Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature
Der Kunstkopf-Mann
Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach Amazonien
Eine Radiogeschichte von Helmut Kopetzky
Produktion: NDR/Dlf 2018
Redaktion: Ulrike Bajohr
Sendung: Freitag, 16.03.2018, 20:10-21:00 Uhr
Regie: Helmut Kopetzky
Besetzung:
Tom Vogt
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© - unkorrigiertes Exemplar -
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Prolog: Stichwort: KUNSTKOPF-STEREOPHONIE
Bereits in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts entstand die
Idee, durch naturgetreue Nachbildung der menschlichen Kopfform und
durch Platzierung kleiner Mikrophone in den künstlichen Ohrmuscheln
den natürlichen Höreindruck zu simulieren, aufzuzeichnen und im
Rundfunk zu übertragen.
Kunstkopf-Technik erzielt den stärksten Effekt bei der Verwendung von
Kopfhörern, die wir Ihnen auch bei dieser Sendung empfehlen.
ZWEI GITARREN-AKKORDE /
KETTENSÄGEN / STÜRZENDER BAUMRIESE
(aus dem nach Spallarts Tod fertiggestellten Hörstück „Brasil“, 1982)
DARAUF:
Ansage
Der Kunstkopf-Mann.
Letzte Reise des Tönefängers Matthias von Spallart nach
Amazonien
Eine Radiogeschichte von Helmut Kopetzky
ZWEITER und DRITTER BAUMRIESE FÄLLT
Erzähler Es war … gegen Ende der Magnetbandzeit. Das analoge
Zeitalter klang aus und wechselte zum digitalen – ein gleitender
Übergang. Wie eine lange und kaum wahrnehmbare Blende.
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Ein Radiostück blieb mir im Gedächtnis – „Brasil“. Halb Feature, halb
Hörspiel, zum ersten Mal gesendet 1982. Autor: Matthias von Spallart.
Ich hatte ihn nie gesehen, seine Stimme nie gehört. Kein Foto. Kein
Video.
Das Internet kam erst Jahre später.
Ich kannte seine Story nur vom bitteren Ende her. 35 Jahre hab ich sie
mit mir herumgetragen. Bis ich diesen da begegnete. Radiomenschen
wie er.
STIMMEN:
–– Die Bilder sind alle da. Man sieht ihn, man spürt ihn auch noch.
–– Er hat sich gerne in gepflegten Bars bewegt. Er hat gern gute Zigarren geraucht.
–– Man hat einen Kamelhaarmantel, den man nachlässig über die erstbeste
Stuhllehne wirft… (GELÄCHTER).
–– Er war ein hervorragender Koch. Er hat nicht Rösti und Leberli gemacht
… (GELÄCHTER). Und ich glaube eben, dass der Matthias nicht auf der
Erde stand, sondern der war in der Luft. Ab und zu wirklich nicht ganz auf
dem Boden.
–– Er war irgendwo ein Traumtänzer, aber großartiger Regisseur und
Schauspieler. Und er hat den Schauspielern immer vorgespielt, wie die Rolle
eigentlich angelegt sein müsste.
PASSAGE AUS DER ARBEIT AN EINER RADIOFASSUNG VON
GEORG BÜCHNERS „DANTONS TOD“ MIT v. SPALLART ALS
REGISSEUR UND DEM SCHAUSPIELER WOLFGANG REICHMANN
IN DER ROLLE DES ST. JUST
(1981 KURZ VOR SPALLARTS TOD MITGESCHNITTEN)
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SPALLART / REICHMANN IN RASCHEM WECHSEL: Was ist das
Resultat? ––– Was ist das Resultat? ––– Meine Damen und Herren: Was ist
das Resultat? –––
Rhetorische Frage: Was ist das Resultat? Ja? ––– Ja! –––
(MIT GRÖSSEREM DRUCK) Was ist das Resultat? ––– Was ist das
Resultat? Sagen Sie ’s mir, Monsieur Le Gergues: Was ist das Resultat??
Erzähler Die von Spallarts: Eine Künstlerfamilie – Maler, Musiker,
Bühnenbildner, Schauspieler seit dem frühen 19. Jahrhundert.
Die Eltern von Matthias stehen bis zum Kriegsjahr 1944 auf der Bühne
in Berlin. Dann wird der Vater zwangsverpflichtet.
O-Ton Mareile Grieder Der sollte Nazipropaganda mitmachen, und das
wollte er nicht.
Erzähler Mareile, Spallarts Halbschwester.
O-Ton Grieder Am 6. Dezember 1944 sind wir über die Grenze in Riehen
bei Basel in die Schweiz geflohen. Matthias war da ein Baby und ich drei
Jahre alt.
Erzähler Der Flüchtlingsjunge wird Schauspieler. Und später
Hörspielregisseur.
STIMMEN:
- Matthias von Spallart kam mir vom ersten Kennenlernen an eigentlich
vor wie eine Figur aus dem neunzehnten Jahrhundert. Möglicherweise
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hing das zusammen mit der aristokratischen Herkunft seines Vaters
und auch seiner Mutter. Er schien mir wie kopfschüttelnd in die Welt
zu blicken. Ein seltsames Erstaunen: „Ist denn das überhaupt möglich
?“
–– Es hieß mal, er würde unter dem Ruhm seiner Eltern leiden – weil die
so bekannt waren. Ob das nun stimmt ?
–– Kann schon sein! Zwei so starke Figuren: Der strenge ater und die
Mutter, die ihn vergöttert hat
–– Unter so einem Vater hätte ich gelitten.
–– Matthias ist irgendwo an seinen eigenen Ansprüchen zerbrochen,
gescheitert. Dass er dann irgendwann sein Bergseil in seinen Citroen
gepackt hat und losgefahren ist...
–– Macht der ’ne erfolgreiche Sache und hängt sich uff!
GESCHÄFTIGES UMHERGEHEN / EINPACK-GERÄUSCHE:
DRUCKKNÖPFE, REISSVERSCHLÜSSE, SCHNALLEN,
SCHACHTELN, BÜCHSEN
DARAUF:
Erzähler Oktober 1980. Mathias von Spallart ist jetzt 36 Jahre alt.
An diesem Herbsttag packt er seinen Rucksack, den Koffer und eine
Metallkiste – 120 Spulen Tonband sind darin. Auch Batterien. Er prüft
die silbernen Regler und Schalter des Aufnahmegeräts. Und die
Kopfmikrophone.
Reiseziel: Brasilien.
Von Spallart hat Blut geleckt: Eine Landschaft – ein Land ––
dreidimensional –– im Radio! Und keine Zeile Text.
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Die neue Technik macht es möglich.
Eine Demo-Schallplatte:
DEMO
MANN Hallo Ivonne! … FRAU I can see you … MANN Ich bin ungefähr 10
Meter von dem Tonbandgerät entfernt … (KOMMT NÄHER) … Wie geht ’s
Dir? Herzlich willkommen, liebe Freunde der Kopfstereophonie !
DARAUF:
Erzähler Die erste Kunstkopfsendung in deutscher Sprache liegt ein
Jahrzehnt zurück. Sie hieß „demolition“ nach einem
nordamerikanischen Science-Fiction-Roman: „The Demolished Man“,
etwa „Der dekonstruierte Mann“.
Aber auch: „Der zerstörte Mann“. Das Hörspiel war die Sensation der
Berliner Funkausstellung 1973.
Was von Spallart sieben Jahre später in den Schalenkoffer legt, ist
nicht die Urform jenes „Dummy Head“ aus Hartgummi; nicht diese
gruselige Nachbildung eines menschlichen Kopfes mit Kunstohren und
heraushängenden Kabelenden.
Es gibt eine Reiseversion, gerade erst erfunden. Sie heißt MKE 2002.
Die beiden Mikrophone trägt man dort, wo unsere eigenen Mikros
wachsen: Ohrmuschel und Trommelfell.
So wird der Träger selbst ein Kunstkopf-Mensch.
DEMO HOCH
MANN Ich stehe halb links, Sie rechts … Ich bin jetzt nur noch ungefähr 10
Zentimeter von Ihrer Kopfhaut entfernt … Und nun komme ich noch näher …
noch näher … an Ihr linkes Ohr heran. Und anschließend … ebenso nah an
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Ihr rechtes Ohr …
ÜBERGEHEND IN FLUGHAFEN-ATMO
DARAUF:
Erzähler Als er sich in Genf zum Flug nach Rio de Janeiro von seiner
Freundin Christine verabschiedet, ist Spallart bereit.
Etwas wird geschehen. Eine mediale Pioniertat. Paukenschlag.
Er hat die Stelle im Sender gekündigt. Er hat ein Testament gemacht.
Alles auf Anfang!
DIE FLUGZEUGGERÄUSCHE VERKLINGEN
O-Ton Christoph Buggert Ich hab in Erinnerung, dass da jemand bei uns in
der Redaktion auftauchte, dem man anmerkte: Der fordert sich etwas ab.
Gab diesem Projekt in seinem Leben eine ganz große Bedeutung. Und
dieser herausfordernde Aspekt hat uns interessiert.
Erzähler Christoph Buggert, der federführende Programmmacher in
Frankfurt am Main. Funkanstalten in vier Ländern unterstützen
Spallarts Abenteuer.
O-Ton Buggert Man muss träumen dürfen ... Es ging um eine große
existentielle Bewährung. Und das sind Voraussetzungen, wo was ganz
Großes entstehen kann. Wo auch Scheitern möglich ist. Aber wir haben
schon dieses Risiko, das er persönlich einzugehen bereit war, brutal
ausgenutzt.
Erzähler Natürlich gab es auch ein Exposé:
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„Als roter Faden dient das akustische Eindringen in einen fremden Kontinent
von den Rändern her durch verschiedene Zwischenzonen bis ins mythische
Herz dieses Erdteils. Am Ende die Entdeckung von Industrieanlagen inmitten
einer noch urweltlich zugeschnittenen Natur“.
O-Ton Buggert Man merkte ihm von Anfang an an: Junge, das ist ein
gigantisches Projekt. Also hoffentlich überforderst du dich nicht selber! Wir
gehen dieses Risiko ein, schaffen die Voraussetzungen – Reisekosten,
technische Ausrüstung und so weiter. Aber dann hing alles an ihm.
ANFANGSSZENE VON „BRASIL“ > IM FAHRENDEN BUS
DARAUF:
Erzähler Brasilien. Oktober 1980. Von Spallart notiert:
„Die Transamazonica: ein Staubtunnel im Urwald. Der Bus überfüllt.
Dunkelhäutige Männer mit Flinten und Leinensäcken. Tag und Nacht auf
dieser Straße…“
Ich stelle mir vor:
Der Mann mit dem South American Handbook im Koffer – geistreicher
Träumer, Hobby-Koch – der Joyce- und Herman-Melville- und Joseph-
Conrad-Kenner – sensibler Hörspielregisseur. Er sitzt schwitzend,
ungewaschen, eingeklemmt zwischen Männern, die seit Tagen
unterwegs sind. Arme Teufel, Abenteurer aus Not. Er lässt kein Auge
von der Kiste mit den Kunstkopf-Mikrophonen.
Nur ein Wort versteht er: Marabá. Das ist der Sammelpunkt einer
Elends-Prozession zu den Dammbauten im Eisenerzgebiet Grande
Carajás. Oder zur Hölle der Sierra Pellada. Dort, im Malaria-Fieber,
wühlen Hunderttausende nach Gold.
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Die Anderen schließlich werden weiterreisen zum Jarí, einem von
hunderten Nebenflüssen des Amazonas, mächtiger als Rhein und
Donau.
Am Jarí liegt der Privatbesitz des Daniel Keith Ludwig, Multimillionär
aus Nordamerika. Die Parzelle, groß wie Belgien, hat der reiche Mann
gekauft – 16 000 Quadratkilometer … Wald.
SZENE AUS „BRASIL“:
REGENWALD-RODUNG – MOTORSÄGEN, FALLENDE BÄUME,
WALKIE-TALKIES
DARAUF:
Inmitten der Rodung die Hauptstadt: „Monte Dourado“ – „Goldberg“.
Alles Made in USA: Häuser, Maschinen, Supermarkt, Wassertürme,
sogar die Feuerhydranten und Briefkästen. Und die Privatpolizei.
Mittlerer Westen am Amazonas.
Dreißigtausend Einwohner.
In weitem Umkreis ließ der Unternehmer mit dem deutschen Namen
Eukalyptusbäume pflanzen: schnell wachsendes Holz als Rohstoff.
Aus Japan kam eine Papierfabrik samt Kraftwerk. Die schwamm
schlüsselfertig hinter einem Schleppschiff 25 000 Kilometer um den
Globus.
VERKLINGENDE RODUNGSGERÄUSCHE / WEG
Doch ... als Spallart an sein Ziel kommt, steht die Produktion schon
wieder still. Nach drei Eukalyptus-Ernten ist der Urwaldboden
ausgelaugt, verkarstet.
Schädlinge erledigen die letzten Bäume!
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O-Ton Aldo Gardini Er wollte eigentlich den Herrn Ludwig treffen. Und mit
dem Mann wollte er reden.
Erzähler Ihn herausfordern.
O-Ton Gardini Das war eigentlich die Idee: Ein politisch engagiertes Stück
zu machen.
Und am Schluss war ’s ganz was anderes.
Erzähler Vier Sender in Europa warten auf das große Ding. Den
Scoop, „Zivilisationsschock“: Hier die Indios-wie-Gott-sie-schuf – dort
der blasshäutige Bösewicht mit Namen und Adresse.
Einer hat das alles vorgemacht: Henry Ford, 40 Jahre früher. Auch in
Amazonien. Der Autokönig brauchte Latex für die Reifenproduktion,
und der Rohstoff quoll aus zweieinhalb Millionen Morgen
Kautschukwald am Tapajós. Doch „Fordlandia“ war ein
Verlustgeschäft. Nach 25 Jahren zogen die Yankees weiter. Teile der
Ruinenstadt sind heute noch zu sehen.
O-Ton Buggert Das war die Zeit des beginnenden politisch-ökologischen
Kampfes – Club of Rome und alles, was damals die politische Szene
bewegte. Und es war auch eine gewisse biographisch und persönlich
geprägte Empörung eines empörten Europäers mit einer quasi angelesenen
Empörung. Und da hat er uns auf einer Karte gezeigt: Ich gehe gradewegs
auf einer richtig mit dem Lineal gezogenen Linie durch den brasilianischen
Urwald. Und am Ende stoße ich auf den Einbruch des modernen
Industriezeitalters. Und da werde ich mich damit auseinandersetzen.
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Erzähler Doch Mister Goldfinger, den der Reisende aus der kleinen,
fernen Schweiz zur Rede stellen will, ist nicht zu Hause. Er lebt
83jährig abgeschirmt in New York City und betätigt sich als
Kunstmäzen.
O-Ton Gardini Völlig unmöglich, an diesen Menschen heranzukommen.
Völlig unmöglich.
Erzähler Den dummen Fehler in Brasilien hat der Landkäufer längst
abgeschrieben. Eine Milliarde Dollar Verlust. Den Brasilianern wird er
die verrostete Papierfabrik, die Häuser und die Wassertürme und die
nagelneue Eisenbahn am Ende ... "schenken". Auch das ruinierte
Grundstück.
Und von Spallart? War er angemeldet? Hat man ihm ein Interview
verwehrt? Wollte niemand mit ihm reden? Das Stück Radio, das von
dem übrig bleiben wird, gibt keine Auskunft.
ZWEI GITARREN-AKKORDE >< SZENE AUS „BRASIL“ MIT RUDERGERÄUSCHEN UND STIMMEN
DARAUF:
Erzähler Endlich, nach Wochen, der Bescheid aus Brasilia: Die
Indianerbehörde FUNAI genehmigt Tonaufnahmen im Ipitinga-
Reservat.
A Fundação Nacional do Índio dient dem "Schutz unkontaktierter
Völker vor Eindringlingen“.
Als Berichterstatter muss man lange warten.
Reisenotizen:
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„Auf der Suche nach den Bewohnern des Urwalds. Im Boot sind außer
mir der Bootsmann und einige Jäger."
INDIO-SIEDLUNG > ANNÄHERUNG UND ERSTER KONTAKT
"Nach sechs Stunden erreichen wir eine Insel, mitten im Fluss gelegen.
Sie wird von einem Indianer und seinen drei Kindern bewohnt. Auf dem
höchsten Punkt der Insel stehen seine beiden strohgedeckten
Bambushütten. Die Jäger sind unten am Fluss geblieben.
Eigentlich sollte hier ein Dorf stehen, aber die Indianer sind vor einigen
Wochen in ein anderes Reservat umgesiedelt worden. Nur er, Sohn eines
Häuptlings, wollte seine Heimat nicht verlassen.
Er ist scheu und meidet meinen Blick. Fühle mich gehemmt“.
Vier Taschenmesser als Gastgeschenk.
Ich stelle mir vor:
Von Spallart mit den Kunstkopf-Ohren und dem umgeschnallten
Bandgerät – befangen wie der Indio vor ihm, dem man aus der
Hauptstadt wieder einen stummen Gast geschickt hat.
INDIO SPRICHT MIT SEINER TOCHTER
DARAUF:
Erzähler Der Kunstkopf-Mann steuert behutsam die Aufnahme aus.
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Achtet auf jede Bewegung. Die Mikrophone in den Ohren sind
empfindlich gegen „Körperschall“. Selbst eigene Schluckgeräusche muss
er unterdrücken. Hier entstehen die schönsten Aufnahmen der Reise.
DIE STIMMEN FREI STEHEN LASSEN
„In der Hütte sitzt der Indianer und erzählt. Die Kinder schaukeln sacht in
ihren Hängematten. Sie legen ihren Kopf auf den Rand, lassen ein Bein
heraushängen“.
„So sparsam müsste mein Erzähltext sein“, schreibt von Spallart an den
Rand der spärlichen Notizen. „Kein Wort zu viel“. Er streicht die letzte
Zeile durch. „Am besten gar kein Text. Mein Hörstück muss klingen –
nicht schwatzen“.
WIEDERHOLTE TÖNE EINER KNOCHENFLÖTE
KULISSE WEG
O-Ton Salmony Durch all diese wilden und abenteuerlichen Zonen hindurch
ist er da vorgedrungen in diese zarte Kommunikation.
O-Ton Gardini So etwas nimmt man nur einmal im Leben auf. Ich hab' Jahre
später mal eine Sendung gemacht in einem Berggebiet in der Schweiz. Und da
war ich in einem Stall, und da hat der Bauer mit seinem Enkel gesprochen.
Und als ich das geschnitten habe, dachte ich: Der spricht genau wie der
Indianer am Amazonas…
O-Ton Sass Ach!
O-Ton Gardini …ohne jeden Druck, ganz fein. Mit ganz wenig Stimme. Ganz
entspannt.
O-Ton Sass Das ist schön!
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O-Ton Gardini Kritiker später haben immer gesagt: Warum wird dieser
Indianer nicht beim Namen benannt, sondern einfach: „Der Indianer“? Und
niemand ist auf die Idee gekommen, dass die sich gar nicht verständigen
konnten. Matthias wusste gar nicht, wie der heißt. Der wurde da hin gebracht,
abgeladen, die sind weggegangen und haben ihn am anderen Tag wieder
geholt … Hat einfach zugehört.
AUS „BRASIL“ > DER RITT
DARAUF:
O-Ton Gardini Er hat viele gute Aufnahmen mitgebracht … Das Reiten in den
Wald, wo der Sattel knarrt, und in der Ferne hört man Affen schreien. Ich kann
minutenlang zuhören!
O-Ton Buggert Solche Geräuschpanoramen gibt es in der Radiogeschichte
nicht viele. Das war damals wirklich sensationell, weil wir Kunstkopf-
Aufnahmen, dreidimensionale authentische Tonaufnahmen aus dieser Welt
noch nicht kannten.
O-Ton Baumgartner Da hast du wirklich das Gefühl, du bist mitten im Urwald.
Und du hörst ringsrum alles – von vorne, von hinten, von links, von rechts…
O-Ton Buggert Wir gingen ja damals davon aus: Das wird überhaupt die
Zukunft sein!
KULISSE ETWAS STEHEN LASSEN / DANN WEG
Erzähler Anderntags. Nach den stummen Zwiegesprächen mit dem
Indio ohne Namen, steigt der Tönefänger wieder in das Kanu der FUNAI.
Wie verabredet.
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Der Culture Clash – hier die Ureinwohner, dort der Ausbeuter des
Regenwalds – hat vor dem Mikrophon nicht stattgefunden. Plan und Wirklichkeit wollen nicht zusammenpassen. Die Wirklichkeit sagt „Nein“.
GLEICHMÄSSIGE SCHRITTE IM DSCHUNGEL
LANGSAM EINBLENDEN
Von Spallart driftet ab.
Ich denke: Der Rock des Reporters war ihm zu eng. Was hätte ein
Mister Ludwig zu sagen gehabt?
„Sorry – tut mir leid“?
Spallart ist Künstler. Die Dinge sprechen zu ihm. Kettensägen,
gemarterte Bäume.
Und der noch unberührte Wald.
SCHRITTE / NATURSTIMMEN
Erzähler Nun ist er frei, umspült von Sound. Ist nur noch
Ohrenmensch – wehrlos in der großen amazonischen Umarmung.
„Noch nie so etwas erlebt ––– Wie vor dem Sündenfall“, schreibt
Spallart auf.
Lichtjahre entfernt: Europa – und das Funkhaus – und der Studio-
Belegplan Woche 43 – und das Grab der Mutter (neun Jahre ist sie tot
– an Krebs gestorben).
Kaum noch erkennbar: Der Schatten des Vaters.
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Der Tönefänger jetzt allein mit seiner Ausrüstung. Ein kahles Zimmer in
der Urwald-Lodge. Für Hängematte und Moskitonetz und für die
Kleider ein paar Haken.
Einzelheiten hat er später kaum erzählt.
Ich sehe ihn im Halbdunkel des Regenwalds:
Mit seinen Kunstkopf-Ohren sammelt er: Vogelschreie – Zikaden,
Moskitos – Gewitter und leisen Regen – entfernte Stimmen und
Arbeitsgeräusche.
Es ruft von überall: Hör zu! Nimm auf! Da musst du hin!
In den Mangroven bis zum Bauch im Wasser. Jagdfieber.
Hör’ nur – Kunstkopf-Mann!
WEITER AUF DER KULISSE:
O-Ton Gardini Ich hab’ ihm das nicht zugetraut, dieses Stereo-Nagra, was
sehr schwer ist, acht Kilo, plus etwa 20, 30, 40 Spulen Tonbänder immer
mitzutragen, und dann in den Urwald zu gehen, wo man von Moskitos
umschwirrt wird. Er war zerstochen von oben bis unten, durfte sich aber nicht
bewegen, um die Aufnahme nicht kaputt zu machen. Eine unglaubliche
Strapaze!
Erzähler Wenn er Töne aufnimmt, muss er starr sein wie ein Denkmal.
Sobald er den Kopf dreht, kreist der Urwald um ihn. Den Radiohörern
würde schwindelig.
O-Ton Gardini Und er hat sich nicht bewegt und hat sich stechen lassen!
Und dann alle Viertelstunde das Band wechseln! Da waren so Schräubchen
drauf, wo man die Spule befestigt. Und wenn man das vergisst oder es
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runterfällt, im Urwald – dann ist Feierabend – oder? Das findest du nicht
mehr im Laub.
Erzähler Schweißtreibende Luft … Der seifige Glanz, der sich auf der
Haut und auch auf den Geräten zeigt … Sorge, dass die Tonbänder
verderben … Bandsalat … Manchmal kleben sie an seinen Händen.
Einmal täglich Sintflut. Dann wickelt er die teuren Geräte in sein
Regencape.
Die längste Zeit des Tages schweigt der Wald.
Oft pirscht der Tönefänger nachts.
Ich stelle mir vor:
Der Lichtkegel seiner Taschenlampe streift die gelblichen Pupillen der
Kaimane in den Sumpftümpeln ringsum. Nacht so schwarz. Die Sterne
riesig. Glühwürmchen wie Schneegestöber.
Es atmet –– seufzt –– es schnarrt und schnarcht –– es stöhnt.
Fische platschen irgendwo.
Das „Mythische Herz dieses Erdteils“. So steht es im Entwurf.
„Es soll angestrebt werden, diese Welt in einem Hörspiel zu
vergegenwärtigen mit den spezifischen Mitteln des Radios. In
Geräuschen also…“
Und nun … mittendrin!
Es zieht ihn in die Urwald-Lodge zurück, voller Neugier. Draußen in der
Wildnis ist der Kunstkopf-Mann wie taub. Er kann nicht hören, was die
beiden Mikrophone in den Kunstohren, die er über seine eigenen stülpt,
tatsächlich aufnehmen. Die Technik lauscht für ihn. Nur das Zucken eines
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Zeigers zeigt die Stromimpulse an, die als Töne auf den Tonbandspulen
des Recorders landen.
Von Spallert setzt seine Kopfhörer auf und schaltet auf Playback.
EINSCHALTGERÄUSCH / DAS FROSCHKONZERT
Fährt vor …
VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE
Und noch ein Stück …
VORLAUFGERÄUSCH / ANDERE STELLE
Das Klangbild, das er „live“ im Wald erlebt hat, klingt in seiner Aufnahme
noch tiefer, schärfer, plastischer … Surround.
Eine Super-Totale, die ihn einsaugt. Umschlingt.
In der vollständigen Dunkelheit des primitiven Zimmers produziert sein
Hirnspeicher beim Zuhören Gräser, Tiere, Urwaldriesen, Eingeborene
auf alten Stichen … Bücher – Joseph Conrad, Humboldt – was er so „im
Kopf hat“. Erlebtes und Erinnertes.
Der Tönefänger hört nun seinen Urwald. Und das werden später auch die
Radiohörer so erleben. Und jeder anders!
Glücklich schläft er ein.
FROSCHKONZERT UND ANDERE NATURGERÄUSCHE NOCH
EINE WEILE STEHEN LASSEN UND WEG
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Erzähler Natürlich – es kann auch anders gewesen sein.
O-Ton Heilmann Ich krieg das nicht zusammen. Wir haben ihn immer
abgehoben in seiner Gedankenwelt erlebt.
O-Ton Sass Man kommt ja hinter das Geheimnis eines Menschen gar nicht.
Das bleibt immer ein Rätsel.
Erzähler Die aufbewahrten Flug- und Schiffs- und Bustickets zeigen
für die neunte Reisewoche wieder stärkere Bewegung: Der Tönefänger
kreuz und quer im Amazonas-Delta.
ZWEI GITARREN-AKKORDE > STADT-ATMO (BELÉM)
HOCHZIEHEN:
VERKEHR, REKLAME-LAUTSPRECHER, „INDIO“-SPEKTAKEL
DARAUF:
Erzähler In der zehnten Woche kommt er in die große Stadt. Die Stadt
Belèm erbebt von Werbebotschaften. Fazendeiros mit den
breitkrempigen Hüten stellen ihren Reichtum aus.
Auf der Avenida Presidente Vargas tanzt und trommelt
„Urbevölkerung“. Studenten der Ethnologie demonstrieren, Ara-Federn
auf dem Kopf.
SCENE AUS „BRASIL“ (HOTELGARTEN)
Erzähler Außerhalb der Stadt das Luxushotel. Im Garten ein Stück
präparierter Urwald. Tiere in Käfigen: Panther, Tapire, Wollaffen,
Papageien.
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Er: plötzlich Tourist unter Touristen. Noch in Brasilien und schon
wieder in Europa.
FREMDENFÜHRER IM VORÜBERGEHEN ÜBER LATEX-
GEWINNUNG (ITALIENISCH) / STIMMENGEWIRR
Das Indiodorf ist Pflichtprogramm. Wie auf Knopfdruck zapft der
Gummizapfer Gummi. Grässliche Piranhas, luftgetrocknet –
hundertfach als Souvenir. Kriegstanz im 20-Minuten-Takt.
Abends ein kleines Lokal.
SZENE AUS „BRASIL“ / DARAUF
Erzähler Von Spallart notiert:
„Dann beginnt eine schwarze Schönheit zu singen. Der junge Mann
wendet sich ihr zu. Verschlingt sie mit den Blicken“.
Und:
„Hier könnte ich bleiben“.
DAS LIED, LÄNGER FREI STEHEND / ÜBERGEHEND IN
FLUGZEUG-ATMO > LANDEANFLUG, INNEN
DARAUF:
Erzähler Drei Tage später ist er wieder Passagier. Rio-Casablanca-
Genf. Vom tropischen Dampfbad – Leidenschaft und Trägheit – in das
kalte, ungeduldige Europa.
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Kälteschock.
Als das Flugzeug auf der Schweizer Piste aufsetzt, hat von Spallart
noch acht Monate, drei Wochen und zwei Tage lang zu leben.
GERÄUSCH UNTER DEM LETZTEN SATZ WEG
O-Ton Gardini Es ist etwas sehr Entscheidendes passiert mit ihm da
drüben – wo er eine andere Qualität des Lebens erlebt hat, die es hier nicht
gibt.
O-Ton Mareile Grieder Er hatte immer wunderschöne Freundinnen
(LACHT).
Erzähler Die Schwester.
O-Ton Christine Riva Als er zurückkam, war er traurig. Er war depressiv.
Und ich denke, das hat sehr viel damit zu tun, dass er sich dort in Brasilien
verliebt hat.
Erzähler Christine, die Freundin.
O-Ton Riva Mathias war ein Mensch, der hat sich immer wieder mal
verliebt. Und dann ist er nach Hause gekommen und hat geweint, war
traurig. Ich wusste dann einfach:
Das ist jetzt so!
Er hat sich ja dann 'ne kleine Wohnung genommen. Und dann kam er wieder
zurück. Manchmal nachts ist er durch das Haus gegeistert. Und dann ist er
wieder verschwunden. Und dann ist er wieder gekommen und gegangen.
Also – das war …
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Ich denke, er hat mir auch nichts gesagt, um mich nicht zu verletzen. Ich
wusste das nicht, bis dann die Briefe kamen. Ja – dann war das klar für
mich.
Erzähler Sie wohnen im Elsass, gleich hinter der Schweizer Grenze
auf einem alten bescheidenen Bauernhof. Kein Bad, Plumpsklo in der
Scheune. Im Winter ist es kalt.
O-Ton Riva Es war ein einfaches Leben, aber es war interessant.
Erzähler Zehn Jahre lang – bis zu der verfluchten Reise.
O-Ton Riva Es gab einen Moment, da hab ich mir überlegt, ob ich so
weiterleben möchte … Wie soll ich sagen? Ich habe diesen Menschen
geliebt. Er gab mir aber auch neue Blickwinkel für mein Leben. Ich kann zum
Beispiel nicht mehr sagen: „Mein Mann“ – das ist für mich so Besitz
ergreifend. Ich bin im Grunde genommen sehr dankbar.
ZWEI GITARREN-AKKORDE
Erzähler Frühjahr 1981. Jeden Tag fährt Matthias von Spallart in
seinem Citroen zum Sender Basel, wo er noch vor kurzem angestellt
war. Wenn die Alltagspflichten erledigt sind, teilt er mit dem
Tonregisseur Aldo Gardini das leerstehende Studio.
O-Ton Gardini Er kam mit den Bändern zu mir und hat gesagt: Was hältst
du davon. Ich hab’ nie auf die Uhr geguckt. Wenn sechs Uhr war, haben wir
weiter gemacht, bis Zehn oder Elf. Weil ich fand das so spannend. Ich hab
immer gestaunt, dass man in der Zusammenarbeit so tiefe Emotionen
erleben kann. Dass man sich näher kommt als mit jemandem, mit dem man
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zusammenlebt. Ist ganz verrückt!
AUS "BRASIL"-MATERIAL > Von S. GEHT DURCH DEN
REGENWALD
DARAUF:
Erzähler Ein paar Wochen dieser Rausch. Hören, auswählen, blenden
und montieren. In den Kopfhörern der Regenwald, klar und
transparent. Das Studio bläht sich zur Welt.
Im Bauch, im Kopf, im ganzen Mann ist das Stück schon fertig. Nun
muss es noch g e m a c h t werden.
STOP- UND RÜCKSPULGERÄUSCHE
Die Erlebnisse, wie im Traum aufgezeichnet, stehen jetzt in
Maschinenschrift auf Karteikarten:
Band 33: Ipitinga, Urwald, Affe … Band 45: Marajo-Insel, Ritt –
1. Reiten, später Nachmittag, 2. Reiten durch Wasser, 3. Dämmerung,
Zikaden, entfernte Brüllaffen.
Band 37 – Indianer mit Knochenflöte 1-5 / Vögel antworten –
Take 6: Zwiesprache mit Vogel / abgebrochen – Sieben wie Take 1
Band 38: Stürzende Bäume.
RODUNG WIE ZUVOR: BAUM FÄLLT
UND WEG
Register, Tabellen, Berichte. Die Stoppuhr. Das Radio hat feste „Slots“
– Sendezeiten von bestimmter Länge. Man muss kürzen. Kill your
darlings!
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Viele Meter Tonband rieseln auf den Fußboden. Oder in die Tonne.
Wir nannten das „Blutiger Schnitt!
O-Ton Buggert Eine ganze Aura nimmt plötzlich konkrete Formen an. Und
die Aura verstummt langsam. Es muss eine große Enttäuschung für ihn
gewesen sein, als er nun zurückkam, dass er festgestellt hat: Ganz ohne
Worte komme ich nicht aus. Das muss ihn sehr, sehr bewegt haben. Das war
fast eine Niederlage.
Erzähler Die Leere danach. Kein Paukenschlag. Die Medienwelt dreht
sich ungerührt weiter.
O-Ton Riva Er hätte gern mehr Resonanz gehabt. Und die hat er nicht
bekommen.
O-Ton Palm Er war ja auch eitel!
O-Ton Gardini Offensichtlich hat es ihn nicht mehr interessiert, wie es dann
zum Schluss wird. Dass er gesagt hat: Es hat alles keinen Sinn mehr.
Erzähler So düster beginnt das letzte halbe Jahr. Alles wieder auf null.
Er versucht es mit Fernsehregie.
O-Ton Gardini Da waren natürlich zwanzig, dreißig Leute engagiert. Und
um Sechs hatten die alle Feierabend. Das konnte er nicht begreifen, dass
man nicht so begeistert bei der Sache war, dass man jetzt weiter arbeitet.
Und mit dem konnte er nicht umgehen.
Da war er allein dann.
O-Ton Heilmann Er hat dann keine Konzessionen gemacht.
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Erzähler Nach wenigen Tagen ein Krach mit dem Hauptdarsteller.
Und aus.
O-Ton Heilmann Und dass das so total in die Binsen ging - das war für ihn
ziemlich schlimm.
O-Ton Gardini Und dann ging er zum freien Theater. Und da hat er gesagt:
Weißt du, Aldo, das geht ja eigentlich nur noch um ’s Geld, das Ganze. Und
das ist so frustrierend! Das ist furchtbar!
Das Ganze führt nirgends mehr hin.
Erzähler In der düsteren St. Martinskirche mit dem Sensen-Tod an
der Stirnwand spielt von Spallart den Engel in Hugo von
Hofmannsthals „Großem Welttheater“.
Der Freund besucht ihn in der Sakristei, die den Schauspielern als
Garderobe dient.
O-Ton Gardini Und dann hat er sich splitternackt ausgezogen und hat dann
das Engelskostüm angezogen. (BEWEGT) Und dann ist er durch einen
Gang weggegangen. Als Engel. Guckt zurück. Sagt „Ciao Aldo!“
So hab ich ihn das letzte Mal gesehen.
Als Engel im Nachthemd. Mit Flügeln.
O-Ton Christine Riva Am letzten Tag waren wir zusammen. Er hat mir
noch vorgelesen
„Der Tor und der Tod“ …
Erzähler (EHER BEILÄUFIG):
26
„Es scheint mein ganzes so versäumtes Leben / Verlorne Lust und nie geweinte
Tränen / Da tot mein Leben war, sei du mein Leben, Tod!“
Hugo von Hofmannsthal, 1894.
O-Ton Riva Ich bin eingeschlafen, und als ich erwacht bin, war ich alleine.
O-Ton Mareile Grieder Also – da haben sie ihn gefunden. Im Wald auf der
Scharteslohe, nicht allzu weit weg von Dornach auf der Höhe. Und er hat
sich da erhängt. Sein Auto stand da. Und anscheinend hat er noch ’ne
Zigarette geraucht. Und dann ist er halt runtergesprungen am Seil.
Genickbruch.
Das waren Wildhüter, die ihn gefunden haben, also Bauern. Ich hab dann mit
denen noch telefoniert. Dann haben sie gesagt, sie hätten den Baum gefällt,
an dem das passiert ist.
O-Ton Gardini Beim Matthias war ’s ja auch so, dass er sich auf einem
Berg in der Nähe von Basel auf einem hohen Baum aufgehängt hat – an der
Stelle, wo man Blick hat zu diesem Bauernhaus. Fünf, sechs, sieben
Kilometer. Wahnsinnig!
Und da fuhr ich gleich auf diesen Bauernhof. Und beim Hingehen sah ich das
abgedunkelte Zimmer. Eine Lampe. Und da drunter saß weinend Christine.
Und da hat sie Probearbeit gehört von Matthias, wie er mit Wolfgang
Reichmann, dem bekannten Schauspieler, einen Text eingeübt hat.
So intensiv!
O-Ton Riva (AUF BASELDEUTSCH) Ja, der Wolfgang Reichmann. Die
haben sich sehr gut verstanden
O-Ton Gardini (AUF BASELDEUTSCH) Ganz wunderbar, wie die
zusammen den Text erarbeitet haben!
DIE AUFNAHME :
27
SPALLART / REICHMANN Ich frage nun –– rhetorisch: Soll die geistige
Natur in Ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische –– ––
SPALLART Ich würde überlogisch sein! –– –– Ich frage nun, soll die geistige
Natur in Ihren Revolutionen mehr Rücksicht nehmen als die physische?
REICHMANN Was liegt daran, ob Sie nun an einer Seuche oder an der
Revolution sterben? –– ––
SPALLART Er sagt: Schauen Sie, was ist denn schon Sterben, was ist schon
Blut, was sind Leichen? Nichts. Das ist ja der gemeine Trick, was alle
faschistoiden Typen haben, was der Adolf hatte und was der Goebbels hatte.
SPALLART / REICHMANN Soll eine Idee nicht ebenso gut wie ein Gesetz
der Physik vernichten dürfen, was sich ihr widersetzt? Soll überhaupt ein
Ereignis, das die ganze Gestaltung der moralischen Natur, das heißt, der
Menschheit umändert, nicht durch Blut gehen dürfen?
Erzähler Georg Büchner, „Dantons Tod“. Gerade erst aufgenommen.
O-Ton Riva Und –– ja, das war dann das Ende. Die Frau hat dann noch ein
paar Mal geschrieben. Und ich hab ihr dann eine Todesanzeige geschickt.
Erzähler (ZITIERT EHER BEILÄUFIG):
„Wir zeigen an den Tod unseres Matthias von Spallart, der in die ersehnte Ruhe
und Ewigkeit heimkehren durfte. Besichtigung bis Donnerstag, den 22.
September 1981, auf dem Friedhof am Hörnli, Basel“.
O-Ton Salmony Dieses Thema hat ihn schon lange beschäftigt. Er hat Jean
Amery gelesen, „Hand an sich legen“.
Erzähler (ZITIERT)
„Muss man leben, muss man da sein – nur weil man einmal da ist “
28
STIMMEN
Salmony / Riva / Palm / Heilmann / Sass / Gardini / Baumgartner
–– Ob wir nun wirklich dahinter kommen, warum er
sich aufgehängt hat…?
–– Es ist nicht das erste Mal, dass er versucht hat, sich das Leben zu
nehmen. Das hat er schon einmal versucht, als er im Militär war. Es ist
sein gutes Recht, und man hat das so hinzunehmen.
–– In dieser Welt, wie sie geworden ist, hätte er sich
gar nicht halten können.
–– Das hat er irgendwo gespürt, dass der Raum immer enger wird.
–– Der hatte so hohe Ansprüche an sich. War ja
auch Bergsteiger. Weißt du – die Viertausender!
Das ist hoch hinaus! Hoch hinaus! (SIE LACHEN)
Da braucht es nur noch etwas Kleines … und ...
–– Ich denke, er hatte kein einfaches Leben – mit sich selber. Wirklich nicht!
Erzähler Und der Kunstkopf ?
O-Ton Buggert Diese Technik war nicht ausgereift. Es hat sich sehr schnell
herausgestellt, dass wir lebende, durch die Welt gehende Menschen
teilweise mit unseren Augen hören. Unsere anderen Sinne unterstützen das
Hören. Und wahrscheinlich ist es auch, dass wir mit den Ohren ein bisschen
sehen.
Vieles, was wir hören, ist eigentlich gar nicht zu hören, sondern das hören
wir hinein.
29
O-Ton Baumgartner Schade, dass sich die Technik nicht durchgesetzt hat.
In „Brasil“ war sie genau richtig.
Erzähler Der Autor tot, das Radiostück „Brasil“ nicht fertig. Im
Funkhaus des koproduzierenden HR in Frankfurt sind Kollegen mit den
letzten Handgriffen beschäftigt. Sprechertexte werden aufgenommen
und noch einmontiert.
Von Spallarts Asche im Familiengrab auf dem nahen Hauptfriedhof.
O-Ton Riva Er hat zu mir gesagt: Wenn mir mal etwas passiert – ich will nur
an einem Ort liegen, und das ist bei meiner Mutter im Grab.
O-Ton Gardini Und da liegt er in Frankfurt wenige Meter vom Studio weg.
Und ich bin da am Abend nach den Aufnahmen über den Friedhof gegangen
und dachte: Ich muss den Matthias noch sehen – ich will das Grab noch
sehen.
Und es war alles zugeschneit. Und da ging ich an die Pforte und hab nach
der Nummer gefragt – wo er etwa liegt. Und da hat er mir eine Nummer
gegeben und gesagt: "Dritter Cran (franz.) C" und so.
Meine Schritte waren die einzigen in diesem weißen Schnee. Und alle
Gräber zugedeckt. Und ich bin da hin und her gegangen und hab das Grab
nicht gefunden. War völlig verzweifelt. Ich wusste: Das muss ganz in der
Nähe sein. Ich finde es nicht. Und ich arbeite seit drei Tagen an seinem
Projekt. Und er weiß nicht, wie toll das geworden ist, das Ganze.
Erzähler „Brasil“ erringt den Schweizer Radiopreis „Prix Suisse“. Beim
Prix-Italia-Wettbewerb in Venedig trifft das Hörstück knapp daneben.
„Könnte vielleicht etwas fröhlicher sein“, sagt ein Jury-Mitglied in der
Mittagspause.
(GELÄCHTER) Gardini That’s life !
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Absage
Der Kunstkopf-Mann. Letzte Reise des Tönefängers Matthias von
Spallart nach Amazonien.
Manuskript und Regie: Helmut Kopetzky
Mit Original-Aufnahmen für das Hörspiel „Brasil“, eine Sendung des
Hessischen und Schweizer Rundfunks, der holländischen NOS und
des Österreichischen Rundfunks, 1982.
Technische Realisation: Tobias Falke, Angelika Körber und Jens Kunze Tom Vogt war der Erzähler.
Im Originalton Christine Riva, Mareile Grieder, Verena Palm, Aldo
Gardini, Christoph Buggert, Stefan Heilmann, Claude Pierre Salmony,
Ekkehard Sass und Walter Baumgartner.
Redaktion: Ulrike Toma.
Eine Produktion des Norddeutschen Rundfunks mit dem
Deutschlandfunk, 2018.
Info: Ekkehard Sass war Mitarbeiter am Manuskript von „Brasil“.
Aldo Gardini ––> Mitgestalter der Klang-Dramaturgie, Tontechniker und
Featureautor bei Radio Basel.
Stefan Heilmann und Claude Pierre Salmony ––> Funkregisseure, Kollegen von
Matthias von Spallart.
Mareile Grieder ––> Halbschwester von Matthias von Spallart. Ihr Vater, Günther
Rittau, war Kameramann bedeutender Filme: „Metropolis“, „Der blaue Engel“,
„Kinder, Mütter und ein General“.
Verena Palm ––> Tontechnikerin in Basel.
Dr. Christoph Buggert ––> Leiter der Hörspiel-Abteilung des Hessischen Rundfunks
von 1976 bis 2002. Der Dramaturg Nikolaus Klocke hat die Produktion von „Brasil“
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im hr betreut und mit hr-Regisseur Ferdinand Ludwig und Aldo Gardini nach
Spallarts Tod zu Ende gebracht.
Walter Baumgartner ––> Schweizer Schauspieler, Autor und Hörspieldramaturg.
Christine Riva ––> lebte zehn Jahre mit Matthias von Spallart zusammen.
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