Verhaltenssüchte:Wenn Tätigkeiten zur Droge werden
Symposium Glücksspiel 2009
Dipl.-Psych. Chantal P. MörsenKlinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Charité Campus Mitte
Themen
• Historischer Kontext• Definition von Verhaltenssucht• Sucht und Abhängigkeit• Formen der Verhaltenssüchte: Glücksspielsucht,
Arbeitssucht, Sexsucht, Kaufsucht, Online-Sucht• Erklärungsmodelle
Sucht und Verhaltenssucht• leitet sich ethymologisch von Siech ( = krank) ab
• 16. Jh. Begriffe: Krankheit, Seuche, Siechtum Komposita von Sucht bezeichnete verschiedene spezifische Krankheiten (Gelbsucht, Schwindsucht), auch (Fehl)Verhaltensweisenmoralisch-religiöser Art (Habsucht, Streitsucht) und Sucht nach psychotropen Substanzen
• 19. Jhr waren allgemeine Merkmale stoffgebundener und nichtstoffgebundener Suchterkrankungen bekannt und vier Suchtformen werden unterschieden: Trunk-, Morphium-, Kokain-und Spielsucht
Sucht und Verhaltenssucht• „Suchten nach chemisch definierbaren Substanzen und
Tätigkeitssüchten“ Gabriel, 1936
• „...der Begriff der Süchtigkeit reicht sehr viel weiter als der Begriff der Toxikomanie es abgesteckt hat..“ v. Gebsattel, 1954
• „Jede Richtung des menschlichen Interesses vermag süchtig zu entarten...“ v. Gebsattel, 1954
• Drogensucht, WHO 1950
• Drogenabhängigkeit, WHO 1964
Suchtbegriff war nicht mehr aus der Alltagssprache verdrängen: Ausdehnung auf nicht nichtstoffgebundene Suchtformen!
Verhaltenssucht = exzessiv belohnende Verhaltensweisen, die die Kriterien einer Abhängigkeit erfüllen
Abhängigkeitssyndrom (F10.2)
Mindestens 3 der folgenden Kriterien in den letzten 12 Monaten:
1. starker Wunsch/ Zwang, Alkohol zu konsumieren
2. verminderte Kontrollfähigkeit (Beginn, Beendigung, Menge)
3. körperliches Entzugssyndrom
4. Toleranz (Dosissteigerung/ Wirkungsminderung)
5. Vernachlässigung anderer Interessen, erhöhter Zeitaufwand für Alkoholkonsum (Beschaffung, Konsum, Erholung von Folgen)
6. anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweis eindeutiger Schäden
ICD-10 Klassifikation
GlücksspielsuchtVerbot sämtlicher Glücksspiele unter Kaiser Justinian (482-527 n. Chr.)Pâquier Joosten (1561) „Über das Würfelspiel oder die Heilung der Leidenschaft, um Geld zu spielen“
Kriterien pathologischen Glücksspiels (PG, DSM-IV-TR):
Arbeitssucht
• Sonntagsneurosen (Ferenczi, 1919)• Arbeitswut (v. Gebsattel, 1954)• „workoholism“ (Oates, 1968): On being a workoholic – a serious jest
Merkmale der Arbeitssucht (Scott et al., 1997)
Sexsucht
• Sexuelle Hyperästhesie (Krafft-Ebing,1886; Moll,1896)• Zwanghafte sexuelle Betätigung(Kuiper, 1973)• Sexuelle Sucht (Carnes, 1992; Roth, 1992)
Merkmale der Sexsucht (Carnes, 1992)
Kaufsucht
Kriterien der Kaufsucht (McElroy, 1994)• Kaufimpulse• exzessives Kaufen von unnötigen Dingen• intensive Beschäftigung mit dem Kaufen• finanzielle und soziale Folgeschäden• Leidensdruck
Kraepelin (1915), Bleuler (1924): „Omniomanie“
Online-SuchtGriffiths (1995): „technological addictions“
Internet als Medium zur Befriedigung einer anderen Verhaltenssucht
Häufigste Formen: Internetsucht (Surfen/ Chatten), Computerspielsucht (Online-Rollenspiele)
Kriterien der Online-Sucht• unwiderstehliches Verlangen/ Zwang• Kontrollverlust• Toleranzentwicklung• Entzugserscheinungen• Vernachlässigung anderer Interessen• Folgeschäden aufgrund der Internetnutzung
Klassifikation von VerhaltenssüchtenInternationale Klassifikation
Psychischer Störungen (ICD):
Pathologisches Glücksspiel (F63.0)
„Abnorme Gewohnheiten und Störungen der Impulskontrolle“
Diagnostisches Manual Psychischer Störungen
(DSM):
Pathologisches Spielen (312.34)
„Störungen der Impulskontrolle, nicht
andernorts klassifiziert“
Nosologische Einordnung
Impulskontrollstörung
• Zuordnung ist nicht theoretisch oder empirisch begründet
Zwangsspektrumstörung
• Keine Übereinstimmung in Phänomenlogie und Verlauf mit Zwangsstörungen
• Unterschiede in neurobiologischen Mechanismen
Nosologische Einordnung
Verhaltenssucht/ -abhängigkeit
• Diagnostische Kriterien
• Klinisches Erscheinungsbild
• Komorbide Störungen
• Persönlichkeitsfaktoren
• Neurobiologie
Entstehung und Aufrechterhaltung süchtigen Verhaltens
„Suchtgedächtnis“Erinnerung an die positive Wirkung des Suchtmittels
Klassische Konditionierungdrogenassoziierte Reize (assoziatives Lernen)Operante Konditionierungverhaltensverstärkendes dopaminerges BelohnungssystemNeuroadaptationSensitivität für belohnungsanzeigende ReizeZiel des (süchtigen) Verhaltens: Herstellung der körpereigenen Homöostase – zielgerichtetes motivationalesHandeln
Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung
UmweltfaktorenVerfügbarkeit, soziale Normen
Prädisposition/ VulnerabilitätGenetik, Neurobiologie, Persönlichkeit, kognitive Faktoren
Auslösende BedingungenBelastung/Stress, psychische Erkrankung, kritische Lebensereignisse
Aufrechterhaltende BedingungenKognitive Verzerrungen, Psychopathologie, Persönlichkeit
Süchtiges Verhalten ist erlerntes VerhaltenKlassische/ Operante Konditionierung, Modellernen
Neuroadaptation („Suchtgedächtnis“)
Intrapsychischer Teufelskreisnegatives Selbstbild, Coping-DefiziteIntrapsychischer Teufelskreisnegatives Selbstbild, Coping-Defizite
somatischer TeufelskreisEntzugserscheinungen
somatischer TeufelskreisEntzugserscheinungen
psychosozialer Teufelskreisfinanzielle, soziale, berufliche Folgen
psychosozialer Teufelskreisfinanzielle, soziale, berufliche Folgen
Belohnendes Verhaltenals Spannungslöserzur Euphorisierung
Belohnendes Verhaltenals Spannungslöserzur Euphorisierung
aversiveZustände, Konflikte
aversiveZustände, Konflikte
VerlangenVerlangen
Lernen und Sucht
ControlControl
DriveDrive
MemoryMemory
RewardReward
Volkow et al. (2003)
ControlControl
DriveDrive
MemoryMemory
RewardReward
Nonaddicted brain Addicted brain
Neuronale Netzwerke
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