Liebe Leserinnen und Leser,
schon heute erhalten Un-
ternehmen auf ihre Stellen-
ausschreibungen weniger
Bewerbungen als noch vor
einigen Jahren. Der Großteil
der Chemie-Unternehmen
geht davon aus, dass sich
diese Lage weiter verschär-
fen wird. Angesichts des
demografischen Wandels wird der Wett-
bewerb um gute Mitarbeiter in Deutsch-
land härter.
Unsere Branche hat bei diesem Thema
Weitsicht bewiesen. Bereits 2003 haben
wir den Tarifvertrag „Zukunft durch
Ausbildung“ abgeschlossen. 2008
haben wir in den Tarifvertrag „Lebens-
arbeitszeit und Demografie“ wichtige
Instrumente aufgenommen, um den
Herausforderungen zu begegnen. Im
Tarifabschluss 2012 wurden diese kon-
sequent weitergedacht. So erlaubt
zum Beispiel der Demografie-Korridor
eine notwendige Flexibilisierung der
Wochenarbeitszeit.
Welche weiteren Maßnahmen sich zur
Sicherung des Fachkräftebedarfs eignen,
darüber haben wir bei unseren 8. Wies-
badener Gesprächen diskutiert. Lesen
Sie mehr dazu auf diesen Seiten.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr
Dr. Axel Schack
und das Team der HessenChemie
editorial
Der Newsletter der HessenChemie / Nr. 3 / Juli 2012
PluspunkteKreativer PerspektivenwechselDie Welt durch die Brille des Bewerbers
sehen – das kann dabei helfen, Fachkräfte
zu finden und zu halten Seite 4
Aus dem AuslandBisher ziehen qualifizierte Zuwan-
derer meist an Deutschland vorbei.
Das muss sich ändern Seite 3
Wie lässt sich der Bedarf an qualifizierten Mitarbeitern in Zukunft sicherstellen?
Welche Maßnahmen sind langfristig notwendig? Darüber diskutierten Unter-
nehmensvertreter sowie Experten aus Wirtschaft und Politik am 19. Juni bei den
8. Wiesbadener Gesprächen der HessenChemie.
Laut einer Umfrage der HessenChemie ist fast die Hälfte der Mitgliedsunterneh-
men akut von Fachkräftemangel betroffen. Die übrigen rechnen damit, dass sie bei
bestimmten Berufen und Qualifikationen demnächst ein Defizit spüren werden.
Diese Zahlen präsentierte Karl-Hans Caprano, Vorsitzender der HessenChemie, vor
rund 170 Gästen im Wiesbadener Kurhaus.
Und doch ist die Chemie besser vorbereitet als manch andere Branche. Diese Auf-
fassung vertraten die Teilnehmer der Podiumsdiskussion, moderiert von Dr. Nor-
bert Lehmann, Programmbereichsleiter des ZDF. Gelobt wurde der 2008 abge-
schlossene Tarifvertrag Lebensarbeitszeit und Demografie. „Dadurch waren wir
gezwungen, uns mit der Thematik auseinanderzusetzen“, sagte Richard Engelhard,
Geschäftsführer Engelhard Arzneimittel. Thorsten Winter, Wirtschaftsredakteur der
Fortsetzung Seite 2
8. Wiesbadener Gespräche zur Sozialpolitik
Fachkräftesicherung braucht Weitsicht
Die Ressourcen im Inland werden künftig kaum ausreichen, um den Bedarf an Fachkräften zu decken, so die Meinung der Experten auf dem Podium.
Rhein-Main-Zeitung der FAZ, bekräftig-
te: „Mit diesem Vertrag hat die Chemie
die Nase vorn.“ Positive Auswirkun-
gen habe unter anderem die Selbstver-
pflichtung der Unternehmen auf eine
relativ hohe Zahl von Ausbildungsplät-
zen. Manfred Hoppe, Bildungsexperte
und langjähriger Geschäftsführer der
HessenChemie, bestätigte: „Wir haben
heute in Hessen rund 20 Prozent mehr
Azubis als 2003.“ Verstärkt werde die
positive Wirkung durch innovative
Initiativen der Chemie-Arbeitgeberver-
bände wie die Ausbildungskampagne
„Elementare Vielfalt (ElVi)“.
Unternehmen, die für Nachwuchskräfte
attraktiv bleiben wollen, müssten aller-
dings nicht nur ausbilden, sondern
die Absolventen auch übernehmen,
so die Auffassung von Anne Wein-
schenk, Landesbezirkssekretärin der
IG BCE Hessen-Thüringen: „Am bes-
ten unbefristet.“ Insbesondere junge
Frauen sollten verstärkt auf naturwis-
senschaftliche und technische Berufe
aufmerksam gemacht werden.
Potenzial sahen die
Experten auch am
anderen Ende der
Altersskala. Jahre-
lang habe man da-
für geworben, dass
Menschen Ende 50
in den Ruhestand
gehen, meinte Hei-
ke Strack von der
Bundesagentur für
Arbeit. Ein Umden-
ken sei nötig. Auch
sollten mehr Frau-
en dazu motiviert
werden, aus Teilzeit- in Vollzeitstellen
zu gehen. Das sei jedoch nur mach-
bar, wenn der Rahmen für die Kinder-
betreuung stimme.
Dass die Ressourcen im Inland nicht
ausreichen werden, war einhellige
Meinung auf dem Podium. Die Zuwan-
derung qualifizierter Arbeitskräfte sei
notwendig – zur Sicherung des Fach-
kräftebedarfs wie für die Finanzierung
der Sozialsysteme. Die Politik sei ge-
fragt, die notwendigen Strukturen zu
schaffen. „Deutschland muss eine Will-
kommenskultur entwickeln“, forder-
te Thorsten Winter. „Da wurde in den
letzten Jahren viel falsch gemacht.“
Zu Beginn der Veranstaltung würdigte
Karl-Hans Caprano Manfred Hoppe für
seine mehr als 30-jährige Arbeit beim
Arbeitgeberverband HessenChemie.
Hoppe war Ende 2011 in den Ruhestand
verabschiedet worden.
nachgehakt:
Kreative LösungenDrei Fragen an Richard Engelhard, Engelhard Arzneimittel GmbH & Co. KG
Spüren Sie bei Engelhard Arzneimittel einen Fachkräftemangel?
In einigen Berufen haben wir bereits Engpässe bemerkt. So
blieb zum Beispiel eine Laborantenstelle längere Zeit unbesetzt, un-
ter anderem deshalb, weil wir als Mittelständler bei den Gehältern
weniger Spielraum haben als mancher Konzern. Auch Pharmazeuten,
Mechaniker und Mechatroniker sind nicht immer leicht zu bekommen.
Aber im Großen und Ganzen bewältigen wir die Suche nach geeigne-
ten Fachkräften noch immer gut. Allerdings wird der Aufwand höher.
Was tun Sie konkret, um qualifizierte Mitarbeiter zu finden und
zu halten?
Wir versuchen, mit den Qualitäten eines gewachsenen Familienunter-
nehmens zu punkten. Die überschaubare Unternehmensgröße fördert
den Austausch untereinander. Bei uns gibt es zum Beispiel Sportgrup-
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Fortsetzung von Seite 1
Richard Engelhard ist Geschäftsführer von Engelhard Arzneimittel. Das mittelständische Unternehmen in Niederdorfelden beschäftigt rund 300 Mitarbeiter.
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Mitgliedsunternehmen, Politik, Wirtschaft und Medien - rund 170 Gäste begrüßte Karl-Hans Caprano im Wiesbadener Kurhaus.
Worin sehen Sie die langfristigen Heraus-
forderungen?
Unternehmen dürfen sich nicht einfach auf die Politik
verlassen. Wir müssen verstärkt selbst aktiv werden,
uns attraktiv machen und auf Kandidaten zugehen.
Bei der Nachwuchssuche beispielsweise arbeitet Engel-
hard Arzneimittel gezielt mit Schulen zusammen. Wir
haben zwei Schulpatenschaften. Auf Bewerbermessen
sind wir regelmäßig vertreten.
Doch es ist nicht nur wichtig, für das eigene Unterneh-
men zu werben. Wir müssen allgemein darauf aufmerk-
sam machen, welche Berufe es in unserer Branche gibt.
Einige davon sind sehr bekannt – aber die Chemie ist
wesentlich vielfältiger, als viele Stellensuchende denken.
pen, einen Fußballverein, einen Kegelverein. Außerdem
haben wir flexible, familienfreundliche Arbeitszeiten.
Wir nehmen nicht nur auf Kinderbetreuung Rücksicht,
sondern auch auf Mitarbeiter, die Angehörige pflegen
müssen. Um kompetente Mitarbeiter zu halten, bieten
wir kontinuierliche Weiterbildung und Möglichkeiten
zur Weiterentwicklung.
Gleichzeitig suchen wir nach neuen, kreativen Lösun-
gen. So haben wir zum Beispiel ein Programm „Mit-
arbeiter werben Mitarbeiter“ gestartet und darüber
bereits eine Reihe guter Empfehlungen erhalten.
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Ist der Fachkräftemangel nur ein Phantomschmerz? Keines-
wegs, meint Arbeitsmarktforscher Herbert Brücker. Die Lage
werde sich weiter verschärfen.
Eine knappe Million offene Stellen gibt es in Deutschland.
Ihnen stehen fast vier Millionen Arbeitssuchende gegenüber.
Diese Zahlen nannte Prof. Dr. Herbert Brücker vom Institut
für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundes-
agentur für Arbeit. Das IAB rechnet zu den offiziell 2,9 Mil-
lionen Arbeitslosen eine Million Menschen in arbeitsmarkt-
politischen Maßnahmen hinzu.
„Dennoch ist der Fachkräftemangel kein Phantomschmerz“,
erläuterte Brücker. „Viele offene Stellen können heute nicht
besetzt werden, unter anderem bei wirtschaftlichen Dienst-
leistungen, dem verarbeitenden Gewerbe und
der Chemie-Industrie.“ Zu beobachten sei ein
„Mismatch“: ein strukturelles Ungleichgewicht.
Dieses entsteht, wenn Angebot und Nachfra-
ge nicht gut genug zueinander passen. Eine
exakte Übereinstimmung gebe es auf dem
Arbeitsmarkt eigentlich nie, führte Brücker
weiter aus. Lange Zeit hätten das jedoch,
wegen der hohen Arbeitslosigkeit, nur die
Arbeitnehmer zu spüren bekommen, nicht
die Arbeitgeber. Nun sei eine Verschiebung
der Gewichte zu beobachten. „Man kann
nicht sagen, dass das bereits ein Ergebnis des
demografischen Wandels ist“, erklärte der Experte. Er sieht
hier vielmehr eine Folge der guten Konjunktur. Aber: „Der
demografische Wandel wird kommen – und zwar drama-
tisch“, ist Brücker überzeugt.
Einen starken Hebel, um dem entgegenzuwirken, sieht er
in der Zuwanderung. Ohne sie sei bis 2050 ein Rückgang
des Erwerbspersonenpotenzials um 40 Prozent zu erwarten.
Mit qualifizierter Zuwanderung lasse sich die Zahl halbieren.
Für Fachkräfte aus dem Ausland müssten daher Anreize ge-
schaffen werden. Den Einwand, dass damit Einheimischen
Jobs weggenommen würden, ließ Brücker nicht gelten.
Qualifizierte Zuwanderer seien keine Konkurrenz für ein-
heimische Arbeitslose. „Und auch für die Sicherung unserer
Sozialsysteme werden sie dringend gebraucht.“
Das Land braucht Zuwanderung
Den Fachkräftemangel wird die deutsche Wirtschaft zu spüren bekommen, sagte Herbert Brücker (links) im Gespräch mit Moderator Norbert Lehmann.
www.hessenchemie.de
Um die Besten zu gewinnen, können Unternehmen sich
nicht auf herkömmlichen Strategien ausruhen. Neue
Ideen müssen her. Ein Perspektivenwechsel hilft dabei.
Marco sucht einen Ausbildungsplatz. Viele Unternehmen
haben sich bei ihm beworben. Doch Marco hat strenge Aus-
wahlkriterien: Er erwartet überdurchschnittliche Bezahlung,
private Nutzung des Internets und einen umweltverträgli-
chen CO2-Fußabdruck. Die Bilanzen der letzten drei Jahre
und weitere Unterlagen müssen interessierte Unternehmen
auf Marcos Webseite hochladen – Zeitaufwand drei bis vier
Stunden.
Das Szenario, das Axel Haitzer von der Agentur Quergeist dem
amüsierten Publikum schilderte, hatte einen ernsten Hinter-
grund. „Bei Bewerbungsverfahren ist ein Paradigmenwech-
sel erforderlich“, meinte Haitzer. „Unternehmen müssen sich
künftig stärker bei ihren Bewerbern bewerben.“ Unpersön-
liche Eingangsbestätigungen, aufwendige Auswahlverfahren
und monatelanges Warten auf eine Einladung – all das seien
Stolpersteine bei der Suche nach qualifizierten Mitarbeitern.
Bei der Frage, wie das eigene Unternehmen bewertet wird,
klaffe oft eine breite Lücke zwischen der Selbsteinschätzung
des Arbeitgebers und dem Urteil von Bewerbern und Mit-
arbeitern, so Haitzer. Er empfahl, sich auf Internetportalen
wie kununu.com zu informieren: Hier können Unternehmen
erfahren, wie die eigenen Mitarbeiter über sie denken.
Erscheinungsweise: 4 Ausgaben / Jahr /
Auflage: 1.800
Redaktion: Ole Richert (v.i.S.d.P.),
Dr. Ute Heinemann (Sprache + Text, Frankfurt)
Layout: Q GmbH, Wiesbaden
Fotos: Matt oder Glänzend, Wiesbaden
Internet: www.hessenchemie.de
Kontakt: Arbeitgeberverband Chemie und
verwandte Industrien für das Land Hessen e. V.
Abraham-Lincoln-Straße 24
65189 Wiesbaden
Telefon 0611 7106-0
impressum
Bewerben beim Bewerber
Axel Haitzer gab Anregungen für neue, kreative Wege bei der Suche nach qualifizierten Mitarbeitern.
Tipp „Von Leuchttürmen, Nebelbänken und Eisbergen – Fachkräftesiche-
rung braucht Weitsicht“ lautet der Titel des von Jürgen Funk und Nora Hum-
mel herausgegebenen Tagungsbandes, der im FAZ-Verlag
erschienen ist. Mitglieder erhalten ihn kostenfrei unter
www.hessenchemie.de. Im Buchhandel ist er zum Preis von
29,90 Euro erhältlich (ISBN 978-3-89981-281-7).
Internetportale rund um die Fachkräftesicherung finden Unter-
nehmen sowie Arbeits- und Ausbildungsplatzsuchende unter
www.elementare-vielfalt.de, www.fachkraefte-offensive.de
und www.make-it-in-germany.com.
Vielfalt in der Struktur der Belegschaft ist oft ein handfestes
Plus. Diversity Management wird immer häufiger zum Teil der
Geschäftsstrategie. Doch wie werden Strukturen und Unter-
nehmenskultur auf eine Strategie der Vielfalt vorbereitet? Das
erfahren Mitgliedsunternehmen im Seminar „Personelle Viel-
falt für den Geschäftserfolg“ am 4.9.2012 in Wiesbaden. Bei-
spiele aus der chemischen Industrie sorgen für starken Praxisbezug. Infor-
mation und Anmeldung: [email protected], 0611 7106-51.
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