Bestandsaufnahmen undPerspektiven einesArbeitsfeldes
POETOGENESIS
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Literaturwissenschaftler wie Geisteswissenschaftler überhaupt grenzen sich häufig von den sogenannten empirischen Wissenschaften ab. Dem liegt aber ein verengtes Verständnis von Empirie zu Grunde, hinter das der Sammelband zurückzusetzen versucht. Ausgangspunkt der Beiträ-ge ist eine Auffassung von Literaturwissenschaft als Realwissenschaft: Literarische Texte wie auch ihr historisches Bedingungsgefüge, die so-genannten ›Kontexte‹, gelten als empirisch beobachtbare Sachverhalte. Und auch wenn die eigentümliche ästhetische Erfahrung im Mittel-punkt steht, geht es nicht um Metaphysik, sondern um soziale und psychologische Realitäten, die anhand von Quellen rekonstruierbar und deren Gesetzmäßigkeiten interdisziplinär erforschbar sind. ›Empi-risch‹ bezeichnet dabei nicht einen bestimmten Satz an Methoden, sondern viel grundsätzlicher den Versuch, Aussagen beobachtungs-sprachlich zu formulieren und auf diese Weise kritisierbar zu machen – eine Herangehensweise, die Literaturwissenschaftler mit Vertretern anderer Disziplinen teilen und für die es in der Geschichte des Fachs viele Beispiele gibt. Diese Traditionen methodologisch zu reflektieren und fortzusetzen ist das Ziel der hier versammelten Beiträge.
POETOGENESISPOETOGENESIS
Pantone 282 CVC Pantone 136 CVC
EMPIRIE IN DER LITERATURWISSENSCHAFT
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Philip Ajouri Katja Mellmann Christoph Rauen (Hrsg.)
ISBN 978-3-89785-458-1
POETOGENESISStudien und Texte zur empirischen Anthropologie der Literatur
herausgegeben vonKarl Eibl · Manfred Engel · Rüdiger Zymner
Band 8
Philip Ajouri, Katja Mellmann,Christoph Rauen (Hrsg.)
Empirie in derLiteraturwissenschaft
mentisMÜNSTER
Gedruckt mit Unterstützung der VolkswagenStiftung
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Printed in GermanyEinbandgestaltung: Anna Braungart, Tübingen
Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, KemptenISBN 978-3-89785-458-1
Inhalt
Empirisierung?
Philip Ajouri, Katja Mellmann, Christoph Rauen: Einleitung ............................................... 9
Karl Eibl: Ist Literaturwissenschaft als Erfahrungswissenschaft möglich? Mit einigen Anmerkungen zur Wissenschaftsphilosophie des Wiener Kreises ........ 19
Norbert Groeben: Was kann/soll ›Empirisierung (in) der Literaturwissenschaft‹ heißen? .......................................................................................................................... 47
Cornelis Menke: Über die Schwierigkeit, an der Erfahrung zu scheitern .................... 75
Textempirie
Per Röcken, Annika Rockenberger: Interessengeleitete Datenverarbeitung. Zur Empirie der neugermanistischen Editionsphilologie ..................................... 93
Jörg Schönert: Strukturale Textanalyse als empirie-nahes Verfahren? ........................ 131
Michael Titzmann: ›Empirie‹ in der Literaturwissenschaft. Text-›Interpretation‹ und ›Epochen‹-Konzept als Beispiele .................................................................... 149
Ralph Müller: Parallelstellenmethode – digital. Philologische Erfahrung, Empirisierung, Texte und Korpora ....................................................................... 181
Peer Trilcke: Social Network Analysis (SNA) als Methode einer textempirischen Literaturwissenschaft .................................................................. 201
Empirie der ›Kontexte‹
Christoph Rauen: Empirie und Gesetz. Wozu braucht kontextorientierte Literaturwissenschaft Daten? .................................................................................. 251
Katja Mellmann, Marcus Willand: Historische Rezeptionsanalyse. Zur Empirisierung von Textbedeutungen .................................................................... 263
Inhaltsverzeichnis 6
Philip Ajouri: Probleme der Empirisierung einer Gattung. Zum Erwartungshorizont und der sozialen Funktion des politischen Romans im 18. Jahrhundert ......................................................... 283
Gerhard Kaiser: Vom »höheren Dritten« und den »Unterhosen der Arbeiterklasse«. Zur Rolle des Empirischen in der feldsoziologischen Literaturforschung Pierre Bourdieus ..................................................................... 307
Cornel Zwierlein: Klimageschichte und Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Zum Problem des interdisziplinären Dialogs ....................................... 331
Interdisziplinäre Vergleichsempirie
Margrit Schreier: Zur Rolle der qualitativ-sozialwissenschaftlichen Methoden in der Empirischen Literaturwissenschaft und Rezeptionsforschung .............. 355
Jost Schneider: Die Bestätigungsfunktion literarischer Kommunikation als Methodenproblem der empirischen literaturwissenschaftlichen Rezeptionsforschung ................................................................................................ 379
Sophia Wege: Aufgehender Mond und der Kubikinhalt des Herzens. Zum Verhältnis von Empirie und Literatur in der Kognitiven Literaturwissenschaft ................................................................................................ 395
Katja Mellmann: Kontrollpeilung und Datensammlung. Zur wechselseitigen Empirisierung von Evolutionspsychologie und Literaturwissenschaft ............ 419
Annekathrin Schacht, Katrin Pollmann, Mareike Bayer: Leseerleben im Labor? Zu Potential und Limitationen psycho(physio)logischer Methoden in der empirischen Literaturwissenschaft .............................................................. 431
Autoren ............................................................................................................................. 445
Philip Ajouri, Katja Mellmann & Christoph Rauen
Einleitung
Literaturwissenschaftler wie Geisteswissenschaftler überhaupt formulieren
ihr disziplinäres Selbstverständnis häufig in Abgrenzung von den sogenann-
ten ›empirischen Wissenschaften‹. »Geisteswissenschaften sind keine empiri-
schen Wissenschaften«, schreiben z. B. die Verfasser der 2005 herausgege-
benen Broschüre Manifest Geisteswissenschaft; der »Forschungsbegriff« sei in
den Geisteswissenschaften ein grundsätzlich anderer als in den Natur- und
Sozialwissenschaften.1 Auch in der Einleitung zu einem Sammelband von
1982, also inmitten der damaligen Verwissenschaftlichungsdebatte, wird der
große »Unterschied zu den empirisch-analytischen Methoden benachbarter
Disziplinen, zumal der Sozialwissenschaften«2 betont. Die ästhetische Er-
fahrung »als Movens wissenschaftlicher Fragestellungen« müsse »sich im
Theorieverständnis der Disziplin niederschlagen. Theoriekonstitutiv« seien
in der Literaturwissenschaft »daher nicht primär die Kriterien der Wider-
spruchsfreiheit, der Subjekt-Objekt-Trennung und der terminologischen
Reinheit.«3
Auf der anderen Seite stehen seit nunmehr rund drei Jahrzehnten Ansätze
einer explizit »Empirischen Literaturwissenschaft«,4 die sich zuweilen als
__________ 1 Carl Friedrich Gethmann et al.: Manifest Geisteswissenschaft, hg. von der Berlin-Bran-
denburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2005, http://edoc.bbaw.de/volltex
te/2007/418/pdf/21Ifq1F5Q8k8U.pdf, 9. 2 Dietrich Harth: Einleitung. Strukturprobleme der Literaturwissenschaft, in: ders. & Peter
Gebhardt (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden, Stuttgart 1982,
1-7, hier 5. 3 Ebd., 6. 4 Dazu zählen u. a. die von Norbert Groeben (Rezeptionsforschung als empirische Litera-
turwissenschaft, Kronberg 1977) initiierte Literaturpsychologie, die vielleicht gerade durch
die vielfältige Kritik, die sie hervorgerufen hat, impulsgebende »Empirische Theorie der
Literatur« (ETL) nach Siegfried J. Schmidt (Grundriß der Empirischen Literaturwissen-
schaft, Braunschweig 1980) und ein internationales Ensemble von Forschungsunterneh-
mungen, das sich etwa in den Zeitschriften Poetics (1971ff.) und SPIEL (Siegener Periodicum
zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft, 1982ff.) und in der Internationalen Ge-
sellschaft für Empirische Literaturwissenschaft (IGEL, gegr. 1987) zusammenfindet.
Einleitung
10
neues Paradigma5 der Literaturwissenschaft präsentiert haben. Beide Ex-
trempositionen erfassen das spezifisch literaturwissenschaftliche Erkennt-
nisproblem jedoch nur unzureichend. Die strikte Abgrenzung gegenüber
den ›empirischen Wissenschaften‹ beruht auf einem reduktionistischen Ver-
ständnis von Empirizität. Wer bei ›empirisch‹ nur an experimentelle Verfah-
ren und Statistik denkt, übersieht die vielfältigen Formen von Erfahrung,6
mit denen auch eine hermeneutisch7 verfahrende Textwissenschaft umzuge-
hen hat. Und auch die Befürworter empirischer Verfahren in der Literatur-
wissenschaft scheinen mitunter denselben engen Begriff von Empirizität im
Sinn zu haben, wenn sie z. B. die historisch-gegenständliche Welt aus ihrer
Konzeption des Empirisierbaren ausschließen8 und weite Bereiche des in
sich vielfältigen Faches als letztlich ›unwissenschaftlich‹ verwerfen. Wahr ist
indes, dass die »Einsichten der […] Analytischen Erkenntnis- und Wissen-
schaftstheorie – vom ›Wiener Kreis‹ aus durch emigrierte Protagonisten wie
Rudolf Carnap, Carl G. Hempel oder Karl Popper besonders in die angel-
sächsische Welt verbreitet – […] in erheblichen Teilen literarhistorischer
Alltagsforschung [noch immer] kaum Berücksichtigung erfahren« haben.9
Hier gilt es anzusetzen. Der Blick auf die allgemeine Wissenschaftstheorie
und -geschichte erleichtert den Aufbau einer facheigenen Methodologie, die
von Vorurteilen und falschen Generalisierungen, wie sie z. B. die Entgegen-
setzung von Geistes- und Natur- oder ›empirischen‹ und ›nichtempirischen‹
Wissenschaften kennzeichnen, frei ist und ein Konzept von Empirie bereit-
stellt, das den Besonderheiten des jeweiligen Faches Rechnung trägt und
__________ 5 Abwägendes dazu bei Norbert Groeben: Der Paradigma-Anspruch der Empirischen
Literaturwissenschaft, in: Achim Barsch, Gebhard Rusch & Reinhold Viehoff (Hg.): Em-
pirische Literaturwissenschaft in der Diskussion, Frankfurt/M. 1994, 21-38. 6 Vgl. z. B. die Auffächerung in »philologische«, »historische« und »experimentelle Erfah-
rung« bei Harald Fricke: Zur Rolle von Theorie und Erfahrung in der Literaturwissen-
schaft, in: Colloquium Helveticum 4 (1986), 5-21, und ders.: Erkenntnis- und wissen-
schaftstheoretische Grundlagen, in: Thomas Anz (Hg.): Handbuch Literaturwissenschaft.
Gegenstände, Konzepte, Institutionen, Bd. 2: Methoden und Theorien, Stuttgart & Wei-
mar 2007, 41-54, hier 51f. 7 Vgl. etwa das Manifest der Gruppe Erklärende Hermeneutik, deren »Anliegen eine erfah-
rungswissenschaftliche Orientierung innerhalb der Hermeneutik ist« (http://www.mythos
-magazin.de/erklaerendehermeneutik/manifest-deutsch.pdf, 1). 8 Vgl. die Kritik bei Claus Michael Ort: ›Empirical‹ Literary History? Theoretical Comments
on the Concept of Historical Change in Empirical Literary Science, in: Poetics 18 (1989),
73-84, hier 78f. 9 Fricke 2007: Grundlagen (wie Anm. 6), 41.
Einleitung
11
dadurch ein disziplinäres Selbstverständnis befördert, das sich positiver auf
die Praxis auswirkt als das derzeitige.
Will man in diesem Sinne einer ›Empirisierung‹ der Literaturwissenschaft
das Wort reden, so ist es nicht nötig, erst eine fundamentale Krise unseres
Faches zu konstatieren, die nur durch ein neues Paradigma abgelöst werden
könnte. Vielmehr lässt sich an lange vorhandene und bewährte Forschungs-
praktiken anknüpfen. Schon 1877 dekretierte Wilhelm Scherer: »Die ele-
mentaren philologischen Thätigkeiten sind Herausgeben und Erklären«,10 und
legte damit den Grundstein für eine ›positive‹ Wissenschaft von der Litera-
tur. Als jüngste Errungenschaften auf dem Gebiet des Herausgebens nannte er
Michael Bernays’ Rekonstruktion »des echten Werthertextes« und Karl Goe-
dekes historisch-kritische Schiller-Edition. Die Anwendung der textkriti-
schen Prinzipien aus der Klassischen Philologie auf neusprachliche Texte
war in der Tat ein Novum und markiert einen entscheidenden Schritt bei
der Etablierung der Literaturwissenschaft als eigenständiger akademischer
Disziplin. Scherers Rede vom Erklären der Literatur bezog sich zunächst auf
das Erstellen von Werkkommentaren (Explikation), wofür er zahlreiche
Beispiele anführen konnte. Denn die Kontextdaten des ›Ererbten‹, ›Erlern-
ten‹ und ›Erlebten‹ müssen ebenso gesammelt und gesichert (empirisch
erhoben) werden wie die primären Textdaten. Um einzelne solcher Daten
zur Erklärung im Sinne einer Ableitung von Gesetzen (Explanation) einzu-
setzen, bedürfe es »aber noch eine[r] andere[n] Seite als wissenschaftliche[r]
Edition und Erklärung«: nämlich einer zweckmäßigen Theorie.11
In Anlehnung an diesen Grundriss philologischer Forschungstätigkeit bei
Scherer untergliedern wir unseren Band nach drei literaturwissenschaftlich
relevanten Erfahrungsbereichen: In Abschnitt I stehen Beiträge, die sich mit
der Sicherung und intersubjektiven Beschreibung der literarischen Primärtex-
te befassen; die Beiträge zu Abschnitt II fragen nach den Möglichkeiten
einer Empirisierung des realgeschichtlichen Bedingungsgefüges literarischer
Kommunikation (der ›Kontexte‹ von Literatur); und Abschnitt III gilt dem
allgemeinen Weltwissen, das in literaturwissenschaftlichen Argumentationen
implizit oder explizit zum Tragen kommt, d. h. den mannigfaltigen wissen-
schaftlichen Theorien darüber, was auf der Welt ›der Fall ist‹ und was nicht.
__________ 10 Wilhelm Scherer: Goethe-Philologie [1877], in: ders.: Aufsätze zu Goethe, Berlin 21900, 3-
27, hier 10 (unsere Hervorhebung). 11 Insbesondere einer »Philosophie der Geschichte«, wie Scherer sie in Wundts »Völkerpsy-
chologie« oder der »Sociologie« entstehen sah, und einer psychologischen »Theorie der
Genialität« (Scherer 1877: Goethe-Philologie [wie Anm. 10], 11f.).
Einleitung
12
Als ›empirisch‹ fassen wir also nicht einen bestimmten Satz an Methoden auf,
sondern viel grundsätzlicher das beobachtungssprachliche (empirisch ›ge-
haltvolle‹, referentialisierbare12) Formulieren von Aussagen, das diese Aussa-
gen somit der Gefahr des Scheiterns aussetzt; sei es an der Empirie des
Textes, eines ›Kontextes‹ oder an anderweitiger Erfahrung.
I. Textempirie
Der Text bildet die Basis aller wissenschaftlichen Rede über Literatur. Sei es
als Einzelwerk in einer begründet gewählten Fassung, sei es in Gestalt grö-
ßerer Werkgruppen (›die Lyrik des Barock‹, ›das bürgerliche Trauerspiel‹,
›der Symbolismus‹) oder in Form umfangreicher oder gar auf Vollständigkeit
hin angelegter Corpora – präzise anzugeben, worüber wir sprechen, wenn
wir über Literatur sprechen, ist Voraussetzung und Ausgangspunkt aller
Literaturwissenschaft. Zu Recht hat man deshalb den editorisch gesicherten
Wortlaut als die genuin literaturwissenschaftliche Empirie angesehen und
von »philologische[r] Erfahrung«13 gesprochen.
Philologische Empirie beginnt bei der Frage, welche unterschiedlichen
Textfassungen es überhaupt gab und wie sie vorlagen. Sie bezieht ggf. auch
zahlreiche Detailfragen der Textgenese, der Attribution und Bewertung
einzelner Lesarten und des Zusammenhangs der verschiedenen Textzeugen
untereinander mit ein. Zur philologischen Datenerhebung gehört jedoch
nicht nur die textkritische Tätigkeit in der Tradition Lachmanns, sie umfasst
auch noch die analytische Deskription des Textes, kurz: die professionelle
Lektüre. Um zu wissen, was in einem Text der Fall ist (und was nicht), be-
darf es eines Vorrats an Beschreibungskategorien (z. B. aus Metrik, Rheto-
rik, Narratologie …), die eine intersubjektiv vermittelbare Beobachtung
dessen, was vorliegt, ermöglichen. Auf diesem Gebiet ist seit Scherers Zei-
ten ein beachtlicher Präzisionsgewinn zu verzeichnen. Textlinguistik und
strukturale Analyse14 haben in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts Me-
thoden der klassifizierenden Beschreibung von Texteigenschaften bereitge-
stellt, die auf dem Weg zur methodisch kontrollierten Textbeobachtung
gewichtige Fortschritte bedeuten. Neben dem individuellen close reading, in
__________ 12 Vgl. Eibl (in diesem Band), 25-29. 13 Fricke 2007: Grundlagen (wie Anm. 6), 51. 14 Vgl. auch deren Erwähnung bei Ort 1989: Empirical (wie Anm. 8), 80, wenn es um die
Erweiterung des verengten Empiriebegriffs um »text data« geht.
Einleitung
13
dem solche Kategorien Anwendung finden, sind standardisierte Verfahren
wie z. B. die Inhaltsanalyse oder jüngst hinzutretende Möglichkeiten der
rechnergestützten Analyse15 zu nennen. Solche Verfahren des ›distant read-
ing‹16 ermöglichen insbesondere quantifizierende Aussagen über größere
Textmengen und stellen so eine wichtige Ergänzung der traditionellen philo-
logischen Erhebungsverfahren dar.
II. Empirie der ›Kontexte‹
Ein zweiter Bereich literaturwissenschaftlicher Empirie liegt in der Rekon-
struktion des historisch vergangenen Wirklichkeitsausschnitts, der für die
Genese, Semantik oder Wirkung von Texten relevant ist. Die hermeneuti-
sche Aufmerksamkeit auf die Differenz von Textdatum und Deutungsakt
hat insbesondere den verständnisleitenden ›Erwartungshorizont‹ stärker ins
Bewusstsein gehoben – und damit alle textexternen Instanzen und Faktoren
literarischer Kommunikation wie Produzent und Rezipient, kulturelle
›Codes‹ und was sie bedingt, kurz: den historischen ›Kontext‹ von Literatur.
Aktuelle literaturwissenschaftliche Strömungen reduzieren die relevanten
Kontexte häufig auf text- bzw. zeichenförmige, blenden die materiellen,
institutionellen und kognitiven Umwelten der Literatur also aus und begnü-
gen sich damit, Text-zu-Text-Beziehungen festzustellen.17 Im Unterschied
dazu zielt der hier verwendete Kontextbegriff auf die Gesamtheit der histo-
rischen Textumgebung, die in einem real gegebenen »Erfahrungszusam-
menhang«18 mit dem Primärtext steht. Dazu gehören insbesondere Ge-
__________ 15 Vgl. die Übersicht bei Fotis Jannidis: Methoden der computergestützten Textanalyse, in:
Vera Nünning & Ansgar Nünning (Hg.): Methoden der literatur- und kulturwissenschaft-
lichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen, Stuttgart 2010, 109-132. 16 Vgl. Franco Moretti: Conjectures on World Literature, in: New Left Review 1 (2000), 54-
66, und ders.: Kurven, Karten, Stammbäume. Abstrakte Modelle für die Literaturge-
schichte [La letteratura vista da lontano, 2005], Frankfurt/M. 2009. 17 Der Unterschied zwischen inter- und extratextuellen Kontexten wird in solchen Ansätzen
eingeebnet; vgl. die Unterscheidung bei Lutz Danneberg: Kontext, in: Klaus Weimar, Ha-
rald Fricke & Jan-Dirk Müller (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin & New York
1997-2003, Bd. 2, 333-337, hier 334. 18 Vgl. Moritz Baßler: Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissen-
schaftliche Text-Kontext-Theorie, Tübingen & Basel 2005, 54-57, der das Verhältnis von
Text und Kontext in Anlehnung an den linguistischen Kontextbegriff als ein Verhältnis
der Kontiguität definiert und diese Bereichsverwandtschaft zwischen Text und Kontext
Einleitung
14
wohnheiten und Erwartungen zeitgenössischer Autoren und Leser, die
ihrerseits von literatursystemischen Bedingungen, sozialen Positionen, reli-
giösen, weltanschaulichen oder philosophischen Diskursen und gesellschaft-
lichen Problemlagen beeinflusst19 sind. Zwar rekonstruieren und belegen wir
solche Wirklichkeitselemente in der Regel anhand von Texten, das heißt
aber nicht, dass diese uns auch »nur in ihrer textuellen Fassung interessie-
ren«.20 Sie interessieren uns vielmehr als Dokumente21 einer historischen
Realität.
Damit ist das umfangreiche Methodenspektrum des geschichtswissen-
schaftlichen Quellenstudiums aufgerufen, zu dem nota bene auch die Quel-
lenkritik gehört. Das immer wieder erneute Aufsuchen und kritische Ver-
gleichen der Quellen, wie sie in Werkkommentaren, literaturgeschichtlichen
Darstellungen und Autorbiographien gesammelt sind, sowie die Erschlie-
ßung neuer Quellen stellen zentrale Aufgaben einer empirischen Literatur-
wissenschaft dar. Freilich kann die Rekonstruktion vergangener Wirklich-
keit immer nur selektiv und – selbst unter den jeweils ausgewählten Einzel-
aspekten – immer nur approximativ erfolgen. Die daraus sich ergebende
grundsätzlich erkenntniskritische Haltung, in der sich der moderne Geistes-
wissenschaftler so geübt zeigt, sollte jedoch nicht zu einem Redeverbot über
alles Außertextliche führen. Denn auch unsere literaturgeschichtlichen Aus-
sagen beziehen sich in der Regel ja nicht auf die zu Hilfszwecken herange-
zogenen Quellentexte, sondern auf die dahinter stehende Wirklichkeit.
__________
näherhin als Erfahrungszusammenhang charakterisiert. Er bleibt dann aber in der linguis-
tischen Analogie stecken, wenn er diesen Erfahrungszusammenhang »letztlich als usuelle
Kookkurrenz« (57) intra- und extratextueller Zeichen reformuliert. Ähnlich Wolfgang
Hallet: Intertextualität als methodisches Konzept einer kulturwissenschaftlichen Litera-
turwissenschaft, in: Marion Gymnich, Birgit Neumann & Ansgar Nünning (Hg.): Kultu-
relles Wissen und Intertextualität. Theoriekonzeptionen und Fallstudien zur Kontextuali-
sierung von Literatur, Trier 2006, 53-70. 19 Vgl. Danneberg 2000: Kontext (wie Anm. 17), 334, und ders.: Einfluß, in: Weimar/Fri-
cke/Müller 1997-2003: Reallexikon (wie Anm. 17), Bd. 1, 424-427. 20 »Ohne eine Welt außerhalb des Textes zu behaupten oder zu bezweifeln – was ontologi-
sche Aussagen implizieren würde –, bleibt es uns aufgegeben, die operativen Begriffe als
textuelle zu bestimmen, um analytisch sinnvoll mit ihnen arbeiten zu können. Ob Erfah-
rungskontexte nun wesentlich sprachlich bestimmte Gebilde sind oder nicht – uns kön-
nen sie nur in ihrer textuellen Fassung interessieren,« meint Baßler 2005: Archiv (wie
Anm. 18), 57. 21 Vgl. Titzmann (in diesem Band), 153, 158, zur »indirekten« Empirie der »Anzeichen«.
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