nordischen Mythen literarische Formen annahmen, und später, als das unheimliche zu einem festen Bestandteil der zeitgenössischen Literatur wurde, tritt es meist in metrischem Gewand auf. Ein Großteil der im engeren Sinne phantastischen Schriften des Mittelalters und der Renaissance sind in Versen verfasst. Die skandinavischen Eddas23 und Sagas24 tosen vor kosmischem Grauen und beben vor reiner Angst vor Ymir und seiner miss-

19 Die entsprechenden Passagen finden sich in dem Roman Metamorphosen oder Der goldene Esel. Apuleius schrieb zudem zwei Zusammenfassungen der Lehre der platonischen Akademie, einige Reden und eine verschollene Schrift über den Rhetoriker Hermagoras.

20 Über Phlegon von Tralles, den freigelassenen Sklaven des Kaisers Hadrian (Regentschaft 117–138 n. chr.), ist fast nichts bekannt. neben dem hier erwähn-ten Werk schrieb er unter anderem eine Abhandlung über »langlebige Perso-nen« und ein mehrbändiges Werk über die Olympischen Spiele [Lovecraft be-zieht sich auf Phlegons Perì thaumasion, »Über merkwürdige Erscheinungen«, wie Wiedergänger, Missgeburten etc. AdÜ].

21 Da Phlegons Werk nie vollständig ins Englische übersetzt wurde, bezog Lovecraft die diesbezügliche information vermutlich aus Lacy collison-Morleys Greek and Roman Ghost Stories (1912), worin die Geschichte von Philinnion und Machates auf S. 67–71 übersetzt ist.

22 Proklos, ein Platoniker des 5. Jahrhunderts, erzählte Phlegons Geschichte offenbar in einem Werk mit dem Titel »Weshalb man glauben sollte, dass die Seele in den Körper eindringt und ihn wieder verlässt« (Pos die noein eisienai kai exienai psychen apo somatos); siehe Lacy collison-Morleys Greek and Roman Ghost Stories, S. 65f.

23 Bei den Eddas handelt es sich um zwei Werke der mittelalterlichen Literatur islands (die Ältere Edda in Versen, die Jüngere Edda in Prosa), die die germani-sche und skandinavische Mythologie überliefern; die erste stammt aus den 8. bis 11. Jahrhunderten n. chr. und die zweite aus dem 13. Jahrhundert.

24 Die isländischen Sagas wurden im 12. und 13. Jahrhundert niedergeschrie-ben und berichten u. a. von den Mythen und der Geschichte der skandinavi-schen Völker. Es handelt sich, im Gegensatz zu Lovecrafts Auffassung, um Prosa-werke.

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gestalteten Brut,25 während unser angelsächsischer Beowulf und die späteren Nibelungensagen26 Kontinentaleuropas voll schauriger Schrecken sind. Dante ist ein Pionier des klassischen umgangs mit makabrer Atmosphäre, und in Spensers erha-benen Stanzen werden wir in Landschaften, Ereignissen und Figuren nicht wenige Tupfer phantastischen Schreckens finden. Die Prosaliteratur schenkt uns Mallorys Morte d’Arthur, ein Werk mit zahlreichen unheimlichen Situationen, die auf alte Balladen zurückgehen – Sir Lanzelots Diebstahl des Schwerts und der Seide von dem Leichnam in der Kapelle der Gefahren, der Geist Sir Gawaines und der Grabdämon, den Sir Galahad erblickt27 –, während andere und gröbere Beispiele zweifellos in den billigen und sensationsheischenden »Volksbüchern« präsentiert wurden, welche in den unteren Schichten verbrei-tet und von den ungebildeten verschlungen wurden. Im Eli-sabethanischen Drama, mit seinem Dr. Faustus, den Hexen in Macbeth, dem Geist in Hamlet und den schrecklichen Gräueln Websters, kann man leicht einen starken Einfluss des Dämo-nischen auf den Geist des Publikums erkennen, ein Einfluss, der durch die sehr reale Angst vor einem tatsächlichen Hexenwesen verstärkt wurde, deren Schrecken, die zunächst am wildesten auf dem Kontinent tobten, lautstark in englischen Ohren wider-zuhallen begannen, als die Jagd auf Hexen unter Jakob I. an Intensität gewann.28 Die im Verborgenen verfasste und gele-sene mystische Prosa des Zeitalters wird durch eine lange Reihe von Abhandlungen über Hexerei und Dämonologie ergänzt, die

25 ymir ist ein Riese der germanischen Mythologie; geboren aus schmel-zendem Eis, zeugte er seine Tochter Bestla und seinen Sohn Mimir [aus dem Schweiß seiner Achselhöhlen] sowie einen sechsköpfigen Sohn, der seinen Fü-ßen entsprang [als er sie aneinanderrieb]. Er und seine Horde wurden von Odin [dem Sohn Bestlas] erschlagen.

26 Das Nibelungenlied ist ein mittelhochdeutsches Versepos aus dem Jahr 1204, das auf deutschen Sagen basiert. Richard Wagner nutzte es zusammen mit den skandinavischen Sagas als Grundlage für seinen Opernzyklus Der Ring der Nibelungen.

27 Diese Episoden erscheinen in Buch V, Kapitel 15; Buch XXi, Kapitel 3; und Buch Xiii, Kapitel 12.

28 Jakob i. von England (Regierungszeit 1603–25) verfasste selbst eine Ab-handlung über Hexerei, Daemonologie (1597).

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dazu beitrugen, die Phantasie der Leserschaft aufzustacheln.29

Im 17. und bis ins 18. Jahrhundert treffen wir auf eine zuneh-mende Flut kurzlebiger Legenden und Balladendichtungen der düsteren Sorte, die jedoch immer noch unter der Oberfläche der schönen und anerkannten Literatur zurückgehalten wird. Flugschriften und Volksbücher mit Horrorgeschichten und unheimlichem nahmen an Zahl zu, und ein einzelner Text wie Defoes »Apparition of Mrs. Veal«, eine schlichte Erzählung über den Geist einer Toten, die eine ferne Freundin besucht, verfasst, um verdeckt eine schlecht verkäufliche theologische Abhandlung über den Tod zu bewerben,30 wirft ein Schlag-licht auf das große Interesse des Volkes an diesen Themen. Die höheren Gesellschaftsschichten verloren unterdessen den Glau-ben an das Übernatürliche und schwelgten in einer Epoche des klassischen Rationalismus. Dann, beginnend mit den Überset-zungen orientalischer Erzählungen während der Regentschaft Königin Annes,31 lebt die romantische Empfindsamkeit wieder auf und findet gegen Mitte des Jahrhunderts ihre endgültige Form – die Ära einer neuen Lust an der Natur und an selt-samen Szenerien, mutigen Taten und unglaublichen Wundern im Glanz der Vergangenheit. Wir spüren sie zunächst bei den Dichtern, deren Worte eine neue Qualität des Staunens, des Fremdartigen und des Schauderns annehmen.32 und schließ-lich, nach dem schüchternen Erscheinen einiger unheimlicher Szenen in den Romanen der Zeit – wie Smolletts Adventures of

29 Siehe hierzu George L. Barr, »The Literature of Witchcraft«, PAPERS OF THE AMERicAn HiSTORicAL ASSOciATiOn 4 (1890), S. 237–66.

30 Vgl. charles Drelincourts Christian’s Defence against the Fears of Death (1675). Dieser Bericht über Entstehung und Zweck von Defoes Traktat wurde in-zwischen widerlegt; siehe R. M. Baine, Daniel Defoe and the Supernatural (1968), S. 105f.

31 Die Geschichten aus tausendundeiner Nacht wurden von Antoine Galland ins Französische übersetzt (1704–12), und seine Ausgabe wurde ins Englische übertragen (1706f.). Deutsche Übersetzungen nach Galland folgten ab 1759 [vgl. Robert irwin, Die Welt von Tausendundeiner Nacht (Frankfurt: insel, 2004). AdÜ].

32 Vgl. hierzu Patricia Meyer Spacks, The Insistence of Horror: Aspects of the Supernatural in Eighteenth-Century Poetry (cambridge, MA: Harvard university Press, 1962).

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Ferdinand, Count Fathom33 –, schlägt sich der befreite Instinkt in der Geburt einer neuen literarischen Gattung nieder: der Schauerliteratur oder »gotischen« Schule des Grauenhaften und Phantastischen mit ihren langen und kurzen Prosaer-zählungen, deren literarische Nachkommen so zahlreich und in vielen Fällen so glänzend hinsichtlich ihrer künstlerischen Verdienste sein sollten. Wenn man darüber nachdenkt, ist es wirklich bemerkenswert, dass die unheimliche Erzählung als feste und akademisch anerkannte literarische Form erst so spät das Licht der Welt erblickte. Der Antrieb und die Atmosphäre, denen sie ihr Entstehen verdankt, sind so alt wie die Menschheit selbst, doch die typische unheimliche Erzählung der Standard-literatur ist ein Kind des 18. Jahrhunderts.

33 Siehe insbes. Kap. 47 (»The Art of Borrowing Further Explained and an Account of a Strange Phenomenon«) und Kap. 62 (»His [Fathom’s] Return to England and Midnight-Pilgrimage to Monimia’s Tomb«).