Tätigkeiten und
Potentiale der Funktion
„Suchtberatung“
Expertise
im Auftrag von Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg und
Gesamtverband für Suchthilfe e. V. (GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland),
Berlin
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
Berlin, Oktober 2018
und
Exzerpt zum Papier
Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“
Kontakt
Corinna Mäder-Linke, Gesamtverband für Suchthilfe e. V.(GVS – Fachverband der Diakonie
Deutschland), Tel. +49 30 830 01501, E-Mail: [email protected]
Stefan Bürkle, Caritas Suchthilfe e.V. CaSu – Bundesverband der Suchthilfeeinrichtungen im
DCV, Tel. +49 781 200-303, E-Mail : [email protected]
1
Exzerpt zum Papier
Tätigkeiten und Potentiale der Funktion „Suchtberatung“
Zusammengestellt von
Corinna Mäder-Linke, GVS
Stefan Bürkle, CaSu
1. Einleitung
Die vorliegende Expertise wurde von den beiden oben genannten Verbänden mit dem Ziel in
Auftrag gegeben, die Stellung und das besondere Portfolio von Suchtberatung im Feld
suchtbezogener Hilfen und in der (kommunalen) Daseinsvorsorge herauszuarbeiten. Sie
möchte darüber hinaus Herausforderungen aufzeigen, die sich durch die unterschiedlichen
Logiken der Ressourcenausstattung ergeben und die bei der Überlegung zu
Umgangsweisen mit diesen Herausforderungen nicht ignoriert werden können.
Suchtberatungsstellen werden von Fachverbänden zwar als wichtiger Hilfeakteur im Feld
suchtbezogener Hilfen eingeschätzt, aber ihre Bedeutung und Wirkung für Betroffene wie
auch für die sozialwirtschaftliche sowie gesellschaftspolitische Dimension wurde bisher nicht
explizit herausgearbeitet. Dies kann die hier vorliegende Expertise in Gänze auch nicht
leisten. Aber sie ordnet Suchtberatung in einen Gesamtkontext ein und stellt die Potentiale
für Klient*innen aber auch für den Bereich suchtspezifischer Angebote dar.
Diese Expertise verfolgt daher das Anliegen, die Grundlage für eine Diskussion zu liefern,
welche dazu beitragen soll, die Potentiale von Suchberatung, unter Berücksichtigung ihrer
sozialpolitischen und sozialadministrativen Allokation und deren Implikationen, zu erhalten
bzw. auszubauen.
2. Die „Suchtberatung“ im Feld suchtbezogener Hilfen
Die Hilfeart Suchtberatung wird als „Herzstück“ innerhalb der Organisation Suchtberatung
und gleichzeitig als „größte Grauzone“ beschrieben, da sie im Unterschied zur Rehabilitation
nur wenig einheitliche Normierung erfährt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass
„Suchtberatung“ inhaltlich ein breites Angebotsspektrum umfassen und in unterschiedlichen
methodischen Settings, vom klassischen Einzelsetting (z.B. Beratung, Vermittlung,
Psychosoziale Beratung Substituierter) über das Gruppensetting (z.B. Motivations- oder
Angehörigengruppen), und aufsuchende Arbeit (z.B. Streetwork) bis zu niedrigschwelligen
Hilfen und Kontaktangeboten (z.B. Kontaktcafé, Konsumräume, Angebote im Rahmen von
Harmreduction etc.) stattfinden kann. Hinzu kommt die laut Deutscher Suchthilfestatistik als
„Kooperation und Vernetzung“ bezeichnete Leistung.
Als Teil der sogenannten klassischen Suchthilfe ergänzt die Suchtberatung die Elemente
„Entgiftung, Entwöhnung und Nachsorge“. Suchtberatung, stationäre und ambulante
Rehabilitation werden in diesem Verständnis traditionell inhaltlich zusammenhängend
gedacht, obwohl sie eine unterschiedliche sozialpolitisch-administrative Zuordnung erfahren.
Durch die Suchtberatung kann eine Verelendung der Klient*innen mit vielschichtigen
Problemlagen möglichst gering gehalten werden. Dies trägt dazu bei, die Folgekosten einer
Exzerpt „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
2
Suchterkrankung und die damit verbundene Marginalisierung, der dann in den Kommunen in
Form von Leistungen nach SGB XII begegnet werden muss, zu verringern. Plausibel
erscheint außerdem, dass das Angebot der Suchtberatung einen wesentlichen Anteil zur
Enttabuisierung und Entstigmatisierung, zur Ermöglichung sozialer Teilhabe für Betroffene
sowie zum Erhalt des örtlichen sozialen Friedens leistet. Nicht zuletzt, vor dem Hintergrund
dieser Argumentationen, muss die Funktion „Suchtberatung“ als eine gesellschaftlich
wertvolle Tätigkeit im Kontext der suchtbezogenen Hilfen angesehen werden.
Die postulierte gesellschaftliche Bedeutung bildet sich allerdings in keiner Weise in der
finanziellen Ausstattung der Organisation Suchtberatung ab, so dass sich die Frage stellt, ob
und wenn ja, wie diese Tätigkeit in der bisherigen Form aufrechterhalten werden kann.
Zentral verbindender Aspekt, der in der Suchtberatung enthaltenen unterschiedlichen
methodischen Angebote, ist die Finanzierung aus überwiegend freiwilligen kommunalen
Mitteln im Rahmen von Daseinsvorsorge. Aus diesem Grund versteht die vorliegende
Expertise die Hilfeart Suchtberatung aus sozialpolitisch-administrativer Perspektive in
Abgrenzung zur Prävention, Rehabilitation, Nachsorge (im Rahmen von Rehabilitation)
sowie ambulant betreutem Wohnen oder anderweitig refinanzierten Angeboten innerhalb der
Organisation Suchtberatungsstelle. Es erscheint daher sinnvoll, zwischen der Organisation
und der Funktion Suchtberatung zu unterscheiden.
3. Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung
Im Rahmen einer Forschungsarbeit (Hansjürgens 2013) wurde Suchtberatung im Kontext
legaler Suchtmittel (Alkohol, Medikamente und Spielsucht) beschrieben und die von den
Fachkräften der Sozialen Arbeit tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeiten auf der Basis von
Selbstbeschreibungen qualitativ rekonstruiert. Die Aussagen der Fachkräfte weisen inhaltlich
eine Nähe zu dem sozialpädagogischen Handlungskonzept der „multiperspektivischen
Fallarbeit“ nach Müller (2012) auf und werden deshalb in Anlehnung an dieses Konzept als
explizit sozialarbeitsbezogenes Handeln unter dem Begriff „multiperspektivisches
Fallverstehen“ rekonstruiert.
Die konzeptionellen Eckpfeiler der Funktion Suchtberatung, die maßgeblich durch die
Profession „Soziale Arbeit“ entwickelt und gestaltet wurden und werden, lassen sich wie folgt
benennen:
Niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit,
Raum zur Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung,
Integrierter Prozessbogen mit hilfesektorenübergreifendem Casemanagement,
Beratung und Begleitung in Bezug auf Anliegen der Klient*innen,
Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene.
Die tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeiten in Suchtberatungsstellen haben sich historisch
pragmatisch entwickelt und dabei funktional an die Anliegen der Klient*innen und den
zugeschriebenen Aufträgen angepasst. „Beratung“ und „Vermittlung“ werden mit methodisch
fachlichen Inhalten der Profession Soziale Arbeit gefüllt und umgesetzt. Zentraler Aspekt ist
dabei die Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung, welche die Grundlage für
einen integrierten, Hilfesektor übergreifenden Prozessbogen bildet, der sowohl
längerfristige Beratung und Begleitung, die Vermittlung in weiterführende Hilfen, als auch die
Exzerpt „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
3
Wiedereingliederung in das Alltagsleben und die regionale Erschließung von Hilfenetzwerken
für Betroffene ermöglichen kann.
Im Rahmen einer weiteren qualitativen Untersuchung (Hansjürgens 2018) kann datenbasiert
belegt werden, dass eine Arbeitsbeziehung, die sich schon im Erstgespräch vertrauensvoll
oder misstrauisch entwickelt, Einfluss auf den weiteren Verlauf der angebotenen Hilfe in der
Organisation Suchtberatung selbst und in Bezug auf weiterführende Hilfen hat. Dieser
bereits auf Erfahrungswerten von Fachkräften schon früh postulierte Zusammenhang
begründet sich daraus, dass die Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung im
direkten Zusammenhang mit der Zuversicht der Klient*innen steht. Eine solche Zuversicht
entwickelt eine Klientin oder ein Klient, indem sie/er sich mit ihrem/seinem subjektiven
Anliegen
a) verständlich machen kann,
b) gehört wird und
c) im Bewusstsein, dass die konkrete Beraterin oder der konkrete Berater sie/ihn bei der Realisierung dieses subjektiv-bedeutsamen Anliegens unterstützen kann und wird.
Erst im Zusammenspiel von Verständigung über das Anliegen und der Entwicklung von
Zuversicht entsteht Vertrauen. Dies ermöglicht die Entstehung der Adherence (WHO 2003),
die z. B. für eine Lebensstil verändernde (abstinenzorientierte) Krankheitsbehandlung
(Entgiftung, Rehabilitation) oder für eine Erhöhung von Veränderungsmotivation für eine
weitergehende Beratung benötigt wird.
Fachkräfte in Beratungsstellen beschreiben nicht zuletzt deshalb die mit
multiperspektivischem Fallverstehen definierte Tätigkeit als besonders wichtiges Element,
die der „Lotsenfunktion“ aus fachlicher Sicht vorausgehen muss.
Die Vermittlung in weiterführende Hilfen wird als zentrales, wenn nicht sogar als das zentrale
Element der Funktion Suchtberatung betrachtet. Dies begründet sich wahrscheinlich auch
dadurch, dass 65% der Vermittlungen in medizinische Rehabilitation aus ambulanten
Suchtberatungsstellen, 19% aus Krankhausabteilungen (zu denen auch die spezialisierten
Entgiftungsabteilungen zählen) und 1 % aus ärztlichen oder psychotherapeutischen Praxen
erfolgen. Insofern stellt die Tätigkeit der Vermittlung im Rahmen der Suchtberatung aus Sicht
der Rehabilitation nicht nur ein wichtiges Element dar, sondern entpuppt sich als eine
momentan nicht anderweitig zu erbringende Brückenfunktion in weiterführende Hilfen, vor
allem die der Rehabilitation.
Der Versuch, die Funktion der Vermittlung von Menschen mit Suchtproblematiken in
hausärztlichen Praxen zu integrieren, war nicht erfolgreich. (vgl. Fankhänel et al. 2014). Hier
arbeiten Suchtberatungsstellen effektiver und bilden – auch aus Sicht anderer
suchtspezifischer Angebote, wie z. B. der stationären Rehabilitation - eine Brückenfunktion,
die nicht zu substituieren ist.
Dennoch liegt das eigentliche Potential der Hilfeart Suchtberatung nicht in der „Vermittlung“
sondern in der „Beratung“. Diese kann allerdings nicht als „Motivierung zur Rehabilitation“
verstanden werden, sondern ist als „Beratung und Begleitung“ mit dem Fokus auf die
spezifischen Anliegen der Klient*innen und unter Einbeziehung professioneller und
klient*innen-bezogener Netzwerke anzusehen. Mit Blick auf die Wirkung dieser Teilfunktion
zeigt das Zahlenmaterial der Deutschen Suchthilfestatistik schon jetzt für Klient*innen
deutliche Stabilisierungs- bzw. Besserungseffekte in den Bereichen Wohnen,
Lebensunterhalt, Partnerbeziehungen und Aufnahme einer Erwerbsarbeit.
Exzerpt „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
4
Die Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene bezieht sich einerseits auf
fallbezogene Kooperationen und andererseits auf organisationsbezogene Kooperationen zur
strukturellen Gestaltung eines regionalen Hilfenetzwerkes.
Im Bereich der Erschließung eines Hilfenetzwerkes erfasst die Deutsche Suchthilfestatistik
insgesamt 20 verschiedene Institutionen, mit denen schriftliche Kooperationen zur
Arbeitsteilung geschlossen und Fallkonferenzen abgehalten werden. Die Kooperationen
umfassen alle Bereiche, die das SGB einschließt: Arbeitsagenturen / Jobcenter (SGB II und
III), Krankenhäuser und ärztliche Praxen (SGB V), Rehabilitationseinrichtungen (SGB VI),
Pflegeeinrichtungen (SGB XI), Jugendhilfe (SGB VIII), Eingliederungshilfe (SGB XII) sowie
Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Justiz und weiteren Einrichtungen aus dem Segment
der Daseinsvorsorge und Selbsthilfe. Dies deckt sich mit den Angaben der Fachkräfte in den
Selbstbeschreibungen, die Netzwerkarbeit neben der klient*innen-bezogenen Arbeit als
Schwerpunkt ihrer Tätigkeit beschreiben (vgl. Hansjürgens 2013).
Anhand der hohen Zahlen, die jeweils für diese Teilfunktion angegeben werden, kann hier
davon ausgegangen werden, dass Suchtberatung nicht nur klient*innen-bezogen in andere
Hilfesektoren hineininterveniert, sondern auch strukturell das jeweils regionale Feld von Hilfe
mitgestaltet und z. B. in Form von Kooperationsverträgen erschließt.
Die Stellung der Funktion Suchtberatung im kommunalen Raum, mit Zugang zu anderen
Hilfesektoren, entspricht seit vielen Jahren der jetzt politisch geforderten sozialräumlichen
Orientierung und Stärkung der Teilhabe von Klient*innen. Ihre prekäre Finanzierung jedoch
gefährdet die Ausübung der hier beschriebenen Funktionen.
Eine einseitige Verschiebung oder ein Verzicht auf diese Leistung erscheint weder mit Blick
auf Humanität, Funktionalität noch auf Kostenreduktion sinnvoll.
Demgegenüber kann das Potential der Organisation Suchtberatung in Bezug auf Annahme
von Hilfen, Stabilisierung und Re-Integration in basale Lebensbereiche, im Sinne einer
ganzheitlichen Teilhabe, ausgebaut werden, wenn die Funktion der Suchtberatung im
kommunalen Raum und in den andern Hilfesegmenten (an-)erkannt und mit angemessenen
Ressourcen ausgestattet wird.
4. Ergebnisse und Forderungen
Die oben beschriebenen tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeiten im Rahmen der Funktion
Suchtberatung (zieloffener Raum zur Entwicklung einer vertrauensvolle Arbeitsbeziehung,
Vermittlung in weiterführende Hilfen, Beratung und Begleitung, Erschließung eines
regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene) bilden, wie dargestellt, die konzeptionellen
Eckpfeiler der Funktion Suchtberatung. Ein weiterer Eckpfeiler ist der voraussetzungslose,
niedrigschwellige Zugang zur Funktion Suchtberatung. Dieser ermöglicht den beschriebenen
sozialpädagogischen Zugang mit der Wirkung, dass eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung
entstehen kann, die wiederum die Gestaltung eines Prozessbogens ermöglicht.
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) hat in ihrem
Kompetenzprofil (vgl. Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe 2016)
dargelegt, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit, welche zu einem überwiegenden Teil (63%)
die Arbeit in Suchtberatungsstellen gestalten, darauf spezialisiert sind, die soziale Dimension
einer Suchterkrankung zu bearbeiten. Diese kann kurz als „Realisierung von
(gesellschaftlicher) Teilhabe in Wechselwirkung mit der Unterstützung individueller Coping-
bzw. Recoveryprozesse“ beschrieben werden (vgl. Hansjürgens 2015). Sie intervenieren
Exzerpt „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
5
dabei auf der Personenebene (Copingprozesse) sowie auf der Systemebene (Realisierung
von Teilhabe) als auch auf der Prozessebene (vertrauensvolle Arbeitsbeziehung) (vgl.
Hansjürgens 2016).
Vor diesem Hintergrund entsprechen die beschriebenen Tätigkeiten einer Suchtberatung
schon heute den politisch geforderten Teilhabeorientierungen. (vgl. UN-BKR und Deutsche
Hauptstelle für Suchtfragen 2014)
Auf der Grundlage der von der Caritas Suchthilfe e.V. (CaSu) und dem Gesamtverband für
Suchthilfe e.V. (GVS) beauftragten und von Frau Prof. Dr. Hansjürgens entwickelten
Expertise, ergeben sich die folgenden Ergebnisse und Positionen:
1. Das Potential von Suchtberatung trägt dazu bei, Teilhabe wirksam zu
realisieren.
2. Im Zuge der Suchtberatung entwickelt sich bei optimalem Verlauf vom
Erstgespräch an eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung zwischen Klient*in und
Berater*in. So entsteht ein Prozessbogen, der auch explizit eine Vermittlung in
weiterführende Hilfen oder eine problemzentrierte Beratung und Begleitung in
der gleichen Organisation einschließen kann.
3. Subjektiv für die Klient*innen erfahrbare Erfolge im Hinblick auf die
Realisierung eines subjektiven Anliegens der Klient*in ermöglichen die
Entwicklung eines Vertrauens und die Motivation (Adherence), die benötigt
wird, um das Angebot einer weiterführenden Behandlung anzunehmen.
4. Die Zuständigkeit für Gewährung von Hilfe darf sich nicht einzig auf die
Reduktion eines als problematisch eingeschätzten Konsums beziehen, auch
wenn dieser oft in einem Zusammenhang mit anderen Problemlagen steht. Es
gilt, eine Verständigung mit Klient*innen über die den Suchtmittelkonsum
hinausgehende „Problematiken“, deren Bearbeitung und Realisierung,
herzustellen.
5. Suchtberatung trägt dazu bei, die Lebenssituation von Menschen in ihrem
sozialen Umfeld, im Sinne einer Beförderung von Coping und
Recoveryprozessen, zu verbessern. Dazu gehört auch eine langfristige
Stabilisierung von in suchttherapeutischen Maßnahmen erarbeiteten
Verhaltensänderungen, im Rahmen der Wiedereingliederung in den Alltag.
6. Der in der Untersuchung zur Entwicklung einer Arbeitsbeziehung in
Erstgesprächen herausgearbeitete Einfluss impliziert jedoch eine
Herausforderung für die Organisation dieser Hilfe. Es ist unter den oben
beschriebenen aktuellen Bedingungen der Erbringung des Angebots zu
befürchten, dass die beschriebenen Tätigkeiten und Wirkungen der Funktion
Suchtberatung gefährdet sind, wenn ihre Bedeutung nicht erkannt wird und
sich dies nicht in der Ressourcenausstattung spiegelt.
7. Die Funktion Suchtberatung kann aufgrund der fachlichen Expertise von
Fachkräften der Sozialen Arbeit als Brückenfunktion der Sozialen Arbeit in
andere professionelle Hilfen aber auch in andere Lebensbereiche bezeichnet
werden.
Exzerpt „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
6
8. Eine funktionale Suchtberatung kann neben dem Gewinn für die Betroffenen
und ihr soziales Umfeld auch dazu beitragen, regional soziale (Hilfe-) Räume zu
gestalten sowie die Kommunen von Kosten zu entlasten, die durch einen
dauerhaften Verbleib Betroffener im Leistungsbezug nach SGB II; III, XII und
auch indirekt in SGB VIII und XI entstehen können.
9. Um das Potential der Hilfeart Suchtberatung für die betroffenen Menschen zu
erhalten, muss dieses deutlich stabiler und verlässlich finanziert und
unabhängig von der faktischen Verpflichtung der Vermittlung in die Hilfeart
Rehabilitation betrachtet werden, gleichwohl sich diese Hilfearten sehr sinnvoll
ergänzen.
10. Die Verantwortung für die Annahme der Hilfen darf dabei nicht allein den
Betroffenen zugeschoben werden. Die Bedingungen der Erbringung dieser
Hilfeleistungen sind vielmehr so zu gestalten, dass es für Klient*innen nicht nur
prinzipiell möglich, sondern auch aus ihrer subjektiven Perspektive faktisch
realisierbar wird, diese Hilfen anzunehmen und für sich zu nutzen.
11. Die Funktion Suchtberatung, inhaltlich wesentlich geprägt durch die Profession
Soziale Arbeit, leistet schon heute eine Vielzahl wertvoller, unabdingbarer
Tätigkeiten und kann auch in Zukunft ihr Potential ausschöpfen und einen
wichtigen, erhaltenswerten Beitrag für die von Suchterkrankung Betroffenen
und die Gesellschaft leisten.
Tätigkeiten und
Potentiale der Funktion
„Suchtberatung“
Expertise im Auftrag von
Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu), Freiburg
und
Gesamtverband für Suchthilfe e. V.
(GVS – Fachverband der Diakonie Deutschland), Berlin
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Alice-Salomon-Hochschule, Berlin
Berlin, Oktober 2018
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
2
Inhalt
Inhalt ....................................................................................................................................................... 2
Zusammenfassung ................................................................................................................................... 3
1 Einleitung ......................................................................................................................................... 6
2 Beschreibung der Organisation Suchtberatung im Feld suchtbezogener Hilfen ........................... 9
3 Verteilung der Zuständigkeiten im Feld suchtbezogener Hilfen und Auswirkung auf die
Organisation und Funktion Suchtberatung ................................................................................... 12
4 Tatsächlich wahrgenommene Tätigkeiten im Rahmen der Funktion Suchtberatung ................... 15
4.1 Raum zur Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung ........................................ 16
4.2 Vermittlung in weiterführende Hilfen bzw. Rehabilitation ................................................... 18
4.3 Beratung und Begleitung ....................................................................................................... 20
4.4 Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene ............................................ 22
5 Potentiale der Funktion Suchtberatung und die Herausforderungen für ihre Nutzung ............... 24
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................... 27
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
3
Zusammenfassung
Einordnung der Suchtberatung im Feld suchtbezogener Hilfen
Suchtberatungsstellen werden von Fachverbänden zwar als wichtiger Hilfeakteur im Feld
suchtbezogener Hilfen eingeschätzt, aber ihre Bedeutung und Wirkung für Betroffene als
auch in sozialwirtschaftlichen sowie gesellschaftspolitischen Dimensionen wurde bisher nicht
explizit herausgearbeitet.
Dies kann die hier vorliegende Expertise in Gänze auch nicht leisten. Aber sie ordnet
Suchtberatung mit den ihr zugeschriebenen Tätigkeiten der
- Motivationsarbeit
- Beratung und Begleitung
- Vermittlung
- Netzwerkarbeit
in einen Gesamtkontext ein. Darüber hinaus werden Potentiale für Klient*innen aber auch für
den Bereich suchtspezifischer Angebote dargestellt und so, in einem ersten Schritt, die oben
genannten Dimensionen betrachtet.
Wesentlichen Einfluss auf die fachliche Arbeit von Suchtberatungsstellen haben
Finanzierungsquellen mit den damit verknüpften Zielzuschreibungen und Erwartungen an
deren Umsetzung. Die Einrichtungen der Suchtberatung (im Folgenden als „Organisation
Suchtberatung“ benannt) haben sich aufgrund ihrer zentralen Zuordnung zu den
kommunalen freiwilligen Leistungen der Daseinsvorsorge im Modus von Fürsorge aber auch
aus Leistungen der Sozialversicherungen (SGB VI) und Leistungen aus rechtlich fixierten
kommunalen Leistungen örtlicher sowie überörtlicher Leistungsträger (SGB II und XII)
regional höchst unterschiedlich entwickelt. Vor diesem Hintergrund sind die Leistungen,
welche die Organisation Suchtberatung immer an den kommunalen Bedarfen ausrichten
muss, nur schwer erfassbar.
Es erscheint daher sinnvoll, zwischen der Organisation und der Funktion
Suchtberatung zu unterscheiden.
Inhaltliche Struktur der Funktion Suchtberatung
Die Erwartungen des Feldes suchtbezogener Hilfen an die Funktion Suchtberatung liegt, so
lassen es Konzepte und Leistungsbeschreibungen vermuten, vorwiegend in einer Art
„Zuliefererrolle“ für die „Rehabilitation“ als zentral bewertete Option der Hilfe. Damit entbehrt
die Funktion Suchtberatung eines eigenen Hilfeprofils. Beratung in dieser Lesart ist eine Art
Überzeugungsarbeit im Hinblick auf Entwicklung von Motivation, diese oder eine andere
adäquate Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Eine wichtige Rolle bei der organisationsbezogenen und inhaltlichen Strukturierung der
Arbeit spielen die „Empfehlungen“ der Leistungsträger der Rehabilitation, (Deutsche
Rentenversicherung und Gesetzliche Krankenversicherung). Durch die zunehmende und
sich inzwischen auswirkende Umstellung der Finanzierungsprinzipien von Suchtberatung,
weg von einer Kostendeckung hin zu einer ziel- und kennzahlenorientierten
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
4
Finanzierungsgrundlage, erfährt diese Konstellation seit einigen Jahren eine nicht
konfliktfreie Zuspitzung.
Die tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeiten in Suchtberatungsstellen haben sich
historisch pragmatisch entwickelt und dabei funktional an die Anliegen der Klientinnen sowie
Klienten und den zugeschriebenen Aufträgen angepasst. „Beratung“ und „Vermittlung“
werden mit methodisch fachlichen Inhalten der Profession Soziale Arbeit gefüllt und
umgesetzt. Zentraler Aspekt ist dabei die Entwicklung einer vertrauensvollen
Arbeitsbeziehung, welche die Grundlage für einen integrierten, Hilfesektor übergreifenden
Prozessbogen bildet, der sowohl längerfristige Beratung und Begleitung, die Vermittlung in
weiterführende Hilfen, als auch die Wiedereingliederung in das Alltagsleben und die
regionale Erschließung von Hilfenetzwerken für Betroffene ermöglichen kann. Der Versuch,
die Funktion der Vermittlung von Menschen mit Suchtproblematiken in hausärztlichen
Praxen zu integrieren, war nicht erfolgreich. (vgl. Fankhänel et al. 2014)
Hier arbeiten Suchtberatungsstellen effektiver und bilden – auch aus Sicht anderer
suchtspezifischer Angebote, wie z. B. der stationären Rehabilitation - eine Brückenfunktion,
die nicht zu substituieren ist.
Potentiale der Suchtberatung
Dennoch liegt das eigentliche Potential der Hilfeart Suchtberatung nicht in der „Vermittlung“
sondern in der „Beratung“. Diese kann allerdings nicht als „Motivierung zur Rehabilitation“
verstanden werden, sondern ist als „Beratung und Begleitung“ mit dem Fokus auf die
spezifischen Anliegen der Klient*innen und unter Einbeziehung professioneller und
klient*innen-bezogener Netzwerke anzusehen. Mit Blick auf die Wirkung dieser Teilfunktion
zeigt das Zahlenmaterial der Deutschen Suchthilfestatistik schon jetzt für Klient*innen
deutliche Stabilisierungs- bzw. Besserungseffekte in den Bereichen Wohnen,
Lebensunterhalt, Partnerbeziehungen und Aufnahme einer Erwerbsarbeit. (vgl. Braun et al.
2017a, 2017b)
Es gilt, diese Effekte zukünftig detaillierter zu untersuchen, insbesondere auf den Impact in
Bezug auf Inanspruchnahme bzw. Nicht-mehr-Inanspruchnahme von Hilfeleistungen
außerhalb der Suchtberatung, z. B. Wohnhilfen, Leistungen zur Kinder- und Jugendhilfe oder
der Hilfe zur Selbsthilfe.
Die konzeptionellen Eckpfeiler der Funktion Suchtberatung, die maßgeblich durch die
Profession „Soziale Arbeit“ entwickelt und gestaltet wurden und werden, lassen sich wie folgt
benennen:
Niedrigschwellige Zugangsmöglichkeit
Raum zur Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung
Integrierter Prozessbogen mit hilfesektorenübergreifendem Casemanagement
Beratung und Begleitung in Bezug auf Klientenanliegen
Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene.
Diese Elemente erweisen sich mit Blick auf die Stabilisierung basaler Lebenssituationen
(Wohnen, Tagesstruktur / Arbeit / Lebensunterhalt / Beziehungen im sozialen Nahfeld) von
Menschen mit einem als problematisch beurteilten Substanzkonsum als grundsätzlich
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
5
funktional. Darüber hinaus werden damit Klient*innen erreicht, die aus anderen Perspektiven
als „schwierig“ gelten.
Die Stellung er Funktion Suchtberatung im kommunalen Raum, mit Zugang zu
anderen Hilfesektoren, entspricht seit vielen Jahren der jetzt politisch geforderten
sozialräumlichen Orientierung und Stärkung der Teilhabe von Klient*innen. Ihre
prekäre Finanzierung jedoch gefährdet die Ausübung der hier beschriebenen
Funktionen.
Eine einseitige Verschiebung oder ein Verzicht auf diese Leistung erscheint weder mit
Blick auf Humanität, Funktionalität noch auf Kostenreduktion sinnvoll.
Demgegenüber kann das Potential der Organisation Suchtberatung in Bezug auf
Annahme von Hilfen, Stabilisierung und Re-Integration in basale Lebensbereiche, im
Sinne einer ganzheitlichen Teilhabe, ausgebaut werden, wenn die Funktion der
Suchtberatung im kommunalen Raum und in den andern Hilfesegmenten (an-)erkannt
und mit angemessenen Ressourcen ausgestattet wird.
Wer diese Aufgabe übernimmt oder unter welchen Bedingungen übernehmen sollte, bleibt
offen und muss angesichts der aktuellen Situation neu zwischen den Akteuren verhandelt
werden.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
6
1 Einleitung
Entstehungsgeschichte. Entstanden aus ehrenamtlich geprägten Hilfen im Kontext
kirchlicher Fürsorge entwickelten sich ambulante Suchtberatungsstellen zunächst in
Westdeutschland und nach der Wiedervereinigung auch in Ostdeutschland zu einem
etablierten Fachdienst im Bereich des kommunalen Angebotes zur Daseinsvorsorge1.
Sprachen die Beratungsstellen vorerst Menschen mit Alkoholproblemen an, wurden ab den
70er Jahren Drogenberatungsstellen als professionalisiertes Angebot mit dem Schwerpunkt
der Beratung im Falle eines Konsums illegaler Substanzen konzipiert. Lag der Schwerpunkt
hier zunächst auf den durch einen Heroinkonsum entstandenen Hilfebedarf, differenzierte
sich dieser mit Hinzukommen weiterer Substanzen aus.
Träger der Suchtberatung. Ambulante Suchtberatungsstellen2 werden heute lt. Deutscher
Suchthilfestatistik zu 89% von der freien Wohlfahrtspflege und gemeinnützigen
Organisationen getragen. (vgl. Braun et al. 2017b) Die umfangreichsten finanziellen
Ressourcen fließen dabei aus kommunalen und Landesmitteln. Darüber hinaus bedarf es
der Bereitstellung von Eigenmitteln durch die Träger der Suchtberatung. Einen weiteren Teil
der Finanzierung decken die Anbieter selbst durch Einnahmen aus der ambulanten
Rehabilitation und Nachsorge sowie aus Projektmitteln ab.3
Mitarbeitende in der Suchtberatung. Beschäftigte in Suchtberatungsstellen sind zu 63,5 %
Fachkräfte der Sozialen Arbeit, von denen postuliert wird, dass sie „insbesondere im
ambulanten Bereich zentrale und wichtige Tätigkeiten“ leisten. (vgl. Klein 2012)
Angebote der Suchtberatung. Die Hilfeart Suchtberatung wird von Vennedey (2015) als
„Herzstück“ innerhalb der Organisation Suchtberatung und gleichzeitig als „größte Grauzone“
beschrieben, da sie im Unterschied zur Rehabilitation nur wenig einheitliche Normierung
erfährt. Dies zeigt sich vor allem darin, dass „Suchtberatung“ inhaltlich ein breites
Angebotsspektrum umfasst und in unterschiedlichen methodischen Settings, vom
klassischen Einzelsetting (z.B. Beratung, Vermittlung, Psychosoziale Beratung Substituierter)
über das Gruppensetting (z.B. Motivations- oder Angehörigengruppen), und aufsuchende
Arbeit (z.B. Streetwork) bis zu niedrigschwelligen Hilfen und Kontaktangeboten (z.B.
Kontaktcafé, Konsumräume, Angebote im Rahmen von Harmreduktion etc) stattfinden kann.
Hinzu kommt die laut Deutscher Suchthilfestatistik als „Kooperation und Vernetzung“
bezeichnete Leistung.
Suchtberatung als Tätigkeit wird von Tretter (2000) aus der inhaltlichen Perspektive der
Suchtmedizin als Teil der „klassischen Suchthilfe“4 bezeichnet und ergänzt die Elemente
1 Für eine detailliertere Beschreibung der Entwicklung dieser Dienste s. stellvertretend Hauschildt 1997; Helas 1997;
Pokladek 2010; Spode 2012. 2 Aktuell (Zugriff am 21.03.2018) sind in der Einrichtungsdatenbank der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen unter dem
Stichwort „Beratungsstelle“ 1377 Einträge für Deutschland gelistet. Die Auswertung der Deutschen Suchthilfestatistik für
2016 greift auf Meldungen von 863 Suchtberatungsstellen (61%) zurück. 3 Diese Annahme beruht auf den Daten der Deutschen Suchthilfestatistik (Braun et al. 2017b) kann aber nicht als
repräsentativ angenommen werden, da die Angaben hierzu freiwillig waren und nach eigenen Berechnungen nur ca. 20%
der 1377 Beratungsstellen hierzu Angaben gemacht haben. 4 Dieses Feld hat sich über die Jahre immer weiter ausdifferenziert und bietet heute ein hochentwickeltes Hilfesystem für
Menschen mit einem als problematisch definierten Suchtmittelkonsum oder einem entsprechenden Verhalten an. Eine
Übersicht über die verschiedenen Ausdifferenzierungen auch außerhalb der sog. klassischen Suchthilfe“ bietet die Analyse
„Suchthilfe und Versorgungssituation in Deutschland“ Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2014.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
7
„Entgiftung, Entwöhnung und Nachsorge“. Suchtberatung, stationäre5 und ambulante
Rehabilitation werden in diesem Verständnis traditionell inhaltlich zusammenhängend
gedacht, obwohl sie eine unterschiedliche sozialpolitisch-administrative Zuordnung erfahren.
Finanzierung. Zentral verbindender Aspekt, der in der Suchtberatung enthaltenen
unterschiedlichen methodischen Angebote, ist die Finanzierung aus überwiegend freiwilligen
kommunalen Mitteln im Rahmen von Daseinsvorsorge. Aus diesem Grund versteht die
vorliegende Expertise Suchtberatung aus sozialpolitisch-administrativer Perspektive in
Abgrenzung zur Prävention, Rehabilitation, Nachsorge (im Rahmen von Rehabilitation)
sowie ambulant betreutem Wohnen oder anderweitig refinanzierten Angeboten innerhalb der
Organisation Suchtberatungsstelle.
Gesellschaftliche Bedeutung. Durch die Suchtberatung kann eine Verelendung der
Klient*innen mit vielschichtigen Problemlagen möglichst gering gehalten werden (vgl.
Arbeitskreis katholischer Suchthilfe (AKS) 2003). Dies trägt dazu bei, die Folgekosten einer
Suchterkrankung und die damit verbundene Marginalisierung, der dann in den Kommunen in
Form von Leistungen nach SGB XII begegnet werden muss, zu verringern (ebd.). Plausibel
erscheint außerdem, dass das Angebot der Suchtberatung zur Enttabuisierung,
Entstigmatisierung, zur Ermöglichung sozialer Teilhabe für Betroffene sowie zum Erhalt des
örtlichen sozialen Friedens beiträgt (vgl. Bürkle 2015). Nicht zuletzt, vor dem Hintergrund
dieser Argumentationen, muss die Funktion „Suchtberatung“ als eine gesellschaftlich
wertvolle Tätigkeit im Kontext der suchtbezogenen Hilfen angesehen werden.
Die postulierte gesellschaftliche Bedeutung bildet sich allerdings in keiner Weise in
der finanziellen Ausstattung der Organisation Suchtberatung ab, so dass sich die
Frage stellt, ob und wenn ja, wie diese Tätigkeit in der bisherigen Form
aufrechterhalten werden kann. (vgl. Fachverband Drogen- und Rauschmittel 2017; Bürkle
2015)
Die vorliegende Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
wurde von der Caritas Suchthilfe e. V. (CaSu) und dem Gesamtverband für Suchthilfe e. V.
(GVS) – Fachverband der Diakonie Deutschland mit dem Ziel in Auftrag gegeben, die
Stellung und das besondere Portfolio von Suchtberatung im Feld suchtbezogener Hilfen und
in der (kommunalen) Daseinsvorsorge herauszuarbeiten. Sie möchte darüber hinaus
Herausforderungen aufzuzeigen, die sich durch die unterschiedlichen Logiken der
Ressourcenausstattung ergeben und die bei der Überlegung zu Umgangsweisen mit diesen
Herausforderungen nicht ignoriert werden können.
Nach einer Beschreibung der Tätigkeiten der Organisation Suchtberatung und ihrer Stellung
im Feld suchtspezifischer Angebote werden sozialpolitische und sozialadministrative
Unterschiede zwischen den Hilfearten Suchtberatung und Suchtrehabilitation
herausgearbeitet, die wiederum Auswirkungen auf die Rationalität der Ausgestaltung des
Angebots haben.
In einem nächsten Schritt zeigt die Expertise mit Hinblick auf die fachpolitischen
Beschreibungen, wie inhaltliche Zuständigkeiten verteilt sind und welche Aufgabe dabei der
Suchtberatung zugeschrieben wird. Darüber hinaus wird durch diese Arbeit auf der Basis
5 Die Deutsche Suchthilfestatistik weist als sog. stationäre Suchthilfe zu 100% stationäre Rehabilitationseinrichtungen aus.
Die Einrichtungssuche der DHS listet unter dem Stichwort „stationäre Rehabilitation“ 219 Einrichtungen. Die Auswertung
der Deutschen Suchthilfestatistik beruht auf Meldungen von 140 Einrichtungen (65%).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
8
qualitativer (vgl. Hansjürgens 2013, 2016, 2018) und quantitativer Daten (vgl. Braun et al.
2017a, 2017b) dargestellt, wie Fachkräfte der Organisation Suchtberatung, die ihnen
zugeschriebene Aufgabe erfüllen und welche Wirkungen daraus für Betroffene und das Feld
suchtbezogener Hilfen abzuleiten sind.
Diese Expertise verfolgt das Anliegen, die Grundlage für eine Diskussion zu liefern, welche
dazu beitragen soll, die Potentiale von Suchberatung, unter Berücksichtigung ihrer
sozialpolitischen und sozialadministrativen Allokation und deren Implikationen, zu erhalten
bzw. auszubauen.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
9
2 Beschreibung der Organisation Suchtberatung im Feld suchtbezogener
Hilfen
Finanzierungsstrukturen der Suchtberatung. Das Feld suchtbezogener Hilfen kann
grundsätzlich verschiedene Arbeitsbereiche umfassen, deren jeweilige Legitimation an
unterschiedlichen Stellen im Sozialgesetzbuch (SGB) oder auch im Öffentlichen
Gesundheitsdienstgesetz (ÖGDG) der einzelnen Bundesländer verankert ist.
Dementsprechend müssen Finanzierungsstrukturen in der Suchthilfe als komplex und
heterogen bezeichnet werden. Grundsätzlich lassen sich jedoch zwei
Hauptfinanzierungsstränge ausmachen:
Steuerfinanzierte Leistungen der Daseinsvorsorge Psych KG bzw. (falls vorhanden) der 1.
Gesetze über den öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGDG) der Länder bzw.6 aber auch
der Sozialgesetzbücher VIII und XII
Leistungsgesetzen zur medizinischen Versorgung (SGB V) und Rehabilitation (SGB 2.
VI).7
Diese Finanzierungsarten gehorchen jeweils unterschiedlichen Prinzipien: dem Prinzip der
Versicherungsleistung (SGB V und VI) oder dem Prinzip der Fürsorge (ÖGDG /
PsychKG).
Folgt das Prinzip der Versicherungsleistungen einer „bedarfsgerechten“8 Ausgestaltung der
Hilfen, dient das Prinzip der Fürsorge einer eher solidarischen Haltung zur Vermeidung von
gesellschaftlich unerwünschten Zuständen nach dem Minimalprinzip. Letzteres wird auch als
„Prinzip der kurzen Decke“ (Bellermann 2011, S. 115) bezeichnet und soll durch die eben
nicht „bedarfsgerechte“ sondern prinzipiell eher „zu kurze“ Ausstattung mit Ressourcen, die
Eigenaktivität der Bedürftigen wecken, einen unerwünschten Zustand zu beenden.
Leistungserbringung in Organisationen kann in beiden Prinzipien als „Sachleistung“ im
Rahmen eines „sozialen Dienstes“, Versicherungsleistungen zusätzlich als Geldleistung
erbracht werden.
Suchtberatung im Modus des Prinzips Fürsorge. Suchtberatungsstellen in der
Organisationsform eines sozialen Dienstes sind mit all ihren Angeboten, mit Ausnahme von
ambulanter Rehabilitation und Nachsorge, grundsätzlich der kommunalen steuerfinanzierten
Daseinsvorsorge im Modus des Prinzips Fürsorge zuzuordnen. Insofern kann hier das
Prinzip einer „bedarfsgerechten Versorgung“ durch Leistungen der Sozialversicherung im
6 §1 Abs.2 Psychische Krankheiten im Sinne dieses Gesetzes sind behandlungsbedürftige Psychosen sowie andere
behandlungsbedürftige psychische Störungen und Abhängigkeitserkrankungen von vergleichbarer Schwere (Herv. R.
H.). Dies bedeutet die Finanzierungsgrundlage der Organisation und Funktion in NRW basiert auf dieser
Ausdifferenzierung des Begriffs „behandlungsbedürftige psychische Störung“. Die Diagnose „Abhängigkeitserkrankung“
wird diesem aber nicht gleichgestellt, sondern gilt nur, wenn ein vergleichbarer Schweregrad wie bei einer
behandlungsbedürftigen psychischen Störung festgestellt wird. Letztendlich sind damit Präventions- oder
Frühinterventionsmaßnahmen nicht mit abdeckt. 7 Die Zuständigkeit der SGB V und VI erfolgte vor dem Hintergrund der Anerkennung von Sucht als Krankheit 1968 durch
das Bundessozialgericht. Die Folge dieser Urteile war, dass die Spitzenverbände der Krankenkassen (SGB V) die Träger
der Rentenversicherung (SGB VI) sich die Behandlungskosten sowie die damit verbundenen Zuständigkeiten aufteilten
und dieses in der sog. Empfehlungsvereinbarung Sucht 1978 geregelt wurde. 8Der Begriff „bedarfsgerecht“ wird im Kontext des SGB unterschiedlich diskutiert. Insbesondere im Kontext
Gesundheitswesens, denen die suchtbezogenen Hilfen in einem Verständnis von Sucht als Krankheit im Wesentlichen
zugeordnet sind, wird „bedarfsgerecht“ als (von außen beurteilte) objektiv sachgerechte Versorgung mit Leistungen unter
Effektivitäts- und Effizienzgesichtspunkten verstanden, um eine Fehl-, Über- oder Unterversorgung zu vermeiden
(Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen Gutachten 2014, S. 15 f.), wobei auch
eingeräumt wird, dass selbst unter finanziell vergleichbaren Ländern nur schwer Vergleiche hergestellt werden können
(ebd.).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
10
Sinne eines Rechtsanspruchs auf Ausstattung mit entsprechender inhaltlich gesteuerter
Strukturqualität9 nicht ohne weiteres übertragen werden. Eine Klärung ist deswegen von
Bedeutung, da aufgrund der alltagstheoretischen Verwendung der Begriffe „Versorgung“,
„Akutversorgung“ oder „Grundversorgung“ im Zusammenhang mit Suchtberatung eine
missverständliche Übertragung des Prinzips einer „bedarfsgerechten Ausgestaltung von
Hilfen“ evoziert werden kann, die inhaltlich aus sozialpolitisch-administrativer Perspektive
aktuell nicht den Tatsachen entspricht.
In diesem Zusammenhang ist weiter zu berücksichtigen, dass Qualität und Quantität
„sozialer Dienste“ im Kontext von Fürsorge durch das zur Verfügung gestellte
Finanzvolumen der Steuermittel bestimmt wird. Deren Verwendung basiert auf politischem
Willen und ist nur dann eine Frage eines festgestellten Bedarfs der Betroffenen, wenn ein
Rechtsanspruch explizit legitimiert wurde. Vor dem Hintergrund der rechtlichen Normierung
fixiert das Prinzip der Fürsorge den Inhalt der sozialen Dienstleistungen im Verhältnis zu den
im Sozialversicherungsprinzip generierbaren Sach- und Geldleistungen in einem weitaus
geringeren Maße. Einem Gestaltungsraum, der als essentielle Voraussetzung für
professionalisiertes und nicht bürokratisiertes helfendes Handeln anzusehen ist, stehen die
eher geringen gesetzlich normierten Rechts- und Finanzierungsgrundlagen der jeweiligen
Leistungsträger gegenüber, die selten eine Antwort auf den tatsächlichen Bedarf der
Klient*innen bieten. Diese Konstellation zeigt sich z. B. in Prioritäten bzw. Widerständen der
Politik, bestimmte soziale Probleme (wie z.B. Hilfen für suchtmittelkonsumierende
Menschen) überhaupt rechtlich zu regeln (Althammer; Lampert 2014, S.522f.) und begründet
sich nicht zuletzt darin, dass eine normierte Regelung einen rechtlich einklagbaren Anspruch
begründen kann, der dann auch finanziert werden muss.
Suchtberatung als sozialer Dienst im Modus von Fürsorge und die dafür politisch zur
Verfügung gestellten Finanzmitteln erklären die regionale Verschiedenheit der
Ausgestaltung dieser Leistung.
Die Anerkennung von Sucht als Krankheit ermöglichte die Übernahme von
Behandlungskosten aus den Versicherungsleistungen nach SGB V und VI. In der
„Empfehlungsvereinbarung Sucht“ von 1971 schrieben die großen Leistungsträger -
Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) und die Rentenversicherung (RV) - die
Verantwortung für die Akutversorgung mit Entgiftung dem GKV und die medizinische
Rehabilitation mit Blick auf (Wieder-) Aufnahme einer Erwerbstätigkeit der RV zu.
Suchtberatung in Abgrenzung zu Leistungen und Finanzierung über die RV und die
GKV. Historisch hat sich neben der Kostenteilung in Bezug auf die Behandlung von
suchtkranken Menschen zwischen SGB V und SGB VI eine weitere Differenzierung ergeben,
die sich auf Suchtberatungsstellen auswirkt. In den Anlagen zu §13 SGB VI Abs. 4 werden
die Leistungsträger beauftragt, die konkreten Schnittstellen zwischen SGB V und VI näher zu
definieren. Für den Bereich der Abhängigkeitserkrankungen geschah dies in den
„Empfehlungsvereinbarungen Sucht“. Weitere Empfehlungen wurden in den
„Vereinbarungen im Suchtbereich“ zusammengefasst. (Deutsche Rentenversicherung Bund
2013). Hierzu gehört nach der Auffassung der Leistungsträger (RV und GKV) auch,
Aufgaben und Arbeitsweisen für Suchtberatungsstellen sowie Strukturvoraussetzung
inhaltlich näher auszudifferenzieren, wenn ambulante Rehabilitation und Weiterbehandlung
oder Nachsorge in der Organisation Suchtberatung angeboten werden soll (Schliehe 1995,
9 Für eine inhaltlich differenzierende Betrachtung des Qualitätsbegriffs in der psychiatrischen Versorgung vgl. Rössler 2003
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
11
S. 115). Diese Vereinbarungen gelten aus Sicht des Sachverständigenrats zur Begutachtung
des Gesundheitswesens bis heute als ein gelungenes Beispiel einer Vereinbarung zwischen
Krankenkassen und Rentenversicherungsträger zur Klärung der Zuständigkeit, Finanzierung
und Strukturvoraussetzungen für Einrichtungen, die Leistungen zur Rehabilitation anbieten
wollen (Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen
Gutachten 2014, S. 274). Die Finanzierung der Funktion Suchtberatung wird jedoch dabei
explizit ausgeschlossen und geht zu Lasten der Leistungsträger von Suchtberatungsstellen,
also in der Regel der Kommunen10 und der konkreten Träger der Beratungsstellen.
Schnittstellen zu anderen Hilfefeldern. Zu erwähnen bleibt außerdem, dass es darüber
hinaus, je nach regionaler Entwicklung der Finanzierung der Suchtberatung, weitere
Schnittmengen z. B. zum Sektor der Jugendhilfe (z.B. Prävention, Jugend- und
Drogenberatungsstellen, Angebote für Kinder aus suchtbelasteten Familien) oder auch in
den Sektor der Sozialversicherungsleistungen gibt. Beispielhaft seien hier Stellenanteile
genannt, die von Jobcentern, z.B. im Rahmen einer ebenfalls freiwilligen Leistung nach §
16a (Kommunale Eingliederungsleistungen), mit dem Ziel der Eingliederung in Arbeit
finanziert werden. So gelingt es Trägern der Arbeitslosenversicherung, ein Angebot von
Suchtberatung für Kund*innen vorzuhalten11 und nach dem Subsidiaritätsprinzip
auszuschließen, dass im Falle eines Bedarfes eigene Angebote aus den Jobcentern heraus
gemacht werden müssen. Denkbar ist auch, dass in der Organisation Suchtberatung weitere
Angebote, z. B. im Rahmen von Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderung §§ 53 ff.
SGB XII angegliedert sind.
Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Organisation Suchtberatung mit
unterschiedlichen Finanzierungshintergründen, die jeweils verbunden sind mit
verschiedenen Aufträgen und örtlichen Zuständigkeiten, nur schwer bis gar nicht
einheitlich beschreibbar ist.
Daher erscheint es sinnvoll, die Funktion Suchtberatung von der Organisation
Suchtberatung mit ihren miteinander verwobenen und methodisch unterschiedlichen
Diensten zu unterscheiden. Dies ermöglicht dann, die Funktion Suchtberatung als Teil
der „klassischen Suchthilfe“ klarer zu bestimmen. Wenn nachfolgend also von
„Suchtberatung“ die Rede ist, zielen die Aussagen auf die Funktion Suchtberatung ab.
10
Ob damit das Konnexitätsprinzip (GG Art.104a), welches besagt, dass Aufgaben– und Finanzverantwortung jeweils
zusammengehören, verletzt wird, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden und würde auch in Bezug
auf die hier interessierende Fragestellung zu weit führen. Festzuhalten ist, dass hier ein Ungleichgewicht besteht, dass zu
Lasten der Kommune geht, die sich dem nicht wirklich entziehen kann, wenn die Leistung ambulante Rehabilitation bzw.
Nachsorge vorgehalten werden soll. Dies bezieht sich auf die „freiwillige“ Leistungen der gesundheitlichen Versorgung
von Gemeinden, von denen Luthe (2013, S. 13) im Allgemeinen resümiert, dass diese oft wenig mit „Freiwilligkeit“ zu tun
haben. Für eine vertiefende Analyse des sehr komplexen Zusammenhangs der Aufgabenteilung bzgl. der gesundheitlichen
Versorgung der Bevölkerung, insbesondere in Kombination mit Fürsorgeleistungen zwischen Bund, Ländern und
Gemeinden und deren Steuerungsinstrumenten, siehe ebd., S. 13 ff. 11
In § 16a Nr. 4 SGBII ist davon die Rede, dass Suchtberatung gewährt und ggf. mit anderen Eingliederungsleistungen
verknüpft werden kann. Über Leistungsverträge nach § 17 SGB II können Träger pauschal mit der Leistungserbringung
beauftragt werden. Ausgenommen sind allerdings Leistungen, die von der allgemeinen Daseinsvorsorge erbracht werden.
Da diese jedoch regional unterschiedlich ausfallen, wird auf die örtlichen Gegebenheiten verwiesen und die Entscheidung
dorthin verlagert (Deutscher Verein für öffentliche und privat Fürsorge e. V. 2014, S. 19 f.). Insofern kann hier kein
normierter Leistungsanspruch für die Funktion Suchtberatung im Allgemeinen abgeleitet werden, zumal die Beurteilung,
ob eine solche Leistung notwendig ist, beim Fallmanagement der Jobcenter liegt und die Zielrichtung der Leistung
Suchtberatung eindeutig im Vorhinein mit Integration in Arbeit festgelegt ist.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
12
3 Verteilung der Zuständigkeiten im Feld suchtbezogener Hilfen und
Auswirkung auf die Organisation und Funktion Suchtberatung
Suchtberatung ist mehr als „Zulieferung“. In fast allen fach-(politischen) Beschreibungen
von Aufgaben und Zielen von Suchtberatungsstellen12 (z.B. Deutsche Hauptstelle für
Suchtfragen 1999; Böhl 2010; Fachverband Drogen- und Rauschmittel 2005, 2017;
Hessische Landessstelle gegen die Suchtgefahren 2000; Ministerium für Gesundheit,
Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen 2015; Deutscher Verein für
öffentliche und privat Fürsorge e. V. 2014) findet sich eine Sichtweise zur Funktion und
Zuständigkeit von Suchtberatung als Ort der Beratung, Vermittlung und Motivierung von
Klientinnen sowie Klienten zur Annahme von weiterführenden Hilfen13.
„Es findet grundsätzlich eine Vermittlung in weiterführende Hilfen statt, die durch die
Anwendung der Methoden der Gesprächsführung / Motivierung und Aufklärung über
sozialrechtliche Anspruchsgrundlagen durch die Fachkräfte gefördert wird.“ (Fachverband
Drogen- und Rauschmittel 2017, S. 4)
Zu den weiterführenden Hilfen zählen im Rahmen der o. g. „klassischen Suchthilfe“
Entgiftung, Entwöhnung bzw. medizinische Rehabilitation. Letztere sind den Leistungen nach
dem Versicherungsprinzip zugeordnet (s. o.). Sie haben inhaltlich als Ziel, eine Behinderung
oder Pflegebedürftigkeit abzuwenden (§ 10 Abs. 2 SGB V) oder den Auswirkungen einer
Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die
Erwerbsfähigkeit der Versicherten vorzubeugen bzw. Beeinträchtigungen der
Erwerbsfähigkeit zu verhindern und die Rehabilitanden möglichst dauerhaft in das
Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Suchtberatung als fürsorgerische Hilfe soll, wie oben
dargestellt, zur Annahme dieser Hilfen motivieren und Betroffene dorthin vermitteln.
Damit wird einer Suchtberatung im Kern eine „Zuliefererrolle“ für Entgiftung und
Rehabilitation und andere weiterführende Angebote von Suchthilfe zugeschrieben.
Suchtberatung ist in diesem Verständnis eine auf Zuarbeit zu weiteren Maßnahmen
ausgerichtete Tätigkeit ohne eigenes inhaltliches Profil. Struktur und Vorgaben erfährt die
Tätigkeit der „Vermittlung“ und „Motivierung“ durch die Vorgaben des
Rentenversicherungsträgers, niedergelegt in den „Vereinbarungen im Suchtbereich“
(Deutsche Rentenversicherung Bund 2013).
Diese Strukturvorgabe wird damit begründet, dass der Träger der Rentenversicherung sich
auch auf inhaltlicher Ebene als strukturverantwortlich für Leistungen zu seinen Lasten
wahrnimmt (Schliehe 1995, S. 110). Die Finanzierung dieser, in den Vereinbarungen im
Suchtbereich (Deutsche Rentenversicherung Bund 2013) beschriebenen,
voraussetzungsreichen fachlichen Anforderungen, sind jedoch nicht dem
Sozialversicherungsprinzip zuzuordnen und werden, da sie dem Prinzip der Fürsorge
unterliegen, den Kommunen als Träger dieser Leistung zugeschoben. Es besteht daher kein
Anspruch auf bedarfsgerechte Ausgestaltung dieser von außen zugeschriebenen
Zuständigkeit. Gleichwohl wird die Tätigkeit inhaltlich als durchaus sinnhaft und funktional
von den ausführenden Fachkräften wahrgenommen und hat nicht zuletzt dadurch Eingang in
12
Es wird davon ausgegangen, dass auch hier die Funktion Suchtberatung gemeint ist. 13
Eine Ausnahme bildet das Kompetenzprofil der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS).
Hier wird „Therapievermittlung“ als eines von mehreren möglichen Leistungen, jedoch nicht als übergeordnetes Ziel der
Interventionen formuliert (Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe 2016, S. S. 21 ff.).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
13
das Kompetenzprofil der DG-SAS zur Beschreibung der Intervention Therapievermittlung
gefunden (Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe 2016, S. 22 f.). Ergänzt
wird diese von den Trägern der Suchtrehabilitation zugeschriebene Vorgabe zur Vermittlung
durch die im § 16a SGB II formulierte Zielvorgabe der Träger der Versicherungsleistung nach
SGB II durch die Eingliederungsleistung der Suchtberatung, die der Integration in das
Erwerbsleben dienen soll (vgl. auch Deutscher Verein für öffentliche und privat Fürsorge e.
V. 2014).
Vorgaben strukturfremder Organisation. Abgesehen davon, dass die Vorgaben und
Vorstrukturierungen von unterschiedlichen Versicherungsleistungen einem auf inhaltliche
Ergebnisoffenheit und Klient*innen-zentrierung zielenden fachlichen Verständnisses von
Beratung (Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. 2003)14 widersprechen, finden sich die
Träger der Funktion Suchtberatung in einer schwierigen Situation. Sie sollen von
strukturfremden Organisationen vorgegebene Leistungen erbringen, deren Finanzierung von
einem anderen Träger (der Kommune) sichergestellt werden soll bzw. über deren
Gewährung eine fachfremde Instanz entscheidet. Diese Ausgangssituation hat sich
historisch entwickelt und sich bis heute nicht grundlegend verändert.
Leistungsverträge nach ökonomischen Gesichtspunkten. Eine Verschärfung erfährt
diese Konstellation durch die Auswirkungen der Veränderung in der Umsetzung
steuerfinanzierter Leistungen der Fürsorge im Rahmen des sich vollziehenden Wandels der
Verwaltungs- und Organisationsstrukturen. Dies bedeutet für die in den sozialen Diensten
tätigen Professionen einen Wechsel von ‚Vertrauen‘ hin zu einer ökonomischen Rationalität
der Steuerung (‚Accountability‘) (Nadai; Sommerfeld 2005, S. 202), (Sommerfeld; Haller
2003, S. 64 f.). Leistungsträger (hier der Kommunen) rücken seit den 80er Jahren des
letzten Jahrhunderts zunehmend vom Prinzip der Kostendeckung im Rahmen der „Neuen
Steuerung“ ab. Auszuhandelnde Leistungsverträge sind nach ökonomischen
Gesichtspunkten der Effizienz und Wirkungsnachweise15 strukturiert. In der Folge verlagert
sich die Fokussierung von einer inhaltlichen Orientierung an geäußerten Bedarfen der
Klient*innen zu einer Erwirtschaftung von geleisteten Stunden zur Kostendeckung in den
Organisationen bzw. zu einer Erfüllung von Kennzahlen.
Kostenverschiebung. Durch die Verschiebung der Kosten für die durch die vom
Rentenversicherungsträger zentral zugeschriebenen Leistungen in Richtung Kommunen
entsteht zusätzlicher finanzieller Druck in der Organisation Suchtberatung. Mitarbeiter*innen
müssen qualifiziert werden, um diese erwartete Fachlichkeit erbringen zu können. Dies führt
für die in Suchtberatungsstellen tätigen Fachkräfte zu einem Zielkonflikt. Auf der einen Seite
zwingt die Abrechnung von z.B. Fachleistungsstunden dazu, auch viele
Fachleistungsstunden zu produzieren, um damit die benötigten finanziellen Ressourcen zur
14
"In dem dialogisch gestalteten Prozess, der auf die Entwicklung von Handlungskompetenzen, auf die Klärung, die Be- und
Verarbeitung von Emotionen und auf die Veränderung problem- verursachender struktureller Verhältnisse gerichtet ist,
sollen erreichbare Ziele definiert und reflektierte Entscheidungen gefällt werden, sollen Handlungspläne entworfen
werden, die den Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten des Individuums, der Gruppe oder Organisation entsprechen,
sollen persönliche, soziale, Organisations- oder Umweltressourcen identifiziert und genutzt werden, um dadurch selbst
gesteckte Ziele erreichen oder Aufgaben gerecht werden zu können und soll eine Unterstützung gegeben werden beim
Umgang mit nicht behebbaren / auflösbaren Belastungen. Das Ziel der Beratung ist in der Regel erreicht, wenn die
Beratenen Entscheidungen und Problembewältigungswege gefunden haben, die sie bewusst und eigenverantwortlich in
ihren Bezügen umsetzen können. Hierzu gehört auch, dass Selbsthilfepotentiale und soziale Ressourcen in
lebensweltlichen (Familie, Nachbarschaft, Gemeinwesen und Gesellschaft) und arbeitsweltlichen (Team, Organisation und
Institution) Bezügen erschlossen werden. " (Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. 2003, S. 4) 15
Zu denken ist hier etwa an Kennzahlen über Vermittlungen und Effizienz der Beratung (möglichst kurz) im Hinblick auf
Vermittlung oder Wiedereingliederung in Arbeit.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
14
Existenzsicherung der Beratungsstelle zu erwirtschaften oder gar nach dem ökonomischen
Prinzips des Wachstums weiter auszudifferenzieren. Auf der anderen Seite ist die Logik der
Professionen prinzipiell auf Hilfe zur Selbsthilfe angelegt (Arnold 2014, S. 217). Dies wird
jedoch nach der ökonomischen Logik „bestraft“, da z.B. weniger Stunden abgerechnet
werden können die Fachkräfte gezwungen werden Klient*innen oder schwierige
Problemlagen zu „produzieren“.16 Letztendlich führt diese Konstellation auch dazu, dass
fachlich-inhaltliche Standards, wie die oben beschriebene Zieloffenheit am Beispiel der
Definition von Beratung, nicht erfüllbar sind und damit die Ergebnisqualität der erwarteten
Leistungen, auch im Hinblick auf die selbstformulierten Ziele der Leistungsträger,
maßgeblich beeinträchtigen werden17.
Hinzu kommt für die Kommunen, als wesentlichem Leistungsträger der Funktion bzw.
Hilfeart Suchtberatung, ein in allen Bereichen gestiegener Kostendruck bei wenig
Gestaltungsmöglichkeit. Die finanziellen Folgen für die Kommune, dass zahlreiche zuvor
offen gestaltbare Leistungen nun inhaltlich rechtlich normiert und mit einem Rechtsanspruch
belegt wurden, legen nahe, dass kein gesteigertes Interesse daran bestehen dürfte, eine
weitere freiwillige Leistung (hier Suchtberatung) rechtlich zu fixieren bzw. auszuweiten.
Im Gegenteil erscheint es aus Sicht des Leistungsträgers Kommune möglicherweise
nicht mehr plausibel, die Kosten eines sich regional ausdifferenzierten Systems der
Hilfen für suchtmittelkonsumierende Menschen in fast alleiniger Verantwortung zu
finanzieren, wenn dabei strukturelle Vorgaben anderer Leistungsträger zu
berücksichtigen sind, die aber nicht zur finanziellen Entlastung in dieser Sache
beitragen. Dies wäre eine mögliche Lesart für die stagnierenden und zwischenzeitlich
sogar zurückgegangenen Finanzierungsleistungen für die Organisation
Suchtberatung, wie sie die Deutsche Suchthilfestatistik (DSHS) in den Jahren 2011 –
2015 ausweist
16
Die Folgen dieser Konstellation sind auch gut z. B. im Bereich der niedergelassenen Ärzte, die ja auch zu den Professionen
gehören, zu beobachten. 17
An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass die Ziele der Leistungsträger und der Leistungsnehmer_innen sich ebenfalls
durchaus konflikthaft zueinander verhalten können z. B. in Bezug auf die Notwendigkeit der Integration in Erwerbsarbeit,
die in den zentralen Hilfeleistungen der Suchthilfe außer im sog. Suchtakutbereich (z. B. Entgiftung oder Fachambulanz
und eben in der Funktion Suchtberatung) im Vordergrund steht. Die ethisch-normative Werthaltung der Fachkräfte der
Sozialen Arbeit würde hier z. B. eine Orientierung an der Autonomie der Lebenspraxis und der biopsychosozialen
Integrität der Klient_innen unter Beachtung des gesetzlichen Rahmens vorsehen (Becker-Lenz 2009, S. 212).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
15
4 Tatsächlich wahrgenommene Tätigkeiten im Rahmen der Funktion
Suchtberatung
Multiperspektivisches Fallverstehen. Im Rahmen einer Forschungsarbeit (Hansjürgens
2013) wurde Suchtberatung im Kontext legaler Suchtmittel (Alkohol, Medikamente und
Spielsucht) beschrieben und die von den Fachkräften der Sozialen Arbeit tatsächlich
wahrgenommenen Tätigkeiten auf der Basis von Selbstbeschreibungen qualitativ
rekonstruiert. Die Aussagen der Fachkräfte weisen inhaltlich eine Nähe zu dem
sozialpädagogischen Handlungskonzept der „multiperspektivischen Fallarbeit“ nach Müller
(2012)18 auf und werden deshalb in Anlehnung an dieses Konzept als explizit
sozialarbeiterisches Handeln unter dem Begriff „multiperspektivisches Fallverstehen“
rekonstruiert19.
Als wichtigste Aufgabe auf der Ebene der direkten Arbeit mit den Klient*innen sehen
Fachkräfte die Klärung der Frage, was den individuellen Fall ausmacht. Diese Tätigkeit
nimmt einen großen Raum in der konkreten Arbeit ein (vgl. Abbildung 1) und wird als
Grundlage für alle weiteren Tätigkeiten sowie auch für die Gestaltung eines von ihnen als
„Arbeitsbeziehung“ bezeichneten Kontaktes beschrieben20.
Abbildung 1 Sozialarbeiterische Tätigkeiten in Suchtberatungsstelle
18
Bei diesem Konzept handelt es sich darum einen sozialpädagogischen Fall zu konstruieren mit den Perspektiven „Fall
von“ („Beispiel für ein anerkanntes Allgemeines“ S. 43), „Fall für“ („einzuschätzen, darauf zu reagieren und selbst
einzufädeln, was andere in dem Fall tun können“ S. 52) und „Fall mit“ (in „professionellen Beziehungen mit Menschen in
Schwierigkeiten Räume des Möglichen“ zu entwickeln S. 64). Diese Fallebenen können nur analytisch nicht aber in der
Praxis voneinander getrennt werden, denn es handelt sich um „unterschiedliche Zugangsweisen eines praktischen
Zusammenhanges“ (S. 43) 19
In diesem Zusammenhang wichtig zu erwähnen ist, dass die Fachkräfte die Inhalte und Begriffe aus dem Konzept
„multiperspektivische Fallarbeit“ nicht verwendeten, sondern dass dieses Konzept aus den alltagsprachlichen
Beschreibungen der Fachkräfte im Rahmen der Forschungsarbeit rekonstruiert wurde. Die Fachkräfte selbst kannten dieses
Konzept nicht, sondern verwendeten ausschließlich Konzepte aus einem suchtmedizinischen Kontext, die sie z. B. in
entsprechenden Fort- und Weiterbildungen kennengelernt hatten.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
16
Über die in diesen Kontext eingebettete Fallkonstruktion und die Konstituierung der
Arbeitsbeziehung, explizit auch in und mit Zwangskontexten, klärt sich nach Aussage der
Fachkräfte, die in der Regel vorhandene Ambivalenz der Klient*innen zur Annahme von
(weiterführender) Hilfe. Die allmähliche Auflösung der Ambivalenz bei Klient*innen führt dann
entweder zu einer Vermittlung in weiterführende Hilfen, zu einer Beratung und Begleitung
innerhalb der Einrichtung in Bezug auf ihre Anliegen oder zu einer (vorläufigen) Beendigung
des Kontaktes. Eine Beendigung des Kontaktes wird deshalb auch als „vorläufig“
beschrieben, weil es nach Aussage der Fachkräfte häufiger vorkommt, dass das Angebot zu
einem späteren Zeitpunkt erneut aufgesucht wird. Dies gelingt dann, wenn sich Beratende
und Hilfesuchende im Modus der Kooperation und nicht im Modus eines Konfliktes trennen.
Im Rahmen der Vermittlung benennen die Fachkräfte darüber hinaus eine Lotsenfunktion für
die Klient*innen im (Sucht-) Hilfesystem und die damit verknüpfte individuelle Hilfeplanung
und Unterstützung bei der Antragstellung als weiterer Schwerpunkt der Arbeit. Die Tätigkeit
der Vermittlung wird von den Fachkräften explizit nicht als „technischer oder administrativer
Akt“ verstanden, sondern eher als weiterer Teil einer „Beziehungsarbeit“ (vgl. Hansjürgens
2013, 2018).
Gestaltung eines integrierten Prozessbogens. Aus sozialarbeiterisch-konzeptioneller
Sicht lassen sich die von den Fachkräften dargestellten Tätigkeiten in Richtung der direkten
Arbeit mit den Klientinnen sowie Klienten analog zur Gestaltung eines „integrierten
Prozessbogens“ (Sommerfeld et al. 2011, S. 310 f.) beschreiben. Beginnend mit dem
Fallverstehen bzw. der Fallkonstruktion im oben beschriebenen Sinne muss der Kontakt
nicht zwangsläufig mit der vollzogenen Vermittlung in weiterführende Hilfen, einer
durchgeführten Beratung oder einer Begleitung enden. Suchtberatung versteht sich nach
Aussage der Fachkräfte als Schnittstellenverbindung oder Brückenfunktion zwischen
Beratungsstelle und dem Hilfesystem oder auch anderen Bezügen der Klient*innen.
Auf der Basis qualitativer und quantitativer Daten werden nun die tatsächlich
wahrgenommenen fachlichen Tätigkeiten der Funktion Suchtberatung innerhalb der
Organisation Suchtberatung ausdifferenziert. Die Art und Weise der Tätigkeiten zeigt sich
dabei entscheidend geprägt durch die diese Aufgaben im Wesentlichen wahrnehmende
Profession der Sozialen Arbeit. Auf der Grundlage der Interpretation der vorliegenden Daten
und unter Bezug auf ihre sichtbar werdende Wirkung schließt sich in der vorliegenden
Expertise die Auslotung der Potentiale der Funktion Suchtberatung an.
4.1 Raum zur Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung
Im Rahmen einer weiteren qualitativen Untersuchung (Hansjürgens 2018) kann datenbasiert
gezeigt werden, wie eine Arbeitsbeziehung, die sich schon im Erstgespräch vertrauensvoll
oder misstrauisch entwickelt, Einfluss auf den weiteren Verlauf der angebotenen Hilfe in der
Organisation Suchtberatung selbst und in Bezug auf weiterführende Hilfen hat. Dieser
bereits auf Erfahrungswerten von Fachkräften schon früh postulierte Zusammenhang
begründet sich daraus, dass die Entwicklung einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung im
direkten Zusammenhang mit der Zuversicht der Klient*innen steht. Eine solche Zuversicht
entwickelt eine Klientin oder ein Klient indem sie/er sich mit ihrem/seinem subjektiven
Anliegen
a) verständlich machen kann,
b) gehört wird und
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
17
c) im Bewusstsein, dass die konkrete Beraterin oder der konkrete Berater sie/ihn bei der Realisierung dieses subjektiv-bedeutsamen Anliegens unterstützen kann und wird.
Die subjektiven Anliegen der Klient*innen zeigen sich in der Untersuchung inhaltlich als sehr
heterogen und werden eher diffus beschrieben. So müssen sie teilweise erst im Rahmen
eines längeren dialogischen Verständigungsprozesses herausgearbeitet werden. Inhaltlich
beziehen sie sich nur zum Teil auf einen Vermittlungswunsch in weiterführende Hilfen.
Als wichtige und explizite Leistung der Fachkräfte erweist sich in diesem Zusammenhang,
allen Äußerungen der Klient*innen feinfühlig21 nachzuspüren und zu versuchen, mit den
Klient*innen in einen Prozess der Verständigung hinsichtlich ihrer Anliegen einzutreten.
Bedeutsam ist, diese Verständigung nicht vorschnell als Mittel zum Zweck einer
objektivierenden Einordnung in ein Diagnoseschema oder eine Hilfestruktur zu nutzen,
sondern die Erklärungstheorien der Klientinnen und Klienten zu würdigen. Es wird vermutet,
dass dies ein wichtiges Element zur Entwicklung von Zuversicht darstellt, wie dies auch an
Fallbeispielen aus der Arbeit mit chronisch Abhängigen beschrieben wird. (vgl. Walter;
Gollnow 2009)
Im und durch den Prozess dieser Verständigung und damit im Fall eines Gelingens
gegenseitig subjektiv empfundener, angemessener Reaktionen auf die Äußerungen des
jeweils anderen, stabilisiert sich eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung. Gelingt die
Verständigung nicht oder entsteht der subjektive Eindruck, dass das Anliegen einer
Einordnung in ein Diagnose- oder Hilfeschema untergeordnet wurde, entwickelt sich
Misstrauen. Eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung ist personengebunden (vgl. Wyssen-
Kaufmann 2012) und muss sich in weiteren Beratungskontakten immer wieder bewähren.
Eine als misstrauisch stabilisierte Arbeitsbeziehung führt zu einem Modus von Zwang. Dies
kann dazu führen, dass Klient*innen sich vermeidend verhalten und eben nicht kooperativ.
Die Fokussierung auf das subjektiv bedeutsame Anliegen der Klient*innen und der
respektvolle Umgang mit ihren eigenen Konstruktionen ermöglicht einen
sozialpädagogischen Zugang zur Klientel, der nach Peters (2014, S. 77) die Voraussetzung
für eine gelungene Beziehungsarbeit darstellt, „um Klientinnen sowie Klienten auf ihrem Weg
prozesshaft und beratend zu begleiten“ (ebd.).
Erst im Zusammenspiel von Verständigung über das Anliegen und der Entwicklung
von Zuversicht entsteht Vertrauen. Dies ermöglicht die Entstehung der Adherence
(WHO 2003), die z. B. für eine Lebensstil verändernde (abstinenzorientierte)
Krankheitsbehandlung (Entgiftung, Rehabilitation) oder für eine Erhöhung von
Veränderungsmotivation für eine weitergehende Beratung benötigt wird. (vgl. ebd.)
Fachkräfte in Beratungsstellen beschreiben nicht zuletzt deshalb die mit
multiperspektivischem Fallverstehen definierte Tätigkeit als besonders wichtiges Element,
die der „Lotsenfunktion“ aus fachlicher Sicht vorausgehen muss.
21
Diese fachliche Leistung so wurde rekonstruiert konnte auf der Basis des impliziten (Beziehungs-) Wissens erbracht
werden, welches sich aus Erfahrung, fachspezifischen Aus- und Fortbildungen, sowie Inter- oder Supervision
zusammensetzt. Eine Zusammenstellung der in diesem Sinne relevanten zu erwerbenden Kompetenzen findet sich im
Kompetenzprofil der Deutschen Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit
in der Suchthilfe 2016)
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
18
4.2 Vermittlung in weiterführende Hilfen bzw. Rehabilitation
Die Vermittlung in weiterführende Hilfen wird als zentrales, wenn nicht sogar als das zentrale
Element der Funktion Suchtberatung betrachtet. Dies begründet sich wahrscheinlich auch
dadurch, dass 65% der Vermittlungen in medizinische Rehabilitation aus ambulanten
Suchtberatungsstellen, 19% aus Krankhausabteilungen (zu denen auch die spezialisierten
Entgiftungsabteilungen zählen) und 1 % aus ärztlichen oder psychotherapeutischen Praxen
erfolgen. (vgl. Braun et al. 2017a, Tab. 3.07)
Diese Einschätzung der zentralen Bedeutung der Teilfunktion „Vermittlung in Rehabilitation“
wird gestützt durch die Ergebnisse der sog. HELPS-Studie. Diese hat das Ziel, zu überprüfen
„inwieweit durch einen neuen Behandlungspfad ein Screening auf Hilfebedarf und die
Möglichkeit zur direkten Beantragung einer Entwöhnungsbehandlung durch den Hausarzt
eine Steigerung der Antrittsquote für Entwöhnungsbehandlungen im Vergleich zu
herkömmlichen Verfahren erreicht werden kann.“ (Fankhänel et al. 2014, S. 55)
Mit Blick auf die Möglichkeit, diese Erwartung umzusetzen, zeigt sich ein aus Sicht der
Funktion Suchtberatung ein bemerkenswertes Ergebnis.
„Wie die Ergebnisse zeigen, konnte erstens durch den neuen Behandlungspfad keine
solche Steigerung erzielt werden. Zweitens ist festzustellen, dass im Rahmen der
Untersuchung durch die beteiligten Hausärzte aus Interventions- und Kontrollgruppe kein
Patient einer Entwöhnungsbehandlung zugeführt wurde. Die Ergebnisse zeigen drittens,
dass die Umsetzung der Vorgaben zur Durchführung der Untersuchung gemäß
Studienprotokoll seitens der beteiligten Hausärzte in Interventions- und Kontrollgruppe nur
unzureichend erfolgt ist.“ (Fankhänel et al. 2014, S. 57)
Mit Blick auf die Bedeutung der Beziehung zwischen den Akteuren ist bemerkenswert, dass
auch die Autoren der Studie betonen, dass neben anderen strukturell bedingten Faktoren,
wie z. B. einer als ungenügend empfundenen Ausbildung oder einer nicht ausreichend für
den Aufwand bewerteten Alimentierung, auch die Einstellung der Hausärzt*innen zur
Suchterkrankung eine Rolle bei diesem Ergebnis spielt.
"Als grundsätzliches Problem sollten die hausärztlichen Erwartungen zum
Patientenverhalten angesehen werden. Patienten mit riskantem oder schädlichem
Alkoholkonsum wie Patienten mit Verdacht auf Suchterkrankung reagieren nach
hausärztlicher Aussage mehrheitlich mit Ablehnung auf Vorschläge für eine
Lebensstiländerung bzw. weiterführende Behandlung. Entsprechende Erfahrungen
dürften eine beeinträchtigende Wirkung auf die hausärztliche Behandlungsmotivation
[Herv. R. H.] ausüben und sollten bei einer Konzeption zur Verbesserung der
hausärztlichen Suchtprävention dringend berücksichtigt werden." (Fankhänel et al. 2014,
S. 58)
Weiterhin stellen sie fest:
„Dieser Befund verweist auf ein Problem grundlegenderer Art, welches durch geringfügige
Modifikationen der empfohlenen Vorgehensweise – wie im Fall des neuen
Versorgungspfades – nicht behoben werden konnte.“ (Fankhänel et al. 2014, S. 57)
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
19
Insofern stellt die Tätigkeit der Vermittlung im Rahmen der Suchtberatung aus Sicht
der Rehabilitation nicht nur ein wichtiges Element dar, sondern entpuppt sich als eine
momentan nicht anderweitig zu erbringende Brückenfunktion in weiterführende Hilfen.
Die Vermittlung in Rehabilitation aus Hausarztpraxen hat sich als insuffizient diesbezüglich
erwiesen. Die HELPS-Studie stellt als ein zentrales Element die Beziehungsqualität
zwischen ärztlicher Fachkraft und Patient*in in den Mittelpunkt ihrer Erklärung22. Hier
schließen auch die Ergebnisse der oben benannten qualitativen Studie in Bezug auf die
Andersartigkeit des sozialpädagogischen Zugangs im Sinne einer Fallkonstruktion an, die
nachfolgend betrachtet werden. (vgl. Hansjürgens 2018)
Bereits in Erstgesprächen lässt sich eine Beziehungsdynamik beobachten. Insbesondere die
als hilfreich erlebte zieloffene aktive Unterstützung der Klient*innen durch die Fachkräfte bei
der Realisierung auch von lebenspraktischen Anliegen, die als subjektiv bedeutsam
empfunden werden, fördert das Vertrauen in die professionelle Hilfe und damit auch
Zuversicht und Veränderungsmotivation. Die von außen erfolgende Zuschreibung des
Beratungsziels „Vermittlung in weiterführende Hilfen“ impliziert die Gefahr eines Verlustes
der Offenheit der Fachkräfte für andere Anliegen der Klientel und somit einer Einschränkung
der Möglichkeit, Klient*innen bei der Realisierung ihrer Anliegen zu unterstützen, unabhängig
von ihrer Entscheidung weiterführende Hilfen in Anspruch nehmen zu wollen. Die Dynamik
wird verstärkt, wenn die Ressourcenausstattung der Organisation Suchtberatung auf eine
schnelle Vermittlung in weiterführende Hilfe ausgerichtet ist (z. B. durch den Druck von
Kennzahlen oder die Notwendigkeit leere Plätze in der hauseigenen Rehabilitation belegen
zu müssen, um die Organisation Suchtberatung finanziell zu sichern). Ein „Vertrösten“ der
Realisierung „anderer Anliegen“ auf einen Termin nach erfolgter Suchtbehandlung und
Suchtmittelreduktion befördert eher eine misstrauische Arbeitsbeziehung und erschwert
damit die Annahme von Hilfe. (ebd.)
Die in diesem Zusammenhang nicht hinterfragbare, dauerhafte Suchtmittelabstinenz, als
letztendlicher Zielhorizont im Kontext einer Gewährung von Hilfe, stellt eine normativ
gesetzte Unterordnung der als eigentliche Belastung empfundenen subjektiven Anliegen dar.
Die Abstinenzforderung kann so als eine zunächst unangemessen empfundene
Einschränkung der Autonomie der Lebensführung empfunden werden. Diese subjektive
Empfindung einer „Nicht-Stimmigkeit“ lässt sich nicht durch eine vermeintliche Überlegenheit
rationaler Argumente „wegdiskutieren“ oder „dekonstruieren“, insbesondere dann nicht, wenn
eine Klientin oder ein Klient das Gefühl hat, sich nicht verständlich machen zu können oder
mit ihren/seinen Konstruktionen kein Gehör zu finden.
Eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung, mit dem Ergebnis der Kooperation als
Voraussetzung für die Annahme weiterführender Hilfen, entwickelt sich in
Wechselwirkung mit der Bearbeitung und Realisierung23 eines für die Klientin / den
Klienten subjektiv bedeutsamen Anliegens.
Auch die Perspektive der Suchtmedizin gesteht den Klient*innen eine hohe Problemdichte
zu, unterstellt aber gleichzeitig eine mangelnde Behandlungsmotivation (vgl. Giersberg et al.
22
Anzumerken ist, dass die Ärzt_innen, die sich beteiligt haben eine Schulung in motivierender Kurzintervention erhielten,
ein standardisiertes Erhebungsinstrument zur Erfassung substanzspezifischer Störungen und eine Extra-Budgetierung für
ihre Leistung (Fankhänel et al. 2014). 23
Eine Realisierung als subjektiv wichtig empfundener Ziele findet z. B. im Rahmen einer Behandlung durch spezielle
Beratungstechniken wie z. B. Motivational Interviewing nicht statt.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
20
2015, S. 18). Selbst das gemeinsame Durchlaufen des komplexen Antragsverfahrens wird
als Schwierigkeit gesehen, was den suchtkranken Menschen aus schulmedizinischer Sicht
einmal mehr zu „schwierigen“ Patien*innen macht, wie die HELPS-Studie beschreibt.
Mitarbeitende der Suchtberatung allerdings berichten von anderen Erfahrungen. Die
fachgerechte und nicht formal administrative Erstellung des Sozialberichts trägt nach ihren
Auffassungen dazu bei, die Zuversicht auf Veränderung der persönlichen Situation zu
erhöhen. Diese Einschätzung begründet sich daraus, dass die Phase der Erarbeitung des
Sozialberichts von den Fachkräften zur Verständigung über das Anliegen der Klient*innen
genutzt wird. Darüber hinaus können die erhobenen Daten, wenn sie bei der Bewilligung der
Kostenübernahme und Zuteilung der Rehabilitationsplätze und bei der Zusammenstellung
des Rehabilitationsplans inhaltliche und für die Klientin und den Klienten explizit
wahrnehmbare Berücksichtigung finden, die Zuversicht auf eine Realisierung ihrer Anliegen
erhöhen24.
Ein genauerer Blick auf die Quantität der Vermittlungen zeigt, dass „nur“ 15 % der
Klient*innen aus Beratungsstellen in die verschiedenen Formen der Suchtrehabilitation und
64% der Klient*innen gar nicht weitervermittelt werden. (vgl. Braun et al. 2017b, S. Tab.
5.05). Formal betrachtet, heißt das, die Funktion Suchtberatung als „wegweisende
Clearingstelle“ (Leune 2014, S. 35) im Sinne einer Durchgangsstation zur Rehabilitation
kommt ihrer Aufgabe nicht angemessen nach (ebd.). Es kann aber auch bedeuten, dass es
sich lohnt, die Potentiale der problemzentrierten Beratung und Begleitung, die den
überwiegenden Teil der Tätigkeiten in einer Suchtberatung einnehmen, zu explizieren.
4.3 Beratung und Begleitung
Der Begriff „Beratung und Begleitung“ beschreibt, dass Klient*innen auf der Basis der von
ihnen formulierten Anliegen unabhängig von ihrem Suchtmittelkonsum beraten werden.
Darüber hinaus erfahren Betroffene aktive Unterstützung bei der Realisierung ihrer Anliegen
von Fachkräften der Sozialen Arbeit – bei Bedarf erfolgt diese Begleitung auch über einen
längeren Zeitraum25. Dieses Angebot kann über das reine Gespräch hinausgehen und
unterscheidet sich somit von anderen klassischen aus dem psychologischen Kontext
bekannten Beratungsformen. Suchtberatung übersteigt hier die klassische Vorstellung einer
dyadischen Konstellation und findet in verschiedensten Settings statt. Ausgehend vom
formulierten Anliegen wird Suchtmittelkonsum nicht mit dem normativen priorisierten Ziel der
Abstinenz thematisiert, sondern eher versucht, Zusammenhänge des Suchtmittelkonsums
mit den häufig prekären Lebenslagen im gemeinsamen Beratungs- und Begleitungsprozess
aufzudecken26. Erst aus einer in dieser Form verstandenen, langfristigen Suchtberatung- und
24
Die Autorinnen der Studie MeeR (Merkmale einer erfolgreichen und guten Reha-Einrichtung) weisen in ihren Ergebnissen
explizit darauf hin, dass eine noch vor Reha-Beginn detaillierte und inhaltliche Auseinandersetzung mit möglichen Zielen
der Rehabilitation, eine explizite Berücksichtigung der Wünsche der Klient_innen in Bezug auf das Zusammenspiel
zwischen Wünschen der Rehabilitanden und Wahl der Einrichtung bedeutsam ist und geben die deutliche Empfehlung,
dass die Aushandlung bzw. Vereinbarung von Therapie bzw. Rehazielen nicht der Erfüllung von Qualitätsstandards dienen
darf, sondern einen Bezug zur Lebenswelt der Betroffenen aufweisen soll (Meyer 2014, S. 281 ff.). Zu all diesen Themen
können die in der Suchtberatung im Vermittlungsprozess erhobenen Daten des im Vorfeld der Rehabilitation erstellten sog.
„Sozialbericht“ inhaltlich sinnvoll genutzt werden. 25
Diese Unterstützung können z. B. sog. „Ämtergänge“ sein, bei denen Klient_innen Hilfe bei der Durchsetzung ihrer
Rechtsansprüche erhalten oder Begleitung bei für sie als unangenehm oder angstbesetzt erlebten Terminen z. B.
Gerichtstermine, Behördentermine oder aber auch Vorstellungsgespräche in Einrichtungen bei Vermietern, aber auch in
privaten Konstellationen in Form von sog. „Dreiergesprächen“ bei denen die Fachkraft diese Gespräche z. B. moderiert. 26
Hier wäre z. B. daran zu denken, in wie weit nimmt jemand verlässlich gemeinsame Termine (auch außerhalb der
Beratungsstelle) wahr, bringt Unterlagen bei oder zeigt Selbstreflexion in der Aufarbeitung von Konflikten.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
21
Begleitung kann das Klient*innen-anliegen entstehen, Suchtmittelkonsum zu reduzieren oder
auch beenden zu wollen und sich die dazu nötige Zuversicht auf Realisierung entwickeln27.
Nachfolgend sollen nun die Wirkungen problemzentrierter Beratung und Begleitung
beschrieben werden, so wie sie sich in der deutschen Suchthilfestatistik abbilden.
Die meisten Klient*innen (41%) werden über einen Zeitraum von sechs bis zwölf Monaten in
der Suchtberatung betreut, aber auch 39% nur über einen Zeitraum von drei Monaten.
Darüber hinaus suchen 18 % der Klient*innen bis 24 Monate und darüber hinaus regelmäßig
die Beratung auf (vgl. Braun et al. 2017b, S. Tab. 6.01). Die durchschnittliche Anzahl der
Kontakte beträgt 15, wobei der überwiegende Teil mit 45% im Bereich von 2 - 5 Kontakten
liegt. Die Höhe der durchschnittlichen Kontakte erklärt sich dadurch, dass diese sich in fast
identischer Ausprägung mit jeweils 21,8% im Bereich bis 6 - 10 Kontakte und 21,3% im
Bereich bis 11 – 30 Kontakte bewegen. Immerhin 11% werden noch mit über 30 Kontakten
gezählt (Braun et al. 2017b, S. Tab. 5.06) . Diese Konstellation kann aufgrund der relativ
gleichmäßigen Verteilung so gedeutet werden, dass die erste Phase der Kontakte offenbar
eine wichtige Schwelle für die Inanspruchnahme von Beratung und Begleitung in der
Organisation selbst darstellt. Diese Deutung wird gedeckt durch die oben bereits
beschriebene qualitative Untersuchung (vgl. Hansjürgens 2018). In Bezug auf die Haltequote
kann festgestellt werden, dass nur für ca. 31,5% der Klient*innen ein Abbruch der
Beratungsbeziehung gemeldet wird.
Mehr als Zweidrittel beenden eine Beratungssituation (zu der auch eine Vermittlung
gehört). Dies erscheint für eine Klientel, der nachgesagt wird, „schwierig“ zu sein als
ein relativ hoher Wert.
Auch in Bezug auf die Inhalte bzw. die Wirkungen der Funktion Suchtberatung lassen sich
auf der Basis der Daten der DSHS Aussagen treffen. Diese weist in Bezug auf die
Wohnsituation (Braun et al. 2017b, S. Tab. 7.07) aus, dass in 94% der Fälle, die vor Beginn
der Beratung selbständig wohnen, dieses auch nach der Beratung tun. Während der
Beratungszeit scheint es also zu gelingen, den Wohnstatus aufrecht zu erhalten.
Ergänzend dazu wird angegeben, dass nach Betreuungsende für 43% derjenigen, die ohne
Wohnung waren und 39% derjenigen, die ihre Wohnsituation mit Notschlafstelle angaben,
eine Verbesserung der Situation erreicht wird. Davon geben jeweils 9% an, selbständig zu
wohnen und jeweils 17% konnten in eine betreute Wohnform oder eine Fachklinik vermittelt
werden. Ähnliches ist für den Ausgangsaufenthalt in einer JVA und dem Maßregelvollzug
dokumentiert. Hier geben nach Beendigung der Betreuung durch die Suchtberatungsstelle
37% der Personen eine andere Wohnform als die JVA an, davon 10% selbständiges
Wohnen und 12% eine Fachklinik. Diese Entwicklung leistet für die entsprechenden
Personen einen wesentlichen Beitrag zur Unterstützung einer Resozialisierung. Welchen
konkreten Anteil die Beratung in Suchtberatungsstellen zu diesen Entwicklungen beiträgt,
bedarf der genaueren Untersuchung. Dennoch erscheint es zumindest aber nicht
ausgeschlossen, dass Unterstützung sowohl hinsichtlich der Prävention einer
Verschlimmerung der Wohnsituation als auch bei der Resozialisierung durch die
Suchtberatung erfolgt.
27
Dies sollte jedoch nicht so missverstanden werden, dass das letztendliche Ziel von Beratung und Begleitung die
Vermittlung in weiterführende Hilfen ist, geschweige denn mit einer bestimmten Anzahl an Gesprächen zu quantifizieren
wäre. Dies würde der fachlich gebotenen Zieloffenheit widersprechen und, so wird vermutet, auch diese beschriebene
Wirkung blockieren.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
22
In Bezug auf den Hauptlebensunterhalt weist die Statistik (vgl. Braun et al. 2017b, S. Tab.
7.09) aus, dass 21% der Klient*innen, die vor der Suchtberatung Krankengeld, 16%, die ALG
I (SGB III) bezogen sowie 11%, derjenigen, die Gelegenheitsjobs hatten und 10%
derjenigen, die von ihrem Vermögen lebten, nach dem Betreuungsende, diesen wieder mit
Erwerbsarbeit bestritten. Darüber hinaus konnten ebenfalls 10% derjenigen, die angaben,
von ALG II (SGB II) zu leben, in andere Finanzierungsformen (davon 5% in Erwerbsarbeit)
überführt werden. Auch hier erscheint es plausibel, dass die wirtschaftliche Situation in
Beratungsgesprächen thematisiert wird und damit der Zielvorgabe der Träger von
Versicherungsleistungen in der Suchtberatung durchaus nachgekommen wird.
Zwei Drittel der Klient*innen geben nach Betreuungsende an, dass sie ihre
Problematik erfolgreich bewältigt haben oder sich diese gebessert hat (vgl. Braun et
al. 2017b, S. Tab. 7.10). Die detailreiche Erhebung der Lebensführung der Betroffenen
legt nahe, dass sich „die Problematik“ in der Regel nicht nur auf ein erhöhtes oder als
süchtig zu bezeichnendes Konsummuster einer psychotropen Substanz bezieht,
sondern insbesondere auch die soziale Situation der Menschen betrifft.
Neben den bereits angesprochenen Bereichen Wohnen und Lebensunterhalt erscheint es
weiterhin elementar, auch den Bereich Familie und das soziale Nahfeld als mit dem
Konsumverhalten der Klient*innen verknüpft zu betrachten. Nach der Kooperation mit den
weiterführenden Hilfen (Rehabilitationseinrichtungen, Krankenhausabteilungen,
Selbsthilfegruppen) und Leistungsträgern steht die Zusammenarbeit mit Angehörigen mit
18,8% an dritter Stelle der Tätigkeiten der Suchtberatung (Braun et al. 2017b, S. Tab. 5.03).
Hier besteht jedoch Forschungsbedarf, um einen Zusammenhang von Suchtberatung und
einer Verbesserung oder Klärung familiärer Beziehungen besser verstehen zu können.
Konservative Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 3 Millionen Kinder von der Alkohol-
oder Drogenabhängigkeit eines oder beider Elternteile betroffen sind (vgl. Klein et al. 2017).
Es ist davon auszugehen, dass es inhaltlich sinnvoll ist, diese Problematik auch im Rahmen
von Suchtberatung zu thematisieren.
4.4 Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene
Die Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene bezieht sich einerseits auf
fallbezogene Kooperationen und andererseits auf organisationsbezogene Kooperationen zur
strukturellen Gestaltung eines regionalen Hilfenetzwerkes.
Im Bereich der Erschließung eines Hilfenetzwerkes erfasst die DSHS insgesamt 20
verschiedene Institutionen, mit denen schriftliche Kooperationen zur Arbeitsteilung
geschlossen und Fallkonferenzen abgehalten werden (vgl. Braun et al. 2017b, S. Tab. E 16).
Die Kooperationen umfassen alle Bereiche, die das SGB einschließt: Arbeitsagenturen /
Jobcenter (SGB II und III), Krankenhäuser und ärztliche Praxen (SGB V),
Rehabilitationseinrichtungen (SGB VI), Pflegeeinrichtungen (SGB XI), Jugendhilfe (SGB
VIII), Eingliederungshilfe (SGB XII) sowie Zusammenarbeit mit Einrichtungen der Justiz und
weiteren Einrichtungen aus dem Segment der Daseinsvorsorge und Selbsthilfe. Dies deckt
sich mit den Angaben der Fachkräfte in den Selbstbeschreibungen, die Netzwerkarbeit
neben der Klient*innen bezogenen Arbeit als Schwerpunkt ihrer Tätigkeit beschreiben
(vgl. Hansjürgens 2013).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
23
Anhand der hohen Zahlen, die jeweils für diese Teilfunktion angegeben werden, kann hier
davon ausgegangen werden, dass Suchtberatung nicht nur Klient*innen-bezogen in andere
Hilfesektoren hineininterveniert, sondern auch strukturell das jeweils regionale Feld von Hilfe
mitgestaltet und z. B. in Form von Kooperationsverträgen erschließt.
Als Beispiel für eine solche Erschließung und einen damit verbundenen Forschungsbedarf
lässt sich der Bereich der Kooperation mit dem Segment des SGB VIII nennen. Schon jetzt
zeigt die Suchthilfestatistik, dass 72% der Suchtberatungsstellen Klient*innen-bezogene
Fallkonferenzen mit dem Jugendamt und der Jugendhilfe28 abhalten. Dies ist der höchste
angegebene Kooperationswert in Bezug auf gemeinsame Fallkonferenzen. Gleichzeitig wird
angegeben, dass in 37% der Einrichtungen schriftliche Vereinbarungen zur Arbeitsteilung
existieren. Nicht explizit untersucht und erfasst jedoch ist der Zusammenhang zwischen
Suchtberatung und deren Auswirkungen auf die familiäre Dynamik und explizit im
Zusammenhang mit einer sektorenübergreifenden Zusammenarbeit von Jugendamt und
Suchtberatung. Zu denken wäre hier an die Vermeidung der Fremdunterbringung von
Kindern, was wiederum Auswirkungen auf die auch kommunal finanzierten Leistungen des
SGB VIII haben dürfte. Sowohl aus Sicht von Suchtberatungen als auch aus Sicht der
kommunalen Jugendhilfe könnte es daher interessant sein zu erfahren, bei wie vielen
Familien, in denen Hilfe zur Erziehung zum Einsatz kommt, aus der Perspektive der
Jugendhilfe ein Zusammenhang mit Suchtmittelkonsum eines oder beider Elternteile
hergestellt wird, wie eine Kooperation diesbezüglich inhaltlich gestaltet wird und welche
Ergebnisse diese erzielt. Weiterhin dürfte aus Sicht der Kommune - als Trägerin beider
Hilfeangebote - auch von Interesse sein, welche Wirkungen zu benennen wären, die nicht
von der DSHS erfasst werden.
28
Aus dieser Erfassung geht allerdings nicht hervor, ob es sich bei dieser Kooperation, um Kinder als Angehörige handelt
bzw. elterlicher Suchtmittelkonsum thematisiert wird oder ob es sich und die Vermutung liegt näher, um betroffene
Jugendliche handelt, die selbst Beratung in Anspruch nehmen.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
24
5 Potentiale der Funktion Suchtberatung und die Herausforderungen für ihre
Nutzung
Die herausgearbeiteten tatsächlich wahrgenommenen Tätigkeiten
- Gestaltung eines zieloffenen Raumes zur Entwicklung einer vertrauensvollen
Arbeitsbeziehung,
- Vermittlung in weiterführende Hilfen,
- Beratung und Begleitung,
- Erschließung eines regionalen Hilfenetzwerkes für Betroffene,
bilden die konzeptionellen Eckpfeiler der Funktion Suchtberatung. Ein voraussetzungsloser,
niedrigschwellige Zugang zur Funktion Suchtberatung ermöglicht dabei den beschriebenen
sozialpädagogischen Zugang infolge dessen eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung
entstehen kann, die wiederum die Gestaltung eines Prozessbogens ermöglicht.
Zusammen lässt sich dieses Angebot unter fachlichen Gesichtspunkten, insbesondere mit
Blick auf die Vermittlung, als (Hilfe-) sektorenübergreifendes Casemanagement29
beschreiben. Die Interpretation der dargestellten Daten wird dadurch gestützt, dass 47,7% 30
der Klient*innen mindestens eine „ergänzende Betreuung“ in unterschiedlichen Hilfesektoren
in Anspruch nehmen, bei der davon ausgegangen wird, dass sie im Rahmen der
Suchtberatung initiiert wurde. Somit ist dies ein weiterer Hinweis auf den angesprochenen
„Prozessbogen“, der über eine erfolgte Vermittlung oder beendete Suchtberatung hinausgeht
und an den wieder angeknüpft werden kann. Die Bedeutung des Prozessbogens liegt
darin, dass mit seiner Hilfe Klient*innen mit einem problematischen Substanzkonsum
oder einem entsprechenden Verhalten sowohl erreicht werden können, als auch eine
Verbesserung ihrer Lebenssituation sowie ihrer Integration in weiterführende Hilfen
realisiert wird. Hinzu kommt auch eine strukturelle Erschließung von Hilfenetzwerken für
Klient*innen durch interprofessionelle Zusammenarbeit aber auch durch
organisationsbezogene Kooperationsverträge.
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe (DG-SAS) hat in ihrem
Kompetenzprofil (vgl. Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe 2016)
dargelegt, dass Fachkräfte der Sozialen Arbeit, welche zu einem überwiegenden Teil (63%)
die Arbeit in Suchtberatungsstellen gestalten (vgl. Braun et al. 2017b, S. Tab. E 13), darauf
spezialisiert sind, die soziale Dimension einer Suchterkrankung zu bearbeiten. Diese kann
kurz als „Realisierung von (gesellschaftlicher) Teilhabe in Wechselwirkung mit der
Unterstützung individueller Coping- bzw. „Recoveryprozesse“ beschrieben werden. (vgl.
Hansjürgens 2015) Sie intervenieren dabei auf der Personenebene (Copingprozesse) sowie
29
Im Kontext mit psychischer Erkrankung konnte die Forschungsgruppe um Sommerfeld (2011) empirisch zeigen, dass die
aktive Unterstützung von Klient_innen in sog. lebenspraktischen Bereichen (sie sprechen in diesem Zusammenhang von
sozialen Handlungsfeldern) dazu führt, dass sich auch Symptome einer psychischen Erkrankung bessern bzw. dass sich
beide Entwicklungen gegenseitig stützen. Sommerfeld et al. (2016, S. 218) sprechen in diesem Zusammenhang daher von
einem „sozialtherapeutischen Case Management“. „Soziotherapie“ ist in § 37a SGB V explizit als Leistung ausgewiesen,
umfasst aber lediglich die Koordinierung und Motivation zu ärztlich verordneten Leistungen im Falle einer psychischen
Erkrankung, würde also im beschriebenen Segment der Suchthilfe zu kurz greifen. Dennoch scheint hier mit Blick auf
Ressourcenallokation ein Ansatzpunkt zu sein. 30
Es handelt sich hier um eine eigene Berechnung, auf der Basis der in der deutschen Suchthilfestatistik erhobenen Zahlen
aus den Tabellen 1.01 (Übersicht über alle Klient_innen) und Tab. 5.02 (Art der ergänzenden Betreuung).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
25
auf der Systemebene (Realisierung von Teilhabe31) als auch auf der Prozessebene
(vertrauensvolle Arbeitsbeziehung) (vgl. Hansjürgens 2016).
Vor diesem Hintergrund entsprechen die beschriebenen Tätigkeiten einer Suchtberatung
schon heute den politisch geforderten Teilhabeorientierungen. (vgl. UN-BKR, SGB IX und
Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2014)
Zusammenfassend mit Blick auf das Potential von Suchtberatung kann also davon
ausgegangen werden, dass diese bei Suchtmittelkonsumenten wirksam zur Stabilisierung
prekärer Lebenssituationen in Bezug auf Wohnen und Lebensunterhalt im Sinne einer
Realisierung von Teilhabe beiträgt. In diesem Zusammenhang entwickelt sich eine
vertrauensvolle Arbeitsbeziehung, aus der ein Prozessbogen entsteht. Im Rahmen des
Prozessbogens, zu dem auch explizit eine Vermittlung in weiterführende Hilfen passiert,
dient Suchtberatung der Verbesserung der Lebenssituation von Menschen und ihrem
sozialen Umfeld im Sinne einer Beförderung von Coping und Recoveryprozessen. Damit
einher geht eine langfristige Stabilisierung (explizit auch in Krisensituation) von in
suchttherapeutischen Maßnahmen erarbeiteten Verhaltensänderungen im Rahmen der
Wiedereingliederung in den Alltag. Dazu zählt neben der Stabilisierung der Wohnsituation
und der Sicherung des Lebensunterhaltes durch Erwerbsarbeit auch die Stabilisierung von
persönlichen Beziehungen durch Kooperation mit Familie und sozialem Nahfeld.
Der in der Untersuchung zur Entwicklung einer Arbeitsbeziehung in Erstgesprächen
herausgearbeitete Einfluss, insbesondere einer strukturell prekären Finanzierung der
Leistung und Funktion Suchberatung auf das Entstehen von Vertrauen und die Bedeutung
von Vertrauen in Bezug auf die Annahme von Hilfe (Hansjürgens 2018), impliziert jedoch
eine Herausforderung für die Organisation dieser Hilfe. Unter den oben beschriebenen
aktuellen Bedingungen der Erbringung (sozialpolitische Zuordnung und von außen
zugeschriebene aber nicht ausgeglichen refinanzierte Zuständigkeit) ist zu befürchten, dass
die beschriebenen Funktionen und Wirkungen der Funktion Suchtberatung gefährdet sind
bzw. zumindest sein könnten, wenn ihre Bedeutung für die Betroffenen und auch für die
Hilfesysteme nicht erkannt bzw. anerkannt werden und sich dies nicht in der
Ressourcenausstattung spiegelt. Darüber hinaus deutlich geworden sein dürfte, dass eine
alleinige Fokussierung der Behandlung von Sucht im gesundheitsbezogenen Sektor für die
Betroffenen nicht ausreicht. Die in der DSHS pauschal mit „Problematik“ beschriebenen
Anliegen der Klient*innen beziehen sich auch auf andere Bereiche als die Reduktion des
Konsums, auch wenn dies oft in einem Zusammenhang steht. Erst die Verständigung mit
Klient*innen über den Suchtmittelkonsum hinausgehende „Problematiken“, deren
Bearbeitung und Realisierung in Form von subjektiv für den Klient*innen erfahrbaren
Erfolgen, ermöglicht das Vertrauen oder die sog. Motivation (Adherence), die benötigt wird,
um das Angebot einer weiterführenden Behandlung anzunehmen. Dieses kann als
Brückenfunktion der Sozialen Arbeit in professionelle Hilfen aber auch in andere
Lebensbereiche32 bezeichnet werden.
Um das Potential der Hilfeart Suchtberatung für die betroffenen Menschen zu erhalten und
ihnen eine Brücke in weiterführende Hilfen (sog. „Vermittlung“) und darüber hinaus z. B. je
31
Teilhabe in diesem Zusammenhang bezieht sich nicht nur auf Hilfesysteme, sondern auch auf die persönlichen
Handlungssysteme von Klient_innen: Wohnen, Arbeit, Familie, persönliche Beziehungen usw. 32
Sommerfeld et. al. bezeichnen dies als „Handlungssysteme“ und meinen damit z. B. die Bereiche Wohnen,
Arbeit/Tagesstruktur, Kultur/Freizeit, Familie, private soziale Netzwerke (2011).
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
26
nach Anliegen durch problemzentrierte Beratung in andere Handlungssysteme (Wohnen,
Arbeiten, persönliche Beziehungen usw.) bauen zu können bzw. sie dort zu stabilisieren,
muss dieses deutlich stabiler und verlässlich33 finanziert, unabhängig von der faktischen
Verpflichtung der Vermittlung in die Hilfeart Rehabilitation betrachtet werden - gleichwohl
sich diese Hilfearten sehr sinnvoll ergänzen.
Die Frage, wer die Verantwortung hierfür übernimmt, stellt eine zentrale Herausforderung dar
und muss an dieser Stelle offenbleiben. Strukturell zu denken wäre an ein
sektorenübergreifendes regional angesiedeltes Casemanagement in Verantwortung der
Kommunen, wie es z. B. von Luthe (2013) mit den sog. „kommunalen
Gesundheitslandschaften“ beschrieben wird. Eine andere Möglichkeit stellt eine
Neuverhandlung zwischen den Leistungsträgern Kommune und den Leistungsträgern der
Versicherungsleistungen in Bezug auf die stabile Übernahme der dargestellten Brücken- und
Stabilisierungsfunktion in die von ihnen angebotenen Hilfen bzw. Wiedereingliederung in
Erwerbsarbeit und andere soziale Handlungssysteme dar. Dabei sollten die Bedingungen
der Fachlichkeit gewährleistet sein, da nur unter diesen die Entfaltung des beschriebenen
fachlichen Potentials, deren Grundlage eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung darstellt,
möglich ist. Eine wichtige Rolle für die Klärung und Aushandlung dieser Fragen kommt
hierbei den inhaltlich und professionsbezogenen Fachverbänden und Fachgesellschaften zu.
Eine funktionale Suchtberatung könnte neben dem Gewinn für die Betroffenen und ihr
soziales Umfeld (zu dem in einem erweiterten Sinn auch die Menschen neben dem
Arbeitsplatz auch der weitere soziale Raum, in dem die Menschen sich aufhalten, zu zählen
wären) auch dazu beitragen, regional soziale (Hilfe-) Räume zu gestalten sowie die
Kommunen von Kosten zu entlasten, die durch einen dauerhaften Verbleib Betroffener im
Leistungsbezug nach SGB II; III, XII und auch indirekt in SGB VIII und XI entstehen. Die
Verantwortung für die Annahme der Hilfen sollte dabei nicht allein den Betroffenen
zugeschoben, sondern die Bedingungen der Erbringung dieser Hilfeleistungen so gestaltet
werden (Ermöglichung eines niedrigschwelligen Zugangs, Zeit für die Klärung von Anliegen,
Beratung und Begleitung bei der Bewältigung subjektiv bedeutsamer Anliegen, inhaltliche
Vermittlung), dass es für Klient*innen und die Menschen aus ihren sozialen
Handlungssystemen nicht nur prinzipiell möglich, sondern auch aus ihrer subjektiven
Perspektive faktisch realisierbar wird, diese Hilfen anzunehmen und für sich zu nutzen.
Die Funktion Suchtberatung, inhaltlich wesentlich geprägt durch die Profession Soziale
Arbeit, leistet hierzu jetzt schon einen wichtigen, erhaltenswerten Beitrag, kann dies auch in
Zukunft tun und dabei ihr Potential weiter ausschöpfen.
33
Dies bezieht sich vor allem auf den Befund, dass eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung nicht ohne weiteres auf andere
Personen zu übertragen ist. Eine hohe Personalfluktuation durch z. B. schlechte Arbeitsbedingungen oder ein häufiger
Trägerwechsel mit wechselndem Personal, wie es z. B. durch die im SGB II übliche Ausschreibungspraxis z. T. sogar
europaweit zu erwarten ist, sind aus dieser Perspektive als absolut dysfunktional zu bezeichnen.
Expertise „Tätigkeiten und Potentiale der Funktion Suchtberatung“
27
Literaturverzeichnis Althammer, Jörg W.; Lampert, Heinz (2014): Lehrbuch der Sozialpolitik. 9., aktualisierte u. überarb.
Aufl. 2014. Berlin: Springer Gabler (Springer-Lehrbuch).
Arbeitskreis katholischer Suchthilfe (AKS) (2003): Sucht(-hilfe) kostet Geld - Suchthilfe spart Geld!
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