Die Sozialdemokratie im PostblairismusZu aktuellen strategischen und organisatorischen Reformprozessen sozialdemokratischer Parteien
Armin Puller, Momentum 2012
I. Postblairismus ?
• SD 2009ff.: Abkehr von Elementen des blairistischen Diskurses und verhaltene Selbstkritik + neue Machtverhältnisse (v.a. Einbindung gewerkschaftlicher und ‚traditioneller‘ Parteiflügel)
• Anknüpfung an verlorene soziale Gruppen (Ed Miliband: „reconnect to the working class“)
Zugleich:• Bis dato bleiben ernsthafte Auseinandersetzungen über die
blairistische Phase und die Regierungstätigkeiten dieser Zeit aus
• Postblairistische Reformversuche auf der politischen, ideologischen und organisatorischen Ebene verbleiben großteils blairistischen Praktiken und Diskursen verpflichtet
I. Postblairistische Reformversuche: Auf dem Weg zu einem neuen politischen Projekt?
• Blairismuskritik: Betonung der ‚alten Werte‘ (neuer Gleichheits- und Gerechtigkeitsdiskurs); „Neofeudalismus“ (Gabriel), „become the voice of those who feel squeezed by the economy“ (Miliband)
• Neuer Signifikant Fortschritt: Solidarität der ‚gesellschaft-lichen Mehrheit‘ und Zuversicht in schweren Zeiten
• Gleichheitskonzeption: Beibehaltung der Chancengleichheits-argumentation („vorsorgender Sozialstaat“), Abspaltung von Forderungen nach Umverteilung
• Postblairistische Strategie: Verknüpfung blairistischer Diskurse mit sozialen (Produktivitätsorientierung) und autoritär-populistischen Forderungen
I. Postblairistische Reformversuche: Auf dem Weg zu neuen Organisationsweisen?
• Blairismus: instrumentelle Beziehungen (marktförmige Kom-munikation) zwischen Parteiführungen und Basisstrukturen
• Allgemeine Stoßrichtung von Organisationsreformen: Stärkung der individuellen Mitgliedschaft
Nebeneffekte vieler Organisationsreformen:i. Autonomisierung der Exekutive: Parteiführungen werden als
innerparteiliche Machtzentren gestärkt und bekommen größere Durchgriffsmöglichkeiten
ii. Machtverschiebungen: Effektive Schwächung von bestehenden Parteistrukturen abseits der Parteiführung
iii. „Amerikanisierung“: Weiterer Bedeutungsverlust von Parteigremien und Parteitagen
II. Hartnäckigkeit des Blairismus
• Welche Ursachen sind für das Fortleben des Blairismus verantwortlich?
Versuch einer Definition des Blairismus:• Politische Praxis: Affirmation neoliberaler Hegemonie
(Marktorientierung), Mittelschichtsorientierung, ‚Social Europe‘, Entpolitisierung, Medienkommunikationspartei
• Ideologische Praxis: (inhärent widersprüchliche) Kombination linker und rechter Diskurse („fairness and enterprise“, „social justice and economic dynamism“)
• Entwicklung des Blairismus (Selbstbild): Neues kohärentes politisches Projekt angesichts neuer gesellschaftlicher Kontexte (Postfordismus, Globalisierungsprozesse etc.)
II. Politikwissenschaftliche Erklärungsmodelle für die Entwicklung der ‚neuen Sozialdemokratie‘
• Fokus auf kontextuellen Ursachen: Verschiebungen des Verhältnisses von Politik und Ökonomie, von politischen Diskursen sowie sozialstruktureller Verhältnisse
Drei Ansätze:• Verschiebung politischer, ökonomischer und sozial-
struktureller Kontexte führt zur Einengung des Politischen und zur Übernahme neoliberaler Politikkonzepte
• Verschiebung diskursiver Verhältnisse führt zu Anpassung an neoliberale Diskurse und Praktiken
• Sozialstrukturelle Verschiebungen wirken sich in der Partei aus (kleinbürgerliche Sozialisation der neuen Funktionär-Innen) und erzeugen intern neue dominante Koalitionen
II. Motive der blairistischen Strategie
• Welche Motive, intentionalen Handlungen, Überlegungen führten zur Übernahme der blairistischen Strategie?
• Parteiinterne Durchsetzungsweise: Neue Kontexte können in traditionellen Parteiverhältnissen nicht mehr bearbeitet werden (‚soziale Basis‘-Anliegen vs. Kapitalinteressen) Krisenereignisse, Druck auf Strategiewechsel Entwicklung neuer Parteiverhältnisse in Richtung der Anpassung an neoliberale Parameter
• ‚Blairistische Sozialdemokratie‘ = Parteiverhältnisse, die um die Limitierung der Ansprüche der sozialen Basis der traditionellen SD zentriert sind
III. (Allgemeine) Ansatzpunkte für ein neues politisches Projekt der Sozialdemokratie
(1) Es gibt eine Alternative zu den politischen und ökonomischen Parametern des Neoliberalismus bzw. zur Anpassung an kurzfristige Kapitalinteressen
(2) Es benötigt eine Polarisierung zwischen linken und rechten Politiken: Ein neues politisches Projekt muss Ungleichheitsverhältnisse benennen und Umverteilungspolitiken entgegenstellen
(3) Sozialstrukturanalyse: Realen Bezug zu gesellschaftlicher Arbeitsteilung herstellen, jenseits von Mittelschichtsmythos und Leistungsträgerideologie
(4) Organisationsreformen müssen in erster Linie das instrumentelle Verhältnis zwischen Zentralsekretariaten und Basisstrukturen abbauen
II. (‚Traditionelle‘ und) ‚Neue‘ Sozialdemokratie
‚Traditionelle Sozialdemokratie‘ ‚Neue Sozialdemokratie‘
Ökonomischer Staatsinterventionismus (Konjunkturlenkung über öffentlichen Sektor und Investitionen)Politik der Umverteilung (Vollbeschäftigung, Wohlfahrtsstaat, soziale Transfers, starker staatlicher Sektor etc.) Orientierung auf Gewerkschaften und die (industrielle) ArbeiterInnenklasseInnerparteiliche Aushandlungsprozesse zwischen Parteifraktionen und Parteiführung
Marktorientierung (Regieren durch Marktmechanismen, Marktliberalisierung jenseits staatlicher Eingriffe)Politik der schleichenden Akzeptanz neoliberaler Hegemonie (Inflations-bekämpfung statt Vollbeschäftigung, ‚workfare‘ statt ‚welfare‘ etc.)Orientierung auf ‚Mittelschichten‘ („Neue Mitte“, „middle Britain“)Stärkung der Parteiführungen gegenüber den Mitgliederstrukturen
SPÖ-Stimmen und Nichtwählendebei Nationalratswahlen 1945-2008
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400.000
600.000
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2.400.000
2.600.000
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Nichtwählende 196.276 141.199 191.351 186.753 271.945 299.344 302.848 367.106 376.832 356.593 402.562 393.982 521.116 780.171 1.043.01 808.644 1.143.148930.331 1.314.112 1.342.15
SPÖ-Stimmen 1.434.89 1.623.52 1.818.5171.873.29 1.953.93 1.960.68 1.928.98 2.235.90 2.280.16 2.326.20 2.413.22 2.312.52 2.092.02 2.012.78 1.617.80 1.843.47 1.532.44 1.792.49 1.663.98 1.430.20
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SPÖ-Stimmen in Relation zu Wählenden und Wahlberechtigtenbei Nationalratswahlen nach 1945
20%
25%
30%
35%
40%
45%
50%
55%
Anteil an Wählenden 44,60% 38,71% 42,11% 43,05% 44,79% 44,00% 42,56% 48,72% 50,04% 50,42% 51,03% 47,65% 43,12% 42,78% 34,92% 38,06% 33,15% 36,51% 35,34% 29,26%
Anteil an Wahlbevölkerung 41,60% 36,97% 39,65% 40,60% 41,60% 40,80% 39,47% 44,31% 45,75% 46,35% 46,53% 43,50% 38,31% 35,76% 28,02% 31,96% 26,25% 30,32% 27,24% 22,58%
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1945
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2008
Mitgliederzahlen der SPÖ nach 1945
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2011
Mitgliederzahlen sozialdemokratischer Parteien Europas 1945-2011
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100.000
200.000
300.000
400.000
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600.000
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800.000
900.000
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1987
1988
1989
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2008
2009
2010
2011
SPÖ SPD (B)LP SAP PS(F)
Einteilung politikwissenschaftlicher Ansätze über die Transformationsprozesse der SD
Ansätze und zentrale VertreterInnen
Wesentliche Ursachen für den Transformationsprozess
Transformationsdruck, wesentliche Mechanismen
Tendenzielle Ausblendungen der Ansätze
Politökonomische Ansätze Crouch 2008; 2011; Giddens 1998; Kitschelt 1994; Merkel 1993; Merkel et al 2008; Przeworski 1985; Regulations-theorie/n: Jessop 2002; 2004
Ökonomische und sozialstrukturelle Verschiebungen (auf globaler wie nationaler Ebene) schränken die traditionellen Möglichkeiten sozialdemokratischer Parteien ein; je nach Ansatz werden dabei unterschiedliche Mechanismen identifiziert
Fehlende Durchsetzungsfähigkeit keynesianischer Politiken erfordert wirtschaftspolitischen Kurswechsel; Erosion der ArbeiterInnenklasse führt zur Notwendigkeit der Orientierung auf neue WählerInnengruppen
Vernachlässigung von Diskursivität und ParteiakteurInnen; Parteien gelten tendenziell als monolithische Transmissionsriemen ökonomischer Prozesse, nicht als reflexive AkteurInnen
Diskursorientierte Ansätze Hay 1999; Hay/ Rosamund 2002; Mouffe 2005; 2007; Rossow 2011
Hegemonie neoliberaler Politikkonzepte führt zur Einschreibung sozialdemo-kratischer AkteurInnen und Strategien in die neoliberalen Diskurse
Konsens der Alternativlosigkeit neoliberaler Politik und neoliberaler Sichtweisen auf Globalisierungsprozesse marginalisiert und delegitimiert alternative Politiken und Programme
Vernachlässigung innerparteilicher Dynamiken; Transformation wird (wie in den politökonomischen Ansätzen) als Effekt meist rein äußerer Einflüsse betrachtet
Akteurszentrierte Ansätze Göttinger Parteiforschung: Walter 2005; 2009a; 2010; Nachtwey 2009
Veränderung der Mitglieder- und FunktionärInnenstruktur sozialdemokratischer Parteien infolge der Erosion der ArbeiterInnenklasse seit den 1970er Jahren; neue Generation an FunktionärInnen ist aufgrund ihrer sozialen Positioniertheit bürgerlich(er) orientiert
Veränderung der kontextuellen Gelegenheitsstrukturen generiert Druck in Richtung eines Strategiewechsels; Umsetzung neuer Strategien wird von neuen (gewerkschaftsfernen) Funktionär-Innengruppen (aus den Schichten der „sozialen AufsteigerInnen“) dominiert
Trotz Fokus auf AkteurInnen und die Verknüpfung kontextueller und innerparteilicher Dynamiken besteht bisher eine tendenzielle Vernachlässigung der Durchsetzungsprozesse der neuen politischen Strategien
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