Zentrum für Medizinische Ethik - ruhr-uni-bochum.de fileABWÄGUNGSPRINZIPIEN ZUM CLONING...
Transcript of Zentrum für Medizinische Ethik - ruhr-uni-bochum.de fileABWÄGUNGSPRINZIPIEN ZUM CLONING...
Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 163
ABWÄGUNGSPRINZIPIEN ZUM CLONING MENSCHLICHER ZELLEN
Hans-Martin Sass
Anhang: Embryo Diskurse über embryoids Konstrukte
Januar 2006
Hans-Martin Sass, Professor für Philosophie, ist Geschäftsführer des Zentrums für Medizinische Ethik an der Ruhr Universität und Senior Research Scholar am Kennedy Institute of Ethics der Georgetown Universität in Washington DC. Der Beitrag basiert auf Vorträgen bei der Academia Sinica in Taipei im Frühjahr und dem Peking Union Medical College in Beijing im Sommer 2005. Eine englischsprachige Fassung ist im Druck in "Formosan Journal of Medical Humanities", eine englischsprachige in einer Sonderausgabe "Biobank Feature" von "Tsin Hua Journal of Law and Technology Policy". - Bioethische Aspekte der Reprogrammierung menschlicher Zellen bei klinischen Forschungen in der Humanmedizin sind auch diskutiert in H.M. Sass: Ambiguities in Biopolitics of Stem Cell Research for Therapy, Bochum: ZME 2004, 2. Aufl. Juni 2004; Medizinethische Materialien Nr. 151 Inhaltsverzeichnis 1. ETHISCHE ABWÄGUNG NACH PRINZIPIEN 1
2. DAS PRINZIP RISIKOABWÄGUNG 4
3. DAS SOLIDARITÄTSPRINZIP 7
4. DAS KÖRBCHENPRINZIP 10
5. DAS MINIMAXPRINZIP 12
6. DAS PRÄZISIONSPRINZIP 15
7. DAS WÜRDEPRINZIP 17
EMBRYO DISKURSE ÜBER EMBRYOIDE 19
Herausgeber: Prof. Dr. med. Burkard May, Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass, Prof. Dr. med. Michael Zenz Zentrum für Medizinische Ethik Bochum Ruhr-Universität Bochum Gebäude GA 3/53 44780 Bochum TEL (0234) 32-22749/50 FAX +49 234 3214-598 Email: [email protected] Internet: http://www.medizinethik-bochum.de
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor.
© Hans-Martin Sass Januar 2006
Schutzgebühr: € 6,00 Bankverbindung: Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035 BLZ: 430 500 00 ISBN: 3-931993-44-2
ABWÄGUNGSPRINZIPIEN ZUM CLONING MENSCHLICHER ZELLEN
Hans-Martin Sass
DAS BEISPIEL: Forschung mit menschlichen embryonalen Zellen.
Gretchen Mueller, 42 Jahre alt und Mutter dreier Kinder im Alter von zwei, vier und
sieben Jahren, ist seit ihrem Autounfall vor drei Jahren von der unteren Wirbelsäule ab
querschnittsgelähmt. Ihr Ehemann Carl, 48 Jahre alt und Buchhalter, mit schlechter
Durchblutung des linken Herzens seit einem Herzinfarkt vor einem Jahr, kümmert sich um
Gretchen und die drei Kinder so gut es geht. Neuere klinische Forschungen mit menschlichen
Stammzellen deuten auf Möglichkeiten hin, sowohl Herzmuskelgewebe wie auch
Nervenbahnen zu reparieren. Solche neuen Therapien würden Gretchens und Carls
Behinderungen reduzieren und die Lebensqualität ihrer Familie und ihre eigene verbessern
können. In Deutschland ist die Forschung mit menschlichen embryonalen Stammzellen und
die Reprogrammierung somatischer Zellen gesetzlich verboten oder sehr stark eingeschränkt.
1. ETHISCHE ABWÄGUNG NACH PRINZIPIEN
Bei ethischen Handlungsalternativen und menschlichen Herausforderungen wägen wir
im Beruf wie im Privatleben jeweils nach Handlungsprinzipien, -gewohnheiten und
–erwartungen ab. Die meisten Handlungsnormen sind traditionell und kulturell abgestützt und
im individuellen Fall oft auch als persönliche oder berufliche Tugend konkretisiert. Solche
Abwägungen erfolgen in den meisten Fällen routinemäßig, werden in einer zivilisierten und
kultivierten Gesellschaft erwartet und auch in Katalogen beruflicher Tugenden festgelegt.
Neue technische Möglichkeiten erfordern zwar keine neuen ethischen oder kulturellen
Parameter, fallen aber aus der alltäglichen Routine heraus, weil neue, bisher unbekannte
technische, kulturelle und ethische Risiken und Unsicherheiten auftauchen. Diese gilt es dann,
innerhalb der überlieferten Parameter abzuwägen und diese Abwägungen gegebenenfalls bei
erweiterter Erfahrung auch zu modifizieren. Es ist durchaus möglich, dass unter dem Einfluss
neuer technischer Möglichkeiten sich auch kulturelle Gewohnheiten und ethische
Möglichkeiten und Prioritäten ändern. So haben beispielsweise relativ zuverlässige
hormonelle Kontrazeptiva, relativ preiswerte drahtlose tragbare Kommunikationsmittel und
moderne Anti-Aging Präparate über den zunächst für einen eher engen technischen Rahmen
gedachten Bedarf hinaus tradierte Verhaltensmuster und Einstellungskulturen nicht
unerheblich verändert. Solche kultur- und prioritätenändernden Einflüsse sind kaum
prognostizierbar; für einige Produkte, etwa bei der Verbesserung medizinischer Therapie, ist
1
ein Bedarf abschätzbar, für andere die Ausweitung oder gar der Aufbau von bisher nicht
existierenden Märkten von Kommunikation, Kooperation, Produkten und Waren kaum
darzustellen, weil mit geänderten technischen Möglichkeiten auch das Zusammenspiel der
inneren Faktoren kultureller und zivilisatorischer Entwicklungen sich ändert.
Für die ethische Abwägungen neuer technischer Möglichkeiten bieten sich die bereits
diskutierten mittleren ethischen Prinzipien an oder auch allgemeinere Prinzipien, die von den
meisten Kulturtraditionen und damit auch von Bürgern in modernen pluralistischen
Gesellschaften gestützt und gefordert werden. Das mitmenschliche Gebot der Nächstenliebe
etwa oder das arztethische Gebot, das Heil des Patienten als Primat beruflichen Handelns zu
respektieren, gehören zu diesen transkulturell gesicherten Regeln, auch unabhängig von ihrer
durchaus unterschiedlichen humanistischen, religiösen oder philosophischen
Letztbegründung. Solche Maxime können entweder in Tugend-, Regel- oder
Prinzipienkatalogen zusammengefasst werden. Wegen der größeren Ferne zur jeweiligen
Letztbegründung und dem schwächeren Appellcharakter an persönliche Charaktertugenden
hat sich in neueren ordnungsethischen Diskussionen das Abwägen nach Prinzipien gegenüber
dem Appell an Tugenden durchgesetzt. Diese Prinzipien sind ja schließlich auch weithin im
rechtlichen Rahmen und in den Verordnungen moderner Rechtsstaaten sowie in den
Qualitätsnormen von Berufsverbänden verankert und differenziert. Insofern ist ihre ethische
und kulturelle Autorität bereits in modernen Zivilisationskulturen realisiert, je ein wenig
anders in unterschiedlichen beruflich oder geographisch beschreibbaren Feldern.
Selten geht es um die Durchsetzung eines einzigen Prinzips, weder in der
routinemäßigen Abwägung im persönlichen oder beruflichen Alltag noch bei der Abwägung
neuer technischer und ethischer Möglichkeiten. Bei Abwägungen in der klinischen
Behandlung beispielsweise, kommt dem Prinzip der Selbstbestimmung ganz zweifellos ein
sehr hoher Stellenwert zu; es kann aber nicht allein gelten und muss arztethisch gegen andere
Prinzipien wie das der ärztlichen Verantwortung abgewogen werden. Für Abwägungen in der
modernen klinischen Forschung gelten unter anderem die Prinzipien der technischen
Risikoreduktion und der freien und informierten Zustimmung des Probanden. In der
konfuzianischen Arztethik gilt es als selbstverständlich, dass Expertise und Ethik, d.h.
Professionalität [ji] und humanitäre Gesinnung [ren] untrennbar zusammengehören, - für den
Arzt in abendländischer hippokratischer Tradition ist das keine Neuigkeit. Auch die
vernetzten und interaktiven Maxime des konfuzianischen Arztes Yang Chuan aus dem 13.
Jahrhundert – Expertise, Mitgefühl, Kreativität, Klugheit, Aufrichtigkeit, Anstand – ließen
2
sich sowohl auf die moderne klinische Praxis wie auf die klinische Forschung als
Verhaltensregeln anwenden und als Qualitätsnormen formulieren.
Je nach der Situation und der Risikolage wird das eine Prinzip eher im Vordergrund
stehen als ein anderes. Das ‚Durchrechnen’ neuer Fälle und Szenarien nach mehr als einem
Prinzip, ähnlich dem Verfahren der Ermittlung von Fakten, Unsicherheiten, Risiken und
Einflussmöglichkeiten in der Differentialdiagnose, trägt jedoch zu einer breiteren und
stabileren Abwägung bei und prüft gleichzeitig die benutzten Prinzipien auf ihre normative
Brauchbarkeit und Verlässlichkeit. Folgende sechs Prinzipien sollen für die Prüfung der Frage
ethischer Akzeptanz von oder Pflicht zur Forschung mit embryonalen Stammzellen und der
Reprogrammierung menschlicher Zellen zu Zwecken einer möglichen Verbesserung
therapeutischer Möglichkeiten herangezogen werden. Die Liste dieser sechs Prinzipien ist
weder willkürlich noch abgeschlossen. Es handelt sich um kulturübergreifend vorhandene,
häufig benutzte und weithin bekannte, sich auch zum Teil überschneidende Prinzipien:
Risikoabwägung; Solidaritätsprinzip; Körbchenprinzip; Minimaxprinzip; Präzisionsprinzip;
Würdeprinzip.
Häufig als Klugheitsregeln benutzt, aber selten thematisiert, sind das Körbchenprinzip
und das Minimaxprinzip. Das Körbchenprinzip sammelt in einen Korb bereits von der Kultur
und Gesellschaft, von Recht und Ethik entweder geforderte, akzeptierte oder zumindest
tolerierte Verhaltensweisen und technische Möglichkeiten mit ähnlichen oder vergleichbaren
ethischen Risikobilanzierungen, so dass neue Möglichkeiten mit diesen besser bekannten
‚Gegenständen’ verglichen und abgewogen werden können. Das Minimaxprinzip sucht nach
Klugheitsregeln, die eine ethisch und technisch gewünschte Neuerung so einführen, dass sich
maximaler Nutzen mit einer minimalen direkten Veränderung von Einstellungskulturen oder
–prioritäten verbinden lassen, möglicher ethisch exzentrischer Nutzen kritisch beleuchtet und
im übrigen durch Transparenz, Information und Aufklärung ein Maximum an kulturellen und
ethischen Kräften anregt, ethische und andere Risiken zu kontrollieren oder auszuschließen.
Dieses halbe Dutzend transkulturell verstehbarer und durchsetzbarer Abwägungsprinzipien
überschneidet sich und gibt damit in der überschneidenden Analyse ein klareres,
differenzierteres Bild ethische Optionen und Risiken als die Überprüfung einer Handlung an
nur einem Prinzip.
Neben diesen sechs Prinzipien gibt es andere, die ebenso häufig und mit ebensoviel
Erfolg zur ethischen Analyse herangezogen werden können, es sind die Prinzipien der
Gerechtigkeit, Freiheit, Sicherheit, Selbstbestimmung, Verantwortung, Subsidiarität, die
einzeln oder in Kombination mit anderen aus dieser oder hier benutzten Liste zu Abwägungen
3
herangezogen werden können und die in den ethischen Diskussionen der meisten Kulturen der
Neuzeit eine zentrale Rolle gespielt haben und spielen. Für die Zusammenhänge (a) der
Diskussion der Funktion solcher Prinzipien bei der konkreten Abwägung alter oder neuer
Szenarien oder Fälle und (b) einer Erhellung des individuellen und gesellschaftlichen
ethischen Umgangs mit menschlichen embryonalen Stammzellen und mit der
Reprogrammierung menschlicher Zellen insgesamt zu Zwecken der therapeutischen
Forschung genügt jedoch die nachfolgende differentialethische Skizzierung. Dabei wurde aus
dem Dutzend möglicher Prinzipien solche ausgewählt, die in der ersten Vermutung zunächst
eine Differenzierung und dann sowohl kritisch warnende oder ablehnende wie kritisch
zustimmende Wertungen erwarten lassen, insgesamt ein Verfahren, das sich an dem Modell
einer sehr ausführlichen und im Sonderfall durchaus überbreiten Abdeckung und Aufdeckung
des Befundes und der Handlungsalternativen in der medizinischen Differentialdiagnostik
orientiert. Das sind in der Regel - und so auch hier - Prinzipien, die bereits im öffentlichen
oder professionellen Diskurs vorkommen, also nicht erst lange ausgesucht werden müssen.
2. DAS PRINZIP RISIKOABWÄGUNG
In der Risikotheorie unterscheiden wir unter anderen zwischen technischen,
kulturellen, ethischen Risiken, auch Risiken einer zu breiten oder zu engen Gesetzgebung oder
Verordnungspraxis. Bei den technischen Risiken sind solche in der Konstruktion, in der
Bedienung, und im unerwünschten Missbrauch zu unterscheiden; einige dieser Risiken lassen
sich durch Modifikationen in der Konstruktion oder durch Risikoverteilung in
Verantwortungspartnerschaft reduzieren; selten lassen sich alle Risiken ausschließen, auch
nicht solche, die das Werkzeug oder die Technik zu einem niemals intendierten und
unethischen Gebrauch nutzen, wie das Küchenmesser zum ‚Abschlachten’ von Mitmenschen.
Bekannte Risiken lassen sich in bezug auf ihre Größe und Wahrscheinlichkeit, auch bezüglich
der Akzeptanz oder Unvermeidbarkeit durch den Risikoträger abwägen. Unbekannte Risiken
sind häufiger als wir uns bewusst sind und beruhen auf fehlenden oder unsicheren
Informationen und Erfahrungen. [4] Einige dieser unbedingt erforderlichen Informationen
sind oft nicht beizubringen, dennoch muss ‚unter Unsicherheit’ gehandelt werden, in der
Medizin bei der Lebensrettung oder, wenn weiteres Zuwarten eine noch größere Unsicherheit
oder ein klares und sehr präzises großes Risiko mit sich bringen würde.
Welche Risiken können sich in der Forschung mit menschlichen Embryonen,
embryonalen Stammzellen und insgesamt mit der Reprogrammierung somatischer und
spezifischer menschlicher Zellen zu potenteren und vielseitig entwicklungsfähigen Zellen
4
ergeben? Die ethischen Risiken des Zuspruchs der vollen Solidarität und Menschenwürde der
befruchten menschlichen Eizelle, dem Vorembryo und Embryo vor und nach der Nidation
und insgesamt dem ungeborenen menschlichen Leben gegenüber sind aus den Diskussionen
um den Schwangerschaftsabbruch und die empfängnis- oder nidationsverhütenden
Medikationen bekannt. Einige dieser ethischen Risiken sind in Rechtsregelungen wie der
Zulassung und Verschreibungspflicht von Kontrazeptiva und der Beratungspflicht vor
Schwangerschaftsabbrüchen, auch der Fristensetzung für den Schwangerschaftsabbruch
gesetzlich oder per Verordnung geregelt. Diese Regelungen stellen den äußeren Rahmen dar,
innerhalb dessen ethische Risikoabwägungen dem individuellen Bürgergewissens freigestellt
bleiben, aber auch zugerechnet werden müssen. Hinzu kommen jedoch neue ethische Risiken.
Ethische Risiken ergeben sich aus den technischen Risiken und Unsicherheiten, einige davon
möglicherweise temporär, andere möglicherweise dauerhaft wie die Verkürzung der Telomere
an den DNA Enden somatischer Zellkerne auch nach dem Kerntransfer; dies ist ein
technisches Risiko, das die Technik Klonen für Zwecke der Reproduktion derzeit schon
wegen der bekannten technischen Risiken als völlig unakzeptabel erscheinen lässt, für die
weitere Forschung zu therapeutischen Zwecken aber vermutlich kein eindeutiges Risiko
darstellt [1;2;8;9].
Bei durch Re-Programmierung von Zellen gewonnenen neuen Zellen, Geweben oder
Organen stehen die technischen Risiken im Vordergrund, die aufgewogen werden müssen
gegen das unbestreitbare Gebot der Solidarität mit den Kranken und Leidenden, ausgedrückt
in der Forderung nach besserer Versorgung und Behandlung. Mit einer über den reinen
Nutzen hinausgehenden Verantwortung oder gar Solidarität mit relativ entwicklungsfähigem
frühen menschlichen Leben, etwa mit durch Einbringen eines somatischen Zellkerns in eine
entkernte menschliche Eizelle, durch Klonen also, haben wir bisher keine ethische Erfahrung
und sind ethisch unsicher.
Noch größere ethische Unsicherheit besteht naturgemäß gegenüber genetischen
Programmierungen, welche die Speziesgrenze überschreiten: Züchtung transgener Tiere mit
spezifischen menschlichen genetischen Informationen zum Studium spezifischer
menschlicher Krankheiten, maximale Transgenisierung von Tieren mit menschlichen
genetischen Informationen insbesondere in der Immunologie, im metabolischen und
Enzymhaushalt für die Gewinnung möglichst kompatibler Gewebe und Organe für den
Menschen, verschiedene andere und umfassendere Formen der Hybridisierung von Mensch
und Tier durch Fertilisation. Wir haben kaum über ethische Probleme menschlicher
‚Verwandtschaft’ und Solidarität mit transgenen Ratten, Mäusen und Meerschweinchen zum
5
Studium menschlicher Krankheiten nachgedacht; unsere tierethischen Überlegungen haben
sich im wesentlichen auf die Fragen der Zumutbarkeit der Schmerz- und Leidenszufügung
beschränkt, vermutlich auch aus dem Grunde, weil es sich in diesen Fällen um die
‚Verwandtschaft’ basierend ‚nur’ auf einem krankheitserzeugenden menschlichen Gen und
dessen Funktion handelt. Die ethischen Risiken bei der Manipulation möglichst genauer
Kopien wesentlicher Abläufe menschlicher körperlicher Prozesse für
transplantationsgeignette Zellen, Gewebe und Organe sind demgegenüber wesentlich größer,
weil sie den Transfer von Kopien auch in die sensuale, nervale und emotionale Struktur nicht
ausschließt. Die echte Chimärenbildung zwischen Mensch und Tier geht auch hierüber noch
hinaus, nicht so sehr wegen technischer Risiken, sondern wegen der Unsicherheiten und
Risiken im Umgang mit den Prinzipien von Solidarität und Menschenwürde [8; 9].
Einige dieser Risiken ließen sich lösen, zumindest reduzieren, wenn man die
Akzeptanz des einen oder anderen Risikos den ethischen und anderen Risikoabwägungen
aufgeklärter und mündiger Bürger überlassen würde. Das gilt beispielsweise für die
individuelle Ablehnung oder Akzeptanz von Erkenntnissen oder Produkten, die aus der
Forschung mit transgenen Tieren gewonnen wurden und auch bereits in der klinischen
Anwendung sind. Die Abwägung eines Empfängers von Geweben oder Organen aus zu
diesem Zweck hochgezüchteten, in der Genetik den Menschen maximal ähnlichen,
geschlachteten Schweinen, dürfte anders ausfallen müssen als die Akzeptanz eines
menschlichen Organs nach Willensentscheid des Spenders post mortem oder als
Lebendspende. Strenggläubige Muslime werden Medizinprodukte aus Schweineorganen, die
Mitglieder der Zeugen Jehovah’s die Blutspende, Hindi den Verzehr von Kühen oder
überhaupt von tierischem Eiweiß ablehnen. Einige werden solche Entscheidungen selbst in
Abwägung des Risikos zu sterben fällen, andere legen solche moraltheologischen Gebote
weniger streng unter einem Primat der Rettung von Menschenleben aus. Der Preis der Freiheit
zu individuellen Risikoentscheidungen ist das mögliche Scheitern und eventuell ein
nachträgliches Bedauern über Entscheidungen, auch ein Unverständnis anderer für solche
Entscheidungen ihrer Mitmenschen. Moralischen oder religiösen Gemeinschaften steht es frei,
ihren Mitgliedern die Nutzung technischer Mittel, etwa von Kondomen, wegen der
moralischen Verwerflichkeit oder‚ Widernatürlichkeit’ zu verbieten; den Mitgliedern
wiederum steht frei, solchen Verboten oder Empfehlungen in eigener Risiko- und
Verantwortungskompetenz zu folgen oder auch nicht.
Dieser sehr unübersichtliche, von großen ethischen und technischen Unsicherheiten
mitgestaltete Risikorahmen bei einer unrestriktiven Forschung an der Reprogrammierung
6
menschlicher Zellen lässt sich dadurch eingrenzen dass man den Kreis der ’Nutzer’, d.h. der
aktiv Forschenden und der Probanden und später die Patienten, eng eingrenzt und ebenso die
Forschung selbst auf enge Zielsetzungen, wie zum Beispiel auf Arbeiten an einem bestimmten
Krankheitsbild, konzentriert. So genannte Grundlagenforschung würde dann nur soweit
betrieben, wie sie zur Klärung bestimmter Sachverhalte in der therapeutischen Forschung
erforderlich ist. Mit diesen ethischen wie technischen Eingrenzungen lassen sich vor allem die
skizzierten Folgerisiken reduzieren. Ein völliger Ausschluss von unprofessionellem oder
unethischem Gebrauch lässt sich jedoch kaum ausschließen. Menschen können mit
elektrischem Strom gefoltert werden; das veranlasst uns aber nicht, Elektrizität insgesamt zu
verbieten. Bedienungs- und funktionssichere Autos schließen keine Verkehrsunfälle aus, die
durch andere äußere Risikosituationen oder Verantwortungslosigkeit oder Nachlässigkeit des
Fahrers verursacht werden. Insgesamt dürften sich deshalb in den meisten Traditionen und
Kulturen ethische Risiken bei der Forschung an der Reprogrammierung menschlicher Zellen
zu therapeutischen Zwecken in einem eng beschriebenen Forschungskonzept sehr gut gegen
die hohen ethischen Nutzen einer möglichen Verbesserung von Therapie und der Reduzierung
von Leiden aufrechnen lassen.
3. DAS SOLIDARITÄTSPRINZIP
Der kantische kategorische Imperativ, das biblische ‚liebe deinen Nächsten’, die
konfuzianischen Redewendungen ‚was Du nicht willst, das man Dir tue, das füg auch keinem
anderen zu’ oder ‚behandle Menschen nicht wie Pferde’, schließlich die buddhistischen
Aufforderungen zur Leidvermeidung und –linderung sind nur einige Beispiele für das Gebot
der Mitmenschlichkeit und insbesondere das der Hilfe den Schwachen, Kranken, Leidenden,
Armen und Hilfsbedürftigen gegenüber. Das Solidaritätsgebot in der Bekämpfung von Leid
und Krankheit ist so universal vom common sense, den Prinzipien der normativen wie auch
der utilitaristischen Reziprozität und den unterschiedlichsten weltanschaulichen und
religiösen Traditionen abgesichert, dass nicht es selbst, sondern die Positionen seiner
Nichtachtung oder Außerkraftsetzung argumentationspflichtig sind. Insofern ordnet sich die
Forschung zur Reprogrammierung menschlicher Zellen in die große Zahl individueller und
kollektiver Anstrengungen nach dem Prinzip der Solidarität ein, selbstverständlich auch in die
Erwartungen an medizinische Experten nach Hilfe und Verbesserung der Hilfe [6;3].
Insofern das Nichtschadensgebot sowohl vom allgemeinen Solidaritätsprinzip wie
auch in allen Arztkulturen Prinzip des Schadensverbots als ‚primum nil nocere’ abgedeckt
ist, erfordert die klinische Forschung und Prüfung am Menschen hohe Sorgfalt, informierte
7
Zustimmung, faire Vertragsgestaltung und Abbruch oder Unterlassung bei unakzeptablem
Risiko. Ebenso verbietet sich natürlich eine therapeutische Einführung, wenn die technischen
Risiken oder Schäden gegenüber dem Nutzen unverhältnismäßig hoch sind. Die bestehenden
Regulatorien zur Einführung und ständigen Überprüfung von Medikamenten und
Medizinprodukten sind vermutlich voll ausreichend, auch auf diesem Gebiet Sicherheit und
Wirksamkeit zu sichern. Gleichzeitig muss jedoch auch gesagt werden, dass die technischen
Unsicherheiten und bekannten Risiken beim Klonen und der Reprogrammierung von
somatischen Zellen so hoch sind, dass auf absehbare Zeit diese Techniken für die menschliche
Reproduktion schon aus rein technischen Gründen ausscheiden. Keine Zulassungsbehörde
und kein professionelles Gremium der Qualitätskontrolle und –sicherheit würde die
Zustimmung hierzu geben. Eine solche Zustimmung oder auch nur Tolerierung selbst im
Einzelfall würde ebenfalls derzeit wegen der technischen Unsicherheiten und bekannten
Risiken nicht zu rechtfertigen sein, weil sie gegen die Solidarität mit dem geklonten Produkt
verstoßen würde.
Besteht aber überhaupt eine Solidaritätspflicht mit gentechnisch reprogrammierten
Produkten aus menschlichem genetischen Material und für welche Produkte besteht es und für
welche nicht? Traditionell kennen wir keine Solidarität mit menschlichen Zellen, Geweben
oder Organen, wohl aber mit ‚ganzen Menschen’. Unsere Solidarität mit frühem
menschlichen ungeborenen Leben wird kontrovers diskutiert, die Nidationsverhinderung und
der Schwangerschaftsabbruch werden insgesamt oder teilweise rechtlich akzeptiert oder
jedenfalls nicht unter Strafe gestellt. Geborenen Mitmenschen, gleichgültig ob unterschiedlich
nach genetischer Ausstattung, Geschlecht, Rasse, Religion, Bildung oder Reichtum die volle
Solidarität vorzuenthalten, widerspricht den Prinzipien des Menschenrechts und der
Menschenwürde, die sich in der Formulierung von Bürgerrechten konkretisiert hat. Sollte sich
jedoch eine wie auch immer bestehende und auch dokumentierbare ‚Ähnlichkeit’ in
emotionalen oder rationalen Kopien menschlichen Verhaltens bei zu Transplantationszwecke
genetisch reprogrammierten Schweinen nachweisen lassen, dann würde es kulturell und
ethisch wohl kaum akzeptiert, solche Manipulationsprodukte der freien Forschung oder der
individuellen Akzeptanz oder Nichtakzeptanz allein zu überlassen.
Nach einem Bericht der ‚Washington Post’ vom 13. Februar 2005 gibt es bereits 495
patentierte tierische Lebewesen mit vom Menschen neu programmierten genetischen Codes,
davon ein nicht geringer Teil mit menschlichem genetischen Material integriert in den
patentrechtlich geschützten tierischen genetische Code. Das US Patent 6,200,806 vom 13.
März 2001 schützt einige menschliche pluripotente embryonale Stammzelllinien. Das Patent
8
6,781,030 vom August 2004 schützt ein Kloningverfahren für Oocyten von Säugetieren, das
auch auf menschliche Oocyten angewandt werden könnte. Andererseits verweigerte das US
Patentamt nach einem Bericht der ‚Washington Post’ vom 13. Februar 2005 die Patentierung
eines transgenen Tieres, weil eine solche das Recht auf Unverletzlichkeit (Privacy) verletzten
und gegen das 13. Amendment der US Verfassung verstoßen würde, das die Sklaverei
verbietet. Die europäische Patentkonvention behält sich im Artikel 53a das Recht vor, Patente
nicht zu erteilen, wenn ein solches Patent der ‚ordre public’ oder Moral widersprechen würde,
aber nicht etwa nur, weil es in dem einen oder anderen europäischen Land durch Verordnung
oder Gesetz verboten wäre. Die europäische Biotechnologie Direktive von 1998, die
allerdings nur wenig Einfluss auf die faktische Patenterteilung hat, bestimmt im Artikel 6,
dass Patente verweigert werden sollen: zum Klonen von Menschen, zur Modifizierung der
menschlichen Keimbahn, zur Nutzung menschlicher Embryonen für industrielle oder
kommerzielle Zwecke und die genetische Modifikationen von Tieren, wenn diese bei
denselben Leiden hervorrufen könnten ohne einen substantiellen Nutzen für Mensch oder
Tier. Diese und andere in verschiedenen Ländern unterschiedlich geführten
Patentierungsdiskussionen berühren den Kern der mitmenschlichen Solidarität, sofern und
soweit sie judizierbar ist.
Für die Hybridisierung von Mensch und Tier, aber auch für Hybridisierungen von
Mensch-Maschine, ergeben sich also über die individuelle Akzeptanz oder Ablehnung
hinausgehende gesamtmenschheitliche ethische und kulturelle Herausforderungen in einer
restriktiven oder erweiterten Definition von Menschenrecht und Menschenwürde.
Auf den ersten Blick erscheint es selbstverständlich, dass klonierten Menschen, aber auch
Chimären aus Mensch-Tier oder Mensch-Maschine, die gleichen ungeteilten Menschen- und
Buergerrechte zugesprochen werden, wie allen von Vater und Mutter gezeugten Menschen
unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Intelligenz, Gesundheit und anderen individuellen
Unterschieden. Ist die künstliche asexuelle Produktion menschlicher Embryoide, die unter
Säugetieren und bei Menschen nicht natürlich vorkommt, ein Ausschlussfaktor für die
Zusprechung von Menschen- und Bürgerrechten, so wie es einmal die schwarze Hautfarbe
und heute noch in einigen Kulturen und Gesetzeskatalogen das Geschlecht oder andere
individuelle Eigenschaften sind?
In der Menschheits- und Rechtsgeschichte hat es Jahrtausende lang gedauert, bis wir
Menschen- und Bürgerrechte jedem geborenen Menschen unabhängig von Rasse, Religion,
Geschlecht, sozialer Stellung oder gesellschaftlichem Beitrag zusprechen und rechtlich
sichern konnten; und noch immer gilt in der Praxis nicht immer und überall, was im
9
Gesetzbuch verbürgt und in Manifesten deklariert wurde . Es wird wesentlich schwieriger
sein, diese universale und uneingeschränkte Solidarität auf menschliche Klone, auch auf
‚menschliche’ Chimäre und Hybride, auszudehnen. Solange wir dazu konzeptionell
individuell und gemeinsam kulturübergreifend nicht bereit sind, sollten wir alles tun, dass
menschliche Klone, Chimäre und Hybride nicht geboren werden. Auf der anderen Seite
gebietet es das Prinzip der Solidarität, alles zu tun, um Leiden von Mitmenschen abzuwenden
oder zu lindern; diese Solidarität verpflichtet auch zur Verbesserung medizinischer
Behandlung und Versorgung und damit zu klinischer Forschung.
4. DAS KÖRBCHENPRINZIP
In jeder Kultur gibt es Körbe mit unterschiedlichen mehr oder weniger weit
verbreiteten, teils erwünschten, teils akzeptierten und teils nur tolerierten ethischen
Einstellungen, Regeln, Tugenden, Prinzipien und Handlungen. In wertpluralen Gesellschaften
sind diese Körbe im Respekt vor der Würde des individuellen Gewissens und der Glaubens-
und Meinungsfreiheit voller als in weltanschaulich geschlossenen Systemen. Neue ethische
und kulturelle Möglichkeiten, die sich aus Fortschritten von Wissenschaft und Technik
ergeben, lassen sich anhand des Inhalts dieser Körbe auf die mögliche Wünschbarkeit,
Akzeptanz oder Toleranz innerhalb der tradierten und bestehenden Kultur bewerten.
Was den ethischen, kulturellen und rechtlichen Umgang mit frühem ungeborenen
menschlichen Leben betrifft, so befinden sich in diesem Körbchen die Inkaufnahme einer sehr
hohen Rate natürlicher Aborte, der Gebrauch von Kontrazeptiva und Antinidativa, selektiver
Schwangerschaftsabbruch, die medizinisch assistierte in-vivo und in-vitro Fertilisation, die
pränatale Diagnostik und in einigen Staaten auch die Präimplantationsdiagnostik, das
kryokonservierende Aufbewahren und eventuelle Vernichten menschlichen Samens und
früher Formen fertilisierten menschlichen Lebens. Einige dieser ethischen und technischen
Möglichkeiten werden von einigen Individuen und Glaubensgemeinschaften aus ethischen
oder religiösen Gründen abgelehnt; niemand wird gegen sein Gewissen zum Abort oder zur
Benutzung von Kondomen gezwungen, auch nicht zum Vernichten von kryokonservierten
Vorembryonen und auch nicht zur Kryokonservierung überhaupt. Keine der in der Bewertung
dieser ethischen und technischen Möglichkeiten eher restriktiven ‚pro life’ Gruppen hat im
Übrigen zu Forschungen zur Reduktion der natürlich hohen und wissenschaftlich kaum
erforschten Abortrate aufgerufen, was ihrem Engagement nicht unbedingt eine höhere
Überredungskraft verleiht.
10
Aus der kulturellen und ethischen Realität des zivilisierten Umgangs mit dem
Körbchenprinzip und dessen rechtlicher Respektierung ergeben sich für alte wie für neue
ethische Herauforderungen durch neue Technik oder durch neue Gewohnheiten drei
Konsequenzen: (1) Individuelle Güterabwägungen und Wertentscheidungen sollten im
Respekt vor der Würde des Gewissens akzeptiert oder toleriert werden; (2) auch ethische und
religiöse Gemeinschaften sollten diese Gewissensentscheide respektieren, insbesondere
solche von Bürgern, die sich nicht selbst zu diesen Gemeinschaften zählen; (3)
unterschiedliche Abwägungen durch mündige Bürger, Theologen, Philosophen, Politiker
müssen als Indiz für eine komplexe ethische Entscheidungssituation gewertet werden, die
ordnungsethisch nicht durch Rechtsdiktat oder Verordnung, sondern durch Gewissenfreigabe
entschieden werden sollte.
Confucius, Buddha, Moses, Jesus, Mohamed, Plato, Hegel und andere klassische
Autoritäten hatten keine Veranlassung über den ethischen Wert oder Unwert von
reprogrammiertem menschlichen DNA und Stammzellen aus geklontem menschlichem
Material nachzudenken. Ihre Lehren und ihr Vorbild haben jedoch die ‚Goldene Regel’
geprägt, dass dem Mitmenschen kein Schaden zugefügt werden solle, und ebenfalls die
unterschiedlichen Fassungen und Formulierungen der hier benutzten Prinzipien für die
ethische Abwägung. Das buddhistische Verständnis des persönlichen Karma und das
konfuzianische Konzept unterschiedlicher interpersonaler Verantwortungen in
unterschiedlichen Rollen in Familie und Gesellschaft ähneln dem christlichen Prinzip der
Subsidiarität, nach dem die unmittelbar am nächsten in der konkreten Verantwortung
stehende Person oder Gruppe bevorzugt Entscheidungen treffen und zwischen Optionen
auswählen sollte. Diese individuelle oder (glaubens-) gruppenspezifische
Entscheidungsverantwortung sollte auch für die neueren ethischen Fragen im Zusammenhang
mit dem Umgang von geklonten menschlichen Zellen oder Geweben oder chimerischen
Produkten nicht außer Kraft gesetzt werden. Zivilisierte Gesellschaften und
Rechtsgemeinschaften sollten die Würde des Gewissens und der Wertentscheidungen ihrer
Bürger respektieren und beispielsweise niemanden zu Überzeugungen oder Taten überreden
oder zwingen, die ihr oder ihm als unethisch, verabscheuungswürdig, widernatürlich oder
sündig erscheinen. Hierzu gehören die Benutzung von Kondomen und Arzneien aus
Schweinepräparaten, aber auch Produkte, die in der Forschung an transgenen Tieren oder aus
geklonten oder anderweitig reprogrammierten menschlichen Zellen gewonnen wurden.
Es wäre falsch, davon auszugehen, dass Glaubensvorschriften und Verhaltensregeln,
die innerhalb einer religiösen oder ethischen Gemeinschaft Geltung haben und akzeptiert
11
werden, auch universalisierbar sein und für alle anderen auch gelten sollten. Insofern sollten
solche Gemeinschaften und ihre Autoritäten sich mit Forderungen nach gesetzlichen
Regelungen und Verboten ordnungsethisch und gesamtgesellschaftlich zurückhalten und sich
auf Ermahnungen innerhalb der eigenen Gemeinschaft konzentrieren. Angesichts von im
Detail unterschiedlichen Vorschriften und Ermahnungen schon bei den drei abrahamitischen
Glaubensgemeinschaften, mehr noch zwischen den Kulturen und Philosophien und innerhalb
von theologischen und philosophischen Schulen und Traditionen, wäre das Vorhandensein
unterschiedlicher ethischer Bewertungen ein Anlass dafür, auf uniforme rechtliche
Regelungen oder Verordnungen zu verzichten und statt dessen ordnungsethisch für einen
gewaltfreien Diskurs und eine freie und umfassende Information für jedermann/frau zu sorgen
und im übrigen die ethischen Abwägungen dem Bürgergewissen zu überlassen. Für den
ordnungsethischen Umgang mit der Forschung an der Reprogrammierung von menschlichen
Zellen würde das bedeuten, dass Staaten sich nicht speziellen weltanschaulichen Forderungen
beugen, solche Forschungen zu behindern oder zu verbieten. Im Gegenteil, solche
Forschungen im Interesse der Verbesserung medizinischer Möglichkeiten sollten stattdessen
innerhalb eines engen Rahmens gefördert und im übrigen jedermann/frau das Recht
eingeräumt werden, weder an der Forschung noch an eventuell daraus sich ergebenden
medizinischen Möglichkeiten teilhaben zu müssen.
5. DAS MINIMAXPRINZIP
Während das Körbchenprinzip erlaubt, Freiheitsspielräume für neue ethische
Alternativen im Vergleich mit schon bestehenden akzeptierten oder tolerierten
Werteinstellungen und Handlungsweisen individualethisch zu ermitteln, ist das
Minimaxprinzip geeignet, ordnungsethische Alternativen in der Biopolitik auszumessen. Das
Minimaxprinzip als Klugheitsregel verlangt, im Respekt vor vorhandenen kulturellen und
ethischen Traditionen, minimale Eingriffe in bestehende Gepflogenheiten und
Entscheidungsmodelle zu verbinden mit einem Maximum an Eröffnung neuer Möglichkeiten
für wissenschaftliche, medizinische und ökonomische Innovationen und damit nachgeordnet
und indirekt auch für neue Einstellungskulturen.
Angesichts der skizzierten neuen ethischen Unsicherheiten und Risiken im Umgang
mit reprogrammierten Produkten mit menschlichem genetischen Material bietet es sich an, (1)
Forschungsprotokolle auch unter ethischen und kulturellen Aspekten zu entwerfen und
ethisch zu begleiten, (2) Forschungen möglichst auf relativ wenig umstrittene ethische
Bereiche zu beschränken und größere oder unbekanntere ethische Probleme zu vermeiden, (3)
12
Parameter für Forschung, auch Moratorien, mit Gewissensklauseln und Mondscheinklausel zu
versehen, die ihre periodische Überprüfung vorsehen.
Je kontroverser ein Forschungsprojekt oder jedes andere technische oder ethische
Risikoprojekt ist, umso mehr müssen ethische Prinzipien Ziel, Durchführung, Überprüfung
und Kontrolle mitbestimmen. Je höher mögliche ethische Risiken sind, umso mehr muss die
Aufklärung von Probanden und Patienten nicht nur technische, sondern auch ethische Risiken
und die Information über deren unterschiedliche Bewertung einschließen. Wie schon bei
anderen klinischen Prüfungen eignet sich für eine Risikopartnerschaft zwischen Probanden
und Forschern, Patienten und Ärzten eher ein Vertragsmodell (informed contract), das Rechte
und Pflichten der Partner festlegt, anstelle des üblichen einfachen Zustimmungsmodells
(informed consent). Beide Forderungen, die Einbeziehung auch ethischer Risiken in die
Probanden- und Patientenaufklärung und die Vertraggestaltung anstelle des
Zustimmungsmodells würden insgesamt zu einer besseren Reduktion ethische Risiken und zu
einer echten Verantwortungspartnerschaft beitragen können, nicht nur bei der
Reprogrammierung und anderen humangenetischen Studien. Diese enge Regelung würde
diejenigen Bürger nicht tangieren, die solche Forschungen ablehnen oder sich unsicher sind
bezüglich ethischer und technischer Risiken, die auf sich zu nehmen niemand gezwungen
werden darf.
Beim derzeitigen technischen Stand der Klonierung menschlicher Zellkerne und bei
anderen Reprogrammierungstechniken ist es nicht erforderlich, über einen Zeitraum von bis
zu zwei Wochen nach dem Kloning oder der Reprogrammierung totipotenter Zellen
hinauszugehen. Das wäre ein Zeitraum, innerhalb dessen das Körbchen praktizierter,
akzeptierter oder tolerierter und nicht strafbarer Handlungen im Umgang mit frühem
menschlichen Leben ziemlich viele Möglichkeiten kennt, nicht alle von jedermann/frau
praktiziert, einige von manchen als unethisch abgelehnt. Solange Forschungen sich innerhalb
des Körbchens dieser vergleichbaren Möglichkeiten bewegen und zusätzlich den Bonus einer
möglichen Verbesserung therapeutischer Möglichkeiten haben, würde es sich entsprechend
dem Minimaxprinzip um minimale zusätzliche Varianten von schon im Körbchen
befindlichen Akzeptanzen oder Tolerierungen handeln bei gleichzeitige maximaler Nutzung
des derzeitigen Wissens auf dem Gebiet der genetischen Reprogrammierung.
Da nicht nur Wissenschaft und Technik sich ändern, sondern auch ethische und
kulturelle Einstellungshaltungen und Prioritäten in akzeptierten und nicht akzeptierten
Handlungen, sollten Regeln für ethisch und kulturell sensible Probleme, Risiken und
Unsicherheiten nicht für alle Zeiten festgeschrieben, sondern von Zeit zu Zeit überprüft oder
13
von vornherein nur für eine gewissen Zeit gelten sollen. Moratorien, die für eine gewisse
Zeitspanne technisch mögliche und ethisch oft auch wünschbare Forschungen oder andere
Aktivitäten aus ethischen Gründen oder Unsicherheiten nicht zulassen, haben eine wichtige
Funktion zur Minimierung von Eingriffen in bestehende Verhaltenskulturen bei einem
möglichst gering zu haltenden Nachteil oder einer Verzögerung für Innovation und
medizinischen Fortschritt. Grundsätzlich würde das Minimaxprinzip ordnungsethisch
wünschen lassen, dass im Regelfall von solchen zeitlich befristeten Regelungen und
Gesetzten durch Sunset- oder Mondscheinklausel mehr Gebrauch gemacht würde. Auch
Gewissensklauseln in Gesetzen würden in Einzelfällen zu einer Minimierung von
Gewissenskonflikten beitragen können, wann immer der Respekt vor der Würde des
Gewissens verlangt, dass es sich im Einzelfall den uniformen staatlichen Regelungen ohne
Schaden für andere nicht beugen müssen sollte.
Ein Beispiel für eine gelungene Anwendung des Minimaxprinzips sind die Richtlinien
der US Akademien für die Forschung an menschlichen embryonalen Stammzellen von 2005:
(1) Die Richtlinien sind Ergebnis von Selbstregulierung und Selbstkontrolle innerhalb von
Forschungsinstitutionen, also eine minimalere Intervention als staatliche Gesetzgebung oder
Verordnung; zusätzlich kann davon ausgegangen werden, dass eher innerhalb der
Wissenschaft als beim Staat ein Maximum an Kompetenz sowohl für die Zielsetzung wie
auch für die Kontrolle der Forschung vorhanden ist. (2) Die Richtlinien verlangen ein
spezielles örtliches Aufsichtsgremium [ESCRO, Embryonic Stem Cell Oversight Committee].
(3) Die Regeln sind nicht in Stein gehauen und sollen geändert werden nach Maßgabe
besserer wissenschaftlicher Kenntnisse und öffentlicher und ethischer Ablehnung oder
Zustimmung. (4) Entsprechend dem derzeitigen Forschungsstand wird die Beschränkung auf
einen schmalen, aber für Erfolgsaussichten hinreichend breiten Bereich empfohlen. Damit
bleibt unter einem faktischen Verbot: (a) die Forschung an menschlichen Embryonen in vitro
gleichgültig, ob durch Fertilisation oder Kloning gewonnen, für länger als 14 Tage oder bis
zur Ausbildung des Neuralrohrs, was immer von beiden die kürzere Frist bedeutet; (b)
Forschung, bei der menschliche embryonale Stammzellen in Blastozysten von Primaten oder
nichtmenschliche embryonale Stammzellen in menschliche Blastozysten verbracht werden;
(c) kein tierisches Lebewesen, in das menschliche embryonale Stammzellen zu irgendeinem
Zeitpunkt der Entwicklung verbracht wurden, sollte sich fortpflanzen können [9:6f].
Damit schließen diese Richtlinien einen großen Teil von derzeit entweder aus Gründen
ethischer Unsicherheit oder von Risiken im Umgang mit Chimären und mit Produkten aus
dem Kloning menschlicher Embryonen oder anderer Reprogrammierungen für einen Zeitraum
14
jenseits der ersten 14 Tage oder bis vor dem Schließen des Neuralrohrs, falls ein solches sich
bilden sollte, aus. Die verbleibenden ethischen Risiken sind nicht andere als die aus anderen
Handlungsmodellen im bereits bekannten und bestehenden Korb für den Umgang mit frühem
ungeborenen menschlichen Leben [8;9].
6. DAS PRÄZISIONSPRINZIP
Klare und präzise Begriffe sind in Wissenschaft und Technik Voraussetzung für
saubere Analysen, Entwürfe und Konstruktionen. Terminologische Unklarheit ist gefährlich,
unprofessionell und schließlich auch unethisch, weil sie Risiken, Unsicherheiten, unnötige
Konflikte Gewissensbisse und Katastrophen verursachen kann. Differenzierende moderne
Technik steht zwar nach wie vor auf den newtonschen Regeln der klassischen Mechanik, geht
aber in ihrem Wissen und Können und damit auch in ihrer Terminologie weit darüber hinaus.
In der Ethik geht es um Abwägung und Differenzierung im wertgeleiteten Planen und im
Evaluieren von Handlungsalternativen; das ist ohne terminologische und konzeptionelle
Differenzierung nicht möglich [5]. Wer unklar denkt, wird auch unklar handeln. Wer ethische
Herausforderungen und Alternativen unpräzise formuliert, wird nicht zu differenzierenden
ethischen Urteilen und Handlungen kommen können. Deshalb ist undifferenzierendes und
unpräzises ethisches Argumentieren als solches schon ethisch insuffizient, gefährlich und
letztlich unethisch.
In den politischen und ethischen Kontroversen wird derzeit außerordentlich
undifferenziert diskutiert und gestritten. Die verbrauchende Forschung an Blastozysten und
das Kloning wird ‚Massenmord an ungeborenen Babies’ genannt. Es macht einen ethischen
und zivilisatorischen Unterschied, ob ich auf einem Spaziergang eine Blume abbreche und
achtlos wegwerfe oder ob ich sie meiner Geliebten schenke; beides wiederum unterscheidet
sich von der massenhaften Ernte des Getreides zu Nahrungszwecken. Das Töten eines Insekts
‚nur so zum Spaß’ ist kein Ausdruck des Respekts vor dem Leben; anders ist wohl das
Totschlagen einer Mücke zu bewerten, die sich gerade anschickt, mich zu stechen,
möglicherweise auch Krankheiten auf mich zu übertragen. Es gibt Kulturen, in denen das
Töten von Tieren ethisch diskriminiert ist; in solchen Kulturen ist der Genuss von tierischen
Produkten ethisch nicht akzeptiert. Andere Kulturen setzen andere ethische Maßstäbe, so wie
in der rabbinischen Tradition der Schwangerschaftsabbruch als weniger gegen Natur und Gott
gerichtet interpretiert wird, als das Töten eines Moskitos am Sabbat.
Neue und differenzierte durch wissenschaftlichen Fortschritt ermöglichte Szenarien
erfordern neue differenzierende ethische Wertungen. Das Verbringen eines somatischen
15
Zellkerns in eine entkernte Oocyte ist etwas anderes, als eine in vivo oder in vitro erfolgte
Fertilisation. Das verbrauchende Entnehmen von Stammzellen aus Blastozysten ist etwas
anderes, als ein Schwangerschaftsabbruch. Das manipulierende Verursachen von
Zellteilungen einer unbefruchteten Eizelle ist etwas anderes, als Zellteilungen, die sich im
Rahmen des Kloning ergeben, diese wiederum sind anders, als die natürlichen Zellteilungen
einer befruchteten Einzelle in vivo oder in vitro.
Wenn Personen, die als Experten oder Führungspersönlichkeiten in Philosophie,
Theologie, Rechtswissenschaft und Rechtsprechung, in Kirchen, Politik und Verwaltung
undifferenzierte Argumente in undifferenzierter Sprache bei ethisch und kulturell
kontroversen Debatten beibringen, so liegt das entweder an einem Unvermögen zur
intellektuellen und ethischen Differenzierung oder an einer absichtlichen Begriffsverwirrung
aus generalisierendem Moralismus. Erstere Position muss sich die Frage nach der
Professionalität, letztere die nach der Moral gefallen lassen.
In der genetischen Forschung gibt es diese Begriffsverwirrung oder –verwischung
selbstverständlich nicht. Für den medizinethischen und ordnungsethischen Diskurs bietet sich
daher die Verwendung einer präzisen Terminologie an, denn nur eine solche kann ethisch
differenzieren und unakzeptable Forschungsziele oder –methoden bestimmen. Dies sind
Termini, die in der Forschung benutzt werden und deren Übernahme in den ethischen Diskurs
zur Ethik solcher Diskurse beitragen könnte: ‚Stammzellen’ sind undifferenzierte Zellen, die
sich als solche proliferieren können; das mögen totipotente, pluripotente oder multipotente
Zellen sein. ‚Progenitorzellen’ sind Zellen, die sich nur in einen bestimmten Typ von Zellen
entwickeln können. ‚Reprogrammierung von Zellen’ ist ein Verfahren, mit dem die
Entwicklungsmöglichkeiten einer Zelle umgewandelt werden können. ‚Kloning’ ist ein
Verfahren, bei dem der Kern einer somatischen Zelle in eine entkernte Eizelle verbracht wird
und dieses Produkt zu weiteren Teilungen aktiviert wird. ‚parthenotes’ entstehen durch die
Stimulierung einer unbefruchteten Eizelle, die dadurch zu einer Serie von Zellteilungen
angeregt werden kann. ‚Embryos’ werden durch sexuelle Befruchtung, d.h. durch Eizelle und
Samen entweder in vivo oder in vitro, geschaffen. ‚Embryoide’ sind künstliche Konstrukte,
die durch Anwendung des Klonierens oder durch andere Reprogrammierungstechniken
entstehen. ‚Humoide’ sind Mischwesen, die durch Fertilisation aus menschlichen und
tierischen Oocyten entstehen können. ‚Chimären’ sind künstliche Konstrukte, die durch
Klonierung oder andere Techniken der Reprogrammierung unterschiedliche Anteile aus
tierischer und menschlicher genetischer Substanz enthalten. ‚Transgene Tiere’ sind Tiere, die
geringe Mengen menschlicher DNA enthalten und in der Regel zu Forschungen an speziellen
16
menschlichen Krankheiten benutzt werden. Babies sind Babies und keine Embryos; Äpfel
sind Äpfel und keine Apfelsinen.
7. DAS WÜRDEPRINZIP
‚Die Würde des Menschen ist unantastbar’ heißt es im Grundgesetz der
Bundesrepublik Deutschland. Damit wird ein Prinzip ausgedrückt, dass wesentlich zum Kern
menschlichen Selbstverständnisses und der Würde aller großen Religionen und Kulturen
gehört. Zur Würde des Menschen gehört auch die Würde der Einheit und Unteilbarkeit der
Menschheit als unveräußerliches Menschenrecht, für in zivilisierten Staaten Bürgerrechte
formuliert wurden und geschützt werden. Aus dem Prinzip der Würde des Menschen ergeben
sich Verantwortungen von Menschen für Menschen, insbesondere für diejenigen, deren
Würde von anderen verletzt wird, die krank und arm sind, die leiden und hungern. Es ergeben
sich aber auch Verantwortungen für die Natur und die Mitgeschöpfe. Das Quälen von Tieren
galt in allen Kulturen als unzivilisiert und barbarisch. Andererseits waren und sind in allen
Kulturen die Unterschiede von Mensch und Tier, auch die unterschiedlichen Verantwortungen
gegenüber Mensch und Tier immer wieder konkret und real. Der Gegensatz zwischen einem
anthropozentrischen und kosmozentrischen Ansatz einer Ethik konnte bisher immer innerhalb
eines anthropozentrischen Verantwortungsrahmens durchgeführt werden und ist auch nur
innerhalb dieses Rahmens methodisch möglich.
Die Analyse der ethischen Akzeptanz oder Tolerierung der Reprogrammierung
menschlicher Zellen in den Zusammenhängen der klinischen Forschung zeigte schon durch
das Prinzip einer differenzierten und dosierten Akzeptanz möglichst geringer
wissenschaftlicher und ethischer Risiken, durch den Vergleich mit anderen Formen des
Umgangs mit frühem menschlichen Leben in dem Körbchen legaler, akzeptierter oder
tolerierter Handlungen, durch die enge Auswahl von Forschungszielen mit maximaler
Erfolgsaussicht bei gleichzeitig minimalem Eingriff in bestehende kulturelle Gewohnheiten
und ethische Einstellungen, dass diese neuen Methoden nicht nur akzeptierbar und tolerierbar,
sondern darüber hinaus wünschenswert und geboten sind. Die Diskussion der sich aus dem
Solidaritätsprinzip ergebenden besonderen Pflichten den Kranken und Leidenden gegenüber
können zudem auch kulturgeschichtlich und arztethisch die besondere Verantwortung für eine
Verbesserung der klinischen Möglichkeiten von Heilung oder Linderung bestätigen. Der
Appell an das Prinzip der Würde aller Menschen, auch der kranken und leidenden, kann die
Bedeutung der Verbesserung medizinischer Möglichkeiten nur noch einmal unterstreichen.
17
Das Prinzip der Menschenwürde lässt es aber auch –insbesondere aufgrund leidvoller
Erfahrungen der Vergangenheit - als geboten erscheinen, zunächst einmal prinzipiell die
Prinzipien von Solidarität und Würde auch auszudehnen auf Chimären und Homoide, also auf
geborene Lebewesen, die genetisch zwischen Mensch und Tier stehen, aber auch sowohl
Mensch wie Tier repräsentieren. Wenn ein Homoid oder eine Chimäre auch die Würde des
Menschen ‚repräsentieren’ und wenn diese Würde grundsätzlich unteilbar ist, dann müssen
ihnen die vollen Rechte des Menschseins zugesprochen werden. Würden wir das nicht tun,
könnte es zu Regressionen in der ungeteilten Zurechnung von Menschenrechten als
Bürgerrechten bei Mitmenschen kommen, denen aus dem einen oder anderen Grunde ‚ein
Teil’ der Würde abgesprochen wird, wozu es in der Geschichte und leider auch in der
Gegenwart viel zu viele Beispiele gibt. Das ‚Oxford Dictionary’ bezeichnet als Dilemma eine
Situation, in der beide Alternativen einer Wahl gleich unerwünscht sind. Bei der ethischen
Bewertung der möglichen Würde von Chimären und Homoiden und der Abwägung von
Solidarität mit ihnen entsteht in der Tat eine Situation, in der beide Alternativen gleich
unerwünscht sind und jeweils auch teils unerwünschte Konsequenzen, teils solche haben
werden, die wir derzeit nicht klar erkennen können.
In unserem Zusammenhang ist vorwiegend die Chimärenbildung zwischen Mensch
und Tier zu diskutieren, nicht die Mensch-Maschine Version, die uns in futurologischen
Romanen oder Filmen begegnet. Untrennbare Mensch-Maschine Chimären versklaven den so
gebundenen Menschen, weil er oder sie sich nicht trennen, d.h. im klassischen Sinne nicht frei
entscheiden und über eine solche freie Entscheidung auch keine Verantwortung haben,
unabhängig davon, ob sie Menschen gegenüber andere leistungsfähigere mentale oder
intellektuelle oder körperliche Leistungen erbringen können. Solche Mensch-Maschine
Konstrukte sind ‚geborene’ Sklaven. Die Freiheit des Menschen besteht im Gebrauch oder
Nichtgebrauch von Maschinen, nicht in der unlösbaren Verbindung mit ihnen. Elektrochips
zur Unterstützung oder zum Organersatz beispielsweise des Gehörs oder Herzschrittmacher
machen aus diesen Mitmenschen keine Mensch-Maschine Chimären, obwohl einige solcher
Verbindungen, wie beispielsweise Herzschrittmacher, normale körperliche Prozesse wie das
Sterben etwa in unerwünschter Weise beeinflussen können. Die mechanische Ventilation und
die künstliche Ernaehrung auf der Intensivstation können durch Entfernung der Maschine
oder den Verzicht oder die Beendigung bisheriger Maßnahmen, wie beispielsweise
zusätzliche Sauerstoffzufuhr beendet werden; eine Herzschrittmacher wird nicht operativ
ausgebaut um eine ‚natürliches’ Sterben zu ermöglichen. Über solche Grenzfälle ist in diesem
Zusammenhang jedoch nicht weiter zu Räsonnieren.
18
Die Konsequenz aus der Argumentation zur Unteilbarkeit von Solidarität und
Menschenwürde ist der Appell zur Vermeidung dieses Dilemmas durch eine Verabredung,
gegebenenfalls ein Moratorium oder gar ein Gesetz, es zu vermeiden, dass Chimären aus
Mensch-Tier und Homoide, d.h. menschliche Klone, überhaupt geboren werden. Es gibt
ethische Situationen, die so komplex sind, dass man ihnen ausweichen und alles versuchen
sollte, dass sie nicht entstehen.
Die differentialethische Analyse der Kontroverse um die Forschung an embryonalen
Stammzellen zu Zwecken der Verbesserung therapeutischer Möglichkeiten kann im Licht der
benutzten Prinzipien grundsätzlich eine eng am Forschungsziel orientierte und weitergehende
ethische Folgeprobleme ausklammernde Forschung nicht nur als akzeptabel, sondern als
erwünscht bewerten. Die sonst üblicherweise für bioethische Abwägungen benutzten
Georgetown-Prinzipien ‚autonomy, beneficence, nonmaleficence, justice’ würden zu keinem
anderen Ergebnis führen. Das braucht hier im einzelnen nicht ausgeführt werden, weil schon
die Argumentationen bei diesen sechs Prinzipien, von denen das Körbchenprinzip und das
Minimaxprinzip neu waren, sich gegenseitig stark stützten in der Akzeptanz einer sinnvollen
und verantwortungsvollen klinischen Forschung an der Re-Programmierung menschlicher
Zellen im Interesse kranker Mitmenschen. Unterschiedliche Kulturtraditionen und
unterschiedliche individuelle oder kollektive Schwerpunktsetzungen, die bis hin zu
Ablehnung führen, dürfen jedoch solche Individuen und Gruppen nicht von der medizinischen
Versorgung und menschlichen Solidarität ausschließen, auch wenn ihre Argumentationen
kaum nachzuvollziehen und ihre medizinische Versorgung bei selbstgewähltem Verzicht auf
durch Re-Programmierung menschlicher Zellen gewonnen Produkten weniger erfolgreich
sein dürfte.
KONTRAPUNKT
EMBRYO DISKURSE ÜBER EMBRYOIDE
Es war einmal ein 80 Tage alter Embryo, der sagte zu sich selbst: 'Das ist gemein und
unanständig'. - 'Was meinst Du'? fragte die Zwillingsschwester. - Embryo: 'Die Leute machen
künstliche Zellen aus dem Transfer der Kerne von somatischen Zellen in eine entkernte
Eizelle und nennen das Produkt "Embryo"'. - Schwester: 'Das ist eine Beleidigung; diese
Produkte haben keine Mutter und keinen Vater wie wir. Es sind Embryoide, keine Embryos
wie wir; die Leute verwechseln Äpfel mit Apfelsinen'. - Embryo: 'Unsere Mutter liebt uns; wir
sind in ihrem Bauch; ich liebe meine Mutti; die Embryoide sind in einer künstlichen Lösung
19
in einer Petrischale; sie werden nicht geliebt; sie werden nur produziert um daraus
Stammzellen zu züchten als Medizin für kranke Menschen'. - Schwester: 'Kranken und Armen
helfen, das ist sehr gut; aber man muss diese Kunstprodukte doch nicht gleich Embryonen
nennen; ich liebe meine Mutti auch, auch meinen Daddy, Dich auch; wir sind uns ja so nah. -
Embryo: 'Ich denke, unser Vati liebt uns auch, genauso wie unsere Mutti; er ist ja nicht ganz
gesund und ein Arzt hat unseren Eltern geholfen, für unsere Zeugung Samen in den Eileiter
unserer Mutti befördern'. - Schwester: 'Medizinische Hilfe ist gut; wir würden sonst ja gar
nicht leben'. - Embryo: 'Und hätte sich die befruchtete Eizelle nicht in zwei geteilt, dann gäbe
es uns beide auch nicht, sondern es gäbe jemanden anders oder gar keinen, je nachdem ob
das befruchtete Ei sich nicht gespalten oder nicht weiterentwickelt hätte'. - Schwester: 'Ja, so
ist eben das Leben. Aber warum nennen diese Menschen diese Konstrukte denn Embryonen?'
- Embryo: 'Vielleicht können oder wollen sie nicht klar denken oder wollen Kranken nicht
helfen; einige wollen sogar diese guten Ärzte und Forscher, die solche Produkte entwickeln,
sogar ins Gefängnis werfen'. - Schwester: 'Warum machen sie das? - Embryo: 'Sie sagen, sie
wollen Menschen schützen, auch Ungeborene wie uns; aber sie verstehen nicht, dass diese
Konstrukte ganz anders sind als wir'. - Schwester: 'Das ist wirklich dumm; sagt man nicht
"Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz"? - Embryo: 'Natürlich ist auch Macht im
Spiel, und einige scheren sich wenig um das Leid ihrer Mitmenschen'. - Schwester: 'Das ist
wirklich dumm und arrogant und richtig ungerecht; ich möchte nicht in einer Welt leben, die
von diesen Leuten bestimmt wird. - Embryo: 'Was können wir schon machen; wir können uns
ja nicht selbst abtreiben'. - Schwester: 'Unsere Eltern lieben uns; wir sind eine richtig
glückliche Familie, jetzt und nach unserer Geburt'. - 20 Jahre später erkrankte eines der
beiden Mädchen an schwerem Diabetes. Die Behandlung war einfach und erfolgreich; man
benutzte ein Verfahren der Reprogrammierung somatischer Zellen, mit dem aus einer
Körperzelle von ihr Medizin entwickelt wurde und sie heilte. Und da die beiden nicht
gestorben sind, leben sie heute noch.
20
LITERATUR
1. Hwang, Woo Suk; Roh, Sung Il; Lee, Byeong Chun, et al (2005) Patient-specific embryonic stem cells derived from human SCNT blastocysts. Science March 15 [DOI: 101126/science.1112286.- Vgl auch D Normile, G Vogel, C Holden in Science Dec 23, 2005, vol. 310:1886f; Final Report on Professor Woo Suk Hwang’s Research by Seoul National University Investigational Committee in Intern Herald Tribune Jan 10, 2006]
2. International Society for Stem Cell Research (2005) Homepage http://www.isscr.org 3. Ilkilic, Ilhan (2004) Der moralische Status des Embryos im Islam und die wertplurale
Gesellschaft. Weltanschauliche Offenheit in der Bioethik, hg E. Baumann, A. Brink, A. May, P. Schröder, C. Schutzeichel, Berlin: Duncker und Humblot, 163-178
4. Sass HM (1989) Technical and cultural aspects of risk perception. Research in Philosophy
and Technology 9:115-124 5. Sass HM (1991) Für präzise und differenzierte Begriffe. Mitteilungen des
Hochschulverbandes, 5. Oktober 1991, 233-236 6. Sass, Hans-Martin (2004) Asian and Western Bioethics - Converging, Conflicting,
Competing? Eubios Journal of Asian and International Bioethics 14 (Jan 2004), 13-22 7. UN. General Assembly (2005) [Nonbinding] Declaration banning all Forms of Human
Cloning. www.un.org/apps/news/story.asp?news ID=13576 &Cr=cloning& Cr1=UN Press Release
8. UK. House of Commons Science and Technology Committee (2005) Report on Human
Embryo Research www.publications.parliament.uk/pa/cm200405/cmselect/ cmsctech/7/7i.pdf
9. US. National Research Council of the National Academies. Committee on Guidelines for
Human Embryonic Stem Cell Research (2005) Guidelines for Human Embryonic Stem Cell Research. Prepublication Copy. http://books.nap.edu/catalog/11278.html
21
ZUSAMMENFASSUNG Hans-Martin Sass diskutiert ethische Aspekte von Cloning und Reprogrammierung
menschlicher Zellen in der klinischen Forschung mit der Methode der Prinzipienethik anhand
eines konkreten Falles. Neben bekannten Prinzipien wie der Abwägung von Risiken, der
Solidarität, dem Respekt vor der menschlichen Würde, dem Prinzip präziser Argumentation
benutzt er unter ordnungsethischen Aspekten ein ‚Körbchenprinzip’ und ein
‚Minimaxprinzip’. Das Körbchenprinzip vergleicht neue ethische Fälle mit solchen, die
bereits in einem Körbchen von kulturell oder ethisch akzeptierten oder tolerierten
Einstellungshaltungen sich vorfinden; das Minimaxprinzip versucht, einen Ausgleich zu
finden zwischen minimalen Eingriffen in bestehende kulturelle oder ethische Traditionen und
Urteile und einem Maximum an sinnvollen und eng definierten forscherischen Optionen und
der Verbesserung von Therapie.
ABSTRACT
Hans-Martin Sass discusses ethical aspects of cloning and reprogramming of human cells in
clinical research. Applying the principalism method in a case, he makes use of well
established principles such as Balancing Risk, Solidarity, Respect for Human Dignity,
Precision in Argumentation. He also introduces two new principles: the Basket Principle and
the Minimax Principle. The Basket principle compares a new case of ethical concern and
challenge with other cases in a basket of already accepted or tolerated ethical behavior and
judgment. The Minimax principle intends to balance a minimal obstruction of established
cultural or ethical traditions and judgments with a maximum of reasonable well-defined
options in clinical research and new therapy.
ISBN: 3-931993-44-2
Zentrum für Medizinische Ethik
Medizinethische Materialien
Sehr geehrte Damen und Herren, an dieser Stelle befindet sich in der gedruckten Version eine Auflistung unserer Veröffentlichungen. Bei den PDF-Dokumenten handelt es sich zum Teil um ältere Veröffentlichungen, so dass keine Aktualisierung der Hefteliste in den Dokumenten vorliegt. Wir möchten Sie herzlich bitten, sich auf unserer Homepage über unsere neuen Veröffentlichungen aus der Reihe "Medizinethische Materialien" zu informieren. Vielen Dank!
www.medizinethik-bochum.de
Zentrum für Medizinische Ethik Tel: (0234) 32 22749/50 FAX: (0234) 3214 598 Email: [email protected] Homepage: http://www.medizinethik-bochum.de Bankverbindung: Konto Nr. 133 189 035, BLZ 430 500 01 Sparkasse Bochum