Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien / …€¦ · zog sich dieser Wandel bereits nach...

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B rasilien zählt heute zu den am stärk- sten verstädterten Ländern Latein- amerikas: Annähernd 80 % der Be- völkerung leben in Städten, insgesamt ein Viertel in Metropolen (Städte mit mehr als 500 000 Einw.; vgl. Bähr und Mertins 1995). Brasilien nähert sich damit allmählich den in höchstem Maße verstädterten Ländern Argentinien, Uruguay und Chile an, die für Südamerika eine Vorreiterrolle im Über- gang von einer agrarischen zu einer städti- schen Gesellschaft übernahmen. Dort voll- zog sich dieser Wandel bereits nach der Jahrhundertwende, in Brasilien ist er hinge- gen erst in den 60er Jahren zu beobachten: 1970 übertraf die urbane erstmals die länd- liche Bevölkerung, nachdem in Südostbrasi- lien diese Schwelle bereits 1960 überschrit- ten worden war (vgl. Tab. 1). Gefördert wurde dieser Prozeß vor allem durch die fortschreitende Industrialisie- rung, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins- besondere von den Großräumen São Paulo und Rio de Janeiro ausging. Sie war mit ei- ner damals noch sehr hohen Geburtenrate bei sinkenden Sterbeziffern, hohen Arbeits- losigkeit im ländlichen Raum, überkomme- nen Agrarstruktur und anderen push-Fakto- ren verbunden, die mit pull-Faktoren zu umfangreichen Land-Stadt- sowie großräu- migen Binnenwanderungen führten (vgl. Kohlhepp 1982; Mertins 1982). So verloren beispielsweise die zehn nordöstlichen Bundesstaaten in den 70er Jahren 5,6 Mio. Einw. an andere Regionen, wohingegen allein der Bundesstaat São Pau- lo einen positiven Wanderungssaldo von 4,6 Mio. verzeichnete. Die herausragende Bedeutung des Südostens für die brasiliani- sche Wirtschaft ist trotz eines leichten Rückgangs seit den 70er Jahren ungebro- chen: 64 % (1985) der Industriebeschäftig- ten arbeiten in dieser Region (1970: 70 %), und 69 % (1985) der Industrieproduktion werden hier erzielt (1975: 76 %; Daten des Censo Econômico 1970, 1975 und 1985). Verstädterung und Städtesystem seit den 80er Jahren In den 80er Jahren schwächte sich der Zu- strom der Migranten ab, die vormals hauptsächlich aus den ländlichen Gebieten Nordostbrasiliens, meist in Etappen, bis in den Südosten gewandert waren. Andere Ziel- gebiete, vor allem der Norden und Mittelwe- sten, erlangten größere Bedeutung, und die Bevölkerung wuchs hier stärker an als in den traditionellen Zuwanderungsgebieten (vgl. Tab. 1). Trotzdem hat sich das grund- legende Verteilungsmuster der Bevölkerung nicht mehr wesentlich verändert, wenn- gleich sich die Einwohneranteile in den äußerst dünn besiedelten Bundesstaaten im Westen und Norden Brasiliens in den letzten Dekaden verdoppelt haben. 43 % der Bevöl- kerung leben nach wie vor im Südosten, 29 % im Nordosten, und der Rest verteilt sich auf den Süden, Norden und Mittelwesten. Als weitere Indikatoren für die Urbani- sierung sind der Grad der Vergroßstädte- rung (= Anteil der Bevölkerung in Städten > 100 000 Einw.) und der Metropolisie- rungsgrad anzusehen. Beide zeigen, daß wiederum der Südosten schon sehr früh ei- nen hohen Anteil an großstädtischer Bevöl- kerung aufweist. Vergleicht man diese beiden Kennzif- fern auf bundesstaatlicher Ebene für das Jahr 1996, so zeigt sich, daß in den südöstli- chen Staaten Rio de Janeiro und São Paulo jeweils die höchsten Raten festzustellen 656 Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien Rainer Wehrhahn Aktuelle Prozesse und Probleme Brasilien hat sich in den vergangenen 30 Jahren von einem agrarisch geprägten in einen durch die städtische Gesellschaft dominierten Staat gewandelt. Die Hälfte der Bevölkerung lebt heute in Großstädten, allein 26 Mio. in den beiden Megastädten São Paulo und Rio de Janeiro. Dabei kämpfen die seit 1960 rasch wachsenden Metropolen des Landes unverändert mit immensen Infrastruktur- problemen. In Verbindung mit hoher Arbeitslosigkeit, Unter- beschäftigung und Armut führt dies zu einer sozialen Polarisierung nicht nur auf großräumiger Ebene, sondern vor allem auch innerhalb der Großstädte, wo sich Gewinner und Verlierer der globalen wie nationalen sozioökonomischen Transformationsprozesse unmittelbar gegenüberstehen. Foto 1: Favelas existieren in allen brasilianischen Großstädten, nicht nur in den großen Metropolen In der Favela do Dique in Santos leben 15 000 Personen, meist in Pfahlbauten in einer (ehemaligen) Mangovenzone Fotos 1, 2, 4 und 5: R. Wehrhahn

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B rasilien zählt heute zu den am stärk-sten verstädterten Ländern Latein-amerikas: Annähernd 80 % der Be-

völkerung leben in Städten, insgesamt einViertel in Metropolen (Städte mit mehr als500 000 Einw.; vgl. Bähr und Mertins 1995).Brasilien nähert sich damit allmählich denin höchstem Maße verstädterten LändernArgentinien, Uruguay und Chile an, die fürSüdamerika eine Vorreiterrolle im Über-gang von einer agrarischen zu einer städti-schen Gesellschaft übernahmen. Dort voll-zog sich dieser Wandel bereits nach derJahrhundertwende, in Brasilien ist er hinge-gen erst in den 60er Jahren zu beobachten:1970 übertraf die urbane erstmals die länd-liche Bevölkerung, nachdem in Südostbrasi-lien diese Schwelle bereits 1960 überschrit-ten worden war (vgl. Tab. 1).

Gefördert wurde dieser Prozeß vor allemdurch die fortschreitende Industrialisie-rung, die nach dem Zweiten Weltkrieg ins-besondere von den Großräumen São Paulound Rio de Janeiro ausging. Sie war mit ei-ner damals noch sehr hohen Geburtenratebei sinkenden Sterbeziffern, hohen Arbeits-losigkeit im ländlichen Raum, überkomme-nen Agrarstruktur und anderen push-Fakto-ren verbunden, die mit pull-Faktoren zuumfangreichen Land-Stadt- sowie großräu-migen Binnenwanderungen führten (vgl.Kohlhepp 1982; Mertins 1982).

So verloren beispielsweise die zehnnordöstlichen Bundesstaaten in den 70erJahren 5,6 Mio. Einw. an andere Regionen,wohingegen allein der Bundesstaat São Pau-lo einen positiven Wanderungssaldo von4,6 Mio. verzeichnete. Die herausragendeBedeutung des Südostens für die brasiliani-sche Wirtschaft ist trotz eines leichten

Rückgangs seit den 70er Jahren ungebro-chen: 64 % (1985) der Industriebeschäftig-ten arbeiten in dieser Region (1970: 70 %),und 69 % (1985) der Industrieproduktionwerden hier erzielt (1975: 76 %; Daten desCenso Econômico 1970, 1975 und 1985).

Verstädterung und Städtesystemseit den 80er JahrenIn den 80er Jahren schwächte sich der Zu-strom der Migranten ab, die vormalshauptsächlich aus den ländlichen Gebieten

Nordostbrasiliens, meist in Etappen, bis inden Südosten gewandert waren. Andere Ziel-gebiete, vor allem der Norden und Mittelwe-sten, erlangten größere Bedeutung, und dieBevölkerung wuchs hier stärker an als inden traditionellen Zuwanderungsgebieten(vgl. Tab. 1). Trotzdem hat sich das grund-legende Verteilungsmuster der Bevölkerungnicht mehr wesentlich verändert, wenn-gleich sich die Einwohneranteile in denäußerst dünn besiedelten Bundesstaaten imWesten und Norden Brasiliens in den letztenDekaden verdoppelt haben. 43% der Bevöl-kerung leben nach wie vor im Südosten, 29%im Nordosten, und der Rest verteilt sich aufden Süden, Norden und Mittelwesten.

Als weitere Indikatoren für die Urbani-sierung sind der Grad der Vergroßstädte-rung (= Anteil der Bevölkerung in Städten> 100 000 Einw.) und der Metropolisie-rungsgrad anzusehen. Beide zeigen, daßwiederum der Südosten schon sehr früh ei-nen hohen Anteil an großstädtischer Bevöl-kerung aufweist.

Vergleicht man diese beiden Kennzif-fern auf bundesstaatlicher Ebene für dasJahr 1996, so zeigt sich, daß in den südöstli-chen Staaten Rio de Janeiro und São Paulojeweils die höchsten Raten festzustellen

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Urbanisierung und Stadtentwicklung in BrasilienRainer Wehrhahn Aktuelle Prozesse und Probleme

Brasilien hat sich in den vergangenen 30 Jahren von einem agrarischgeprägten in einen durch die städtische Gesellschaft dominiertenStaat gewandelt. Die Hälfte der Bevölkerung lebt heute in Großstädten, allein 26 Mio. in den beiden Megastädten São Paulo undRio de Janeiro. Dabei kämpfen die seit 1960 rasch wachsenden Metropolen des Landes unverändert mit immensen Infrastruktur-problemen. In Verbindung mit hoher Arbeitslosigkeit, Unter-beschäftigung und Armut führt dies zu einer sozialen Polarisierungnicht nur auf großräumiger Ebene, sondern vor allem auch innerhalbder Großstädte, wo sich Gewinner und Verlierer der globalen wie nationalen sozioökonomischen Transformationsprozesse unmittelbargegenüberstehen.

Foto 1: Favelas existieren in allen brasilianischen Großstädten, nicht nur in den großen MetropolenIn der Favela do Dique in Santos leben 15 000 Personen, meist in Pfahlbauten in einer (ehemaligen) Mangovenzone

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Nettowanderungsrate 1970-1980:

São Bernardodo Campo

Guarulhos

Osasco

SantoAndré

São PauloCarapicuiba

Barueri

Cotia

Itapevi

Taboão Embu

São Caetano do Sul

Mauá

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Nettowanderungsrate 1980-1991:

São Bernardodo Campo

Guarulhos

Osasco

SantoAndré

São PauloCarapicuiba

Barueri

Cotia

Itapevi

Taboão Embu

São Caetano do Sul

Mauá

Diadema

Mogi des Cruzes

Suzano

Itaquaquecetuba

0 10 20km

de Serra

Abb. 1: Nettowanderungsraten in der Metropolitanregion São PauloQuelle: Eigener Entwurf nach Daten der SEADE (Fundação Sistema Estadual de Análise de Dados, São Paulo)

sind (vgl. Abb. 2). Dementsprechend großist die Konzentration an Städten über250 000 Einw. Dabei liegen die in der Karteausgewiesenen Städte > 500 000 Einw. mitAusnahme des 80 km von São Paulo ent-fernten Campinas innerhalb der jeweiligenMetropolitanregionen. Die ebenfalls zu die-ser Großregion gehörenden Staaten MinasGerais und Espírito Santo sind bis auf denGroßraum Belo Horizonte weiterhin vorwie-gend agrarwirtschaftlich ausgerichtet, mitentsprechender Bedeutung des ländlichenRaums als Siedlungsgebiet.

Auch in Nordostbrasilien ist die Ver-großstädterung bereits weit vorangeschrit-ten, was sich ebenfalls in einer großen Zahlan Metropolen bzw. Millionenstädten äu-

ßert (vgl. Abb. 2). Fast jeder der verhältnis-mäßig kleinen Bundesstaaten – Ausnahme:Bahia mit 12,5 Mio. Einw. (1996) – verfügtüber eine eigene Metropole, nur die Haupt-stadt Sergipes, Aracaju, verfehlt mit428 000 Einw. noch diesen Status. Im Ge-gensatz zum Südosten liegt jedoch der Me-tropolisierungsgrad im Nordosten bei nur21,5 %, und ein relativ großer Teil der Bevöl-kerung lebt in kleineren Siedlungen, so daßder Gegensatz zwischen den großen Metro-polen an der Küste und dem ländlichen,meist noch stark traditionell geprägt Lan-desinneren auch weiterhin als charakteri-stisch gelten kann und mit der fortschrei-tenden Modernisierung einzelner Großräu-me sogar noch verstärkt wird.

Unter Einbeziehung der drei anderenGroßregionen, des Nordens (mit den Bun-desstaaten Amazonas, Roraima, Amapá,Pará, Acre, Rondônia und Tocantins; vgl.Abb. 2), Mittelwestens (Mato Grosso, MatoGrosso do Sul, Goiás und Distrito Federalmit Brasília) sowie Südens (Paraná, SantaCatarina und Rio Grande do Sul) ergibt sichinsgesamt folgendes Bild des aktuellenStädtesystems:� Der Hauptsiedlungsraum liegt seit derKolonialisierung an der Küste, wobei jedochim 20. Jh. eine Verlagerung des Schwer-punkts von Norden nach Süden stattgefun-den hat, die sich in der aktuellen Dominanzdes Raums São Paulo–Rio de Janeiro–BeloHorizonte ausdrückt.

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PortoAlegre

Curitiba

Rio de Janeiro

Belo Horizonte

Campo Grande

Goiâna

Brasília

Manaus

São Luís

Teresina

Fortaleza

Natal

João Pessoa

Recife

Maceió

Salvador

0 250 500 1000 km

São Paulo: 9,8 Mio.

Rio de Janeiro: 5,6 Mio.

1 - 2,2 Mio Ew.

500.000 - < 1 Mio. Ew.

250.000 - < 500.000 Ew.

weit überdurchschnittlich

überdurchschnittlich

unterdurchschnittlich

weit unterdurchschnittlich

Bevölkerungsdichte (Ew. pro qkm):

Jährl. Zuwachsrate der Bev. 1991-96:< 10

10 - 30

30 - 65

65 - 100

137

> 300

Belém

Jaboatão

São Paulo

NovaIguaçu

Duque de CaxiasSão Gonçalo

Anteil urbaner Bevölkerung in %

Grad der Vergroßstädterung

Metropolisierungsgrad

1

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1

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AMAZONAS

MATO GROSSO

PARÁ

RONDÔNIA

ACRE

RORAIMA

AMAPÁ

TOCAN-TINS

BAHIA

MINAS GERAIS

MARANHÃO

PIAUÍ

CEARÁRN

PA

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GOIÁS

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SCRS

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ALAGOAS

ESPÍRITO SANTO

PARAÍBA

PERNAMBUCO

PARANÁ

RIO GR. DO NORTE

RIO GRANDE DO SUL

SANTA CATARINA

SERGIPE

Osasco

Campinas

Guarulhos

Santo André

São Bernardodo Campo

MATO GR.DO SUL

Abb. 2: Verstädterung und Städtenetz in Brasilien 1996Die Angaben zur Bevölkerungszahl der Städte beziehen sich nur auf die Kernmunizipien; Angaben zur Verstädterung nur für Bundesstaaten mit mehr als 3 Mio. Einw. 1996;Grad der Vergroßstädterung: Anteil der Bevölkerung in Städten > 100 000 Einw. 1996; Metropolisierungsgrad: Anteil der Bevölkerung in Städten > 500 000 Einw. 1996Quelle: Eigener Entwurf nach IBGE 1997

� Der Südosten ist nicht nur durch einenhohen Verstädterungsgrad und eine großeZahl von Metropolen gekennzeichnet, son-dern auch dadurch, daß sich dort – als Be-sonderheit des brasilianischen Städtesy-stems – die beiden Megastädte São Paulound Rio de Janeiro herausbilden konnten.Mit Guarulhos und São Bernardo do Camposind innerhalb der Metropolitanregion SãoPaulo zudem die beiden im letzten Zensus-zeitraum von 1991–96 am stärksten wach-senden Munizipien mit über 500 000 Einw.zu lokalisieren (vgl. Abb. 3).� Der Norden und Mittelwesten haben un-ter dem Einfluß von Regionalentwicklungs-programmen in Verbindung mit ungelenk-ter Kolonisation sowie in die urbanen Zen-tren gerichteter Migration seit den 60erJahren beständig an Bevölkerung gewon-nen (Lücker 1990; Kohlhepp 1994). DieHauptstädte der betreffenden Bundesstaa-ten, wie z. B. Manaus, Goiânia oder CampoGrande sowie Brasília, verzeichneten so teil-weise extreme Zuwachsraten (vgl. Abb. 3).Seit 1980 wachsen diese Regionalmetropo-len der bis dahin wenig erschlossenen Bin-nenräume sehr viel schneller als die mei-sten anderen brasilianischen Großstädtean.

Insgesamt hat sich der bereits von Bährund Wehrhahn (1994 und 1995) für die Zeitbis 1991 belegte Trend einer Verlagerungdes Schwerpunkts städtischen Wachstumsin das Landesinnere Brasiliens auch in denvergangenen Jahren fortgesetzt. Trotzdemkann sowohl aufgrund des vergleichsweisegeringen Bevölkerungsanstiegs als auchwegen der nach wie vor nur mäßigen wirt-schaftlichen Bedeutung des Nordens undMittelwestens noch nicht von einem polari-zation reversal auf nationaler Ebene gespro-

chen werden. Vielmehr ist davon auszuge-hen, daß der Südosten und Süden ökonomi-scher wie demographischer Kernraum desbrasilianischen Subkontinents bleiben, zu-mal sich die in den 90er Jahren erfolgtenumfangreichen internationalen Investitio-

nen in den Industriesektor ganz wesentlichauf das „Polygon“ (Diniz 1994) um das alteund neue Zentrum São Paulo (mit den Eck-punkten Belo Horizonte, Landesinneres desBundesstaats São Paulo, Curitiba, Florianó-polis und Porto Alegre) konzentrierten.Außerdem ist der Raum hinsichtlich derVerkehrs-, Kommunikations- und For-schungsinfrastruktur für lateinamerikani-sche Verhältnisse hervorragend erschlos-sen und fungiert im Rahmen des MercosulSão Paulo aufgrund seines ökonomischenGewichts als brasilianisches Pendant zur ar-gentinischen Hauptstadt Buenos Aires, wowichtige wirtschaftspolitische Zusam-menkünfte der Mitglieder stattfinden.

Entwicklung der MetropolitanregionenWenngleich sich im gesamtstaatlichen Maß-stab noch keine gravierende Dekonzentrati-on feststellen läßt, so sind doch auf klein-räumiger Ebene, namentlich in den Metro-politanregionen und deren Hinterland, inletzter Zeit bedeutsame Umstrukturierun-gen zu beobachten. Diese Großräume ver-zeichneten mit Ausnahme Rio de Janeirosbis 1980 immer deutlich über dem brasilia-nischen Mittel liegende Zuwachsraten derBevölkerung, so daß sich ihr Anteil an derGesamtbevölkerung kontinuierlich von 18%(1950) auf 29 % (1980) erhöhen konnte.Seitdem stagniert dieser Anteil, was vor al-

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Foto 2: Sozialer Wohnungsbau in CampinasDie kleinen „Doppelhäuser“ können wegen der relativ hohen Abzahlungsraten nur von Mitgliedern der unteren Mittelschicht gekauft werden. Problematisch ist für untere Einkommensgruppen ebenfalls oft auch die Lage an derPeripherie, durch die Zeit und Kosten für die alltäglichen Wege erhöht werden

Foto 3: Cortiços in São PauloAls Massenunterkunft genutzte, degradierte ehemalige Wohnhäuser derOber- und Mittelschicht sind in allen Innenstädten brasilianischer Großstädte zu findenFo

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660 R. Wehrhahn: Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien

lem darauf zurückzuführen ist, daß dieKernstädte der Metropolitanregionen mitt-lerweile erheblich langsamer wachsen alsfrüher. Für São Paulo, Porto Alegre und BeloHorizonte gilt dies seit 1980, für Rio de Ja-neiro und Recife schon für die vorhergehen-den Dekaden. In den fünf genannten Muni-zipien erreichen die Raten heute nur nochmaximal die Hälfte des nationalen Durch-schnitts (vgl. Tab. 2).

Nach einer Phase der Konzentration desBevölkerungswachstums auf die Kernstädtesind die meisten Metropolitanregionen somitin einen Suburbanisierungsprozeß eingetre-ten. Für das genaue Festlegen dieses Zeit-punkts ist allerdings nicht nur die Zuwachs-rate, sondern auch die absolute Zahl derBevölkerungsgewinne von Interesse, da mit-unter im Verhältnis zur Kernstadt sehr klei-ne Munizipien äußerst hohe Wachstumsra-ten verzeichnen können, ohne daß dadurchschon von einer Verlagerung des Wachs-tumsschwerpunkts zu sprechen wäre.

In São Paulo lagen die absoluten Zu-wächse in den 60er Jahren in der Kernstadtmit 2,2 Mio. noch doppelt so hoch wie in derPeripherie, 1970–80 war das Verhältnis2,6 : 1,9 Mio., und erst in der Periode von1980–91 ist der Bevölkerungsgewinn inden Munizipien des suburbanen Raums mit

1,7 Mio. deutlich höher als im Munizip SãoPaulo (1,1 Mio.). Im gleichen Zeitraumkehrte sich der Wanderungssaldo in derKernstadt von ehemals positiven zu negati-ven Werten um: Von 1980–91 verlor dasMunizip 756 000 Einw. durch Abwande-rung, die übrigen Munizipien verzeichne-ten im Saldo hingegen noch 481 000 Zu-wanderer (vgl. Abb. 1). Allerdings wird derWanderungsverlust in São Paulo wie auchin den anderen Kernstädten mit sehr nied-rigen Zuwachsraten (Porto Alegre, Rio deJaneiro, Belo Horizonte, Recife) noch durcheinen hohen Geburtenüberschuß ausgegli-chen. Wohl aber verzeichnen einige Teil-räume der genannten Kernstädte schonseit längerem insgesamt Bevölkerungsver-luste.

In Curitiba, Fortaleza und Salvadorstellt sich die Bevölkerungsentwicklung et-was anders dar (vgl. Tab. 2). Sie verzeich-nen als kleinere Metropolitanregionen seitlängerem sehr hohe Zuwachsraten, wobeiCuritiba im letzten Analysezeitraum so-wohl im Kernraum als auch in der Periphe-rie die Spitzenposition einnimmt und entge-gen dem allgemeinen Trend sogar steigen-de Zuwachsraten aufweist. Diese moderneMetropolitanregion erfüllt für Migrantenähnlich wie andere Großstädte des Süd-ostens und Südens seit einiger Zeit dieFunktion einer „Entlastungsmetropole“ fürdie Megastadt São Paulo, dient zugleichaber auch als Zwischenetappe bei Wande-rungen aus dem Landesinneren des Bun-desstaats Paraná in andere brasilianischeGroßregionen.

Fortaleza und Salvador fungieren zu-sammen mit anderen Regionalmetropolendes Nordostens als Auffangstädte für Land-Stadt-Migranten, von denen wiederum einTeil weiterwandert. In Salvador nähert sichdie Wachstumsrate seit neuestem aller-dings dem brasilianischen Durchschnitt, sodaß auch hier – ähnlich wie schon lange zu-vor in Rio de Janeiro und Recife sowie etwasspäter in São Paulo und Porto Alegre – miteiner Umkehr der Wanderungsbewegun-gen, aus der Kernstadt heraus, zu rechnenist. Die von Mertins und Thomae (1995) fest-gestellte Suburbanisierung innerhalb desMunizips Salvador würde sich also überdessen Grenzen hinaus verlagern.

Tab. 1: Kennziffern der Urbanisierung in den brasilianischen Großregionen

Region Bevölkerung Anteil an derGesamtbevölkerung

1960 1980 1996 1960 1980 1996

Norden 2 562 5 880 11 290 3,7 5,6 7,2Nordosten 22 182 34 812 44 768 31,7 29,3 28,5Südosten 30 631 51 734 67 003 43,7 43,5 42,7Süden 11 753 19 031 23 517 16,8 15,9 14,9Mittelwesten 2 943 7 545 10 501 4,2 5,7 6,7Brasilien 70 070 119 003 157 079 100 100 100

Quellen: Censo Demográfico 1960–91; IBGE 1997

Abb. 3: Bevölkerungsentwicklung in den brasilianischen Metropolen 1970–96 (unten: Millionenstädte; oben: Städte mit 500 000 bis 1 Mio. Einw. [1996])Quellen: Censo Demográfico 1970, 1980 und 1991; IBGE 1997

In São Paulo ist dieser Dekonzentra-tionsprozeß sogar so weit fortgeschritten,daß nicht mehr nur die peripheren Munizi-pien der Metropolitanregion, sondern auchweiter entfernt liegende Städte, wie Cam-pinas, Sorocaba oder Ribeirão Preto, neuer-dings hohe Bevölkerungsgewinne verzeich-nen und sich zu eigenständigen Ballungs-räumen entwickeln. Ermöglicht wird diesdurch den Aufbau einer zunächst meist aufder Weiterverarbeitung landwirtschaftli-cher Produkte beruhenden Industrie, aberauch durch die Verbesserung der Verkehrs-infrastruktur und eine Aufwertung deshöheren Bildungssystems im Hinterland.Zusätzlich wirken Agglomerationsnachteileder Megastadt São Paulo als push-Faktoren,insbesondere Verkehrs- und Umweltproble-me, hohe Bodenpreise, mangelnde Flächen-verfügbarkeit und z. T. auch Umweltaufla-gen, die von der Umweltbehörde des Bun-desstaats eingefordert werden (Wehrhahn1994; Bähr und Wehrhahn 1995; Negri1996). Im Falle von Campinas, das als Groß-raum die Einwohnerschwelle von 1 Mio. be-reits weit überschritten hat, aber auch eini-ger anderer Agglomerationen im Bundes-staat São Paulo, ist seit den 80er Jahrensogar schon eine gewisse Dekonzentrationinnerhalb dieser neuen Ballungsräume zubeobachten, so daß aus demographischerSicht von einem echten polarization rever-sal-Prozeß auf regionaler Ebene gesprochenwerden kann.

Probleme der StadtentwicklungZwar wachsen die größten Metropolen mitt-lerweile erheblich langsamer und habenz. T. deutlich negative Wanderungsbilan-zen, doch der für viele lateinamerikanischeLänder typische rasche Urbanisierungspro-zeß in Verbindung mit einer starken Metro-polisierung dauert unvermindert an, da nundie kleineren Großstädte sowohl im Um-feld der großen Ballungszentren als auchim Landesinneren stärker betroffen sind.Positiv zu beurteilen ist die Abnahme derGeburtenraten – z. T. bedingt durch eineveränderte Altersstruktur –, der Säuglings-sterblichkeit sowie der Ausbau der öffentli-chen Infrastruktur in den großen Metropo-len (vgl. Tab. 3).

ArmutDas größte und seit den 70er Jahren konti-nuierlich neu diskutierte Problem latein-amerikanischer Agglomerationen aber bleibtbestehen: die Armut, die sich am offensicht-lichsten in der Existenz von favelas aus-drückt, in denen je nach lokalen Verhältnis-sen ein mehr oder weniger großer Anteil derStadtbevölkerung lebt (Souza 1993; Kohl-hepp 1994; vgl. Foto 1).

In allen Metropolen wird seit langem ver-sucht, mit Wohnungsbauprogrammen Abhil-fe zu schaffen, doch sind zum einen selbstSiedlungseinheiten für über 120 000 Be-wohner in Städten wie São Paulo, wo heutemehr als 3 Mio. Menschen in prekärenWohnverhältnissen leben, nur ein Tropfenauf den heißen Stein. Zum anderen stellt dersoziale Wohnungsbau für die ärmsten Be-völkerungsgruppen meist gar keine Alter-native dar, da sie die monatlich zu leisten-den Abzahlungsraten nicht aufbringenkönnen (Wehrhahn 1988; vgl. Foto 2). Alsweiterer Faktor für den Fortbestand vonElendsvierteln kommt hinzu, daß die Wirt-schaftskrise der 80er Jahre zu einer „Faveli-sierung“ selbst von Teilen der unteren Mit-telschicht geführt hat (Souza 1993).

Die Daten zur Einkommensentwicklungin den brasilianischen Metropolitanregio-nen weisen in eine ähnliche Richtung (vgl.Tab. 4): Der Anteil der armen Bevölkerungwurde nicht reduziert, im Gegenteil, wennman die nach Rocha (1994) nur mit denAuswirkungen einer Dürreperiode zu be-gründenden sehr hohen Werte nordostbra-

661GR 50 (1998) H. 11

Tab. 2: Bevölkerungsentwicklung in den brasilianischen Metropolitanregionen

Metropolitan- Bevölkerung (in 1 000) Jährliche Zuwachsrate (in %)regionen 1970 1996 1950–60 1960–70 1970–80 1980–91 1991–96

Belém 656 1 486 4,7 4,5 4,3 2,7 2,2Kernstadt 633 1 145 4,0 2,7Peripherie 23 341 11,3 2,7

Fortaleza 1 037 2 583 5,4 4,7 4,3 3,5 2,3Kernstadt 858 1 966 4,3 2,8 2,1Peripherie 179 617 4,3 6,4 2,8

Recife 1 792 3 088 4,2 3,7 2,7 1,9 1,1Kernstadt 1 061 1 346 1,2 0,7 0,7Peripherie 731 1 742 4,6 2,9 1,4

Salvador 1 148 2 709 4,7 4,6 4,4 3,2 1,6Kernstadt 1 007 2 212 4,0 3,0 1,3Peripherie 141 497 6,9 4,0 3,4

Belo Horizonte 1 658 3 803 6,2 6,1 4,6 2,5 2,1Kernstadt 1 235 2 091 3,7 1,2 0,7Peripherie 423 1 712 6,9 5,0 3,9

Rio de Janeiro 6 891 10 192 4,3 3,5 2,4 1,0 0,8Kernstadt 4 252 5 551 1,8 0,7 0,3Peripherie 2 639 4 641 3,4 1,5 1,4

São Paulo 8 140 16 583 6,1 5,4 4,5 1,9 1,4Kernstadt 5 925 9 839 3,7 1,2 0,4Peripherie 2 215 6 744 6,3 3,2 3,1

Curitiba 821 2 425 5,3 4,8 5,8 3,0 3,3Kernstadt 609 1 476 5,3 2,3 2,3Peripherie 212 949 6,9 4,7 5,0

Porto Alegre 1 575 3 247 4,7 3,3 3,8 2,6 1,4Kernstadt 886 1 289 2,4 1,1 0,4Peripherie 689 1 958 5,3 3,9 2,1

Metropolitan- 23 717 46 116 3,8 1,9 1,5regionen

Brasilien 93 139 157 079 3,0 2,9 2,5 1,9 1,9

Bei der Berechnung der Zuwachsraten sind zwischenzeitliche Änderungen der Bezugsgrößen berücksichtigt; für Belém ist die Zuwachsrate 1991–96 aufgrund der Änderung der Munizipgliederung nicht berechenbar;Vitória wurde nicht berücksichtigt, da es erst nach 1991 als Metropolitanregion ausgewiesen wurde.Quellen: Eigene Berechnung nach Zensusdaten und IBGE 1996 und 1997

Anteil urbaner Anzahl Städte Anzahl MillionenstädteBevölkerung 500 000 bis 1 Mio. Einwohner

1960 1980 1996 1960 1970 1980 1991 1996 1960 1970 1980 1991 1996

37,4 50,3 62,3 – 1 2 – – – – – 2 233,9 50,5 65,2 3 1 – 4 6 – 2 3 3 357,0 82,8 89,3 1 1 5 7 8 2 3 4 4 337,1 62,4 77,2 1 2 – – – – – 2 2 234,2 70,8 84,4 – 1 1 2 1 – – 1 1 244,7 67,6 78,4 5 6 8 13 15 2 5 10 12 12

silianischer Städte für 1981 entsprechendrelativiert, ergibt sich für die Metropolitan-regionen insgesamt sogar ein Anstieg derArmut. Die Einkommensverteilung nachKernstadt/Peripherie zeigt dabei eine deut-liche Differenzierung.

Soziale PolarisierungDie soziale Polarisierung innerhalb derStädte drückt sich nun allerdings wenigerin dem generellen Gegensatz zwischen Zen-trum und Peripherie aus, der im übrigen be-reits seit langem aufgrund von Wande-rungsbewegungen verschiedener sozialerSchichten durchbrochen ist (vgl. die modell-haften Vorstellungen zur lateinamerikani-schen Stadt in Bähr und Mertins 1995). Viel-mehr wird die Segregation der Bevölkerungheute akzentuiert durch Fragmentierungs-erscheinungen, die sich auf eine sehr fein-

teilige Differenzierung der städtischen Ge-sellschaft beziehen. Wesentliche Ursachehierfür ist der zunehmende Einfluß der Glo-balisierung, der zunächst in den größtenMetropolen die Gründung bzw. Weiterent-wicklung moderner Unternehmen im Pro-duktions- wie im Dienstleistungsbereichfördert, neue, hochspezialisierte Berufs-gruppen entstehen läßt und insgesamt zueiner Steigerung des Einkommens bei be-stimmten Gruppen, den „Profiteuren“, bei-trägt.

Dem steht eine große Masse Unbeteilig-ter und „Verlierer“ gegenüber, die arbeits-los sind oder in den sich ausweitendeninformellen Sektor entlassen werden. Zu-gleich ändern sich Werthaltungen und Kon-sumgewohnheiten in Teilen der Bevölke-rung, wozu in den 90er Jahren eine weitrei-chende Liberalisierung der Märkte beitrug.

Die skizzierte Entwicklung spiegelt sichräumlich z. B. in einem Nebeneinander vondurch Sanierungsmaßnahmen aufgewerte-ten Innenstadtteilgebieten oder Straßenab-schnitten und als cortiço (degradierte Mas-senunterkünfte in der Altstadt) genutztenehemaligen Wohnblöcken der Oberschichtwider. Neuartige Siedlungen der Ober-schicht an der Peripherie, wie z. B. das weitaußerhalb der Stadt São Paulo gelegene Al-phaville (vgl. Foto 5), das ein abgeschlosse-nes und streng kontrolliertes Ghetto bildet,zählen ebenfalls hierzu. Fragmentierungund intraurbane soziale Polarisierung mani-festieren sich auch in neuen Erscheinungendes tertiären Sektors, wie dem Bau oder derRenovierung hochmoderner Shopping Cen-ter oder der Ansiedlung spezieller Dienstlei-ster und Einzelhändler in den Innenstädten(vgl. Fotos 4 und 5).

Die typischen Probleme einer raschenUrbanisierung finden sich mittlerweileebenfalls in den ehemals „ruhigen“ Mittel-bzw. kleinen Großstädten wieder, wie Cam-po Grande oder Cuiabá, die zu Regional-metropolen heranwachsen und heute unterunkontrollierter Ausdehnung der urbanenFläche, Defiziten in der städtischen Infra-strukturversorgung, Ausbreitung von fave-las und diversen Umweltproblemen zu lei-den haben. Gleiches gilt für Interiorstädtebzw. Küstenstädte der südostbrasiliani-schen Bundesstaaten, wie Untersuchungenzu Ribeirão Preto, Campinas oder Santoszeigen. Die Reproduktion der Entwicklungs-phänomene großer Metropolen in kleinerenStädten geht so weit, daß großflächige Sied-lungen des sozialen Wohnungsbaus amStadtrand entstehen, Suburbanisierungs-prozesse nicht nur der Unterschicht, son-dern auch der Oberschicht ablaufen und in-nerstädtische Zentren teilweise degradiert,z. T. aber auch durch den sich ausbreiten-den tertiären Sektor überformt werden (vgl.Coy 1992 und 1995 für Cuiabá sowie Wehr-hahn 1997 für Santos).

Nachhaltige StadtentwicklungEin Konfliktbereich, der erst in neuerer Zeitin das Blickfeld der Öffentlichkeit wie derStadtplaner gelangt ist, betrifft die z. T. gra-vierenden Umweltprobleme in brasiliani-schen Städten (vgl. Wehrhahn 1994 und1996 sowie Beitrag Endlicher in diesemHeft). Lösungswege, die sowohl ökologischeBelange als auch soziale Notwendigkeitenin ihren Konzepten einschließen, werden ineinigen Städten inzwischen diskutiert, u. a.im Rahmen des Programms „Lokale Agen-da 21“ (z. B. PMSP 1996), sind jedoch bis-lang noch nicht umgesetzt worden.

Positive Beispiele für eine umweltorien-tierte Entwicklung finden sich allerdingsauf sektoraler Ebene, so z. B. zur Verkehrs-planung in Curitiba (Jäger 1998) oder zuMaßnahmen der Gewässerreinhaltung, Ab-fallentsorgung oder ökologischen Aufwer-tung innerstädtischer Freiräume (Rabino-vitch 1992). Für eine künftige nachhaltige

662 R. Wehrhahn: Urbanisierung und Stadtentwicklung in Brasilien

Tab. 3: Soziale Eckdaten der brasilianischen Metropolitanregionen

Metropolitan- Geburtenrate Säuglingssterblichkeit Abwasser- Kom. Müll-regionen (in ‰) (in ‰) anschluß (% entsorgung (%

der Haushalte) der Haushalte)

1980/ 1989/ 1980– 1984– 1988– 1992– 1991 19911981 1990 1982 1986 1990 1994

Belém 41,8 27,4 73,1 63,7 51,7 57,4 2,1 73,3Fortaleza 39,5 25,6 99,9 85,1 45,6 36,9 15,5 76,9Recife 34,8 25,0 102,6 92,4 58,4 51,0 27,4 72,6Salvador 40,8 24,0 45,8 42,1 34,8 26,9 20,0 74,6Belo Horizonte 34,0 23,2 60,4 49,0 40,2 35,3 72,1 74,7Rio de Janeiro 26,7 21,5 55,0 48,3 39,4 34,4 50,3 79,8São Paulo 30,6 22,7 54,3 43,4 34,6 27,6 78,4 96,4Curitiba 32,7 25,0 46,4 38,5 35,4 29,9 43,6 89,1Porto Alegre 27,0 20,7 35,4 31,8 25,0 22,9 15,9 92,3

Geburten- und Sterberate jeweils Mittel der angegebenen Jahre Quellen: EMPLASA 1994 und 1996

Foto 4: Das Shopping Center Eldorado in São Paulo ist eines der luxuriösesten Einkaufszen-tren BrasiliensZusammen mit zwei weiteren Shopping Centern dient es der Versorgung der Paulistaner Oberschicht in den sog. Jardins

Stadtentwicklung wäre es notwendig, dieseersten Ansätze konsequent in Richtungeiner die einzelnen Planungssektoren inte-grierenden und zugleich interkommuna-len Stadtentwicklungsplanung zusammen-zuführen. Ein Ziel, das allerdings auch inLändern mit weniger gravierenden ökono-mischen, sozialen und ökologischen Proble-men nur sehr langsam konkrete Formen an-nimmt. �

LiteraturBähr, J., und G. Mertins: Die lateinamerikanische Groß-stadt. Verstädterungsprozesse und Stadtstrukturen.Darmstadt 1995Bähr, J., and R. Wehrhahn: Recent Trends in the BrazilianUrbanization Process. Acta Geographica Lovaniensia 34(1994), S. 489–498Dies.: Polarization Reversal in der Entwicklung brasilia-nischer Metropolen? Eine Untersuchung anhand demo-graphischer Indikatoren am Beispiel von São Paulo. Erd-kunde 49 (1995), S. 213–231Coy, M.: Cuiabá (Mato Grosso): wirtschafts- und sozial-räumlicher Strukturwandel einer Regionalmetropole imbrasilianischen Mittelwesten. Zeitschrift für Wirt-schaftsgeographie 36 (1992) H. 4, S. 210–228Ders.: Von der Interiorstadt zur Regionalmetropole.Stadtverfall, Stadterweiterung und Konzepte einer Stadt-erneuerung in Cuiabá. Tübingen 1995, S. 279–314 (Tü-binger Geographische Studien, H. 114)Diniz, C. C.: Polygonized Development in Brazil: NeitherDecentralization nor Continued Polarization. Interna-tional Journal of Urban and Regional Research 18 (1994),S. 293–314EMPLASA (Hrsg.): Sumario de Dados da Grande São Pau-lo. São Paulo (verschiedene Jahrgänge)IBGE, Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística: Ten-dências Demográficas. Rio de Janeiro 1996Dass.: Contagem da População 1996. Rio de Janeiro 1997Jäger, U.: Busverkehr in Curitibia. GR 50 (1998) H. 10,S. 587–593Kohlhepp, G.: Bevölkerungsentwicklung und Verstädte-rung in Brasilien. GR 34 (1982) H. 8, S. 342–351Ders.: Raum und Bevölkerung. In: D. Briesemeister et al.(Hrsg.): Brasilien heute. Politik, Wirtschaft, Kultur.Frankfurt am Main 1994, S. 9–107Lücker, R.: Steuerungsfaktoren des Urbanisierungs-prozesses in ländlich-peripheren Räumen. Dargestelltan der Entwicklung von Regionalzentren im brasilia-nischen Mittelwesten. Ibero-Amerikanisches ArchivN. F. 16 (1990), S. 399–420

Mertins, G.: Determinanten, Umfang und Formen der Mi-gration Nordostbrasiliens. GR 34 (1982) H. 8, S. 352–358Mertins, G., und B. Thomae: Suburbanisierungsprozessedurch intraurbane/-metropolitane Wanderungen unte-rer Sozialschichten in Lateinamerika. Grundstrukturenund Beispiele aus Salvador/Bahia. Zeitschrift für Wirt-schaftsgeographie 39 (1995), S. 1–13Negri, B.: Concentração e Desconcentração Industrial emSão Paulo (1880–1990). Campinas 1996PMSP, Prefeitura Municipal de São Paulo (Hrsg.): Agen-da 21 Local. São Paulo 1996Rabinovitch, J.: Curitiba: Towards Sustainable Urban De-velopment. Environment and Urbanization 4 (1992) H. 2,S. 62–73Rocha, S.: Renda e Pobreza nas Metrópoles Brasileiras.In: L. C. de Q. Ribeiro und O. A. de Santos Jr. (Hrsg.): Glo-balização, Fragmentação e Reforma Urbana. Rio de Ja-neiro (1994), S. 121–145Souza, M. J. L.: Armut, sozialräumliche Segregation undsozialer Konflikt in der Metropolitanregion von Rio de Ja-neiro. Tübingen 1993 (Tübinger Geographische Studien,H. 111)Wehrhahn, R.: Sozialer Wohnungsbau in São Paulo. An-spruch und Wirklichkeit. Kiel 1988, S. 223–236 (KielerGeographische Schriften, Bd. 68)

Ders.: São Paulo: Umweltprobleme einer Megastadt.GR 46 (1994) H. 6, S. 359–366Ders.: Umweltkonflikte im Großraum Santos-Cubatão(Brasilien). Vechta 1996, S. 133–151 (Vechtaer Studienzur Angewandten Geographie und Regionalwissen-schaft, Bd. 18)Ders.: Stadtentwicklung von Santos, Brasilien: funkti-onsräumliche, soziale und ökologische Konflikte einerlateinamerikanischen secondary city. Petermanns Geo-graphische Mitteilungen 141 (1997) H. 5/6, S. 343–370

663GR 50 (1998) H. 11

Tab. 4: Beschäftigung und Einkommensverhältnisse in den brasilianischen Metropolitan-regionen

Metropolitan- Beschäftigte Einkommen Anteil der Armen3 Anteil der Armenregionen in der ver- der Beschäftigten (in % der (1990) in % der je-

arbeitenden (alle Sektoren; Bevölkerung) weiligen BevölkerungIndustrie1 in % 1993)

1993 < 1 s.m.2 > 10 s.m. 1981 1990 Kern- Peri-stadt pherie

Belém 8,0 ... ... 50,9 43,2 ... ...Fortaleza 17,0 38,2 4,1 54,0 41,3 38 53Recife 10,9 38,4 4,2 55,6 47,4 42 54Salvador 8,9 32,8 8,6 43,1 38,0 36 59Belo Horizonte 16,4 28,9 6,6 31,3 29,6 23 39Rio de Janeiro 13,9 22,5 6,7 27,2 32,2 25 41São Paulo 25,3 11,0 10,8 22,0 21,6 21 25Curitiba 15,9 13,4 9,6 17,4 12,2 6 21Porto Alegre 23,9 ... ... 17,9 20,9 15 24

1Anteil an den Gesamtbeschäftigten der jeweiligen Metropolitanregion; 2s. m. = Mindestlohn; 3Regional nachKaufkraft differenziertes Pro-Kopf-Einkommen als Indikator; ... = Daten nicht vergleichbar oder nicht verfügbarQuellen: EMPLASA 1996; Rocha 1994

AutorDr. Rainer Wehrhahn, geb. 1962.Geographisches Institut der Universität Kiel, Ludewig-Meyn-Straße 14, 24098 Kiel.E-mail: [email protected]/Forschungsschwerpunkte:Stadtgeographie, Bevölkerungsgeographie, Naturschutz, Lateinamerika, Südeuropa.

SummaryUrbanization and Urban Development in Brazil.Current Processes and Problemsby Rainer Wehrhahn

The processes of urbanization and urban de-velopment in Brazil during the past twodecades have been analyzed at the national,the regional, and the urban level. At the na-tional level, the pronounced process of metro-polization still continues. However, the focusof regional growth has shifted from coastalregions to the interior of the country. At theregional level and at the level of urbanagglomerations, processes of deconcentrationhave started to emerge recently. The analysisof inner city development reveals a number ofsegregation processes. The urban space is in-creasingly fragmented and social conflictshave gained in intensity. Strategies for the so-lution of the problems caused by urbanizationtend to focus on individual phenomena, suchas the lack of housing, the decay of the historicinner city areas, or traffic problems. Conceptsfor a sustainable development of Braziliancities only begin to emerge.

Foto 5: Villa im Jardim Europa, São Paulo