Kulturanthropologie in den 1950er und 1960er Jahren
Die symbolische Anthropologie von Clifford Geertz
24. 1. 07
Themen
Ende Louis Dumont vom letzten Mal
Symbolische Anthropologie: Kultur als Text
„Deep Play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf
Dumonts‘ Thesen:
Pole von Gegensätzen sind Träger unterschiedlicher Werte / Wertideen
Indien – Europa = gegensätzlich/komplementäre Ideologien / Wertideen
Indien: holistisch (Hierarchie der Kasten), Individuum untergeordneter Platz (Weltentsager)
Europa: individualistisch (Individuum höchster Wert), holistische Formen untergeordnet (z.B. Familie)
Kastensystem:
a) empirische Sozialordnung, d.h. ein set von Kasten (jati) in einer geographisch umrissenen Region
b) ideologisches System, d.h. pan-indische Institution im Sinne eines Systems von Ideen und Werten
Kaste wie ein Phonem:
"A phoneme has only the characteristics which oppose it to other phonemes, it is not some thing but only the other of others, thanks to which it signifies something".
„Kaste“ (v. port. „casta“) = Status varna jati
‚Farbe 4 varna
Brahmanen= Schriftgelehrte, Priester
Kshatriya = Könige, Krieger
Vaishya = Bauern, Händler
Shudra = Diener, Arbeiter + 1 nicht-varna: panchama,
chandala = „Die Fünften“, die „Außerhalb Stehenden“)
‚Genus, Art‘ zahllose jatis, regionale Namen,
außer Brahmanen Beispiel regionale
Kastengesellschaft im westl. Indien:
Brahmanen Rajputen (Kshatriya, Könige,
Landbesitzer) Lohana (Vaishya, Händler)Koli (Shudra)
Bhangi (Chandala, Unberührbare, „kastenlos“)
Hierarchie
Religiöse Rangfolge, zu unterscheiden von modernem Begriff ‚Stratifikation‘:
"So we shall define hierarchy as the principle by which the elements of a whole are ranked in relation to the whole, it being understood that in the majority of societies it is religion which provides the view of the whole, and that ranking will thus be religious in nature" (Homo Hierarchicus, S. 66)
Varna-Hierarchie:
Varna-Modell: holistisch Symbol Körper:
Brahmanen = Kopf
Kshatriya = Beine
Vaishya = Schenkel
Shudra = Füsse
Ordnung stiftendes Prinzip:
Gegensätzliche Bewertung von Rein- und Unreinheit Kaste = Status, Status als rein oder unrein bewertet Status von Kaste X wird in Beziehung zu der Kaste
mit gegensätzlichem Stratus bestimmt: An den Extremen der Hierarchie: Brahmanen /
Priester (Rein) : Unberührbare (unrein)
Problem im Verstehen von Hierarchie:
Ort der Macht Zentrale Frage im indischen Kastensystem (varna &
jati): Beziehung zwischen Status (religiös bestimmt) und Macht (politisch bestimmt)
Indische Ideologie: Trennung von Status und Macht In Indien: religiöser Status (Reinheit) ist politischer
Macht (Unreinheit) übergeordnet
Ämter: König & Priester
Ägypten, Sumer: König = oberster Priester Spitze der Hierarchie=
Prister-König
Indien: König / Priester getrennte
Funktionen, Status König bedarf der Dienste
des Priesters, um politische Macht auszuüben
In Indien: “(the king) puts in front of himself a priest, the purohita, and then he looses the hierarchical preeminence in favour of the priests, retaining for himself power only."
Modell Dumont
Oppositionen tragen unterschiedliche Bewertungen
Hierarchie: Einschluss des niederen Wertes durch den Höheren
Reinheit des Priester umschließt (relative) Unreinheit des Königs
Möglichkeit der Umkehrung der Beziehung je nach Kontext
Individualismus Holismus
Individuum: Verkörperung der Menschheit im Ganzen
Unterordnung der Gesellschaft unter Interessen des Individuums
Bezug auf das Ganze
Unterordnung der Interessen des Individuums unter Gesellschaft
Clifford Geertz
1923 geboren
• Studium in Harvard; Philosophie & englische Literatur, später Soziologie (T. Parsons) & anthropology
• 1950er Jahre: Feldforschung in Indonesien (Java, Bali) und Marokko
• Lehre an University of California (1958-60)
• Lehre an University of Chicago (1960 – 1970)
• seit 1970: Princeton Institute of Advanced Studies
Symbolische Anthropologie USA
Clifford Geertz
Harvard / Berkeley
David Schneider
Harvard / Chicago
Victor Turner
Cornell, New York
Kultur als Text Verwandtschaft als kulturelles Konstrukt
Vom Ritual zum Theater, Performanz
Interpretative Anthropologie
Kultur = autonomes System
Wechselwirkung Kultur & Gesellschaft
Ausgewählte Literatur C. Geertz
The Religion of Java (1960) Agricultural Innovation: The Process of Ecological Change in Indonesia (1963) Peddlers and Princes: Social Change and Economic Modernization in Two
Indonesian Towns (1963) Person, Time, and Conduct in Bali: An Essay in Cultural Analysis (1966); Islam
Observed: Religious Development in Morocco and Indonesia (1968) Islam Observed (1968) The Interpretation of Cultures, darin: Thick Description (1964/1973) Myth, Symbol, and Culture (Editor, 1974); Kinship in Bali (with Hildred Geertz,
1975) Meaning and Order in Moroccan Society (with Hildred Geertz and L. Rosen, 1979)
Local Knowledge (1983) Works and Lives: The Anthropologist as Author (1988)
Dichte Beschreibung (1964)
Kultur wird von öffentlichen Symbolen verkörpert Symbole: Vehikel von Bedeutung, Kommunikation Frage: wie Symbole die Art und Weise prägen, in der
soziale Akteure ihre Welt wahrnehmen, wie sie die Welt emotional erleben und wie / was sie über sie denken
wie Symbole als Medien der Kultur funktionieren Kultur vom Standpunkt der Erforschten beschreiben
Geertz‘ Kulturbegriff:
"Culture is not some abstractly ordered system, deriving its logic from hidden structural principles, or from special symbols that provide the 'keys' to its coherence. Its logic - the principles of relations that obtain among its elements - derives rather from the logic of organization of action, from people operating within certain institutional orders, interpreting their situations in order to act coherently within them”
(Thick Description)
Kultur als Text
Beobachtung kultureller Phänomene: „wie einen Text lesen“
Subjekte interpretieren Welt aktiv mithilfe von Vorstellungen und Symbolen
Kultur vom Standpunkt des Handelnden aus untersuchen
... Thick Description
„Believing, with Max Weber, that man is an animal suspended in webs of significance he himself has spun, I take culture to be those webs, and the analysis of it to be therefore not an experimental science in search of a law but an interpretive one in search of meaning”
Interpretation = Deutung von Texten
Bedeutung muss durch Interpretation gefunden werden (Hermeneutik)
Kultur = Ensemble von Texten"Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein
Manuskript zu lesen (im Sinne von 'eine Lesart entwickeln'), das fremdartig, verblasst, unvollständig, voll von Widersprüchen, fragwürdigen Verbesserungen und tendenziösen Kommentaren ist, aber nicht in konventionellen Lautzeichen, sondern in vergänglichen Beispielen geformten Verhaltens geschrieben ist" (Dichte Beschreibung 1983, S. 15)
„Deep Play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf“
Beschreibung Situation der Ethnographen Teilnahme an (illegalem) Hahnenkampf,
Verhalten „wie die natives“ ändert Stellung der Ethnographen im Dorf
Hahnenkampf = kultureller Text Vergleich Hahnenkampf, amerikanische
Wettkampf-Ballspiele
Margaret Mead zum balinesischen Hahnenkampf:
Die Bedeutung der Hähne im Leben der männlichen Balinesen besteht darin, dass sie als abnehmbare, selbsttätige Penisse, als wandelnde Genitalien mit einem Eigenleben fungieren
Geertz: Hähne = Symbole von Maskulinität
Ablauf Hahnenkampf
Hähne mit gefährlich spitzen Sporen treten gegeneinander an in
Arena: Ring aus Zuschauern 2 Arten von Wetten: 1. kollektive Wetten zwischen Gruppen, die sich um
den Eigentümer eines Hahns bilden2. Wetten Mann gegen Mann Besitzer von Hähnen setzen Geld für Status =
symbolisches Selbst / Maskulinität ein
Mehrdeutigkeit des Hahnenkampfes
Kodierte Regeln, schriftliche Aufzeichnung auf Palmblättern
Vorschriften für Halten von Hähnen und Veranstaltung von Hahnenkämpfen
Hahnenkämpfen sind Bestandteil der allgemeinen rechtlichen und kulturellen Tradition
Hahnenkämpfe sind eine Kunstform
Hahnenkampf nur für Hähne „wirklich wirklich“:
"denn niemand wird getötet, kastriert, auf den Status von Tieren zurückgeworfen; es werden weder die hierarchischen Beziehungen der Menschen untereinander verändert, noch wird die Hierarchie selber umgestaltet; es kommt nicht einmal zu einer irgendwie bedeutenden Umverteilung des Einkommens"
Hahnenkampf = Kultur als Text:
Funktion des Hahnenkampfes: ist eine interpretierende: es handelt sich um eine balinesische Lesart balinesischer Erfahrung, eine Geschichte, die man einander über sich selbst erzählt.
Kultur als eine Montage von Texten Kultureller Text des Hahnenkampfes spricht
im Vokabular von Emotionen
Subjektivität
Die wiederholte Neuinszenierung des Hahnenkampfes ermöglicht Balinesen, eine Dimension ihrer Subjektivität zu entdecken
Hahnenkämpfe konstitutiv für die Erzeugung und Erhaltung von Emotionen (Demütigung, Triumph, Wut, Hass, Gewalt usw.)
Im Hahnenkampf schafft und entdeckt der Balinese sein Temperament und das seiner Gesellschaft
Text, der Kommentar zur Statushierarchie und zum Selbstwertgefühl auf Bali liefert
Fazit:
Die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten, und der Ethnologe bemüht sich, sie über die Schultern derjenigen, für die sie eigentlich gedacht sind, zu lesen.
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