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Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur
Das Feature Der Tod eines Optimisten Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski Autoren: György Dalos & Andrea Dunai Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Karin Beindorff Produktion: DLF 2016 Erstsendung: Dienstag, 12.07.2016 , 19.15 Uhr Erzählerin: Frauke Poolman
Sprecher 1 (Majakowski): Mark Zak
Sprecherin 1 (Polinskaja): Ela Paul
Sprecherin 2 (Studentin): Rebecca Madita Hundt
Sprecher 2 (Student, Zitate): Florian Seigerschmidt
Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
© - unkorrigiertes Exemplar -
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Musik
Linker Marsch Interpret: Ernst Busch
„Linker Marsch“ Interpret: Kapelle Vorwärts vom Album „Solidaarisuus“
„attack/transition“ Interpret: Alva Noto & Ryuichi Sakamoto vom Album „UTP_“
Szene
Sprecher:
Möchtest Du wirklich zu deiner Theaterprobe gehen?
Sprecherin:
Ja! Begleitest Du mich?
Sprecher:
Nein, Mädchen, geh doch alleine... Und mach dir keine Sorgen wegen mir.
Ich rufe dich an. Hast du Geld fürs Taxi?
Sprecherin:
Nein.
Sprecher:
Hier, nimm. Ich rufe an.
Heiner Müller MAJAKOWSKI
Majakowski, warum
Der bleierne Schlußpunkt?
Herzweh, Wladimir?
»Hat sich
Eine Dame
Ihm verschlossen
Oder
Einem andern
Aufgetan?«
Nehmt
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Mein Bajonett
Aus den Zähnen
Genossen!
Blut, geronnen
zu Medaillenblech
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt
Im Winde
Klirren die Fahnen
Ansage:
Der Tod eines Optimisten
Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski
Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai
Erzählerin:
Moskau Lubjanski Passage Nr. 3, 1. Stock. Am 14. April 1930 10 Uhr 15 erschoss
sich in seinem Arbeitzimmer der Dichter Wladimir Majakowski.
Der kleine Raum war schlicht eingerichtet: in der linken Ecke ein Bücherschrank,
davor ein viereckiger Tisch mit Tischdecke und Teekocher. An den Seiten zur Wand
zwei Holzstühle. Daneben ein großer Kachelofen, gegenüber die Couch. Auf dem
Parkettboden lag ein abgenutzter Teppich. In der rechten Ecke der Schreibtisch mit
dem Telefon. Daneben zahlreiche Papierfetzen, Notizblöcke, Bleistifte und Federn.
Alles gut geordnet. Der Bürostuhl mit Blick auf den Schreibtisch.
Veronika Polonskaja erwischte der verhängnisvolle Knall noch im Flur, sie wollte
gerade die Ausgangstür öffnen. Der Schrei der jungen Frau war in den benachbarten
Wohnungen und sogar noch auf dem asphaltierten Hof zu hören. Im Nu versammelte
sich eine kleine Menschenmenge. Zitternd ging die Polonskaja in das Arbeitzimmer
zurück, neugierige Nachbarn hinterher. Der Dichter lag mit ausgestreckten Armen
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und Beinen auf dem Boden vor der Couch. Auf seiner Brust, unter dem Herz, war die
blutende Wunde zu sehen. Seine Pistole lag neben ihm.
Musik „UTP_“Ende
Ein Nachbar rief die Rettungskutsche. Der Notarzt traf schon bald ein und stellte den
Tod des 37jährigen fest.
Auf dem Schreibtisch hatte Veronika Polonskaja den Abschiedsbrief entdeckt.
Sprecher: Всем В том, что умираю, не вините никого и, пожалуйста, не сплетничайте. Покойник этого ужасно не любил. Мама, сестры и товарищи, простите - это не способ (другим не советую), но у меня выходов нет.
An Alle. Gebt niemandem die Schuld, dass ich sterbe, und bitte kein Gerede. Der
Verstorbene hat das ganz und gar nicht gemocht.
Mutter, Schwestern und Kollegen, verzeiht mir - das ist keine Methode, (anderen
empfehle ich nicht dies zu tun), ich habe jedoch keinen anderen Ausweg.
Lilja - liebe mich.
Werte Regierung, meine Familie sind: Lilja Brik, Mutter, die Schwestern und Veronika
Polonskaja.
Die angefangenen Gedichte - gebt sie den Briks - sie kennen sich aus.
Wie man so sagt, der Fall ist erledigt, das Boot meiner Liebe am Alltag zerschellt. Bin
quitt mit dem Leben. Es ist nicht nötig, dass man sich Not und Qual entgegenhält.
Den Hinterbliebenen Glück.
Wladimir Majakowski
Historischer O-Ton Majakowski russ/ später deutsch darüber
А вы могли бы?
Я сразу смазал карту будня,
плеснувши краску из стакана;
я показал на блюде студня
косые скулы океана.
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На чешуе жестяной рыбы
прочел я зовы новых губ.
А вы
ноктюрн сыграть
могли бы
на флейте водосточных труб?
Sprecher
Mit Farbe spritzte aus dem Glas ich,
daß gleich des Alltags Plan verwischte;
auf einem Teller Sülze las ich
das schiefe Maul der Meeresgischte.
Ein neuer Mund hat mich beschworen,
am Blechfisch konnte ich es spürn:
Ach,
würden Sie
auf Leitungsrohren
mir bitte flöten ein Nocturne?
(Deutsch Alexander Nitzberg)
Erzählerin:
Wer waren die Familienmitglieder? In der von Majakowski beschriebenen
Reihenfolge:
Lilja Brik – sie war Grande Dame der Moskauer Avantgardeszene. Obwohl mit Ossip
Brik verheiratet, war sie jahrelang Geliebte und Muse Majakowskis. Als die Liaison
mit dem Dichter zu Ende ging, blieben sie in der großen Wohnung zusammen, lebten
dort zu dritt. Lilja Brik unterhielt hier ihren literarischen Salon - von den
Sowjetbehörden geduldet.
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Die Mutter: eine ungelernte Frau, Witwe eines Försters. Sie versuchte ihrem einzigen
Sohn eine gute Ausbildung zu ermöglichen, doch es gelang ihr nicht, das Schulgeld
für die Mittelschule aufzubringen, 1908 wurde er deshalb von der Schule
ausgeschlossen. Bald begann Majakowski - viele Jahre vor der Oktoberrevolution -
an den Aktionen der Bolschewiki teilzunehmen. Mutter und Sohn hatten ein
liebevolles Verhältnis. Später, als Majakowski bereits ein bekannter Dichter war, griff
er der Mutter regelmäßig mit Geld unter die Arme.
Die Schwestern: Olga und Ludmila - freie Künstlerinnen. Die Geschwister hielten im
Guten wie im Schlechten immer zusammen.
Und zuletzt: Veronika Polonskaja, die 21 jährige Schauspielerin im Ensemble des
Moskauer Künstlertheaters. Sie war bildhübsch und intelligent, verkehrte in den
fortschrittlichen literarischen Kreisen der Hauptstadt. Sie erschien in Majakowskis
Leben erst ein Jahr vor seinem Tod. Sie verliebten sich in einander, doch die
Polonskaja war mit einem Schauspielerkollegen verheiratet.
Majakowski war der Dichter der russischen Revolution. Er war Lyriker und
Theaterschriftsteller, Maler, entwarf Agitprop-Plakate, schrieb für die Sowjetmacht
Oden und politische Propagandatexte.
Musik Linker Marsch Abweichung Sprecher: Da jammern der Alten Brigaden
Das gleiche Jammerlied meist.
Kameraden!
Auf die Barrikaden!
Barrikaden von Herz und Geist.
(Deutsch Hugo Huppert)
Musik Ende
Erzählerin:
Majakowski vertrat eine Dichtung voller Lebensbejahung, Optimismus,
Zukunftsorientierung und verzichtete als Poet des Kollektivismus zunehmend auf
Liebeslyrik. Obwohl er bereits vor der Revolution kommunistische Flugblätter verteilte
und deswegen verhaftet wurde, seine eigentliche revolutionäre Überzeugung reifte in
den zwanziger Jahren. Ohne Mitglied der Partei zu sein, propagierte er die
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bolschewistische Diktatur im In- und Ausland, wofür ihm das Regime zunächst
dankbar war.
Musik
Sprecher russ./deutsch
Вот лежу,
уехавший за воды,
ленью
еле двигаю
моей машины части.
Я себя
советским чувствую
заводом,
вырабатывающим счастье.…
Wie ich, jenseits der Wasser, hier müßig lieg -
kann vor Trägheit ich kaum meine Maschinenteile rühren.
Ich betrachte mich, als eine Sowjetfabrik,
erbaut, um Glück zu produzieren.
(Deutsch Hugo Huppert)
Erzählerin:
Majakowskis Lyrik erneuerte die russische poetischen Sprache, ihren Rhythmus und
ihre Reimtechnik. Er erfand seine eigene Versform, die so genannten Treppenzeilen.
Sprecher:
Гражданин фининспектор!
Простите за беспокойство.
Спасибо...
не тревожьтесь...
я постою...
У меня к вам
дело
деликатного свойства:
о месте
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поэта
в рабочем строю.
Genosse Steuerinspektor,
wolln Sie die Störung nicht verdenken!
Danke...
ist nicht nötig...
ich kann stehn...
Ich bat,
meiner delikaten
Frage
Ihr Gehör zu schenken:
Wo ist der Platz
des Dichters
im Arbeiterstaat?
(Deutsch Hugo Huppert)
Musikakzent
Erzählerin:
14. April 1930: Der Leichnam wurde zunächst noch in Majakowskis Zimmer
aufgebahrt. Im Theater trafen die Schauspieler allmählich ein, um in ihre Kostüme zu
schlüpfen. Auf dem Spielplan dort stand – ausgerechnet an seinem Todestag -
Majakowskis satirisches Bühnenstück " Das Schwitzbad", ein ‚Drama mit Zirkus und
Feuerwerk‘, inszeniert vom revolutionären Regisseur Wsewolod Meyerhold. Bald
nach der Uraufführung wurde es verboten. Wieder, an einem anderen Ort der
Metropole, an der Kusnetzkij Brücke, im Gebäude der Staatsanwaltschaft der
Moskauer Region, wurde an diesem Abend eine hellbraune Mappe mit dem Titel
"Selbstmord von W. Majakowski - Vorgang Nr. 50" angelegt. Die Aussage der ersten
Zeugin, Veronika Polonskaja wurde ungefähr um 17 Uhr 30 handschriftlich verfasst
und dann mit Schreibmaschine aufgesetzt. Sie musste über ihre letzten 24 Stunden
vor dem Selbstmord Rechenschaft ablegen.
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Sprecherin:
Am 13. April, wie ich es mit Majakowski ausgemacht hatte, hat er gegen 11 Uhr
angerufen. Kurz darauf zog ich mich an und verließ meine Wohnung. Majakowski
wartete schon auf der Straße. Er ist mit seinem Auto gekommen - der Fahrer blieb im
Wagen. Wir fuhren zum Theater, meine Probe fing um 12 Uhr an. Während der Fahrt
haben wir uns unterhalten. Er fragte mich, welche Entscheidung ich getroffen habe.
Daraufhin antwortete ich, dass ich mit meinem Ehemann gesprochen habe und er
sagte, ich solle aufhören, Majakowski zu treffen.
Sprecher:
Na, und Du?
Sprecherin:
Ich liebe dich nicht, lass mich in Ruhe, fahr einfach irgendwohin, nur für kurze Zeit.
Specher:
Ich werde Dich verlassen, ich will es versuchen.
Sprecherin:
Ich stieg am Theater aus. Während der Proben hat er mehrmals angerufen, ich bin
zweimal zum Telefon gegangen. Ich spürte, dass er in einem erbärmlichen Zustand
war. Ich sagte ihm, er solle keine Dummheiten machen und versprach nach der
Nachmittagsvorstellung zu ihm zu fahren. Nach 16 Uhr bin ich bei ihm angekommen.
Er war gut drauf. Ich bat ihn drei Tage lang mich in Ruhe zu lassen, danach könnten
wir uns wieder sehen. Ich blieb ca 30 Minuten beim ihm. Danach fuhr er mich mit
dem Auto nach Hause. Er fuhr dann zurück. Gegen 19 Uhr rief er an
Sprecher:
Entschuldige, es tut mir leid, ich hatte ja versprochen, nicht anzurufen. Aber mir ist
langweilig, kannst Du nicht herkommen.
Sprecherin:
Das werde ich bestimmt nicht tun.
Sprecher:
Was machst Du heute Abend?
Sprecherin:
Ich gehe zu den Katajews, sie haben mich eingeladen.
Sprecher:
Bis dann.
Er legt den Hörer auf.
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Sprecherin:
Um 22 Uhr bin ich mit meinem Mann zu den Katajews gefahren. Majakowski war
schon da, saß im hinteren Zimmer und war angetrunken. In diesem Haus haben wir
uns ein Jahr zuvor kennengelernt. Es kam zu einem Wortwechsel, ich bat ihn zu
gehen. Aber er blieb und begleitete sogar mich und meinen Mann um drei Uhr früh
nach Hause. Beim Abschied sagte er, er habe was mit uns beiden zu besprechen
und deshalb würde er später, am Morgen zu uns kommen. Um 9 Uhr 15 rief er an, er
sagte, er komme, aber ich solle hinunter gehen, um ihn zu empfangen. Er war mit
dem Auto gekommen. Er entschuldigte sich für die Unannehmlichkeiten vom Vortag.
Er wäre krank und nervös gewesen. Er bat mich zu ihm zu fahren. Ich willigte ein.
Das war gegen 10 Uhr. Wir sind in das Zimmer gegangen, ich setzte mich auf die
Couch, er auf den Boden.
Er bat mich, mindestens zwei Wochen zu bleiben. Ich sagte, es gehe nicht, ich liebe
ihn nicht. Woraufhin er sagte: also gut. Wir sind aufgestanden. Er sagte, er rufe mich
später an. Er wollte mich nicht ins Theater begleiten.
Erzählerin::
Veronika Polonskaja hatte den Dichter als Letzte lebend gesehen.
Acht Jahre nach Majakowskis Tod füllte sie ein ganzes Heft über ihre Beziehung zu
Majakowski, ohne an eine Publikation zu denken und deponierte das Manuskript im
Majakowski-Museum. Hier erzählte sie die Geschichte mit verblüffender Offenheit.
Sie schrieb über den Jahresanfang 1930:
Sprecherin:
Ich war zu der Zeit schwanger von ihm, ließ abtreiben. Das hat mich psychisch sehr
belastet. Ich war vom Doppelleben und den Lügen erschöpft. Nach der Operation,
die nicht ganz erfolgreich verlief, litt ich unter einer furchtbaren Apathie und
irgendeinem Widerwillen gegen körperliche Beziehungen. Majakowski konnte sich
damit überhaupt nicht versöhnen. Ihn quälte meine physische Gleichgültigkeit.
Deswegen hatten wir viele schwere, qualvolle und dumme Streitigkeiten. Damals war
ich zu jung, um das alles zu begreifen und Majakowski davon zu überzeugen, dass
dies nur eine vorübergehende Depression sei, und wenn er mich für eine Weile in
Ruhe ließe, dann würde sich alles allmählich legen und wir könnten zu unserem
früheren Verhältnis zurückkehren.
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Erzählerin:
Im Frühjahr 1929 hatten sich der Dichter und die Schauspielerin kennenlernt, in den
ersten Monaten trafen sie sich fast jeden Tag.
Sprecher:
Любить -
это с простынь,
бессонницей
рваных,
срываться,
ревнуя к Копернику,
его,
а не мужа Марьи Иванны,
считая
своим
соперником.
Lieben
heißt:
dass man nicht schlafen kann,
gepeinigt nachts
von Eifersuchtsqualen:
ein Kopernikus
(nicht Lieschen Müllers Mann)
erwächst uns
zum wahren
Rivalen.
(Deutsch Hugo Huppert)
Erzählerin:
Majakowski war als Frauenheld bekannt und hatte gerade eine andere Liebeskrise
hinter sich. Auf seiner letzten großen Tournee in Paris im Frühjahr 1928 traf er die
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aus Russland stammende Tatjana Jakowlewa, eine Schönheit, fünfzehn Jahre jünger
als er. Sein elegantes Erscheinungsbild, modische Kleidungsstücke und Schuhe,
galante Manieren, imposante Gestalt und nicht zuletzt seine Popularität nahmen
Frauen für ihn ein. Auch bei der Pariser Affäre meinten die Freunde, unter ihnen die
Briks, dass es sich um einen leichten Flirt handelte. Doch der Dichter hielt nach
wenigen um Tatjanas Hand an. Er wollte die junge Frau nach Moskau bringen, nur
wollte Tatjana, auf das Pariser Leben nicht verzichten. Und für Majakowski, den
Dichter der russischen Revolution, kam eine Übersiedlung nach Paris nicht in Frage.
Das Gespräch über eine gemeinsame Zukunft wurde vertagt. Zurück in Moskau las
er im Kreis der engsten Freunde sein Gedicht an Tatjana vor.
Sprecher:
Ты одна мне ростом вровень.
Стань же рядом сбровью брови,
дай про этот важный вечер
рассказать по человечьи.
Du, im Wuchs allein mir gleichend,
Brauennah den Blick mir reichend,
sollst von diesem ersten Abend
Menschliches zu sagen haben.
(Deutsch Hugo Huppert)
Erzählerin:
Der stürmische Beifall der Freunde wurde nur von Lilja Brik nicht geteilt. Bis dahin
hatte der Lyriker alle seine Liebesgedichte ausschließlich ihr gewidmet.
Majakowskis Verhältnis zu Westeuropa und den USA war mindestens gespalten.
Einerseits verfasste er nach jeder Reise Gedichte, in denen er Niederträchtigkeit und
Scheinheiligkeit der bourgeoisen Welt entlarvte. Andererseits genoss er diese
Auslandsaufenthalte als eine Atempause, die ihn wenigstens zeitweise von dem
anstrengenden sowjetischen Alltag befreiten. Und je schwieriger es wurde, eine
Ausreisegenehmigung zu bekommen, desto mehr wuchs seine Sehnsucht nach dem
Grenzübertritt. Dieses Gefühl verewigte er in einem Gedicht über den sowjetischen
Reisepass – getarnt als Dankbarkeitsgeste. Er erzählt darin, mit welchem Hass
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Grenzbeamte der kapitalistischen Staaten seinem „Passeport“ begegnen, während er
doch auf dieses Dokument stolz sei.
Musik
Sprecher (russisch)
Я волком бы
выграз
бюрократизм.
К мандатам
почтения нету.
Mit Wolfszähnen wollte ich den Amtsschimmel fassen,
ich spotte jedes gestempelten Scheins.
Jeden Aktenwisch würd ich dem Teufel überlassen,
jedes Amtsformular. Bis auf eins...
Das will ich aus breitem Hosenbausch ziehn -
meines Daseins unschätzbaren Lohn.
Da, lest, beneidet mich, seht, wer ich bin:
Bürger der Sowjetunion.
(Deutsch Hugo Huppert)
Musik Ende
Erzählerin:
Lilja Brik wusste wohl auch von anderen Gründen für die Ambivalenz ihres Freundes:
Drei Jahre vor der Pariser Liebe lernte Majakowski während einer Lesereise in den
USA 1925 Elli Jones, eine junge Amerikanerin, ebenfalls mit russischen Wurzeln
kennen. Die Geliebte wurde schwanger und brachte ein Mädchen zur Welt. Der
Dichter erkannte die Vaterschaft an und traf seine Tochter Anfang 1928 ein einziges
Mal in Nizza. Lilja Brik begann zu fürchten, dass Majakowski von der nächsten
Westreise vielleicht nicht zurückkehren würde: Der Dichter als Emigrant und damit
Unperson – undenkbar.
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Im Frühjahr 1929 kam Majakowski und erst recht Lilja Brik, die Beziehung mit der
Polonskaja also gerade recht.
Sprecher: russ/deutsch
Ich will: die Heimat soll mich verstehn.
Doch wenn sie nicht will, ja nun –
dann heißt’s: an der Heimat vorübergehn,
wie die schrägen Regen es tun…
Erzählerin:
Der Jahresbeginn 1930 war ein Tiefpunkt in Majakowskis Leben. Er machte sich
Sorgen um seinen Ruhm als Poet. Die offizielle Kulturbürokratie widmete ihm zu
wenig Aufmerksamkeit, fand er, und das literarische Milieu ignorierte ihn immer
häufiger. Gerade hatte er die Poeme "Mit aller Stimmkraft" beendet. Darin zog
Majakowski eine Art Bilanz seines Oeuvres:
Sprecher:
"Dichten ist wie Uran gewinnen: Arbeit ein Jahr, Ausbeute ein Gramm."
Erzählerin:
Seine Hoffnungen wurden enttäuscht, das Werk blieb ohne größere Resonanz. Zwar
wurde der Dichter immer noch zu gut besuchten Lesungen eingeladen, aber sein
Missmut war nicht zu überhören.
Die Partei unterstützte nun die Avantgardegruppe Linksfront nicht mehr, zu der
Majakowskij gehörte, sondern förderte den sogenannten "Proletkult", "proletarische
Schriftsteller", für die Majakowskijs Lyrik zu modern und individualistisch war. Zwar
wurde der ‚Dichter der Revolution‘ noch toleriert, aber man brauchte sein
leidenschaftliches und schwer lenkbares Engagement nicht mehr - Speichellecker
kamen in Mode.
Saalatmo
Sprecher:
Genossen! Man verbreitet über mich, dass ich zum Zeitungsdichter wurde, über die
Dinge von höherer Bedeutung wenig schreibe. Jetzt beweise ich Ihnen das
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Gegenteil. Ich bin ein entschlossener Mensch, ich will selbst mit den Nachkommen
sprechen, und nicht abwarten, was ihnen meine zukünftigen Kritiker erzählen
werden. Deshalb wende ich mich direkt an die Nachkommen mit meinem Poem, "Mit
aller Stimmkraft", das ich als das Beste unter meinen Werken betrachte. (Von hier
pathetisch, deklamierend.)
Auch mir wächst die Agitpropkunst zum Halse heraus,
auch ich schriebe Goldschnitt und Federstrauss -
das wär was fürs Checkbuch und Seele.
Doch ich bezwang mich, trat bebenden Hauchs
dem eigenen Lied auf die Kehle.
(Pause) Nein, ich werde nicht mehr Gedichte vorlesen. Ich kann es nicht machen.
Erzählerin:
Die Lesung im Moskauer Polytechnischen Museum unterbrach er abrupt, stand auf
und verschwand hinter den Kulissen.
Kurz darauf übermannte ihn plötzlich ein Schwächeanfall. Der Winter war kalt und es
regnete viel. Majakowski fiel aus einer schweren Erkältung in die nächste. Als seine
Stimme immer heiserer wurde, dachte er an eine Grippe, befürchtete Schlimmes:
den völligen Verlust der Stimme und damit das Ende der öffentlichen Auftritte. Seine
engsten Freunde, die Briks befanden sich gerade auf einer Westreise und er
verbrachte viele Abende einsam in seinem Arbeitzimmer. Wenn er nicht schrieb, ihn
nicht düstere Gedanken quälten, dann ging er auf und ab in seiner Stube oder stand
unbeweglich vor dem Kaminofen. Er lebte von seinen Rendezvous mit der
Polonskaja.
Sein literarisches Fiasko schien ihm unaufhaltsam. Im Januar 1930 hatte er erfahren,
dass der Klub der Schriftsteller die Ausstellung "20 Jahre Kunsttätigkeit Wladimir
Majakowskis" in sein Programm aufgenommen hatte, und zwar mit Absicht ganz
kurzfristig. Bald stellte sich heraus, dass sich niemand um die Exponate kümmerte.
Der Dichter selbst war gezwungen, die Vorbereitung in die Hand zu nehmen. Für
eine kurze Zeit flackerte sein Enthusiasmus wieder auf: er klebte Poster, bügelte
Revolutionsplakate, deren Texte er seinerzeit verfasst hatte, ordnete Fotos, lief zu
Photographen, um Kopien oder Vergrößerungen machen zu lassen. Die Ausstellung
nahm allmählich Gestalt an, aber zur Vernissage im März kamen nur begeisterte
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junge Leute. Die Kollegen und die offiziellen Kulturfunktionäre mieden das Ereignis.
Majakowski hielt die Eröffnungsansprache:
Sprecher:
Genossen! Ich freue mich darüber, dass hier nicht die Übereifrigen und
Speichellecker, diese Ästheten anwesend sind, denen es egal ist, wo sie hingehen
und wen sie begrüßen, Hauptsache, dass es ein Jubiläum gibt. Auch Schriftsteller
sind nicht da. Das ist auch gut. Wir kommen ohne sie klar. Ich freue mich, dass
Moskaus Jugend gekommen ist. Ich grüße Euch.
Erzählerin:
Am 9. April 1930 wurde er dann zu einer Veranstaltung im Institut für Volkswirtschaft
eingeladen. Diesmal war der Saal nur halb voll. Dann las er und wurde beinahe bei
jeder Zeile unterbrochen. Als ob ihn die Studenten provozieren wollten.
Sprecher:
Genosse Majakowski! Sie benutzen vulgäre Ausdrücke.
Sprecherin:
Ich verstehe Ihr Gedicht "Wolke in Hosen" nicht.
Sprecher:
Die Werktätigen verstehen die Gedichte deshalb nicht, weil Sie die Gewohnheit
haben, die Zeilen abzuschlagen.
Sprecherin:
Majakowski muss beweisen, dass man ihn in zwanzig Jahren auch lesen wird. Wenn
er das nicht machen kann, soll er lieber mit dem Schreiben aufhören.
Erzählerin:
Am Theater erging es ihm nicht viel besser. Am 16. März 1930 fand die Uraufführung
seines Bühnenstückes "Das Schwitzbad" statt. In dem satirischen Drama in sechs
Akten mit Zirkus und Feuerwerk geht es um den bürokratischen Alltag des jungen
Sowjetstaates, dem der Dichter eine lichte Zukunft irgendwann in der 2. Hälfte des
Jahrhunderts gegenüberstellt. Die Inszenierung wurde in Meyerholds Moskauer
Avantgardetheater aufgeführt. In den Zeitungen hagelte es Verrisse.
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Sprecher:
Man muss offen sagen, es wurde ein schlechtes Stück geschrieben. Der Zuschauer
bleibt emotional unberührt und folgt mit kalter Gleichgültigkeit der Handlung, die
teilweise unklar ist. Regisseur Meyerhold gelang es nur den feuilletonistischen Text
zu retten, welcher sich schwer liest und auf der Bühne farblos anhört. Alles in diesem
Bühnenwerk wirkt kalt und angestrengt. Die Vorstellung ist ein Fiasko. Das
Schwitzbad braucht einen Vorleser und kein Theater.
Erzählerin:
Majakowski erlebte nicht nur einen Tiefpunkt in seiner künstlerischen Arbeit, auch
seine finanzielle Lage war nun bedroht. Mit seinen Gedichtbänden und vor allem den
öffentlichen Auftritten verdiente er mehr als der Durchschnitt der Sowjetbürger, doch
er konnte sein Geld nicht zusammenhalten, lebte verschwenderisch. Wenn er in den
teuersten Restaurants aß, lud er gerne seine Freunde ein. Er trank mit Vorliebe Wein
und Sekt, spielte Billard und Karten. Während seiner letzten Auslandsreise 1929
kaufte er einen Renault. Und weil er selber nicht fahren konnte, beschäftigte er einen
Chauffeur. Er mietete ein Arbeitszimmer in der Lubjanska Passage und wohnte
unweit in einer großen, bürgerlichen Wohnung zusammen mit Lilja Brik und ihrem
Ehemann Ossip.
Lilja Brik war die erste Leserin und Kritikerin von Majakowskis Gedichten. In das
Leben zu dritt investierte Majakowski viel Kraft. Eine Haushaltshilfe wurde von der
Gewerkschaft zur Verfügung gestellt. Majakowski musste dafür einen Antrag stellen
und führende Genossen von der Notwendigkeit dieses häuslichen Beistands
überzeugen. Die Dreiecksidylle musste von den Tantiemen des Dichters gesichert
werden und die Ansprüche waren keine geringen. Als Majakowski 1928 nach Berlin
und Paris reiste, wurde ihm von Lilja Brik eine Einkaufsliste mitgegeben.
Sprecherin:
In Berlin: Gestrickte Kostüme, Größe 44, dunkelblau, dazu Wollschal für die
Schultern, Bluse, die ich mit Krawatte trage, dünne Strümpfe, nicht sehr hell,
Strumpfhalter, siehe das mitgegebene Muster, Luster, einen roten und einen blauen.
In Paris: Zwei lustige Wollkleider aus weichem Textil, das eine soll exzentrisch sein
aus Krepp-Georgette, wenn möglich, blumig und bunt. Wenn es geht, mit langen
Ärmeln, kann aber auch ohne sein - zum Neujahrsfest. Strümpfe, Halsketten, wenn
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noch in Mode sind, blaue Handschuhe. Sehr modische Nichtigkeiten. Taschentücher.
Handtasche - kann man auch im KDW preisgünstig kaufen. Eine schöne Uhr, die
man für eine Woche aufziehen kann.
Parfum Rue de la Paix, mon Boudoir, zwei Dosenpuder, Augenstift Brun.
Zum Auto: Spielzeug für die hintere Fensterscheibe, Autohandschuhe, alle mögliche
Kleider zum Autofahren.
Musik Ende
Erzählerin:
In der Sowjetunion der 20er Jahre konnten Künstler, die die Mittel dazu hatten, noch
relativ leicht ins kapitalistische Ausland reisen, dort auch ihre Werke publizieren.
Doch der Pass musste im zuständigen Polizeirevier beantragt werden, der
Geheimdienst sprach ein Wörtchen mit. Majakowski veröffentlichte seine Lyrik in
vielen Ländern und das Regime förderte seine Reisen, weil seine Auftritte
propagandistische Pluspunkte einbrachten. Seine Honorare erhielt er bar ausbezahlt
und musste darüber auch keine Rechenschaft ablegen. Die inländischen Einkünfte
wurden hingegen rigide versteuert. Sie lagen bei Majakowski 1929 höher als
gewöhnlich. In dem Jahr erschienen von ihm drei Bücher, seine Gedichte wurden in
Zeitungen und Zeitschriften gedruckt. Ignorieren konnte man ihn aufgrund seiner
enormen Popularität nicht, und die Bücher hatten damals in der Sowjetunion sehr
hohe Auflagen - bis in die Hunderttausend.
Anfang 1930 forderte das Finanzamt die ausstehende Einkommensteuer in Höhe
von 20.000 Rubel und Majakowski verfügte über so gut wie gar keine Reserven. In
seiner Schreibtischschublade lagen gerade 2.000 Rubel.
Musik „attack/transition“, Alva Noto & Ryuichi Sakamoto, Album „UTP_“
Erzählerin:
Die Ermittlungen setzten sich fort. In der hellbraunen Mappe "Vorgang Nr. 50" hat der
Staatsanwalt die Zeugenaussagen und Expertenberichte abgeheftet, es waren
immer mehr geworden. In den Unterlagen befand sich auch die auf Majakowskis
Namen ausgestellte Erlaubnis eine Waffe zu besitzen. Der Browning-Revolver, die
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Lederhülle und die abgefeuerte Kugel gehörten ebenfalls zu den Beweismitteln.
Soweit handelten die offiziellen Behörden korrekt. Gleichzeitig wurde eine andere,
geheime Untersuchung in die Wege geleitet: Die GPU, Vorläuferin des KGB,
studierte den für die Staatsmacht äußerst prekären Fall – den Suizid des Optimisten
Nr. 1. - sondierte die Stimmung und schickte ihre Geheimagenten unters Volk.
Sprecher:
Sein Tod löste eine Welle von Rätselraten aus, die ich zusammenzufassen versuche:
a.) Eine ziemlich große Gruppe von Menschen ist davon überzeugt, dass hinter
diesem Tod ein politischer Grund steckt, also nicht die "Liebesgeschichte", sondern
die Enttäuschung über das sowjetische Regime.
b.) Es wird behauptet, dass im Abschiedsbrief in der Zeile der "Familienangehörigen"
der Name V. Polonskaja ursprünglich nicht stand, sondern dass dieser vom Ermittler
hineingeschrieben wurde, um "den politischen Grund der Sache" zu vertuschen und
die Liebesaffäre in den Vordergrund zu stellen. Dies wird sogar von vielen ernsthaft
wiederholt.
c.) Man klatscht viel darüber, dass es schwer ist, in der Sowjetunion zu leben und die
Menschen deshalb in den Freitod flüchten.
d.) Die allgemeine Stimme: der Verstorbene war ein Schuft - er habe zwei
verheiratete Frauen geschändet.
e.) Man behauptet, dass Majakowski an Syphilis erkrankt war. Diese Information
sollten angeblich die Ärzte bestätigen, welche die Obduktion durchführten.
f.) Ich habe gehört, dass eine Gruppe von Dichtern sich entschlossen hat,
gemeinsam Selbstmord zu begehen, um dem Ausland zu beweisen, dass die
Schriftsteller in der Sowjetunion schlecht leben und die Zensur sie erdrosselt.
g.) Als Anekdote wird herumerzählt, dass der Verstorbene vor dem Tod die
Literaturzeitung las, welche die Selbstauflösung einiger Künstlergruppen publizierte.
Daraufhin jagte er sich die Kugel ins Herz.
Musik Ende
Erzählerin:
Die Behörden waren in der Tat besorgt. Majakowski genoss eine außerordentliche
Popularität im Lande. Eine Selbstmordstatistik gab es nicht und über dem Thema lag
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ein Tabu. Jeder Tod einer bekannten Person, die freiwillig aus dem Leben schied,
erregte höchste Aufmerksamkeit. Verzweiflung, Depression, Enttäuschung passte
nicht in das dynamisch-propagandistische Konzept der Sowjetmacht. Nicht jeder Fall
ließ sich verheimlichen und dann beschränkten sich die offiziellen Tonangeber auf
die bloße sachliche Information. Die Nachrufe behaupteten, der Auslöser von
Majakowskis Selbstmord sei von rein persönlicher Naturgewesen, habe mit seiner
politischen und literarischen Tätigkeit nichts zu tun. Nur glaubte das kaum jemand.
Zu frisch war noch die Erinnerung an eines der erschütternsten Abschiedsgedichte
der russischen Poesie, aus der Feder von Majakowskij Kollegen, Sergej Jessenin.
Jessenin erhängte sich 1925 in einem Leningrader Hotel und hinterließ dort seine
Abschiedszeilen.
Sprecher russ/deutsch
До свиданья, друг мой, без руки, без слова,
Не грусти и не печаль бровей,—
В этой жизни умирать не ново,
Но и жить, конечно, не новей.
Hand und Wort? Nein, laß – wozu noch reden?
Gräm dich nicht und werd mir nicht so fahl.
Sterben –, nun, ich weiß, das hat es schon gegeben;
doch: auch Leben gabs ja schon einmal.
Erzählerin:
Der "offizielle Optimist" Majakowski reagierte prompt, er verurteilte Jessenins Suizid
und paraphrasierte sein Abschiedsgedicht.
Sprecher:
Unser Erdplanet erweist den Lustbarkeiten wenig Gunst.
Jede Freude muß dem Kommenden entrissen werden.
Sterben ist hienieden keine Kunst.
Schwerer ists: das Leben baun auf Erden.
В этой жизни помереть не трудно.
Сделать жизнь значительно трудней.
21
Erzählerin:
Vier Jahre später brachte sich auch Majakowskij um. Man fürchtete, dass sein Tod
eine Selbstmordwelle nach sich ziehen könnte.
Ein Polizeispitzel hat ausgekundschaftet, dass auch der Zustand von Michail
Bulgakow, Autor des damals verbotenen Romans "Der Meister und Margarita"
besorgniserregend sei.
Sprecher:
Es wird in allem Ernste erzählt, dass jetzt Bulgakows Selbstmord an der Reihe sei.
Man sah ihn mit düsterem Gesicht auf der Strasse. Er würde nicht aus dem Land
gelassen, man demütige ihn. Seine letzten Werke wurden nicht genehmigt,
gleichzeitig fürchteten die Theaterleute seinen Schatten, wichen ihm aus, damit sie
nicht verdächtig wurden.
Erzählerin:
Absurderweise kam dieses Gerücht Bulgakow gerade gelegen. Die Sektion
Dramaturgie des Theaterverbands entschied sich, offensichtlich auf die Intervention
höherer Parteiinstanzen, Bulgakow eine Sofortbeihilfe in Höhe von 500 Rubel zu
gewähren.
Die Panik war dermaßen groß, dass über den potenziellen Selbstmordkandidaten
sogar Stalin in Kenntnis gesetzt wurde. Der Diktator nahm die Agenteninformationen
ernst, sodass er Bulgakow persönlich anrief und sich nach seiner Gesundheit
erkundigte.
Musik Linker Marsch-Abweichung
Erzählerin:
Die offizielle Trauerzeremonie für Wladimir Majakowski fand im Hof des Hauses der
Schriftsteller statt. Zehn Oratoren hielten auf der Terrasse Reden. Führende Literaten
trugen dann den mit rotem und schwarzem Tuch verhüllten Sarg auf der Worowskij
Straße auf einen Lastwagen. Tausende folgten der Zeremonie, selbst die
Hausdächer waren schwarz vor Menschen. Und es wimmelte von Spitzeln.
Musik Ende
22
Sprecher:
Die Beerdigung bot ein ziemlich skandalöses Bild. Beim Krematorium musste die
Polizei in die Luft schießen, da die Menschenmenge das Tor zertrümmerte. Eine
Viertelstunde lang konnte man den Verstorbenen nicht hineinbringen. Dann fuhr der
Lastwagen mit dem Sarg auf das Gelände. Die Anhänger des Dichters randalierten.
An seinem Grab defilierten Massen vorbei, viele Menschen, die nie eine Zeile von
Majakowski gelesen hatten: Alte Frauen noch älterer Zeiten, pensionierte
Armeeangehörige, Melkerinnen, Weiber mit Säuglingen auf dem Arm und sogar
Pfarrer.
Erzählerin:
Obwohl die Partei mit ihrem Dichter nicht sehr pietätvoll umging, wusste man sehr
wohl, wer da bestattet wurde. Der leitende Nervenarzt und Psychologe des Moskauer
Instituts zur Gehirnforschung hatte auf Majakowskis Gehirn Anspruch angemeldet -
eine Ehre, die bisher nur Lenin vor dessen Einbalsamierung zuteil geworden war.
Man fand heraus, dass das Gehirn des Lyrikers 360 Gramm schwerer wog, als das
des Revolutionsführers. Im selben Institut wurde eine mehrseitige Expertise
angefertigt mit denkwürdigen Unterkapiteln wie "Mangelndes Gleichgewicht bei
Äußerungen des emotional-affektiven Bereichs und Fehlen der bewusst
willensmäßigen Kontrolle", "Überreiztheit des emotional-affektiven Bereichs" sowie
"Instabilität der Stimmung".
Sprecher:
Man kann sagen, dass Majakowski besser sah. Er nahm mehr wahr, begriff tiefer, als
die durchschnittlichen, gewöhnlichen Menschen. Schließlich muss man noch eine
spezifische Seite seiner psychischen Aktivität betonen, welche von herausragender
Bedeutung für die Eigenart seines Schaffensprozesses war. Es ist ein
ungewöhnliches rhythmisches Talent bei einem völligen Fehlen jedweder Musikalität
vorhanden.
Erzählerin:
Die zwei wichtigsten Frauen seines Lebens bewahrten die Erinnerung. Lilja Brik.
23
Sprecherin:
In all den Jahren nach Majakowskis Tod, als wir noch in der Gendrikowa Straße
wohnten, hörte ich immer wieder, wie er nach Hause kommt, mit seinen Schlüsseln
die Tür öffnet, seinen Mantel im Vorzimmer auf den Haken hängt, wie er in das
Zimmer kommt, sein Sakko auszieht, den Hund streichelt. In den Morgenstunden
sitzt er neben mir am Tisch, schlürft Tee und liest Zeitungen. Und ich sehe ihn immer
wieder auf den Straßen in Moskau und Leningrad; und Menschen, die ihm nahe
stehen, nenne ich häufig Wladimir.
Seit seinem Tod sind viele Jahre vergangen. Lilja - liebe mich - stand im
Abschiedsbrief. Ich liebe ihn.
Erzählerin:
Und Veronika Polonskaja:
Sprecherin:
Natürlich darf man nicht vergessen, dass ich in diesem Drama keine Zeugin, sondern
Handlungsperson war. Und wenn ich ihm Schmerz und Beleidigungen verursachte,
dann musste ich von ihm noch mehr Schmerz und Beleidigungen erdulden. Das
Leben kannte ich noch nicht. In dieser Zeit gab es keine nahen Menschen um mich.
Ich habe alle gemieden. Erstens weil mein Leben mit Majakowski gefüllt war.
Zweitens, weil ich wegen der verlogenen Situation mit niemandem über unsere
Beziehung sprechen konnte. Selbstverständlich weiß ich heute genau, dass ich
neben der riesigen Gestalt von Majakowski völlig unbedeutend war. Ich liebte
Majakowski, er liebte mich und darauf möchte ich niemals verzichten.
Erzählerin:
Nach Majakowskis Tod veränderte sich die literarische Situation der UdSSR
gravierend. Die autonomen Gruppen, unter ihnen die Linksfront wurden aufgelöst,
ein einheitlicher Schriftstellerverband gegründet, die zentrale Kontrolle der Literatur
verschärft. Die Doktrin des "sozialistischen Realismus" wurde ins Statut des
Verbandes aufgenommen. Man forderte "Optimismus" in den Werken, eine Qualität,
die Majakowski ganz uneigennützig vertreten hatte.
Lilja Brik verwaltete den Nachlass des Dichters und entschloss sich zu einem
riskanten Schritt: im November 1935 schrieb sie einen persönlichen Brief:
24
Sprecherin:
Lieber Genosse Stalin! Es sind bald sechs Jahre seit Majakowskis Tod vergangen
und erst die Hälfte seiner gesammelten Werke sind erschienen und selbst die nur in
zehntausend Exemplaren. Seit einem Jahr laufen die Verhandlungen über den Band
der Ausgewählten Werke, zu dem ich das Material längst eingereicht habe. Seine
Kinderbücher werden überhaupt nicht mehr veröffentlicht, seine Bücher sind in den
Buchläden nicht zu finden, man kann sie nicht erwerben. Einige seiner Gedichte sind
in den Schulbüchern für moderne Literatur nicht mehr enthalten. Bis jetzt gibt kein
Museum für Majakowski, die Dokumente seines Schaffens sind zerstreut, ein Teil
befindet sich im Literaturmuseum, das absolut kein Interesse an ihm zeigt. Ein
Umbau seiner Wohnung zur Bezirksbibliothek scheiterte an einem Moskauer
Stadtrat, der das Geld dafür ablehnte, obwohl es sich um einen kleinen Betrag
handelte. Ich allein kann diese von den Bürokraten verursachte Situation nicht
ändern, deswegen wende ich mich nach sechs Jahren Arbeit an Sie, denn ich sehe
keinen anderen Weg, um den enormen revolutionären Nachlass von Majakowski
sichtbar zu machen.
Erzählerin:
An den Rand dieses Briefes schrieb darauf der Kremlherr:
Sprecher:
"Wladimir Majakowski war, ist und wird der beste und talentierteste größte Dichter
der sowjetischen Epoche bleiben".
Erzählerin:
Das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Sowjetunion forderte nun die
staatliche Verlagsbehörde auf, Majakowskis Werke neu zu verlegen, sein Porträt zu
vervielfältigen und landesweit in Schulen, Klubs und Bibliotheken zu verteilen.
Plätze- und Straßennamen wurden nach Majakowski benannt, die Kanonisierung
war die Folge. Seine Werke erschienen in Millionenauflagen, in den Schulen galten
sie als Pflichtlektüre. Veronika Polonskaja wurde in den Kreml zitiert, man legte ihr
nahe, sie solle es doch einsehen, dass sie kein Familienmitglied sei und deshalb
auch keinen Anspruch auf Tantiemen erheben dürfe.
25
Die Akte "Nr. 50" wurde 1958 geschlossen und ist erst seit 2005 im Archiv des
Präsidenten der Russischen Föderation zugänglich.
Musik Linker Marsch
Absage:
Der Tod eines Optimisten
Zur Erinnerung an den sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski
Ein Feature von György Dalos und Andrea Dunai
Sie hörten eine Produktion des Deutschlandfunks 2016.
Es sprachen: Frauke Poolman, Mark Zak, Ela Paul, Rebecca Madita Hundt
und Florian Seigerschmidt
Ton und Technik: Wolfgang Rixius und Angelika Brochhaus
Regie: Wolfgang Rindfleisch
Redaktion: Karin Beindorff
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