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Friedrich-Schiller-Universität JenaHistorisches InstitutWS 2006/07Seminar: Geschichte des AntisemitismusLeiter: Evyatar Friesel
Tsu a yiddisch landEin rotes Palästina in Birobidžan
David DanysMagdelstieg 3207745 JenaMatr.-Nr.: 85056
FachNeuere Geschichte
WestslawistikOstslawistik
Semester333
Zur Titelseite
Foto: Bahnhof in Birobidžan - mit Anschluß an die Transsibirische Eisenbahn - der Ort des
Kommens und Gehens.1
Das Losungswort „Tsu a yiddisch land“ - „In ein jüdisches Land“ wurde geprägt von Aleksandr
Čemerisskij2, einem Sekretär des Komzet3, dem Komitee zur Ansiedlung der werktätigen Juden auf
dem Land.
Das Schlagwort eines „roten Palästinas“ ist wohl eine nicht-sowjetische Erfindung unbekannten
Ursprungs.
1 Erschienen in , .: 20 . , .- - 2001, gefunden auf Наор М Еврейский народ в веке История в фотографиях Иер Т А
http://www.eleven.co.il/article/10642 am 8. Juni 2007, vom Autor nachbearbeitet.
2 Kuchenbecker, Antje: Zionismus ohne Zion. Birobidžan: Idee und Geschichte eins jüdischen Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000, S. 159. (Im Folgenden: „Kuchenbecker“)
3 Golczewski, Frank: Die Jüdische Autonome Provinz in Sovjet-Fernost. In: Osteuropa. Zeitschrift für Gegenwartsfragen des Ostens 3/1972, S. 208. (Im Folgenden: „Golczewski“)
Inhaltsverzeichnis
Einleitung.............................................................................................................................................4
Geographie...........................................................................................................................................6
Lage..........................................................................................................................................6
Klima........................................................................................................................................6
Geschichte............................................................................................................................................8
Vorläufer...................................................................................................................................8
Kalinin-Erklärung, Aufbau, Scheitern....................................................................................11
Das Ausland............................................................................................................................16
Der „Birobidžan-Plan“...........................................................................................................18
Nach der Wende: Exodus oder Heimkehr?.............................................................................20
Resümee: Birobidžan - halbherzig aber ernst gemeint?.....................................................................22
Literatur- und Quellenverzeichnis......................................................................................................23
3
Einleitung
Es war der 14. Mai 1948 als in einer abendliche Feierstunde der erste wirkliche und unabhängige
jüdische Staat seit der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 konstituiert wurde. Seiner Gründung
ging die lange Geschichte des jüdischen Volkes und seine Suche nach einer Heimat voraus. Trotz
der Diaspora und seiner Zerstreuung über den gesamten Erdball verlor es nie das Bewusstsein und
die Hoffnung, eines Tages wieder zusammen zu finden – doch die Konzepte waren unterschiedlich.
Versuchten seit Ende des 19. Jahrhunderts die Zionisten, das unter britischem Mandat stehende
Palästina als Homeland zurückzugewinnen, waren Territoriallisten bereit, auch ein anderen Flecken
auf der Welt zu ihrem Zuhause zu machen – und wenn es in Afrika läge.
Juden wie Nicht-Juden sahen in einem jüdischen Staat die Lösung der „jüdischen Frage“, und in
seiner Gründung das Ziel, dem Volk ohne Land seine eigene Erde zu geben. Aber wo sollte diese
Erde sein? Kaum bekannt, nie wirklich beachtet und schon fast in Vergessenheit geraten sind die
Pläne der in Russland lebenden Juden – viele von ihnen hofften auf eine Lösung durch den
Sozialismus. Der Sozialismus, so schien es, machte alle Menschen gleich und verschaffte dem
jüdischen Volk nach der Oktoberrevolution erstmals einen Rechtsanspruch auf ein eigenes
Territorium – den es gegen die Widerstände Stalins, der die Juden als „papierene Nation“
bezeichnete, und Lenins, der von der „Unausweichlichkeit der Assimilation“ ausging, verteidigte.
Es entstand die Idee und die Forderung einer „Jüdischen SSR“4, die man zuerst auf der Krim
ansiedeln wollte, die jedoch in den Sowjetischen Fernen Osten verbannt wurde.
Birobidžan – wäre die Erde eine Scheibe, so wäre es ganz nah am Rand, so scheint es. Ein
unbesiedeltes, wildes Stück Land stellte die Arbeiter- und Bauernmacht seinen und den Juden der
Welt zur Verfügung, um sich hier einzurichten und Michail Kalinin, oberster Amtsmann der
Sowjetunion, sprach bereits 1934 – 14 Jahre vor Ben Gurion - von einem „jüdischen nationalen
Staat“5.
Was ist dieses Land, das bis heute den tönenden Namen „Autonomes Jüdisches Oblast“ führt,
dessen Hauptstadt aber lange Zeit den treffenderen Namen „Tichonkaja“ - „die stille Stadt“ - trug,
weit weg von Moskau am Amur gelegen?
4 Vgl.: Kuchenbecker: S. 103.5 Vgl.: Kuchenbecker: S. 7.
4
5
Geographie
Lage
Der Jüdische Autonome Oblast (JAO) befindet
sich im Fernen Osten Russlands, also südlich von
Sibirien an der chinesischen Grenze im
Amurgebiet. Er umfasst 36.000 km², ist also
flächenmäßig vergleichbar mit den Niederlanden
und fast doppelt so groß wie Israel. Es erhielt
seinen Namen „Birobidžan“ von den beiden den
Oblast
durchfließenden
Flüssen Biro und Bidžan.
Die Nähe zu einem bevölkerungsreichen (nicht-
kommunistischen oder kommunistischem) chinesischen Gebiet
brachte das kaum besiedelte, wilde Territorium in eine sensible
strategische Lage, zudem es sich von Anfang 1935 bis zum 15.
August 1945 um das japanisch kontrollierte Mandschuko handelte.
Klima
Die IKOR, eine amerikanische Hilfsorganisation für Birobidžan, beschrieb in Ihrer
Übersiedlungswerbung Birobidžan als ein Gebiet mit einem wohltuenden Klima. Dies kann man als
Hohn betrachten. Die Temperaturen fallen im Winter von Dezember bis Februar unter - 20°C und
weiter, während im Sommer ein feucht-heißes Monsunklima herrscht, bei dem in dem von Juni bis
September 60% der jährlichen Niederschläge fallen, und das können durchschnittlich 10 – 15 mm
pro Tag, aber bis zu 100 mm an einem einzigen sein.6 7 8
Weiterhin führen die starken Regenfälle im Sommer zu Überschwemmungen, die im gesamten
Fernen Osten zehn- bis hunderttausende Quadratkilometer überfluten und erhebliche Schäden
6 Franz, Hans-Joachim: Physische Geographie der Sowjetunion, Gotha/Leipzig 1973, S. 389. (Im Folgenden: „Physische Geographie“)
7 Physische Geographie: S. 388.8 Physische Geographie: S. 390.
6
Karte des Jüdischen Autonomen Oblast (JAO)
Quelle: EJ: S. 718.
Quelle: Kuchenbecker: Titelseite.
anrichten.9 In den Tälern kann der Wasserstand so kurzfristig um 6 – 8m steigen, in einigen Engen
sogar um 12 – 16m.10
Hingegen sind Frühling und Herbst von Trockenheit geprägt.11
Der Winter beginnt zwischen Mitte Oktober und Mitte November und hält bis Mitte März oder
April an.12 Zusätzlich wird das Gebiet das ganze Jahr wiederholt von Zyklonen überstrichen.13
9 Physische Geographie: S. 391.10 Physische Geographie: S. 391.11 Physische Geographie: S. 388.12 Physische Geographie: S. 388.13 Physische Geographie: S. 389.
7
Geschichte
Vorläufer
Bereits unterm Zarenregime existierten jüdische landwirtschaftliche Siedlungen in den gebieten
Cherson, Dnjepropetrovsk (Jekaterinoslav) und Kiev.14 Jedoch überstieg ihre Zahl nie mehr als
90.000 Menschen. Doch schon bald nach der Oktoberrevolution wurde der Gedanke der bäuerlichen
Ansiedlung von Juden wieder aufgegriffen und fand seine organisatorische Grundlage in der
Gründung der "Komzet", des "Komitees für die landwirtschaftliche Ansiedlung jüdischer
Werktätiger", 1924, die direkt der sowjetischen Regierung unterstellt war und für die Verwaltung
jüdischer landwirtschaftlicher Siedlungen verantwortlich sein sollte, sowie in der Ozet, der
"Gesellschaft zur Landansiedlung werktätiger Juden"15 1925.16 Wobei die Ozet keine rein-jüdische,
sondern im Gegenteil eine Organisation mit zeitweilig 60% nicht-jüdischen Mitgliedern war, die
ihre Aufgabe in der Unterstützung des jüdischen Landansiedlungsgedankens und der Bekämpfung
des Antisemitismus in der SU sah und zahlreiche Zellen in Fabriken und der Roten Armee
unterhielt.17
Als Folge der Bemühungen von Komzet und Ozet und der Anerkennung der in der Sowjetunion
lebenden Juden als Minderheit - trotz der Ablehnung dieser Ansicht durch Lenin und Stalin, die in
den Juden eine anationale bzw. der jeweiligen Nation ihres Wohnortes zugehörige
Bevölkerungsgruppe sahen die im Rahmen eines sozialistischen Assimilationsvorganges ganz in der
Gesellschaft aufginge und verschwände18, wurden in den 1920er Jahren nationale jüdische Rajons
(Kreise oder Bezirke) und Dörfer gegründet19. Das erste jüdische Dorf, dem kulturelle und lokale
Autonomie zugestanden wurden, entstand 1927 in der Russischen SFSR in der Nähe von
Smolensk.20 Jedoch misslang das Projekt - 1933 waren in der RSFSR von ehemals zwölf jüdischen
Dörfern nur noch zwei übrig geblieben, in denen der Sowjet ebenfalls in russischer Sprache
verhandelte, da das Jiddische als rückständig empfunden wurde und der Jugend kaum noch geläufig
war.21 Es entstanden drei Nationale Bezirke in der damaligen Ukrainischen SSR - Kalinindorf,
14 Kolarz, Walter: Die Nationalitätenpolitik der Sowjetunion, Frankfurt/Main 1956, S. 202. (Im Folgenden: „Kolarz“)15 Kuchenbecker: S. 247.16 Kolarz: S. 203.17 Kolarz: S. 203.18 Vgl.: Kuchenbecker: S. 39 – 46.19 Vgl.: Kuchenbecker: S. 56.20 Golczewski: S. 206.21 Golczewski: S. 206.
8
Stalindorf und Novoslatopol, von denen Kalinindorf mit 45 Kollektivwirtschaften den größten und
bedeutendsten darstellte - sowie zwei in der ASSR Krim (autonomer Teil der RSFSR bis 1954) -
Fraydorf und Larindorf.22 Von allen diesen Ansiedlung erfüllte Fraydorf den größten
propagandistischen Zweck, die 33 Kollektivwirtschaften, 38 Schulen und sieben Lesehallen23 auf
einer Fläche von ca. 475 km²24 aufwies. Außerdem gab es eine wenig beachtete jüdische
Kolonisation in Belarus, wo sogar einige Kleinstädte jiddische Sowjets bekamen und sich sogar die
nicht-jüdische Bevölkerung des Jiddischen zur Kommunikation bemächtigte.25 Insgesamt waren
Mitte der 30er Jahre 225.000 Juden in 500 jüdischen Kollektivwirtschaften beschäftigt.26
Alle diese Bemühungen hatten - wie später auch Birobidžan - auch das Ziel der sog.
"Produktivierung". Dieser "Produktivierungsgedanke" stellte eine, Juden wie Nicht-Juden
gleichmäßig faszinierende, Idee der Aufklärung dar.27 Er ging davon aus, dass den Juden durch ihr
Hineindrängen in Handel und Finanzwesen und ihren Ausschluss von Handwerk und
Landwirtschaft im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts die Möglichkeit zu "natürlichem"
Lebenserwerb verwehrt und als Folge dessen ihr Charakter deformiert worden wäre.28 Dabei
wollten staatliche Kampagnen vergangener Zeiten den Juden die Assimilation durch Landwirtschaft
ermöglichen, während jüdische Theoretiker in der Landwirtschaft die Widerlegung anti-jüdischer
Klischees und Stereotypen erhofften, indem sie ihre Nützlichkeit und ihren Arbeitswillen unter
Beweis zu stellen suchten.29
Bereits zuvor, 1923, hatte der parteilose ehemalige Zionist und Journalist Avraham Bragin der
Sowjetführung die Gründung eines "jüdischen kulturellen Zentrums im Süden", also auf der Krim,
vorgeschlagen und argumentierte, dort lebe bereits eine dreiviertel Million Juden30 und fasste Pläne,
die Krim in eine jüdische Provinz umzuwandeln31. Die Diskussion erreichte ihren Höhepunkt, als
besagter Bragin auf der Ozet-Konferenz vom 15. - 20.11.1926 die Einrichtung einer "Jüdischen
SSR" forderte.32 Die Pläne scheiterten jedoch an dem sofortigen Widerstand der ASSR der
Krimtataren und der Ukrainischen SSR, für die eine positive Entscheidung erhebliche
22 Kolarz: S. 203.23 Kolarz: S. 203.24 Vgl.: Kolarz, S. 203: "Die sowjetische Propaganda hob ganz besonders den Fraydorf-Bezirk hervor, der etwa 190
000 Morgen umfaßte [...].". Als Umrechnungshilfe verwendete ich ein deutsches Morgen, also 4 Morgen = 1 Hektar.
25 Golczewski: S. 206.26 Kolarz: S. 203.27 Kuchenbecker: S. 46.28 Kuchenbecker: S. 46 – 47.29 Kuchenbecker: S. 47.30 Vgl.: Kuchenbecker: S. 102.31 Golczewski: S. 206.32 Vgl.: Kuchenbecker: S. 103.
9
Gebietsverluste bedeutet hätten33, auch wenn die Sowjetführung bereits am 30.6.1926 das Gebiet
der Nordkrim direkt den Siedlungsbedürfnissen der UdSSR unterstellt und der ASSR Krim ihre
Kompetenzen entzogen hatte.34 Der Plan einer Jüdischen Krimrepublik muss jedoch - trotz weiterer
Versuche der Komzet und eines letzten Wiederbelebungsversuchs durch das Jüdische
Antifaschistische Komitee 194435 - spätestens ab der Bereitstellung Birobidžans als jüdischen
Siedlungsraum 1928 als gescheitert angesehen werden.
33 Vgl.: Kuchenbecker: S. 109.34 Kuchenbecker: S. 111.35 Kuchenbecker: S. 202.
10
Kalinin-Erklärung, Aufbau, Scheitern
Am 8. Mai 1934 verkündete Michail
Iwanowi č Kalinin, Staatsoberhaupt der SU:
"Birobidžan betrachten wir als einen
jüdischen nationalen Staat.".36 Gleichzeitig
wurde die Gründung des JAO vollzogen.37
Dieser Schritt hatte einen langen Vorlauf
hinter sich. So wurde bereits am 28. März
1928 das Birobidžaner Gebiet durch das
Zentralexekutivkomitee der UdSSR für die
jüdische Ansiedlung bereitgestellt.38 Als
Gründe für die Gründung Birobidžans lassen
sich folgende Punkte herauskristallisieren:
1. Die Lösung der Judenfrage,
2. Die Besiedlung eines Teils des Fernen Ostens, der sich durch seine dünne bis nicht-vorhandene
Besiedlung in einer strategisch prekären Lage befand, zudem vorhandene Ressourcen nicht
ausgebeutet werden konnten,
sowie
3. die Schaffung von Sympathien für den sowjetischen Staat unter dem Auslandsjudentum, das, den
gängigen Stereotypen entsprechend, eng mit den sowjetischen Juden verbunden zu sein schien.39
Für die Wahl Birobidžans als jüdisches Territorium spielte auch die Angst vor Antisemitismus eine
Rolle: so konnte ein jüdischer Staat im Fernen Osten aufgrund der kaum vorhandenen Bevölkerung
- im Gegensatz zur z.B. stark bevölkerten Krim - nicht auf Hass stoßen.40
Direkt nach der Beschlussfassung versuchten Komzet und Ozet den Plan umzusetzen.
Gewaltige Bevölkerungsverschiebungen wurden geplant, um das wilde Land am Amur in trächtige
Äcker zu verwandeln - doch gleich in der Anfangszeit schien der Traum an der Organisation zu
scheitern. Die Verhältnisse vor Ort blieben katastrophal - hatte man Übersiedlungswilligen in
36 Kuchenbecker: S. 121.37 Kolarz: S. 206.38 Kolarz: S. 206.39 Vgl.: Golczewski: S. 206.40 Vgl.: Golczewski: S. 206.
11
Birobidžans Bevölkerung von 1928 - 59, der untere Graph zeigt die totale Population, der obere die Einwanderung in die Region
Quelle: EJ: S. 719.
Propagandalektüre mittelmeerartiges Klima vorgegaukelt, indem man die
Jahresdurchschnittstemperaturen angab, wobei sich die einzelnen Temperaturen in den Jahreszeiten
um 70°C unterscheiden konnten, trafen die Kolonisten auf Monsun und Frost.41 Zudem war die
Stadt Tichonkaja, russisch für "die Ruhige, die Stille", die spätere Hauptstadt Birobidžan,
infrastrukturell nicht für die ankommenden Menschenmassen gerüstet. So hausten die
Ankömmlinge im Glücksfall wochen- bis monatelang in Notbaracken, die für drei Tage ausgelegt
worden waren,42 oder in Zelten43. Die daraus folgende Demoralisation führte zu einer
Abwanderungsrate von 60%: von 950 Siedlern, die 1928 in Birobidžan ankamen, verließen 600 es
sogleich wieder - eine Quote die trotz steigender Migrationsrate die nächsten Jahre anhielt.44
Insgesamt kamen in den Jahren 1928 - 33 19.675 Siedler, und 11.450 gingen auch wieder - das
Planziel sah 60.000 Neubürger vor.45 Fataler Weise führte diese Abwanderung zusätzlich zu einer
negativen Selektion: die Arbeitsfähigen kehrten entweder heim oder siedelten nach Chabarovsk
oder Vladivostok um, zurück blieben Alte, Schwache und Mittellose.46 Zu einem völligen Fiasko
führte die Auswahl der Umsiedler durch die jeweiligen lokalen jüdischen Organisationen in den
Städten und Verwaltungseinheiten der SU: planlos versuchten sie ihren Plan zu erfüllen. 1929
kamen auf diesem Wege Taube, Blinde, Stumme und Epileptiker aus Rogatschov, eine Gruppe
arbeitsunfähiger Alter aus Uman und Geisteskranke aus Smolensk – die Zuständigen des Ortes
Bobruisk rundeten das Programm ab und verfrachteten ein Kontingent Prostituierter nach
Birobidžan.47 Aufbauwillen und -möglichkeiten dieser Leute waren begrenzt - so gab es keine
Neugründung von Siedlungen, sondern die Ankommenden und Bleibenden verteilten sich auf die
schon vorhandenen Städte, wo sie die Sitten und Gebräuche der Ansässigen übernahmen.48 Nur
wenige Orte bildeten Ausnahmen, so das zwölf Kilometer von Tichonkaja entfernte Waldheim in
dem Gartenbau und Bienenzucht aufgebaut wurden, sowie die Kibbuzim-ähnliche Neusiedlung
Ikor, die vom Komsomol gegründet nur zwei Bewohner über dreißig aufwies - hier zeigte man sich,
zusätzlich beflügelt von einsetzender amerikanischer Hilfe, dem Aufbau einer jüdischen
Sowjetrepublik gegenüber zuversichtlich.49
Aber Birobidžan wandelte sich, und langsam wurde die Lage besser. Anfang der dreißiger Jahre
konzentrierte man die jüdische Bevölkerung auf die vier Örtchen Amurset, Birofeld, Ikor und
41 Vgl.: Golczewski: S. 210.42 Golczewski: S. 210.43 Kuchenbecker: S. 129.44 Kuchenbecker: S. 129.45 Kuchenbecker: S. 129.46 Kuchenbecker: S. 130.47 Vgl.: Golczewski: S. 210.48 Golczewski: S. 120 – 121.49 Golczewski: S. 211.
12
Waldheim, das mit US-amerikanischer Hilfe über eine Straße mit Tichonkaja verbunden worden
war. Das Gebiet erreichte langsam sowjetische Standards, die Wohnsituation entspannte sich
spürbar.50 Bei seiner Proklamation 1934 wies der Oblast 43 Kolchosen, drei Sowchosen, vier
Maschinen-Traktoren-Stationen, 108 Traktoren, drei Mähdrescher und 13 Autos auf.51
1937 erreichte die jüdische Bevölkerung Birobidžans die Marke von 20.000 Einwohnern; diese
verfügte 1938 über 42 Mittelschulen, in denen auf einen Lehrer nur 28 Schüler kamen, sowie eine
Ballettschule.52 Es folgten die Gründungen neuer Sowchosen mit klingenden Namen wie Stalinsk,
Roter Oktober, Kirow und Naier Leben.53 (Wobei Roter Oktober [Krasnyj Oktjabr'] bereits 1930 als
Kolchose gegründet worden war, in dem zu dem Zeitpunkt, wie in den Kolchosen Ikor und
Waldheim [Val'dgejm] ausschließlich Juden, je mindestens 300 gearbeitet hatten; einzig in Birofeld
[Birefel'd] wurden außer Juden auch Russen, Ukrainer und Koreaner beschäftigt.54)
Es wurde sogar damit experimentiert, jiddisch in nicht-jüdischen Schulen zu unterrichten, eine
jiddisch-sprachige Zeitung namens "Birobidžaner Schtern" und ein Periodikum herausgegeben und
1934 ein Jüdisches Staatstheater gegründet.55 Hinzu kam eine jiddische Literatur sammelnde
Bibliothek.56
Doch wurde dieses Aufblühen radikal abgerissen mit dem Einsetzen der die ganze Sowjetunion
geißelnden stalinistischen Säuberungen: der Präsident des Zentralen Exekutivkomitees der Provinz,
Liberberg, wurde zusammen mit einem Aktivisten namens Volobrinskij als "versteckte
trotzkistische Nationalisten" "entlarvt" - nach ihnen verschwanden noch zwei weitere Präsidenten
und Sekretäre.57 Auch die beiden Organisationen Komzet und Ozet wurden als „von Verrätern
durchsetzt befunden“ und beide 1938 aufgelöst.58 Dadurch brachen die Hauptorganisatoren für die
Landansiedlung weg und der bis dato langsame, aber stetige Zustrom jüdischer Siedler versiegte -
so dass dem hoffnungsvollen Neuanfang der Provinz Anfang der Dreißiger die Grundlage entzogen
wurde.59 Die einzigen, die bis 1945 noch ihre neue Heimat in Birobidžan fanden waren 3.000
Kriegsweisen, die dorthin verschickt wurden.60
Allerdings setzte eine neue Welle nach Kriegsende ein: ein erstarkendes jüdisches 50 Vgl.: Golczewski: S. 211.51 Kuchenbecker: S. 131.52 Vgl.: Golczewski: S. 211.53 Vgl.: Golczewski: S. 211.54 Kuchenbecker: S. 130.55 Lvavi (Babitzky), Jacob; Redlich, Shimon: Birobidzhan. In: Skolnik, Fred (Hrsg.): Encyclopaedia Judaica. Second
Edition. Band 3, Detroit New York u.a. 2007, S. 719. (Im Folgenden: EJ)56 EJ: S. 719.57 Vgl.: Golczewski: S. 211.58 Vgl.: Golczewski: S. 211.59 Golczewski: S. 211.60 Kolarz: S. 210.
13
Nationalbewusstsein und ein parallel
erstarkender Antisemitismus in der SU
brachten 1947 1.500 Familien auf den Weg
aus Ukraine und Krim nach Birobidžan, und
bereits in den ersten drei Monaten des Jahres
1948 1.200 (Familien!) - danach gab es die
Sowjetregierung auf, die Zahlen zu
veröffentlichen, denn es stellten deutlich
mehr Menschen einen Antrag auf
Reiseerlaubnis nach Birobidžan als die
kleine Provinz bewältigen konnte.61 Aber
nicht nur Juden zog es in das ferne Land: 1942 lebten 100.000 Menschen im JAO, davon weniger
als die Hälfte Juden, und bereits 1948 war die Einwohnerzahl auf 185.000 angewachsen,62 darunter
20.000 Juden63, fiel bis 1961 aber wieder auf 179.000, von denen 1959 nur 14.269 Juden waren,
also 8,8%64.
1947 (!) wurde eine Synagoge errichtet, die allerdings 1956 während eines Brandes einer nahe
gelegenen Fabrik mit nieder brannte65 und erst 1984 zur Feier des 50jährigen Bestehens des JAO
wiederaufgebaut wurde66.
Leider erreichte gerade zu diesem Zeitpunkt eine neue Säuberungswelle das Land: 1948 wurden die
meisten jüdischen Schriftsteller inhaftiert, das Staatstheater geschlossen, der Großteil der jiddischen
Bücher aus der Bibliothek entfernt, das Jiddische selbst aus den Schulen verbannt67 und das
jiddische Organ "Ainikajt" stellte sein Erscheinen im Dezember ein. Gleichzeitig hörten die gerade
neu aufgelebten Siedlungstransporte in das Gebiet schlagartig auf.68 Von da an bis ins Jahr 1958
liegen keine Erkenntnisse aus Birobidžan vor, erst der unter Chruš ëvč einsetzende "Ottepel'", das
"Tauwetter" nach dem Aufdecken der Verbrechen Stalins und der folgenden Entstalinisierung der
SU, brachte wieder Informationen aus der Region.69 In diesem Jahr erreichte die erste Information
über Birobidžan seit zehn Jahren die Weltöffentlichkeit: in einem Interview mit der französischen
61 Kolarz: S. 210.62 Kolarz: S. 210.63 EJ: S. 719.64 EJ: S. 717.65 Golczewski: S. 213.66 Weinberg, Robert: Stalin's forgotten Zion, Berkeley und Los Angeles/London 1998, S. 89. (Im Folgenden:
„Weinberg“)67 EJ: S. 720.68 Golczewski: S. 212.69 Vgl.: Golczewski: S. 212.
14
Argentinische Juden auf ihrem Weg nach Birobidžan 1932
Quelle: Weinberg: S. 50.
Tageszeitung "Le Figaro" erklärte der Staatschef der SU, Nikita Sergeevi Chruš ëvč č , der Birobidžan
selbst auf einer Durchfahrt vom Zug aus gesehen hatte:
"Wir gaben den Juden Birobidschan [sic]. Das ist ein beachtenswertes Geschenk. Die Gebiete von
Birobidschan [sic] sind in der Tat die fruchtbarsten, es herrscht Mittelmeerklima. Die Juden zogen
voller Enthusiasmus hin, aber nur sehr wenige sind geblieben. In der letzten Zeit hielten sich Zu-
und Abwanderung die Waage, aber jetzt überwiegt die Abwanderung [...]. Warum sind sie
zurückgegangen? Sie sind Individualisten, ihnen liegen mehr die künstlerischen Berufe, Schneider,
Glasbläser [...], Händler, Apotheker usw., man findet sie nicht in den Massenberufen, z.B. der
Metallurgie [...]. Sie lieben nicht die Arbeit im Kollektiv. Warum gibt es keine Hebräisch-Schulen in
Birobdischan [sic]? Weil die Juden nicht jüdische Schulen besuchen wollen. -
Es sind die israelischen Imperialisten, die Greuelgeschichten über Birobidshan erzählen. Die
antisowjetische Propaganda. Es ist unnötig, darüber zu diskutieren."70
Bis 1970 fiel die jüdische Bevölkerungszahl weiter zurück auf 11.452 Personen.71 Spätestens ab
diesem Zeitpunkt war der Jüdische Autonome Oblast als Heimat für die Juden gescheitert.
70 Zitiert nach: Golczewski: S. 213.71 EJ: S. 717.
15
Das Ausland
Von Anfang an setzte die Sowjetmacht und die zuständigen Organisationen für jüdische
Landansiedlung ihre Hoffnungen aufs Ausland. Hilfe vom Klassenfeind war nicht nur willkommen,
sondern oftmals auch ausdrücklich erwünscht. Zudem kam, dass Birobidžan nicht nur den
sowjetischen, sondern (proletarischen) Juden aus aller Welt als Heimstätte offen stehen sollte.
Schon für die Siedlungsprojekte in der Krim und Ukraine hatten ausländische Organisationen in 22
Ländern, allen voran die Organisation des kleinen Kreises pro-sowjetischer amerikanischer Juden –
die IKOR, Geld gesammelt und Maschinen geschickt und begannen mit der Anwerbung von
Umsiedlern, als das Politbüro am 25. Mai 193172 Birobidžan für Ausländer öffnete.73 Als wichtige
Partner der sowjetischen Ozet kamen noch das ebenfalls amerikanische, 1934 gegründete American
Committee for Jewish Settlement of Foreign Jews in Birobidjan – Ambijan – sowie die 1926
entstandenen dänischen und schwedischen Ikor-Ableger und in Argentinien und Uruguay
PROCOR74, sowie die deutsche Gesellschaft zur Förderung des jüdischen Siedlungswerkes in der
UdSSR (Gezerd), hinzu.75 Gezerd gründete sogar in Palästina einen Ableger.76 Die
Propagandamaschinerie lief, Anfang der 30er Jahre erschien sogar ein in jiddischer Sprache
verfasster Roman „Birobidschan, die Judenrepublik“, der in zahlreichen Ländern publiziert wurde,
1932 ins Deutsche übertragen auch in Deutschland. Tatsächlich folgten über 1.000 Menschen dem
Ruf in den Fernen Osten77, hauptsächlich aus Litauen, Argentinien und den Vereinigten Staaten78,
bis die Tore 1936 wieder geschlossen wurden79.
Interessanter Weise spielte Birobdischan während des Krieges keine Rolle, eine zu erwartende
Massenflucht oder -evakuierung in das Gebiet blieb aus. Komzet und Ozet waren 1938 aufgelöst,
die Übersiedlungsorganisation (wie wahrscheinlich die ganze Regierung [Anmerkung des Autors])
dem NKVD übertragen worden, das Parteikomitee in Birobidžan tagte von 1940 – 47 überhaupt
nicht mehr und auch Ikor und Ambijan waren im Zuge der stalinistischen Säuberungen gezwungen
worden, ihre Kontakte in den Oblast abzubrechen.80
Bezeichnend für die unzureichende Informationslage über Birobdižan im Ausland sind die knappen
72 Kuchenbecker: S. 171.73 Vgl.: Kuchenbecker: S. 168 – 169.74 Vgl.: Kuchenbecker, S. 247: „Sociedad para la productivización de las masas judiás en la Union Soviética“.75 Kuchenbecker: S. 169.76 Kuchenbecker: S. 170.77 Weinberg: S. 43.78 Weinberg: S. 50.79 Kuchenbecker: S. 168.80 Kuchenbecker: S. 196.
16
Berichte darüber im American Jewish Yearbook. Es erwähnt Birobidžan höchstens am Rande, vor
dem Krieg ist jeweils die einzige Stelle ein Eintrag des „American Comittee for Settlement in
Birobidjan“ im Adressverzeichnis amerikanisch-jüdischer Organisation in den USA.81 Erst 1950
stellt das Yearbook Birobidžan in einem gut zweiseitigen Artikel vor82, und bereits 1954 spricht das
Yearbook über Birobidžan als einen Ort ohne nennenswertes jüdisches Leben.83 1955 erscheint ein
kurzer Artikel, der hinter der Stille um Birobidžan und dem fehlenden Kontakt zu de n dort
lebenden Juden sowohl durch ausländische, als auch durch sowjetische Juden die Einrichtung von
Zwangsarbeitslagern vermutet84, in der Ausgabe von 1957 scheint sich das bestätigt zu haben:
Birobidžan scheint Teil des fernöstlich-sibirischen Straflagergebiets geworden zu sein.85 Auch 1959
erscheint wieder ein Artikel über Deportationen von Juden aus dem sowjetisch-polnischen
Grenzgebieten nach Birobidžan. So sollen 1956 7.000 Juden aus Grodno mit dem Ziel Birobidžan
deportiert worden sein.86
Spätere Ausgaben beschränken sich weitgehend auf kurze Meldungen kultureller Natur. Erst zur
Wendezeit werden Informationen wieder zugänglich.
81 Vgl.: American Jewish Yearbook 38 (1937), S. 454.82 Vgl.: Gliksman, George J.: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 49 (1948), S. 407 – 409.83 Vgl.: Gordon, Joseph: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 53 (1952), S. 316.84 Vgl.: Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 54 (1953), S. 331.85 Vgl.: Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 56 (1955), S. 407 – 408.86 Vgl.: Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 58 (1957), S. 315.
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Der „Birobidžan-Plan“ 87
Eine völlig neue Bedeutung bekommt Birobidžan in Hinblick auf das bisher weitgehend unbekannte
Interesse Nazideutschlands an dem fernöstlichen Gebiet. So fand sich jüngst im Russischen
Staatsarchiv der Brief des Vorsitzenden des Umsiedlungsamtes des Rates der Volkskommissare der
UdSSR, Jevgenij Tšekmenёv, an den Vorsitzenden des Rades der Volkskommissare Vjatscheslav
Molotov vom 9. Februar 1940 mit folgendem Inhalt:
„Die Umsiedlungsämter beim Rat der Volkskommissare der Sowjetunion haben zwei Briefe der
Umsiedlungsbüros in Berlin und Wien erhalten zur Frage der Umsiedlung der jüdischen
Bevölkerung Deutschlands in die Sowjetunion – konkret nach Birobdischan [sic] und in die
westliche Ukraine. Gemäß dem Abkommen der Regierungen der Sowjetunion und Deutschlands
über die Evakuierung der Bevölkerung auf dem Gebiet der UdSSR werden nur Ukrainer,
Weißrussen, Rusinnen und Russen evakuiert. Wir meinen, dass die Vorschläge der genannten
Umsiedlungsbüros nicht angenommen werden können.
Erbitte Anweisungen.
Anlage: auf 6 Seiten.“88
Dabei lässt sich allerdings der corpus delicti - also der Brief selbst - bisher nicht auffinden. Geht
man allerdings davon aus, dass die Briefe von der Reichszentrale für jüdische Auswanderung in
Berlin und aus der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in Wien stammen, so kämen aller
Wahrscheinlichkeit nach Adolf Eichmann für Berlin und Alois Brunner für Wien als Unterzeichner
in Frage. Hingegen ist der Adressat bekannt: ein Mitarbeiter des Umsiedlungsamtes in den Jahren
1939 – 41, späterer Minister für Ackerbau. Seine Antwort blieb erhalten: „Aufnehmen können wir
diese Juden nicht, wir haben ja schon jede Menge eigene.“
Der Entstehungszeitpunkt des ominösen Briefes liegt – vom Akteneintrag ausgehend – vermutlich
zum Ende des Jahres 1939 bzw. zum Anfang 1940 und kann somit als Vorläufer des Madagaskar-
Plans betrachtet werden.
87 Der gesamte Abschnitt bezieht sich auf folgenden Artikel: Ein neues Madagaskar. Wie Hitler versuchte, Juden in die Sowjetunion umzusiedeln. In: SZ vom 13.06.2005.
88 Zitiert nach: Ein neues Madagaskar. Wie Hitler versuchte, Juden in die Sowjetunion umzusiedeln. In: SZ vom 13.06.2005.
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Leider gibt es zu diesem Ereignissen noch keine Untersuchungsergebnisse, sie werden aber derzeit
in Freiburg erforscht.
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Entwicklung nach der Wende: Exodus oder Heimkehr?
Mit Glasnost und Perestrojka setzte für Birobidžan und seine Idee eine letzte kurze, aber heftige
Renaissance ein. Sie ermöglichten, wie schon oben erwähnt, die Wiedereröffnung der Synagoge
1984, die sich die gläubigen Juden mit ansässigen Siebend-Tags-Adventisten teilen,89 1989 wurde
sogar eine Pädagogische Hochschule eröffnet, in der auch Jiddische Sprache und Literatur
angeboten wurde.90 Anfang der 1990er Jahre setzte eine Wiederbelebungskampagne ein. So gab es
einen Versuch des Ministerrates der SU, einen neuen Siedlungsstrom nach Birobidžan mit - wie
auch schon bei den Versuchen in den 20er und 40er Jahren - finanziellen Versprechungen wieder
zum fließen zu bringen.91 Sogar die Idee einer Autonomen Republik wurde noch einmal ernsthaft
diskutiert - der Sowjet des JAO forderte Ende Oktober 1991 ein letztes Mal, ihm endlich den Status
einer Republik innerhalb der RSFSR zuzubilligen92 - auch wenn 1989 von 214.000 Einwohnern des
Oblast weniger als 9.000 offiziell als Juden klassifiziert worden waren 93. Aber vor allem eine
kulturelle Blüte belebte das jüdische Leben: in der ersten Hälfte der 90er Jahre wurde Jiddisch
wieder an zahlreichen Birobidžaner Schulen angeboten und jiddische Literatur ins Curriculum der
Birobidžaner Pädagogischen Hochschule aufgenommen.94 Auch Hebräisch-Kurse wurde mit
israelischer Unterstützung angeboten, die sich - aufgrund ihres Nutzens für eine mögliche
Auswanderung nach Israel - großer Beliebtheit erfreuten.95 Bereits Ende der 80er Jahre kam es zur
Gründung einer jüdischen Sonntagsschule, die 1992 von rund 150 Kindern - nicht nur jüdischen -
besucht wurde96, eines Frauenklubs namens "Sabbat"97, eines jiddischen Kindertanz- und eines
Jugendtheaters, das jiddische Stücke spielte98, sowie des zionistischen "Maccabee Sportvereins"99
etc..
Der JAO erfreute sich ein letztes Mal internationaler medialer Aufmerksamkeit - vom 5. - 7.
Oktober 1990 fand das erste internationale jüdische Kulturfestival mit Musik- und Theatergruppen
aus der SU, den Vereinigten Staaten, dem fast wiedervereinigten Deutschland, Israel und
zahlreichen anderen Ländern statt.100
Die Administration des JAO erhoffte sich durch die Wiederentdeckung des jüdischen Charakters
89 Weinberg: S. 88.90 Gitelman, Zivi: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 89 (1989), S. 359.91 Weinberg: S. 87.92 Kuchenbecker: S. 237.93 Weinberg: S. 87.94 Weinberg: S. 87.95 Kuchenbecker: S. 235.96 Weinberg: S. 87.97 Weinberg: S. 235.98 Kuchenbecker: S. 235.99 Weinberg: S. 88.100 Kuchenbecker: S. 235.
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einen touristischen und damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwung. Doch die Wiedergeburt
des Judentums in Birobidžan erfreute sich nur einer kurzen Blüte – wie die gesamte zerfallene
Sowjetunion und ihre Nachfolgestaaten befand auch Birobidžan sich in einer tiefen wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Krise und wer konnte, kehrte auch hier seiner Heimat den Rücken um
woanders sein Glück zu suchen.
Die Israelische Einwanderungsbehörde eröffnete in den 90er Jahren eigens ein Büro in
Birobidžan101 (das 1996 von der El'cin-Regierung geschlossen wurde102). Der Strom der
Ausreisewilligen war so stark, dass 1993 eine spezielle Direktflugverbindung vom nahe gelegenen
Chabarovsk nach Tel Aviv eingerichtet wurde103. Allein im Mai 1990 verließen 52 Menschen
Birobidžan Richtung Israel, und 350 planten es – die gesamte Sowjetunion verließen in diesem Jahr
181.759 Menschen mit dem Ziel Israel und über 5.000 Juden emigrierten in die USA.104
Interessanter Weise blieb die statistische Anzahl der Juden in Birobidžan trotz der Abwanderung
konstant, da sich immer mehr Einwohner zum Judentum bekannten, bzw. als Juden ausgaben – auch
ein Zeichen für den Wunsch, Birobidžan zu verlassen. Es blieben nur die, die nicht konnten: Alte,
Schwache, Menschen mit nicht-jüdischen Ehepartner oder aus gemischten Ehen hervorgegangenen
nicht-jüdischen Kindern, deren Integration sich in Israel schwierig gestaltet hätte.105 1996 lebten
offiziell nur noch circa 3300 Juden im JAO106. 1999 verließen nochmal ungefähr 3.000 Juden
Birobidžan Richtung Israel, 2000 noch 1.106, aber bereits 2001 nur noch 221107. Im Jüdischen
Autonomen Oblast scheint es keine Juden mehr zu geben.
101 Kuchenbecker: S. 239.102 Vgl.: Fishmen, David E.: Russia/Former Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 97 (1997), S. 385.103 Kuchenbecker: S. 238.104 Gitelmen, Zivi: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 92 (1992), S. 388.105 Kuchenbecker: S. 238.106 Kuchenbecker: S. 239.107 Gitelmen, Zivi: Former Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 102 (2002), S. 486.
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Resümee – Birobidžan: halbherzig aber ernst gemeint?
Bestimmt widmete sich die Führung der Sowjetunion nie mit ganzem Eifer dem Unternehmen
„Birobidžan“, eher am Rande – schon Lenin und Stalin ignorierten die Pläne und auch spätere
Führer würdigten sie nicht ihrer Aufmerksamkeit - nicht mal in den jüdischen Kreisen der Partei
erfreuten sie sich Zuspruches: für sie schien Birobidžan wohl den Rückschritt in den Nationalismus
zu markieren. Und außerhalb der Partei stieß es auf noch mehr Ablehnung – gab es in diesem
„jüdischen“ Land lange nicht mal eine Synagoge, ging es hier doch nicht um eine nationale,
sondern um eine sozialistische Heimat für das Judentum.
Andererseits ist Birobidžan ein Paradebeispiel. Die Aufbauleistung ist enorm: ein Land wurde
praktisch aus dem Boden gestampft, und auch nach anfänglichen Schwierigkeiten ist es doch
gelungen eine Heimat für gut eine viertel Million Menschen zu schaffen – wenngleich es sich
hierbei nicht oder kaum um Juden handelt. Heute ist Birobidžan ein Industriezentrum seiner Region
– es beliefert den Fernen Osten Russlands mit Möbeln und Textilien und ein schutzloses Gebiet
kann gegen einen potentiellen chinesischen Feind verteidigt werden – aus Sicht des Kreml ist der
JAO eine Erfolgsgeschichte, seine Bedeutung für das Judentum tendiert allerdings gegen Null.
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Literatur- und Quellenverzeichnis
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Fishmen, David E.: Russia/Former Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 97 (1997), S. 383
– 400.
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Gitelman, Zivi: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 89 (1989), S. 353 – 360.
Gitelmen, Zivi: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 92 (1992), S. 383 – 390.
Gitelmen, Zivi: Former Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 102 (2002), S. 480 - 489.
Gliksman, George J.: Soviet Union. In: American Jewisch Yearbook 49 (1948), S. 393 – 409.
Golczewski, Frank: Die Jüdische Autonome Provinz in Sovjet-Fernost. In: Osteuropa. Zeitschrift
für Gegenwartsfragen 3 (1972), S. 204 - 214.
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Staates in Sowjet-Fernost, Berlin 2000.
Lvavi (Babitzky), Jacob; Redlich, Shimon: Birobidzhan. In: Skolnik, Fred (Hrsg.): Encyclopaedia
Judaica. Second Edition. Band 3, Detroit/New York u.a. 2007, S. 717 – 719.
Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 54 (1953), S. 330 – 343.
Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 56 (1955), S. 404 – 414.
Shapiro, Leon: Soviet Union. In: American Jewish Yearbook 58 (1957), S. 309 – 317.
Weinberg, Robert: Stalin's forgotten Zion, Berkeley/Los Angeles/London 1998.
American Jewish Yearbook 38 (1937), S. 454.
Anfrage an Molotow. In: Berliner Zeitung vom 14.06.2005.
Ein neues Madagaskar. In: Süddeutsche Zeitung vom 13.06.2005.
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