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    Daseinsanalytik und Soziologie

    Gallina Tasheva

    Nachdem die Ad-hoc-Gruppe Heidegger und die Soziologie vom Leipziger Kon-gress der DGS im Jahr 2002 die Debatte aufgriff, die mit dem Buch Jemeinigkeitdes Mitseins. Die Daseinanalytik Martin Heideggers und die Kritik der soziolo-gischen Vernunft (Wei 2001) erffnet wurde und sich der Daseinanalytik Heideg-gers als Form und Medium der soziologischen Selbstreflexion widmete, wollen wir

    uns heute in unserer Ad-hoc-Gruppe erneut hier in Kassel, wo mit der Konferenz1999 alles begann, der Thematik der Daseinsanalytik und ihren mglichen Bezgenzur Soziologie nher befassen. IndemJohannes Weiauf die ursprnglichen Motiv-quellen wissenschaftlicher Explikation zurckgeht und die Heideggersche Destruk-tion als eine Erfahrung soziologischer Selbstbefragung praktiziert, errtert er dieDaseinsanalytik als eine Freilegung der Max Weberschen Grundbegriffe. Da dieDaseinsanalytik, so Heidegger, im Dasein vollzogen wird, erweist sie dasjenige, wassie freilegt als eigenes Fundament. Auf diese Weise kann man die Daseinsanalytikparadox als eine Art Grund der Grundbegriffe bezeichnen, wie das Johannes Weibei der Bielefelder Max Weber Tagung (2005) tat.Jean Clamwidmet sich einer wederaus existentialphnomenologischer noch aus konstruktivistischer Perspektivegestellten Frage nach den Grenzen sozialer Konstruktion als Effekten dieser Kon-

    struktion selbst. Welt und Begehren ich wrde auch noch das Phnomen derAlteritt dazu zhlen erscheinen als Nicht-Objekte der sozialen Konstruktion.Hans Bernhard SchmidsBeitrag rhrt an die Fundamente sozialen Denkens mit derFragestellung nach dem Wir und im gewissen Sinne gegen die genuinen Heideg-gerschen Intentionen jedoch mit Heidegger versucht er Formen gemeinsamen Da-seins nachzugehen. Wir sind natrlich nicht an einer werkimmanenten PhilologieHeideggers interessiert, aber doch um eine gerechte Deutung seines Denkens frdie produktive Lsung offener sozialtheoretischer und soziologischer Problemesehr wohl bemht.

    Nach dem offenkundigen Bruch im Sinn von Gesellschaft (Emmanuel Levinas,Jaques Derrida, Jean-Luc Nancy, Jean Baudrillard) ist der neuerdings angeschlageneTon der theoretischen Debatte um die Krise des Sozialen die Dekonstruktion,

    gefolgt von der Vorstellung einer post-sozialen Gesellschaft. Es bleibt aber dieeigentliche Frage ungedacht, ob das Dasein des Menschen, die Vielfalt menschlicher

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    Existenzweisen und die Sozialitt menschlichen Lebens sich ausschlielich auf dasgesellschaftliche Sein reduzieren lsst. Dabei geht es nicht um die traditionelle

    Gegenberstellung von ffentlichem und Privatem, um die Unterscheidung vonFamilie, Gruppe, Gemeinschaft und Gesellschaft. Von Heideggers Daseinanalytikher zeigt sich ein spezifisch anderer Bezug zwischen dem gesellschaftlichen Seinund der jeweiligen und jemeinigen Existenz des Menschen.

    Wenn die Existenz nicht die gleiche Ordnung wie die der Gesellschaft oder wie Heideggers Werk zeigt gar keine vorgegebene Ordnungsstruktur aufweist,entsteht das von der Soziologie nie thematisierte Problem nach dem Zusammen-hang von Existenz, Gesellschaft und Sozialitt. Ist das Soziale mit der Gesellschaftgleich bedeutend? Lsst sich Sozialitt als eine Erweiterung der Existenz denkenoder ist sie die Bedingung der Mglichkeit von Existenz? Entsprechen den ver-schiedenen Ordnungen verschiedene Formen von Sozialitt oder knnen lediglichbestimmte Existenzvollzge, Lebensformen, Verhaltensweisen und Handlungen

    Sozialitt generieren? Zeigt sich ein Auen der Gesellschaft und des Sozialen imSinne des Gesellschaftlichen oder weisen existentiale Phnomene eine besondere,nichtlineare Logik der Konstitution auf?

    Solch eine Reihe sozialtheoretischer Fragen stellt sich fr eine Soziologie sozia-ler Systeme wie auch fr eine Soziologie kommunikativen Handelns nicht, da sie,wie es ihnen selbstverstndlich zu sein scheint, Existenz und Sozialitt mit demgesellschaftlichen Sein gleichsetzen. Noch mehr, das Kommunikationsmodell derGesellschaft trotz seiner unterschiedlichen Gestalten als Selbstdifferenzierung desSystems von der Umwelt aufgrund kommunikativer Operationen bei NiklasLuhmann oder als ein widersprchliches Gefge von System und Lebenswelt beiJrgen Habermas beansprucht die umfassende Darstellung aller mglichen For-men sozialer Beziehungen und Prozesse: Anfangend von den immanent interakti-

    ven Prozessen ber die durch symbolisch generalisierte Kommunikationsmedienvermittelten funktionalen Differenzierungen bis hin zu den kommunikativ operati-ven Systembildungen und Rationalisierungen der Lebenswelt mittels berwindungvon Paradoxien und Widersprchen. Nach Luhmann sind sogar alle, bis zu denKleinstbegegnungen persnlicher und unpersnlicher Art Vollzug von Gesell-schaft (1997: 813). Die Gesellschaft als soziales System setzt durch grundlegendeKomplexittsreduktionen die Voraussetzungen fest fr das Operieren der Kommu-nikations-, Interaktions- und Organisationssysteme. Interaktion und Organisationsind keine fertigen Gebilde, die in die Gesellschaft eingehen, sondern immerVollzug der Gesellschaft in der Gesellschaft (ebd.: 814).

    Unserer berzeugung nach fhren weder die systemtheoretischen oder die neu-eren konstruktivistischen Vorstellungen einer post-sozialen Gesellschaft bei Karin

    Knorr-Cetina und Bruno Latour, noch die dekonstruktivistische Verabschiedung

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    des Gesellschaftsbegriffs bei Ernesto Laclau und Chantal Mouffe zu einem soziolo-gisch relevanten Ausweg aus dem klassischen Integrittsbegriff der Gesellschaft.

    I.

    Das Verhltnis von Gesellschaft und Sozialitt wird in der Soziologie erst mitTalcott Parsons Systemtheorie problematisch. Whrend bei Max Weber, GeorgSimmel, George Herbert Mead oder Alfred Schtz die Sozialitt die Prozesse derVergesellschaftung fundiert, wird sie bei Parsons ausschlielich auf die sozialenWerte und Normen reduziert. Indem die Parsonssche Lsung der bindenden Kraftder sozialen Werte und Normen in einer Kantianischen Reformulierung von Haber-mas wieder aufgenommen und auf die Lebenswelt, die in der Rationalitt der natr-

    lichen Sprache grndet, ausgeweitet wird, breitet sich die wertnormativ verstandeneSozialitt auf das ganze System der Gesellschaft aus (Habermas 1999: 548592,insb. 583ff.). Die Radikalisierung der Parsonsschen Systemtheorie der Gesellschaftals ein selbstorganisierendes lebendiges System bei Luhmann fhrt noch radikalerzu einer Gleichsetzung der Sozialitt mit dem System der Gesellschaft. Das Systemder Gesellschaft besteht nach Luhmann nicht mehr nur aus Teilsystemen einesGanzen Relikt des metaphysisch belasteten alteuropischen Denkens sondernerzeugt und organisiert sich in der operativen Schlieung eines von der Umwelt sichselbst unterscheidenden lebendigen sozialen Systems (Luhmann 1988: 20ff.). DasGesellschaftssystem normiert sich immer wieder in und durch seine eigenenselbstreferenziellen Operationen. Die Gleichsetzung von Sozialitt mit den gesell-schaftlichen Werten und Normen, ergo mit dem System der Gesellschaft, ist sicher-

    lich ein Relikt der metaphysisch beladenen systemtheoretischen Konzeption vonGesellschaft bei Parsons, die offensichtlich aus der Auseinandersetzung mit derpolitischen Theorie des Gesellschaftsvertrages des XVII. Jahrhunderts, besondersvon Thomas Hobbes, hervorgegangen ist (Parsons 1977: 69). Die Frage, die sichvor den Theoretikern des Gesellschaftsvertrages stellte und die danach ziemlichverschiedene naturrechtliche, republikanische, liberalistische, kommunitaristischeund universalistische Antworten bekommen hat, war: Wie knnen die individuellenprivaten Interessen um des Gemeinwohls willen gerecht vermittelt werden? Aller-dings wird die soziologische Frage nach der Konstitution verschiedener Formenvon Sozialitt weder durch eine universelle wertnormative Begrndung des Pro-blems der sozialen Vermittlung und der Gerechtigkeit, noch weniger durch seineradikale systemtheoretische Desavouierung geklrt. Die Frage nach der Genealogie

    der Sozialitt und der Konstitution des menschlichen Zusammenlebens wird nicht

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    einmal gestellt, da die Sozialitt auf dem Boden der gemeinsamen Werte undNormen einfach als schon vorhanden vorausgesetzt wird.

    Der werttheoretischen Begrndung der Sozialitt und der phnomenologischennoetisch-noematischen Konstitution der sozialen Welt setzt Heidegger die Analytikdes Daseins als ekstatische Zeitlichkeit entgegen. Das Dasein in seiner endlichenExistenz als In-der-Welt-sein ist zugleich Faktizitt und Transzendenz(vgl. Heidegger1986a: 69, insb. 351 u. 364; 1986b: 150, 183, 186187; auch GA, Bd.58: 27ff.,229ff.; Bd.63: 15ff., 81f.; Bd.20: 142159). Das Dasein istin der Weise, sein Da zusein nach der berhmten Heideggerschen Formel von Sein und Zeit (1986a:133). Unsere Weise zu sein ist nichts Vorhandenes als etwas bestndig Vorliegen-des, sondern Lebensbewegtheit Zeitlichkeit, Jeweiligkeit, Endlichkeit. In seinerendlichen Zeitlichkeit versteht sich das Dasein aus seiner Geworfenheit in die Weltauf sein Zu-sein-Haben als ein stndiges Fragen, in dem das Befragte der/dieFragende selbst ist. Das Dasein ist in eins der zeitliche Vollzug des In-der-Welt-

    seins und der Bezug zu diesem Vollzug. Das Sich-Fragen als Ursprung der Existenzist eine Beziehung zu sich ohne Selbstbezglichkeit, da das Dasein selbst in derFrage steht. Sogar mit der Steigerung der Fraglichkeit bezieht sich das Daseinimmer wieder auf diejene Offenheit, die es selbst ist. Dasein bedeutet eigentlichjene ffnung des In-der-Welt-seins, in der sich das Mgliche erschliet. Ausge-richtet auf die offenen Mglichkeiten der Zukunft ist das Dasein ohne Grund(Heidegger 1957: 188). Das Dasein, begriffen in seiner uersten Seinsmglichkeit,ist die Zeit selbst, nicht inder Zeit (Heidegger 1989: 19). Die zeitliche Ekstase ist diebernahme und das Geschehen der Existenz selbst. Das endliche Dasein istimmer noch unterwegs. Es ist immer noch etwas, was nicht zuende ist. Am Ende,wenn es soweit ist, ist es gerade nicht mehr (Heidegger 1989: 1516). Die Endlich-keit des Daseins, sein Sein-zum-Tode erweist sich jedoch nicht als das blo bevor-

    stehende unbestimmte Ende. Vielmehr erschliet sich dem Dasein in der faktischenAusgerichtetheit seiner Existenz auf den Tod sein primres Mglichsein. In diesemSich-voraus-sein der gelebten Zeitlichkeit, im Entwurf der eigensten Mglichkeiten,kommt das Dasein mit seiner ganzen Vergangenheit auf sich aus der Zukunftzurck. Die ekstatische Zeitlichkeit ist gerade das grndende ursprngliche Auer-sich (Heidegger 1986a: 329).

    Die sich bei aller seiner Freiheit offenbarende Endlichkeit des Menschen fhrtim Bezug zu ihm selbst zu einem transitiven Charakter des Existierens. Der existen-zialen Logik gem wird so eine Verwandlung des erfahrungstheoretischen Ansat-zes mglich: der Mensch in seiner faktischen Existenz als Sich-voraus-sein imVorlaufen-zum-Tode ist immer schon auer sich und ber sich hinaus, beimAnderen, bei jenem absoluten Anderen, der sich nicht auf die gegenseitige Rezipro-

    zitt eines Du (Mead), auf die intentionale Konstitution des Alter ego (Schtz)und noch weniger auf einen vermittelnden Dritten (Simmel) reduzieren lsst. Der

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    Andere ist keine mir gegenberstehende Entitt. Der andere Mensch in seinerEinzigartigkeit ist bereits da vor jeder Erfahrung und Konstitution. Der Andere

    ist das Ereignis des Da.Heideggers Entdeckung, die ihn entschieden von Immanuel Kant und der gan-zen Tradition unterscheidet, dass die Zeitlichkeit das Geschehen der Existenz selbstist, manifestiert sich in der Offenbarung der Grundbefindlichkeit des endlichenExistierens, die der Mensch freilich durch alle Formen des Wissens, der Erkenntnis,der Objektivierung und Vergegenstndlichung der alltglichen Erfahrung berspielt so als erlange er dadurch die ihm konstitutiv fehlende Bestimmtheit. Kommuni-kation, Handeln, mediale Vermittlung und deren Netze symbolischer und sozialerStrukturen, die durch Sprache, Schrift und Technik gesponnen werden, verleihendem menschlichen Leben jene von allen geteilte Bestimmtheit der Positivitt desMan. Die Sicherheit der Bestimmtheit im Untereinandersein inmitten des Manverhilft und bestrkt das Dasein auf der Flucht vor seinem eigenen Selbstsein. Das

    existenziale Offensein des Daseins fr den Anderen erwacht allerdings nicht ausder Kommunikation. Die Mhle der Kommunikation zermahlt die Singularitt undntigt zur Einbeziehung des Anderen durch Neutralisierung und Normierung, dieauf natrliche Widerstnde der Alteritt stt. Der Grundthese der Alteritt ent-sprechend entzieht sich die Andersheit des Anderen in seiner Singularitt, die denErfahrungs- und Verstehenshorizont des eigenen Ich bersteigt, jeder Kollektivittdes Mit um etwas Gemeinsames (Levinas 1979: 8889, 1974: 164ff., 1998: 108ff.;auch Derrida 1999: 5792, 2000: 431ff.).

    II.

    Dass sich die Frage nach der Sozialitt in ihrem existenzial genealogischen Sinnheutzutage fast zwanzig Jahre nach den systemtheoretischen Entwrfen der Ge-sellschaft noch dringlicher als je zuvor stellt, folgt in ihrer inhrenten Logik ge-rade, aber auch nicht ausschlielich aus den globalen sozialen Entwicklungen. Tat-schlich zeichnen sich die Prozesse der Globalisierung durch eine parallele Steige-rung der Inkommensurabilitt des Singulren aus. Bei deren Erfassung stoen diediskursiven Verfahrensweisen der Universalpragmatik der kommunikativen Ratio-nalitt an ihre formalen Grenzen und das soziale System kann nicht mehr durcheigene operative Prozesse die sich mehrenden fremdreferenziellen Anordnungen inselbstreferenzielle Bestimmungen umwandeln. Die Weltgesellschaft pluralisiertsich in unzhlige Systeme, die nur noch als diskursive Praktiken unterschiedlicher

    Semantiken existieren knnen. Gerade das faktische Fehlen eines totalisierendenGanzen, das durch die Institutionen des Staates und der Nation garantiert wird,

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    stellt erneut die Frage nach der Genealogie der Sozialitt, aber nicht als differentiaspecifica eines ausschlielichen Prozesses der Vergesellschaftung, da die Bestim-

    mung der Sozialitt nach unserer Meinung die soziale Ontologie bersteigt undnach einer Daseinsanalytik und insbesondere nach einer Existenzialanalytik desMitseins verlangt.

    Die Notwendigkeit, die Frage nach der Sozialitt erneut zu stellen und siegenealogisch zu reformulieren, selbst wenn sie heute mit besonderer Nachdrck-lichkeit hervortritt, entspringt dennoch nicht allein aus den gewaltigen Umwl-zungsprozessen der Globalisierung. Sie zeichnet sich mit den immanenten Entwick-lungen der sozialen Theorien schon seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts abund zwar im Kontext der Auseinandersetzung mit der Daseinsanalytik Heideggers.Es ist ziemlich bemerkenswert, wie Heideggers Destruktion der Onto-Theo-Logieund in diesem Sinne seine Kritik des Subjektivittsdenkens und des europischenHumanismus in Deutschland mageblich zu einem Verschwinden und Ersetzen des

    Menschen als Subjekt durch das soziale System bei Luhmann1oder durch die Uni-versalpragmatik des kommunikativen Handelns bei Habermas2gefhrt hat. Wh-rend dessen hat die Auseinandersetzung mit Heideggers Daseinsanalytik besondersin der franzsischen Sozialtheorie eine Art Verschiebung und Verwindung desgroen Subjekts hervorgebracht in der Suche nach der eigentlichen Stellung desMenschen in der Welt, nach seinen existenzialen Bestimmungen und Beziehungenzum anderen Menschen, wie in Lacans Psychoanalyse des Unbewussten als Sprachedes Anderen, in Paul Ricurs Hermeneutik des Selbst als ein Anderer, aber vorallem in Derridas Dekonstruktion des Sinnes und der Auffassung der Differenz alseine Beziehung zur Alteritt, in Levinas Ethik des Anderen und auch in Nancys ko-existenzialer Analytik, die wir als Weiterentwicklungen der Heideggerschen Spt-philosophie der Differenz betrachten. Trotz dieser schon ber siebzig Jahre fort-

    bestehenden Heidegger-Debatte, die sich an den Grenzen von Philosophie, Kul-turwissenschaft, Literaturwissenschaften und Sozialtheorie entwickelt hat, fehlt esimmer noch an einer soziologischen Rezeption, obwohl eine solche Rezeption frdie Selbstreflexion der Soziologie neue theoretische Perspektiven darbieten kann.

    1 Soziale Systeme dienen der Vermittlung zwischen der uersten Komplexitt der Welt und derFhigkeit der Menschen zu bewusster Erlebnisverarbeitung. Ohne eine Sinngleichheit dieser gegen-bergestellten Begriffe zu behaupten, findet Luhmann, weil er unter Subjekt eine Bewusstseins-struktur versteht, fr die Ausarbeitung einer soziologischen Theorie vorteilhaft die Begriffe durchdie jeweils anderen zu ersetzen: Fr Subjekt steht hier System, fr Objekt Welt (vgl. Luhmann1970: 116, 132 Amn.11, auch 1988: 111ff.).

    2 Ausgehend von der Kritik der Bewusstseinsphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Edmund

    Husserl zu einer intentionalen und Heidegger zu einer existenzialen Lsung desselben Problems derSubjektivitt ntigt, geht Habermas den Weg der analytischen Sprachphilosophie ein und lst dasSubjekt in den formalen Sprachstrukturen der Kommunikation auf (vgl. Habermas 1999: 11f.).

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    III.

    Bekanntlich wurde schon sehr frh Heideggers Existenzialanalytik des Mitseins vonJean-Paul Sartre und dann spter von Emmanuel Levinas kritisiert (vgl. Sartre 1943:302310; Levinas: 1961: 39ff.). Sowohl Sartre als auch Levinas gehen von Sein undZeit aus und stoen auf dieselbe Schwierigkeit, die Heidegger selbst zu Ende vonSein und Zeit feststellt und die ihn, besonders nach seinen Schriften Vom Wesendes Grundes (ber die Transzendenz) und Vom Wesen der Wahrheit zu einerKehre in der Daseinsanalytik ntigt der Unmglichkeit wegen, das absolut Anderevom Dasein her zu ergrnden (vgl. 1978: 165, 172173, 195196, insb. 196197).Damit verschiebt sich die Frage der Daseinsanalytik von der Zeit als Sinn des Seins,grndend in der Zeitlichkeit des Daseins, zu einer Frage der Existenzialanalytiknach dem Dasein, das von der nicht objektivierbaren Zeit und dem absolut Ande-ren her zu denken ist. Whrend aber Heidegger das Denken der Differenz und des

    Seins als das Andere des daseinsmigen Seienden wie eine notwendige Verwin-dung der Daseinsanalytik versteht (vgl. 1978: 199), gibt sich das aus der kritischenAuseinandersetzung mit Sein und Zeit entstandene Denken der Alteritt beiLevinas und Derrida als eine Art berwindung der Daseinsanalytik und damit derAnalytik des Mitseins. Die bewusste Dekonstruktion der Daseinsanalytik durch dasDenken der Alteritt sollte man von einem oberflchlichen Vergleich von Heideg-gers Frh- und Sptwerk durch den Gegensatz von Dezisionismus und Submissi-vitt wie etwa bei Habermas (vgl. 1985: 168) streng unterscheiden.

    Entwickelte sich das Denken der Alteritt ursprnglich bei Levinas als eineAntithese zu Heideggers Analytik des Mitseins, so zeigte sich im Umkreis der Dis-kussion ber die differance, die Dekonstruktion des Sinnes und die Singularitteines jeden Anderen ein erneutes Interesse an Heideggers Verstndnis des Daseins,

    das sich existential als ekstatische Zeitlichkeit und Endlichkeit offenbart, das keinenHalt in Ideen, Werten, Cogitationen, Handlungen und Praxen finden kann. DiesesZerspringen jeder gattungsmigen Identitt des Ursprungs, heit aber nicht einenVerzicht auf Identittsbildung und einen mglichen Bezug auf einen Ursprung inseinem Entzug. Wenn der Begriff des mit sich selbst identischen Subjekts zersprun-gen ist, ist nach Nancy auch der Begriff der Gemeinschaft/Gesellschaft (2004: 66)gebrochen. Es gibt weder ein uerliches Zusammenvorkommen des Miteinander-seins, noch eine innerliche berlagerung, berschneidung, berkreuzung einer ge-meinsam geteilten Welt. Vor der phnomenologischen Intentionalitt und der ego-logischen Konstitution, vor der dinglichen Konsistenz und sehr wohl vor jederPraxeologie gibt es und hier wenden wir uns an Jean-Luc Nancys Deutung desMitseins eine Mitursprnglichkeit (2004: 72). Nach der ko-existenzialen

    Analytik, die Nancy entwickelt, ist die inkommensurable Singularitt, ausgehendvom singulr Pluralen der Ursprnge (ebd.: 51) eine gemeinsame Inkommen-

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    surabilitt (ebd.: 126), die als ein singulr plurales Mit-sein (ebd.: 118119)erscheint. Da die Beziehung zum Anderen nur von dem Moment an denkbar ist, wo

    das Sich als Selbst erscheint und insofern es Selbst nur aufgrund eines Mit-seins gibt, stellt sich mit Nancy die Frage nach den Bedingungen der Mglichkeitvon Ko-Existenz.

    Dass Heideggers Konzeption des Mitseins so unterschiedliche, fast kontrreDeutungen erfhrt, liegt nach unserer Meinung nicht an der Kehre der Daseins-analytik, da es sich dabei eher um eine Umkehrung des Selbstverstndnisses derExistenz handelt, die schon in Sein und Zeit mit dem geplanten dritten Abschnittdes ersten Teils und dem ihn folgenden zweiten Teil beabsichtigt und angelegt war,wie es solche Interpreten wie Hans-Georg Gadamer, Wilhelm-Friedrich von Herr-mann, Otto Pggeler, Carl Friedrich Gethmann, Jean Grondin aufgezeigt haben.Gerade in der Auffassung, dass das Dasein in seiner faktischen Existenz als In-der-Welt-sein von der Transzendenz des Anderen her zu verstehen ist, vollendet sich

    allererst

    nach der Meinung von Karl-Heinz Volkmann-Schluck

    das Wesendessen, was Heidegger von Anfang an Existenz genannt hat (1996: 70).

    IV.

    Wenn Heidegger selbst das Mitsein schon in Sein und Zeit als wesentlich frdie Konstitution des je eigenen Daseins (1986a: 121) bestimmt, so lsst sich inden meisterhaften existenzialen Analysen Heideggers und seinen Ausfhrungen vonder Daseinsanalytik zur Kehre im Selbstverstndnis der Existenz jene phno-menale paradoxe Dialektik der Existenz erkennen, in der die ontologisch gegen-

    stzlichen Denkmodelle der Konstitution der sozialen Welt (Alteritt vs. Mitsein)selbst grnden. Die Singularitt der irreduziblen Andersheit und die singulre Plura-litt des Mitseins erweisen sich aus der soziologischen Perspektive einer Genealogieder Sozialitt sogar als einander bedingende Existenzvollzge. Die Frage, die sichhier stellt, ist: Welche Existenzvollzge und Lebensformen knnen jene existenzialeBewegtheit menschlichen Lebens gewhrleisten, die in Hinblick auf die wider-streitenden Ordnungen des gesellschaftlichen Systems und der normierten Prozesseder Kommunikation ein Mitsein konstituieren lassen?

    Das Mitsein, das als Beziehung zum Anderen nicht einfach ein Mitdaseinoder ein Miteinandersein ist, entsteht nicht als Kollektivitt um etwas Gemeinsa-mes, sei es durch Prozesse der Vergesellschaftung oder als selbstreferenzielle Ein-heit. Das Mitsein als Existenzial des Daseins entgeht aus Prinzip der Geschlos-

    senheit der Selbstbezglichkeit, die die differentia spezifica jedes einzelnen Subjektsoder eines Gesamtsubjekts ist. Ein solcher Begriff der Gesellschaft als Identitt in

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    der Differenz des Kollektiven zum Individuellen oder des Integrativen zumNichtzugehrigen ist im Heideggerschen Sinne nur ein anderer Name () oder

    eine Erweiterung der Subjektivitt (Heidegger 1977: 97).Wenn Heidegger das existentiale Offensein als Mitsein fr den Anderen(Heidegger 1986a: 163) wesentlich fr die Konstitution des je eigenen Daseinsbestimmt (Heidegger 1986a: 121), hat er jene paradoxe phnomenale Dialektikmenschlichen Lebens im Blick, wie im Ausgang vom In-der-Welt-sein, wo derMensch in seinem Mitdasein mit den vielen konkreten anderen Menschen einMiteinandersein bildet (Heidegger 1986: 117ff.), aber auch ein Man (ebd.:126ff.), das nicht eigentlich er selbst ist. Erst in der existentialen Bewegung zumAuer-sich angesichts des Anderen lsst sich ein Mitsein konstituieren. DasDasein als Fragendes und Befragtes verhlt sich zu sich selbst, zu seiner Jemeinig-keit durch eine Umkehrung ber den Umweg einer Beziehung zum Anderen, diestreng genommen keine Beziehung ist, da sie eine Beziehung zum Differenten

    und positiv Unfassbaren bedeutet. Eine besondere Bedeutung fllt hier auf dieBegrndung und Ausarbeitung der verschiedenen Formen des menschlichen Zu-sammenseins, da es immer noch an einer solchen ausdifferentierten Betrachtungfehlt und das Miteinandersein mit dem Mitsein gleichgesetzt wird, wie er einelineare Vorstellung ihrer Genese suggerieren wrde (vgl. Bauman 2007: 8493).

    Die ausgeprgte Widersprchlichkeit dieser besonderen, meiner Meinung nach,inversiven Genese der eigentlichen menschlichen Existenz, auf welche ausfhrlicheDarlegung ich hier nicht eingehen kann, sie aber doch unbedingt benennen undmarkieren mchte, zeigt, wie es mglich ist, vom Mitdasein zum Miteinan-dersein und erst durch die Inversion ber die Andersheit des anderen Menschenzur Konstitution von Mitsein zu gelangen. Dabei sind jene Existenzvollzge undLebensformen von besonderer Bedeutung, die in Bezug auf die widerstreitenden

    Ordnungen des gesellschaftlichen Systems und der normierten Prozesse der Kom-munikation ein Mitsein herbeifhren knnen, das nicht ausschlielich auf gesell-schaftlich gesteuerten integrativen Prinzipien beruht und in den Zeiten fortschrei-tender Globalisierung (Pluralisierung singulrer Diskurse/Praktiken) immer mehran Bedeutung gewinnt.

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