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DAS FILM�MAGAZIN
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2012
REVISION
Alle Kinofilme vom 13. und 20.9.
Alle Filme im Fernsehen
Philip Scheffner
Michael Haneke
Filmkritik & Gewalt
Laurel & Hardy
I N H A L T 1 9 / 2 0 1 2ALLE NEUEN KINOFILME VOM 13.9. UND 20.9.2012
dokumentarfilm 6 Gegen das Verschwinden Die Filme von Philip Scheffner Von Esther Buss kino 10 Die Liebe und der Tod Michael Haenke und sein Film „Liebe“ Von Charles Martig festival 13 Siege & Niederlagen Kleine Revue durchs Festival von Locarno Von Günter Jekubzik interview 16 Gespaltene Identität Gespräch mit Toke Constantin Hebbeln Von Margret Köhler geschichte 18 Straßen ohne Wiederkehr Erinnerungen an Alexander Mackendrick Von Roland Mörchen
34 Auf der Suche nach einem Freund fürs Ende der Welt 35 Berg Fidel – Eine Schule für alle 26 Bittere Kirschen 44 Das Bourne Vermächtnis 30 Brötzmann – Da gehört die Welt mal mir 45 Call Me Kuchu 38 De Engel van Doel 42 Image Problem (kino schweiz) 25 Die Kunst sich die Schuhe zu binden 34 Gregs Tagebuch – Ich wars nicht 43 Das grüne Wunder – Unser Wald 30 Kleine Morde 36 Liebe 46 Lotte und das Geheimnis der Mondsteine 41 Mensch 2.0 – Die Evolution in unserer Hand 38 Mixed Kebab 28 Parada 40 Revision 32 Snowchild 39 The Watch – Nachbarn der 3. Art 27 Und nebenbei das große Glück 32 Vatertage – Opa über Nacht 37 Das verborgene Gesicht 29 Wir wollten aufs Meer
aus hollywood 20 Colorado, 20. Juli 2012 Als das Kino seine Unschuld verlor Von Franz Everschor kino 22 Cineastische Albträume Ambivalentes Verhältnis: Filmkritik & Gewalt Von Jörg Marsilius 4 magazin 23 neu im kino 33 kinotipp 42 kino schweiz 45 impressum 48 dvd / literatur 50 nachspann NEU AUF DVD 47 Eddie – The Sleepwalking Cannibal
„Auf der Suche nach einem Freund fürs Ende der Welt“, „Bittere Kirschen“, „Das verborgene Gesicht“ (l.v.o.)
„Der Tag des Spatzen“ von Philip Scheffner
16 film-dienst 19/2012
INTERVIEW
Gespaltene Identität TOKE CONSTANTIN HEBBELN UND „WIR WOLLTEN AUFS MEER“
Für seinen poetisch-melancholischen
Kurzfilm „Nimmermeer“ wurde Toke
Constantin Hebbeln mit dem „Studen-
ten-Oscar“ ausgezeichnet. In seinem
packenden Langfilmdebüt „Wir wollten ans
Meer“ (Kritik in dieser Ausgabe) erzählt er
nun eine Geschi chte von der Sehnsucht nach
einer besseren Welt und davon, wie Freunde
durch die Stasi zu Feinden wurden.
Warum haben Sie sich für Ihren ersten langen Kinofilm ein so schwieriges Thema gesucht? Toke Constantin Hebbeln: Das hängt wohl
mit meiner Persönlichkeit und meiner filmi -
schen Erziehung zusammen. Für mich sind
Filme am interessantesten, wenn es zwischen
politischer und privater Ebene starke Schnitt-
mengen gibt. „Insider“ von Michael Mann
beispielsweise, wo das „Corporate Interest“
im Gegensatz zur privaten Integrität eines
Mannes steht. Bei den Themen Stasi und
DDR lag der Moment, wo das Politische ins
Private eindringt, auf der Hand.
Wie motivieren Sie das Publikum, sich der heiklen Materie zu stellen? Hebbeln: Wir haben auf die genaue Ausge -
staltung der Figuren und ihre Psychologie
großen Wert gelegt. Der Film ist temporeich,
„Character driven“ und sehr emotional. Da-
rüber sollen die Zuschauer in die Geschichte
hineingezogen werden.
Bei diesem brisanten Sujet sind „Querschlä-ger“ zu erwarten. Es gibt sicherlich Leute, die Ihnen DDR-Klischees vorwerfen. Hebbeln: Filme müssen eine Haltung haben.
Wenn ich versucht hätte, über die DDR mit
der größtmöglichen Ausgewogenheit zu er-
zählen, dann wäre der Film neun Stunden
lang geworden; man hätte eine Fernsehserie
oder ein Melodram daraus machen können.
Da es hier aber auch darum geht, wie ein
junger Mann durch die Willkür des Staates
und die Infiltration der Stasi zerstört wird,
wurde der Blickwinkel auf die DDR natürlich
auch dadurch bestimmt.
Haben Sie sich bei der Recherche an konkre-ten Fällen orientiert? Hebbeln: Das eigentlich Totalitäre an der
Wohlfühldiktatur der DDR war der Begriff
der Zersetzung. Zersetzung ist sozusagen die
Zerstörung des Individuums durch den Staat,
aus vermeintlichen Sicherheitsgründen. Der
Drehbuchautor Ronny Schalk und ich haben
uns gefragt, wie es sich wohl anfühlt, wenn
man in einem Land lebt, in dem der Freund,
der Lehrer, sogar der Onkel oder der Bruder
Zuträger des Ministeriums für Staatssicherheit
sein können. Das haben wir dann mit der
historischen Wirklichkeit abzugleichen ver-
sucht. Wir sind in die Stasi-Zentrale in der
Normannenstraße in Berlin gefahren, wir wa-
ren oft im Untersuchungsgefängnis der Stasi
in Hohenschönhausen und haben uns mit
vielen Zeitzeugen auseinander gesetzt. Die
Opfer berichteten über die Schikanen im All-
tag, die Gründe für die Verhaftung, über
Fluchtpläne. Manche hatten nur einen politi-
schen Witz gemacht, andere eine missliebige
Andeutung im Freundeskreis. Erst durch die
Akteneinsicht erfuhren sie, wer sie verraten
hat. Da sitzt jemand zwölf oder 14 Monate
in U-Haft, bekommt in der Einzelhaft nie-
manden zu sehen und wird jeden Tag ver-
hört. In seinem Kopf hämmert diese eine
bohrende Frage: Wer kann es gewesen sein?
Das macht Menschen kaputt; das ist eine
Zersetzung, die abgrundtief unmenschlich ist.
Waren die Zustände im Gefängnis tatsächlich so desaströs? Hebbeln: Unsere Geschichte spielt im Strafvoll-
zug der DDR. Da muss man eine scharfe
Trennlinie ziehen zwischen der Unter su chungs -
haft als Einzelhaft und der Vollzugshaft. Da
teilten sich oft bis zu 30 Häftlinge eine Zelle,
politische Gefangene und ganz normale Ver-
brecher, Mörder oder Brandstifter. Authentizität
beim Strafvollzug war uns sehr wichtig.
Wie kam es zur Idee von Rostock als Sehn-suchtsort?
film-dienst 19/2012 17
INTERVIEW
Hebbeln: Ronny Schalk wuchs in Sachsen-
Anhalt auf. Er war mein „Authentizitätsan -
ker“. Ohne ihn hätte ich den Film nicht rea-
lisieren können. Als Achtjähriger hat er seine
Ferien an der Ostsee verbracht. Er wollte ein
Boot bauen. Sein Großvater hat ihn nicht ab-
gehalten, aber gesagt: ,Du kannst das Boot
bauen, aber weit kommst du damit nicht.‘
Diesen Satz hat er nie vergessen. Der Ros-
tocker Hafen war damals der einzige interna-
tionale Hafen der DDR. Wer da arbei tete,
konnte Kontakt mit Leuten aus aller Welt
pflegen. Das war für viele der Sehnsuchtsort
schlechthin.
Können Sie sich als „Wessi“ ein Leben unter der Beobachtung der Stasi überhaupt vorstel-len? Hebbeln: Ich habe mich gefragt, wie man in
einer Gesellschaft lebt, in der es zwei Spra-
chen gibt, die am Küchentisch mit Familie
und Freunden und die andere, in der Schule
oder im Betrieb. Die Menschen empfanden
Angst vor diesem Apparat in der Normannen-
straße. Ich glaube, dass durch den Verrat und
auch die späteren Einsicht in die Stasi-Akten
das Urvertrauen der Opfer in den Nächsten
verloren ging. Das ist vielleicht auch das Uni-
verselle und Aktuelle an unserem Film: Miss-
trauen, Vertrauensbruch und Paranoia existie-
ren in unserer Gesellschaft weiter, und zwar
unabhängig vom politischen System.
Am Ende lassen Sie ein Fünkchen Hoffnung... Hebbeln: Es war mir ganz wichtig, dass der
Film nicht mit einer nihilistischen Note en-
det; die Hauptfigur Cornelis sollte nicht ge-
zeichnet und traumatisiert in den Westen
kommen und keinen Anschluss findet. Der
Traum, zur See zu fahren, musste aufgehen.
Deshalb endet der Film nicht mit einem
Moll-Akkord, sondern mit leiser Hoffnung.
Warum hat es vier Jahre vom Treatment bis zum fertigen Film gebraucht? Hebbeln: Das hat mit der Komplexität des
Stoffs zu tun. Die Zusammenarbeit mit Ron-
ny Schalk war kreative Kooperation; ich klin-
ke mich zum frühstmöglichen Zeitpunkt in
einen Stoff ein, und es fällt mir es dann ex-
trem schwer, nebenher noch etwas zu ma-
chen. Die zweite Treatment-Fassung umfasste
etwa 60 Seiten, die erste Drehbuchfassung
ungefähr 180; genug Stoff für einen Viertei -
ler. Wir mussten also die Masse des Stoffs re-
duzieren und vertiefen, um an die Essenz
der Geschichte zu gelangen. Als wir dann so-
weit waren, kamen andere Faktoren wie Fi-
nanzierung oder die Anzahl der Drehtage da-
zu. Wir mussten das Drehbuch weiter ver -
dich ten, Passagen streichen, Stränge verkür -
zen; mit allen Änderungen haben wir ins-
gesamt neun Fassungen geschrieben.
Sie haben an der Filmakademie studiert, ebenso die Produzenten Manuel und Alexan-der Bickenbach, Nico Hofmann lehrt dort… Hebbeln: Networking wird in Ludwigsburg
sehr gefördert. Das, was von der Filmhoch-
schule am stärksten weiterwirkt, ist eine gro-
ße Loyalität, eine Verbindung mit Menschen,
die das Gleiche wollen und mit denen man
sich blind versteht. Ein großer Teil meines
Teams war bereits bei „Nimmermeer“ dabei,
eine eingeschworene kreative Zelle.
Hat Ihnen der Studenten-„Oscar“ geholfen? Hebbeln: Ich wurde damals sofort von einer
der größten Agenturen in Los Angeles unter
Vertrag genommen und erhielt stapelweise
Drehbücher aus Hollywood, darunter wirk-
lich interessante Angebote. Ich habe das aus-
geschlagen, weil ich diesen Film machen
wollte. Die US-Agentur hat auf „Wir wollten
aufs Meer“ mit einem begeisterten Feedback
reagiert. Jetzt lese ich wieder amerikanische
Drehbücher und hoffe, dass ich irgendwann,
wenn ich alt und reif genug bin, einen Film
in Hollywood realisieren kann. In Deutsch-
land war das Echo auf den Studenten-„Os -
car“ gut, aber ich bin von Produzenten oder
Autoren nicht übermäßig angesprochen wor-
den. Bei der Finanzierung war die Auszeich -
nung aber eine Hilfe, denn für einen Debüt-
film war „Wir wollten aufs Meer“ nicht gera-
de billig.
Würde es Sie reizen, in den USA zu arbeiten? Hebbeln: Ich bin mir der Schwierigkeiten ei-
nes europäischen Filmemachers in Hollywood
bewusst und glaube nicht an diese Verhei -
ßungen vom „Gelobten Land“. Der europä i -
sche Film ist sehr stark; wie man hier über
kreative Stoff und ihre Umsetzung entschei -
det, gibt gerade uns jungen Regisseuren eine
große Freiheit. Aber ich habe großen Respekt
vor dem Studiosystem und vor den Filmen,
die in den USA entstehen, und ich würde
gerne mal ins kalte Wasser springen und dort
einen Film drehen, schon allein wegen der
Budget-Voraussetzungen.
Wo möchten Sie in zehn Jahren sein? Hebbeln: An einem Filmset. Ich wünsche
mir Kontinuität in meiner Arbeit und dass
ich mindestens alle anderthalb bis zwei Jahre
einen Film drehen kann, vorzugsweise fürs
Kino. Bei einem guten Stoff fürs Fernsehen
würde ich mich auch nicht verweigern. Ich
möchte mit tollen Schauspielern und tollen
Autoren große Geschichten erzählen.
Das Gespräch führte Margret Köhler.
SEHENSWERT
D I E K R I T I K E N
DISKUSSIONSWERT
De Engel van Doel 38 Das grüne Wunder – Unser Wald 43 Liebe 36 Lotte und das Geheimnis der Mondsteine 30 Revision 40
Berg Fidel – Eine Schule für alle 35 Bittere Kirschen 26 Mensch 2.0 – Die Evolution in unserer Hand 41 Parada 28 Wir wollten aufs Meer 29
41 254
Die Kunst sich die Schuhe zu binden
A lex ist jung, unpünktlich, verantwor -
tungs- und jetzt auch arbeitslos. Im-
merhin hat es seine Freundin Lisa vier
Jahre mit ihm ausgehalten, bis die junge Frau
und Mutter seiner Tochter ihn vor die Tür
setzte. Das Arbeitsamt hat eine einzige Stelle
für ihn: Er soll geistig Behinderte betreuen,
die mit monotonem Gleichmut Holz verar -
beiten, spazieren gehen oder seit Jahren ver-
suchen, sich die Schuhe zu binden. Dies sei,
so seine neue Kollegin Hanna, ein wichtiger
Schritt hin zu einem strukturierten Alltag.
Wo denn da der Spaß bleibe, fragt Alex, in
dem plötzlich eine nicht gekannte Leiden-
schaft erwacht.
Der Film von Lena Koppel beruht auf einer
„wahren Begebenheit“. Er zeichnet den Weg
einer Behindertengruppe nach, die durch
Alex ihre wahre Stärke entdeckt: das Singen
und Spielen auf der Bühne. Alex selbst ist
ein gescheiterter Theaterschauspieler, der ei-
nen Ausflug dazu nutzt, um die Gruppe auf
eine kleine Bühne zu bringen; er macht Lo-
ckerungsübungen und erlebt die Begeiste -
rungsfähigkeit seiner Schützlinge. Deshalb
meldet er sie zu einer Talentshow an, bei der
sie erst einmal scheitern; damit aber bringt
er Hanna und deren Vorgesetzte in Bedräng-
nis, da sich die Eltern der Gruppe gegen die-
se Art der Zurschaustellung wehren. „Die
Kunst, sich die Schuhe zu binden“ verfolgt
ein sehr ehrbares Anliegen: zu zeigen, dass
auch Menschen mit mentalen Handicaps
über Begabungen verfügen, die sie zu mehr
befähigen als in einem stupiden Projekt Holz
zu scheiten und zu verpacken. Der Film hat
aber auch unübersehbare Schwächen. Alex
ist eine erdachte Figur, die einzig dazu dient,
die Rahmenhandlung zu bändigen – eine ty-
pische, kaum ausgebaute „Männerkonzepti -
on“ mit einer jähen Wandlung. Andererseits
schafft es Koppel nicht, den reizvollen Cha-
rakteren der Behinderten, die sie größtenteils
aus dem realen Theaterensemble rekrutierte,
einen adäquaten Spielanteil einzuräumen. Eb-
be, ein älterer Mann, der gerne kichert und
geistreich-frech antwortet, erhält beispielswei -
se nur zu Beginn des Films Sprechszenen
und wird später zum bloßen Statisten. Auch
ist die Handlung sehr vorhersehbar, selbst in
ihren Details: Die stille, in sich gekehrte Ka-
tarina, die niemals spricht, ist jene, die später
mit ihrer glockenhellen, wunderbaren Stim-
me begeistert. So ehrenhaft die Absicht, so
arg- wie harmlos das Resultat. Was erzählt
wird, entspricht genauso den Konventionen
wie die Art und Weise, mit der es auf die
Leinwand gebracht wird. In seinem Heimat-
land Schweden war der Film ein großer Er-
folg; vielleicht macht das Sequel, das aktuell
gedreht wird, etwas mehr aus der interessan -
ten Grundkonstellation. Sascha Koebner
film-dienst 19/2012 25
KINOSTART 20.9.2012
Die Kunst sich die Schuhe zu binden Hur många lingon finns det i världen? Scope. Schweden 2011 Produktion Sonet Film/Nordisk Film Post Prod./Europa Sound Prod./Filmgården Produzenten Peter Possne, Peter Kropenin Regie Lena Koppel Buch Lena Koppel, Trin Piil, Pär Johansson, nach ei nem Theaterstück von Pär Johansson und dem Glada Hudik-Theater Kamera Rozbeh Ganjali Musik Josef Tuulse Schnitt Patrick Austen, Mattias Morheden Darsteller Sverrir Gudnason (Alex), Vanna Rosenberg (Hanna), Mats Melin (Kjell-Åke), Theresia Wi darsson (Filippa), Bosse Östlin (Ebbe), Ellinore Holmer (Katarina), Maja Carlsson (Kristina), Marie Robertson (Anna-Lena), Claes Malm berg (Peter), Eva Funck (Leifs Mutter), Sísí Uggla (Josefin) Länge 101 Min. FSK o.A.; f Verleih MFA+
Ein glückloser Schauspieler ohne Job wird vom Arbeitsamt an eine Gruppe geistig Be-hinderter vermittelt. Zunächst widerwillig, dann aber mit wachsender Begeisterung hilft er seinen Schützlingen, ihre wahre Stärke zu entdecken: das Singen und Spielen auf der Bühne. Als er die Truppe für eine Talentshow im schwedischen Fernsehen anmeldet, zieht er einen Sturm der Entrüstung auf sich. Eine sympathisch-arglose Komödie, die den Behin-derten einen adäquaten Raum einräumt, dra-maturgisch aber eher in recht überschaubaren Bahnen verbleibt. – Ab 12.
„Das grüne Wunder – Unser Wald“
film-dienst 19/2012 29
KINO
41 258
Wir wollten aufs Meer
Wir wollten aufs Meer Deutschland 2012 Produktion Ufa Cinema/Frisbeefilms/BR/ARD Degeto/ SWR/BR-ARTE/ARTE/SR Produzenten Nico Hofmann, Ariane Krampe, Jürgen Schus ter, Manuel Bickenbach, Alexander Bicken bach, Bettina Reitz, Hans-Wolfgang Jurgan Regie Toke Constantin Hebbeln Buch Ronny Schalk, Toke Constantin Hebbeln Kamera Felix Novo de Oliveira Musik Nic Raine Schnitt Simon Blasi Darsteller Alexander Fehling (Cornelis Schmidt), August Diehl (Andreas Hornung), Phuong Thao Vu (Phuong Mai), Ronald Zehrfeld (Matthias Schönherr), Annika Blendl (Sabine Schön- herr), Sylvester Groth (Roman), Rolf Hoppe (Oberst Seler), Hans-Uwe Bauer (Ralfi), Tho mas Lawinsky (Eberhard Fromm) Länge 116 Min. Verleih Wild Bunch
Zwei junge Männer in Rostock träumen 1982 von einer Zukunft auf der See. Gemeinsam mit einem Dritten, der offen von Republik-flucht spricht, geraten sie ins monströse Netz der Staatssicherheit. Der eine steigt zum Spit-zel im Offiziersrang auf, der andere leistet Wi-derstand, bis es hinter Gefängnismauern zu Schikanen und Psychoterror kommt. Düsteres DDR-Drama über Menschen voller Sehnsucht nach einer besseren Welt, die in die Zwangs-jacke eines Systems geraten, das ihnen keine Entschei dungsgewalt über ihr Leben zubilligt. Die herausragenden Darsteller überspielen souverän die mitunter überladene, allzu deut-lich illustrierte Handlung, wobei die verhan-delten Gewissensfragen die Dimension einer griechischen Tragödie bekommen. – Ab 14.
Toke Constantin Hebbelns Ki-
nodebüt ist der nachgebo re -
ne kleine Bruder von „Das
Leben der Anderen“ (fd 37 524):
ein DDR-Drama über Menschen
in der Zwangsjacke eines Sys-
tems, das ihnen keine Entschei -
dungsgewalt über ihr Leben zu-
gesteht. Historische Aufnahmen
und die unvermeidlich beige-
brau nen Sepia-Töne der Interi -
eurs geben die Richtung vor.
Selbst das Licht ist schmutzig.
Der Regen macht kaum Pause.
Kein gutes Omen in einer Ge-
schichte, die mit ausgelassenen
Freundschaftsbeschwörungen an-
fängt. Zwei junge Männer träu-
men 1982 in Rostock von einer
Zukunft auf der See. Doch der
Aufstieg will nicht gelingen.
Nach drei Jahren schuften sie im-
mer noch als Hafenarbeiter. Sie
treffen auf einen Dritten, der of-
fen von Republikflucht spricht.
Alexander Fehling, August Diehl
und Ronald Zehrfeld überschla -
gen sich in einer körperlichen
Präsenz, die in dieser geballten
Überdosis im deutschen Kino sel-
ten vorkommt. Ob ausgelassenes
Feiern in maritimen Hafenspelun -
KINOSTART 13.9.2012
ken oder tiefste Verzweiflung im
Gefängnis: Auf das großartige
Trio ist stets Verlass. Allerdings
bietet das vornehmlich auf Emo-
tion gebürstete Drehbuch ihnen
auch genug Potenzial für schau-
spielerische Höchstleistun gen.
Die simple berufliche Entschei -
dung für die Handelsmarine kon-
frontiert die Freunde mit Gewis-
sensfragen von der Dimension ei-
nes griechischen Dramas. Die
Staatssicherheit funkt mal wieder
dazwischen, vergiftet die Chemie
und schürt Misstrauen. Sie for-
dert die Seele und bietet einen
Teufelspakt. Wer sich verkauft
und andere verrät, kann mit Son-
derkonditionen rechnen. Nicht
jeder hält dem Druck Stand. Oh-
ne Aussicht auf einen Ausweg,
entscheidet sich das Duo, den
fluchtwilligen Freund zu denun-
zieren. Bei einem von ihnen sie-
gen im letzten Moment doch
noch die Skrupel. Er zerstört das
belastende Material. Das lässt
August Diehl (als Andreas) nicht
auf sich sitzen und fährt seine
bewährten dämonischen Ge-
schütze auf. Die Rolle des Op-
portunisten ohne moralischen
Kompass nimmt man ihm sofort
ab. Im Alleingang sorgt er dafür,
dass das Opfer seiner Enthüllun -
gen im Gefängnis landet. Die be-
freiende Weite des Meeres rückt
für ihn trotzdem in weite Ferne.
Nach einem Streit mit Alexander
Fehling (als Cornelis), der nach
den desillusio nie renden Erfahrun -
gen zunehmend einer Mischung
aus James Dean und dem jungen
Marlon Brando ähnelt, landet der
Kollaborateur im Rollstuhl. Damit
geraten die Freunde endgültig in
das monströse Netz der Stasi.
Während der Krüppel zum Spit-
zel im Offiziersrang aufsteigt,
leistet der zum Anstand Bekehrte
gegenüber dem zuständigen
Oberst (eindringlich gespielt von
Rolf Hoppe) Widerstand. Damit
verspielt er in der DDR seine
Existenz. Bei dem mit einer fu-
rios nervösen Kamera gefilmten
Versuch, mit seiner vietnamesi -
schen Freundin über die tsche-
chische Grenze nach Hamburg
zu flüchten, fliegt er auf und er-
fährt die Willkür des Regimes
mit voller Wucht als politischer
Gefangener.
Das Spiel der Macht geht hinter
den Gefängnismauern weiter.
Schikanen, Psychoterror, abge-
lehnte Ausreiseanträge und ein
Wiedersehen mit dem dritten
verhinderten Republikflüchtling
dominieren von nun an die klau -
strophobisch verdichtete Hand-
lung. Man sieht diesen von ei-
nem zynischen Apparat in die
Enge getriebenen Beaus gerne
zu, merkt freilich allmählich
doch, dass die überladene, mit
der Streicher-Musik allzu deut-
lich illustrierte Handlung für drei
Filme reichen würde. Was Chris-
tian Petzolds „Barbara“ (fd 40
925) an Eindeutigkeit abgehen
mag, ist in diesem zunehmend
ermüdenden Freiheitsepos im
Übermaß vorhanden. Dennoch:
Nach dieser insgesamt soliden
Aufarbeitung der DDR dürfte
sich dem Studen ten-„Os car“- Ge -
winner Hebbeln noch so manche
Tür öffnen. Alexandra Wach
36 film-dienst 19/2012
KINO
41 266
Liebe
Liebe Amour Frankreich/Deutschland/Österreich 2012 Produktion Les Films du Losange/X-Filme Creative Pool/ Wega Film/France 3 Cinéma/ARD/ WDR/BR Produzenten Margaret Ménégoz, Stefan Arndt, Veit Hei duschka, Michael Katz Regie und Buch Michael Haneke Kamera Darius Khondji Schnitt Monika Willi, Nadine Muse Darsteller Jean-Louis Trintignant (Georges), Emmanuelle Riva (Anne), Isabelle Huppert (Eva), Alexan dre Tharaud (Alexandre), William Shimell (Ge off), Ramón Agirre (Hausmeister), Rita Blanco (Hausmeisterin), Carole Franck (Kranken schwester), Dinara Droukarova (Kranken schwester) Länge 127 Min. FSK ab 12; f Verleih X Verleih
Ein altes Ehepaar aus Paris ist sich auch nach vielen Jahrzehnten noch in Liebe zugetan. Als die Frau einen Schlaganfall erleidet, beginnt sich ihr gemeinsames Leben entscheidend zu ändern. Das meisterlich inszenierte Kammer-spiel fasst nüchtern die Unausweichlichkeit des Todes ins Auge, ohne die Grenze zur Sen-timentalität zu überschreiten. Eine von groß-artigen Darstellern getragene, radikale Apolo-gie der Empathie, überraschend altersmilde, kämpferisch und zurückhaltend zugleich. Der tief berührende Film über die Liebe und die Vergänglichkeit der menschlichen Natur ist ei-ne für viele Auslegungen offene Meditation über das Ende, bar aller Illusionen, gleichwohl getragen von einer Würde, die auch das pro-vokante Finale trägt. – Sehenswert ab 16.
Der ebenso schlichte wie pa-
thetische Titel „Liebe“ ver-
ursacht erwartungsvolle
Schauer, führt aber zunächst in
die falsche Richtung. In Michael
Hanekes Film geht es um nichts
weniger als den körperlichen Ver-
fall, um die Formen der Liebe in
einem Alter, in dem sich das Be-
gehren bei den meisten längst
verabschiedet hat. Die erste Sze-
ne nimmt das Ende jeder Exis-
tenz vorweg: Eine Tür muss auf-
gebrochen werden, im Treppen-
haus hängt Verwesungsgeruch.
Die Polizei findet eine alte Frau
vor, umrankt von Blumen auf ei-
nem Bett. Das Fenster steht weit
offen. Hat ihr Mann das Tor zu
einem selbstbestim mten Ende ge-
wählt? Wie es dazu kam, erzählt
der Rest in bei Haneke gewohnt
kühl kadrierten Bildern. Die still
beobachtende Kamera gleitet
durch die große Pariser Woh-
nung mit holzvertäfel ten Wänden
und weiten Flügeltüren wie ein
unsichtbarer Eindring ling, der
sich an der eingefange nen Intimi -
tät die Finger zu verbrennen
droht. Die gnadenlos erloschene
Lebenszeit tut weh, erweist sich
aber nur als Vorspiel für ein viel
elenderes Sterbedrama.
Wenige Schnitte weiter ist die
von Emmanuelle Riva verkörper-
te Tote wieder lebendig. Sie sitzt
an der Seite von Jean-Louis Trin-
tignant und lauscht einem Kon-
zert. Hin und wieder wirft sie
ihm vertraute Blicke zu. Ein Aus-
flug in die Öffentlichkeit, der
sich nicht mehr wiederholt. Zu-
rück in der Wohnung begnügt
sich die Inszenierung von da an
mit dem eng gesetzten Radius ei-
nes Kammerspiels. Das passt
zum begrenzten Handlungsspiel -
raum des Paars, das sich freiwil-
lig zu isolieren beginnt. Frühere
Interessen üben keine Anzie -
hungskraft mehr aus. Das Be-
wusstsein für die Konturen der
eigenen Person wird schwächer.
Sanft eingestreute Ellipsen ver -
wei sen auf eine Krankheit, die
den Alltag der beiden Musikpro-
fessoren im Ruhestand urplötz -
lich verändert. Die 80-jährige
KINOSTART 20.9.2012
Frau erleidet einen Schlaganfall.
Die halbseitige Lähmung bringt
das fragile Gewicht ihrer Symbi -
ose durcheinander. Der Kontroll-
verlust macht auch vor der bür-
gerlichen Fassade keinen Halt,
der peinlich funktionsuntüchtige
Körper übernimmt von nun an
das Kommando. Zuerst ist das
Gehen nicht mehr möglich.
Dann weicht der Rollstuhl dem
Bett. Dazwischen fehlt der Mut
zum Selbstmord. Der Mann ent-
lässt die unsensible Pflegerin und
springt für sie ein: Windeln
wech seln, füttern, Bettlaken wa-
schen, vorsingen. In dieser minu-
tiösen Beobachtung des Krank-
heitsverlaufs ähnelt „Liebe“ dem
Sterbedrama „Halt auf freier Stre-
cke“ (fd 40 750), nur dass bei
Andreas Dresen die Ungerechtig-
keit eines tödlichen Tumors ver-
früht zuschlägt, während Haneke
sein Augenmerk nüchtern auf die
Unausweichlichkeit des Todes im
Alter richtet, eine Lebensphase,
die in den vom Jugendwahn
heimgesuchten westlichen Gesell-
schaften zunehmend mit einem
Tabu belegt wird. Ein Altersheim
kommt für die beiden nicht in
Frage. Der Respekt, den der be-
dingungslos Liebende seiner Frau
auf ihrem letzten Weg entgegen
bringt, zeugt von einer tiefen,
über Jahrzehnte gelebten Ver-
bundenheit. Eine unerwartete
Ode auf die romantische Liebe
von einem Regisseur, der bisher
wenig Glaube an das Gute im
menschlichen Charakter zeigte
und lieber seine tiefenpsy -
chologischen Abgründe in ihren
unzähligen Facetten sezierte. Isa-
belle Huppert muss sich mit ei-
nem Kurzauftritt begnügen. Als
im Ausland lebende Tochter ver-
sucht sie die Abwärtsspirale an-
zuhalten und scheitert kläglich.
Zu groß ist die Distanz, die sich
in das Verhältnis der Generatio-
nen eingeschlichen hat. Ihre kur-
zen Besuche reichen nicht aus,
um in das Innere ihrer in einer
eigenen Welt lebenden Eltern
vordringen zu können. Der Vater
weist sie an, sich um ihr eigenes
Leben zu kümmern, der Zustand
der Mutter gehe nur ihn etwas
an. Die Maxime, bis dass der
Tod uns scheidet, ist für ihn kei-
ne leere Floskel. Seine Vorstel -
lung von der Liebe ist nach heu-
tigen Maßstäben entweder un-
gewohnt konservativ oder fast
schon wieder modern. Das ei-
gentliche Schauspiel sind aber
die vielen Momente des Ab-
schieds, der kaum merklichen In-
teraktion, die sich in den aus-
drucksstarken Gesichtern der
großartigen Darsteller spiegeln,
der Kampf um die Würde einer
ihrer früheren Identität beraub-
ten Kranken, für die das Umfeld
das Gespür verloren zu haben
scheint. Emotion folgt auf Emoti-
on, Panik auf Wehmut, Zärtlich-
keit auf Verzweiflung, Geduld
auf Wut und Widerstand, ein ru-
higer Fluss letzter Gewissheiten,
der die Grenze zur Sentimentali-
tät nie überschreitet und dem
Tod seinen Schrecken nimmt.
Ein großer Schauspielerfilm, eine
radikale Apologie der Empathie,
ein überraschend altersmilde,
kämpferisch und zugleich zurück-
haltend gestimmter Haneke.
Alexandra Wach
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