Neunt-Sitz_Basiswissen - 1
Programm heute
•Hinweise zu den Kurz-Hausarbeiten
•Linguistische Analyse literarischer Texte: Kurz-
Wiederholung
•Sprachwissenschaftliche Probleme, Theorien und
Positionen
Bertolt Brecht: Wir sind sie
Wer aber ist die Partei?Sitzt sie in einem Haus mit Telefonen?Sind ihre Gedanken geheim, ihre Entschlüsse unbekannt?Wer ist sie?
Wir sind sie.Du und ich und ihr – wir alle.In deinem Anzug steckt sie, Genosse, und denkt in deinem Kopf.Wo ich wohne, ist ihr Haus, und wo du angegriffen wirst, da kämpft sie.
Linguistische Analyse literarischer Texte - 2
Zeige uns den Weg, den wir gehen sollen und wirWerden ihn gehen wie du, aberGehe nicht ohne uns den richtigen WegOhne uns ist er
Der falschesteTrenne dich nicht von uns!Wir können irren, und du kannst recht haben, alsoTrenne dich nicht von uns.
Dass der kurze Weg besser ist als der lange, das leugnet keinerAber wenn ihn einer weissUnd vermag ihn uns nicht zu zeigen, was nützt uns seine Weisheit?Sei bei uns weise!Trenne dich nicht von uns!
Linguistische Analyse literarischer Texte - 3
Analyse laut: Roman Jakobson: "Der grammatische Bau des Gedichts von B. Brecht ›Wir sind sie‹", In: R.J.: Selected writings.Bd. III, S. 660-676.
•Gedicht stammt aus der „Maßnahme“ (1926):
Gestaltung des Gegensatzes Individuum - Kollektiv,
‚Vermittlung‘ des Führungsanspruches der Partei
•Dieser Führungsanspruch wird von Brecht dialektisch-
doppeldeutig gestaltet über die Form
Linguistische Analyse literarischer Texte - 4
•Form heißt in diesem Fall Grammatik
•Grammatisch organisiertes und grammatisch
analysierbares Gedicht
•Organisation über die Verwendung grammatischer
Kategorien, also insbes. Pronomina (61 von 124
Wörtern)
•Funktionswörter (27) (insges. 71 %); dazu die meisten
Nomina unbelebt.
Linguistische Analyse literarischer Texte - 5
Weiterhin auffällig Verteilung grammatischer und
syntaktischer Strukturen über die fünf Gedichtstrophen:
Generelle Tendenz: Zunahme von Merkmalhaftigkeit:
also von
•Modi, Kasus, Numerus und Negation.
•D.h. das Gedicht vom Einfachen zum Komplexen, von
der einfachen Fragestellung zur Komplizierung.
Linguistische Analyse literarischer Texte - 6
•Gliederung des Gedichts in zwei Strophenblöcke I/II
und III/V
•Mittelzeile: 11: „Gehe nicht ohne uns den richtigen
Weg!“
•Beispiel für die Zunahme von Merkmalhaftigkeit:
•Zunahme von Kasus: Vorherrschen von Nominativen in
I und II, von obliquen Kasus ab III.
Linguistische Analyse literarischer Texte - 7
Grammatisch-syntaktische Strukturmerkmale:
1. Vorherrschen Pronomen „sie“ in I und II,
Überwechseln zum „Wir“ in III, schließlich „Du“
und ‚einer‘
2. Fragesätze in I, (Frage in V rhet. Frage!)
Aussagesätze (Indikativ) in II,
Aussagesätze und Imperativsätze in III-V.
3. Parallelismen, Wiederholungen (bis zu
Assonanzen) im ersten Strophenblock,
dynamische Rhythmen und Enjambements im
zweiten Strophenblock.
Linguistische Analyse literarischer Texte - 8
Deutung der grammatisch-syntaktische
Strukturmerkmale:
•Wahrheitsanspruch der Partei beschränkt sich auf
formale Strukturen („Trenne dich nicht von uns“) und ist
nicht inhaltlich und damit nicht essentiell abgesichert
• = implizite, nicht ausgesprochene Kritik am
Führungsanspruch der Partei
Linguistische Analyse literarischer Texte - 9
Teilkapitel
Sprachwissenschaftliche
Probleme, Theorien und
Positionen
Sprachwissenschaftliche Positionen - 10
•Sprachwissenschaft (SW) eher erklärende als
verstehende Disziplin
•SW untersucht den Aufbau und die Funktionsweise von
Sprache: die Verbindung von Lauten und Bedeutungen
•SW untersucht Baulemente der Sprache:
phonologische Merkmale (Repertoire) und syntaktische
Kategorien (Anordnungsprinzipien)
Sprachwissenschaftliche Positionen - 11
„ [...] die erstaunliche Erfindung, aus fünfundzwanzig
oder dreißig Lauten eine unendliche Vielfalt von
Wörtern zu bilden.“ (Grammatik von Port-Royal
1660)
•SW kann sich auf einzelne Sprachen
(Nationalsprachen) oder allgemein auf die Sprache
beziehen
•SW untersucht das Kommunikationssystem der
Gesellschaft
Sprachwissenschaftliche Positionen - 12
•SW in den 70er Jahren („linguistic turn“)
Leitwissenschaft der Geisteswissenschaften:
Leitpositionen Soziolinguistik (Bernstein) und
Sprechakttheorie (Searle und Austin)
•Leitpositionen heute Computerlinguistik und
Neurolinguistik
•ansonsten Ablösung des „linguistic turn“ durch
„pictorial turn“ (Leitwissenschaft Medienwissenschaften)
Sprachwissenschaftliche Positionen - 13
Sprachwissenschaftliche Positionen
1. Traditionelle Grammatik-Auffassung, Historisch-
vergleichende Sprachwissenschaft
2. Strukturalismus
3. Generative Transformationsgrammatik von N.
Chomsky
4. Sprachanalytische Philosophie - Pragmatik -
Sprechakttheorie
5. Psycholinguistik
Sprachwissenschaftliche Positionen - 14
Vorläufer des Strukturalismus
Zeichenmodell von F. de Saussure („Grundfragen der
allgemeinen Sprachwissenschaft“, Erstdruck 1917) als
Begründung moderner Linguistik
Sprachwissenschaftliche Positionen - 15
Zeichenmodell von F. de SaussureZeichen ist die Einheit von Lautgestalt und Begriff,/baum:/ und „Baum“, signifiant und signifiéZeichen ist eine psychische Gegebenheit.Die Verbindung von Lautgestalt und Begriff ist arbiträr.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 16
/baum:/
„Baum“
Signifikant
Signifikat
bedeu-tet
Organonmodell von K. Bühler als Wegbereiter der
Pragmatik
•Zeichen im kommunikativen Kontext
•Zeichen dreigliedrig
Sprachwissenschaftliche Positionen - 17
Zeichen
Gegenstände und Sachverhalte:Darstellung
Ausdruck:Sender
Appell: Empfänger
Strukturalismus
•Grundtätigkeit Analyse: Segmentierung von Lautfolgen
und Klassifikation in sog. Taxonomien.
•Verfahren: binäre Oppositionsbildung.
•Ziel: Funktionsanalyse der sprachlichen
Bedeutungsgenerierung.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 18
Beispiel Funktionsanalyse der sprachlichen
Bedeutungsgenerierung:
•Unterscheidung zwischen Relevanz und Redundanz.
•Relevant für Pluralbildung im Deutschen z.B.
•-er-Suffix: Kind-Kinder.
•Redundant begleitender Umlaut in Buch-Bücher.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 19
Funktionsbestimmung von Sprache durch Roman
Jakobson
Komplexe Sprachfunktion: poetische Funktion
(„Horrible Harry“):
Poetische Funktion = Projektion des paradigmatischen
Prinzips der Ähnlichkeit auf die syntagmatische Achse
der Kombination
Sprachwissenschaftliche Positionen - 20
•Kompetenzbegriff von Noam Chomsky
•Begründer der generativen Transformationsgrammatik
•Kompetenz: im Spracherwerbsprozess erworbenes
bzw. angeborenes unbewusstes Wissen
•= mental repräsentierte Regeln und Prinzipien zur
Sprachproduktion (‚Generierung‘)
•wird aktualisiert durch Performanz
•Analog zu „langue“ (Sprachsystem) und „parole“ (akuter
Sprachgebrauch)
Sprachwissenschaftliche Positionen - 21
Vier Dimensionen Kompetenz
1. Fähigkeit zum Sprachverständnis
2. Fähigkeit zur Regelanwendung
3. Fähigkeit zur Entdeckung semantischer
Ambiguität:
„Der Mann überrascht den Liebhaber im
Schlafanzug.“
„Der Vater lässt die Kinder für sich sorgen.“
4. Fähigkeit zur Metakognition (effektive Art
Sprachverständnis, Bereitschaft zur
Verbesserung etc.)
Sprachwissenschaftliche Positionen - 22
Annahme Tiefen- vs. Oberflächenstruktur Sprache
Aus Tiefenstrukturen ist
über (semantische und phonologische)
Transformationskomponenten
die Oberflächenstruktur generierbar.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 23
Pragmatik:
1. Stufe: Philosophie bzw. Logik
1. Sprachanalytische Philosophie:
Kritik der Alltagssprache als Begründung
sprachbereinigter Erkenntnis bei Frege
2. Sprachphilosophie des späten Wittgenstein als
‚Logik des Gebrauchs‘
2. Stufe: Pragmatik in der Linguistik
3. Stufe: Sprechakttheorie
Sprachwissenschaftliche Positionen - 24
Sprachanalytische Philosophie
Begründer Gottlieb Frege (1848-1925)
•untersucht formale Strukturen von Theorien und
begründet eigene Begriffsprache („Begriffsschrift“).
•Z.B. Ersetzung von „Subjekt“ und „Prädikat“ durch
„Argument“ und „Funktion“
•(=Umgehung von Erkenntnisirrtümern, die durch die
Alltagssprache herrühren)
Sprachwissenschaftliche Positionen - 25
Gegenposition Wittgenstein:
Alltagssprache als Prüfstein für Wahrheitsansprüche.
Z.B. Definition von sprachlicher Bedeutung durch deren
Gleichsetzung mit Gebrauch.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 26
Pragmatik in der Linguistik
•Erstellen der Regeln des kommunikativen Umgangs
•Untersuchung der Intentionen von Sprachhandlungen
•Überschreiten der Systemlinguistik in Richtung
Kommunikations- und Handlungstheorie.
•Systemlinguistik untersucht Strukturen, Pragmatik
Äußerungen in Kontexten
Sprachwissenschaftliche Positionen - 27
Pragmatik in der Linguistik:
Beispiel Situationsanalyse Sprechen/ Schreiben:
•Mündliche vs. schriftlichen Kommunikation
•monologisch vs. dialogisch
•Face-to-face-Kommunikation vs. medial vermittelte
Kommunikation
•Private vs. öffentliche Kommunikation
•Symmetrische vs. komplementäre Kommunikation
•Bs. Konversation am Mittagstisch: mündlich...
Sprachwissenschaftliche Positionen - 28
Problemstellungen Pragmatik: Präsuppositionen
Diskrepanz zwischen sprachlich Formuliertem und
mitgeteilter Information.
Differenz zwischen Sinn der Äußerung, ihrer sozialen
Bedeutung bzw. ihrer kommunikative Funktion.
Beispiel: „Es zieht!“
= ) Konsequenz: Konversationsmaximen nach Grice
Sprachwissenschaftliche Positionen - 29
Sprechakttheorie
Austin: „How to do things with words“:
Unterscheidung zwischen konstativen (Feststellungen)
und performativen („taufen, kündigen, danken“) Verben
Sprachwissenschaftliche Positionen - 30
Ausdifferenzierung Sprechakt:
Äußerung: Laut und Lautbedeutung
Proposition: Aussage über Welt ihrer
Illokution: Hinwendung zu Kommunikationspartner
mit Intention Informieren, Grüßen, Warnen,
Drohen
Perlokution: Jemandem beeinflussen:
Lob, Einschüchterung etc.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 31
Lokution
Konversationsmaximen nach Grice
Maxime der Quantität: Sag so viel wie nötig, und
sage nicht zu viel.
Beispiel:
„Telefonnummer von X?“ - „Irgendwas mit „052“ am
Anfang.“
„Wie geht es Ihnen?“ - Langer ausführlicher 15‘ Bericht.
Sprachwissenschaftliche Positionen - 32
Maxime der Qualität: Sag nichts, was du nicht für
wahr hältst, oder mache den
Grad der Wahrscheinlichkeit
deutlich.
Beispiel:
Ironie-Missbrauch, z.B. bei Radiolärm im Zimmer: „Ich
würde das Radio noch lauter stellen.“
Sprachwissenschaftliche Positionen - 33
Maxime der Relation: Sei relevant.
Beispiel:
Maxime der Modalität: Sage deine Sache in
angemessener Art und
Weise und so klar wie nötig.
Beispiel:
Realisierung von Höflichkeit, z.B. Urteil über
dilettantische Bilder des malenden Kommilitonen: „Sie
sind sehr farbenfroh.“
Sprachwissenschaftliche Positionen - 34
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