SPIELRAUM Magazin No.1 Abseits
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Das Abseits zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es sich dort befindet, wo man
es nicht erwartet. An dem Wort Abseits haben sich gedankliche Allgemeinplätze und
Klischees festgesaugt wie Fußballbildchen auf Kinderzimmertüren. Die Mutter aller
Abseits-Klischees, das „gesellschaftliche Abseits“ wird vor allem und gerne von denen
ins Spiel geschubst, die sich irgendwo in der Mitte, gewissermaßen abseits des Ab-
seits wähnen. Den vermeintlichen Bewohnern dieses diagnostizierten Abseits wiede-
rum kommen die sie ins Abseits redenden Terminologen in ihrem seltsamen Tun etwas
abseitig vor. Auf dem satten Grün des abgezirkelten Spielfeldes verhält es sich nicht
sehr viel anders. Der Spieler im Abseits ist sich seiner Position oft am allerwenigsten
bewusst und streitet nach dem Pfiff dann alles ab. Ist derjenige, der sich hier im Abseits
befindet also nicht einfach jemand, der sich weiter heraus gewagt hat, als erlaubt? Nur
aus einer gewissen Distanz heraus, so scheint es, ist das Abseits überhaupt erkennbar.
Andererseits lässt sich von Weitem aus nur schwer zwischen passivem und aktivem
Abseits unterscheiden. Dafür wird aus der Ferne etwas anderes deutlicher: Den Spielern
ist oft nicht mehr bewusst, dass die Regeln, an die sie sich halten, von ihnen selbst auf-
gestellt wurden. Ganz andere Spiele wären denkbar, lustigere. Ohne Regeln allerdings
gibt es auch kein Spiel. Und auch nichts, über das man sich hinweg setzen könnte. Die
willkürliche Begrenzung provoziert einen kreativen Umgang mit ihr. Eine wesentliche
Erkenntnis der Spieltheorie besagt, dass im Idealfall jeder Spieler die jeweilige Situation
gleichzeitig aus der Sicht aller Spieler betrachten können müsste. Solange ein Spieler
sich verbessern kann, indem er etwas anderes macht, als die anderen denken, wird er es
anders machen. Wie man es auch dreht und wendet, das Abseits ist offensichtlich vor
allem eine Frage der Perspektive. Für diese Spielraum-Nummer haben wir den Versuch
unternommen, dem Abseits ein Stückchen näher zu kommen, wohl wissend, das es kein
Abseits mehr ist, wenn es einmal fokussiert wird.
Spielraum soll künftig 2 Mal im Jahr erscheinen. Spielraum ist als Nachwuchspro-
jekt gedacht und möchte gerne denjenigen Fotografen und Journalisten eine Plattform
sein, die Lust haben, zu veröffentlichen, aber noch dabei sind, auf dem Magazinmarkt
ihren Platz zu suchen. Vor allem Raum für eigene Ideen soll das Heft bieten; die einzige
Vorgabe, die von unserer Seite gegeben wird, ist der Arbeitstitel. Alle Mitarbeiter dieser
Ausgabe haben ihre Beiträge kostenlos für dieses Heft zur Verfügung gestellt. Dafür
vielen Dank! Ebenso möchten wir uns bei allen bedanken, die Beiträge eingesendet
haben, aber nicht berücksichtigt werden konnten.
editorial
Spielraum Einführung� Spielraum � Einführung
Rosenthaler Platz/Berlin Mitte
zwischenraumEine Fotostrecke von Thomas Krüger
Spielraum Einführung� Spielraum � Einführung
Shooting StaRSEine Mannschaft will nach oben
PSychothERaPiE Ein Autor spielt sich frei
Ein toR zuR WEltEin Ausflug in das kleinste Land des Fussball
WEttBEWERBAusgezeichnete Momente des Glücks
DiE zugBEglEitERNächtliche Ausflüge mit Zugliebhabern
thE caMPEin Ferienlager
hiER&JEtzt DiE VERgangEnhEit lEBtAuf Pilgerfahrt mit Chassidischen Juden in Osteuropa
MiMikRiEine Modestrecke
DER tanzPalaSt Der Friedrichstadtpalast probt die MTV Revolution
aRchäologiE DER aRBEitEin fotografisches Tableau
ES SinD DiE SchMutzigEn JungS, DiE hERzEn BREchEn Ein Besuch im Kohlehandel Hantke
zauBERWalD
iMPRESSuM
EDitoRial
inzWiSchEnRauMUrbane Leerstellen
auSSEn.Über die Grenzen zwischen Fotograf und Sujet
RhinoW / School’S out FoREVER Die Schließung der Juri–Gargarin–Schule im brandenburgischen
Rhinow erzählt dieGeschichte einer schrumpfenden Region.
noStalgia
Das alte Coney Island verschwindet
Eine der letzten Oasen New Yorks wird geschlossen.
uRBan B-SiDES Die Stadt erzählt Geschichten
WaRSchauS SchlEchtERE hälFtEPraga ist verrufen – doch hier lebt die Seele der
polnischen Hauptstadt
MoSchEEnMoscheen in Frankfurt
cElEBRation
Leben in Disneyland
PoSition iSt allESBetrachtungen über den Campisten
SonnEnWEnDELeben am Polarkreis
RatchatWas sich deutsche Rattenfreunde zu erzählen haben
oRt DES WiDERStanDS Die Köpi darf bleiben, zumindest die nächsten 29 Jahre.
Ein Besuch im wohl bekanntesten besetzten
Haus Berlins
inhalt
ortszeit
leben
identität
arbeit
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116
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128
136
142
148
154
fussball
Spielraum Einführung10 Spielraum 11 Einführung
In den 1960er Jahren besucht der Fotograf Richard Avedon das East Lou-
isiana Mental Hospital in Jackson, Louisiana. Es entstehen Fotografien für
eine Reportage, die die Patienten dieser psychiatrischen Anstalt portraitie-
ren. In einer Serie von S/W-Aufnahmen dokumentiert er ihren Lebensalltag
mit der Kamera. Die Bewohner der Anstalt verwehren sich zum Teil in iso-
lierenden körperlichen Gesten dem Blick des Fotografen, zu einem anderen
Teil erwidern sie ihn: Mit hilflosem Blick schauen sie in diesem Moment
nicht nur den Fotografen, sondern jeden Betrachter dieser Fotografien an.
Das grobkörnige Fotomaterial der Abzüge forciert den Eindruck dieser zer-
rissenen Geisteszustände.
Avedon steht mit dieser Reportage in der Tradition sozialdokumenta-
rischer Fotografie. Ein Jahrhundert zuvor, in den 1890er Jahren, arbeitet
Jacob August Riis an seiner Dokumentation „How the Other Half Lives“,
in der er das Leben der Armen in den New Yorker Slums portraitiert. Le-
wis W. Hine kritisiert in seiner 1905 entstandenen Fotoserie Kinderarmut
und Kinderarbeit in den USA. Im Auftrag der Farm Security Administrati-
on erstellen im Zeitraum von 1935 bis 1942 u.a. die Fotografen Dorothea
Lange und Walker Evans eine groß angelegte fotografische Dokumentation
über die verarmte Landbevölkerung in Amerika. Die Fotografin Diane Ar-
bus ist hinlänglich für ihre fotografischen Portraits von Randständigen der
Blicks ist der Strategie des fotografischen Mediums
immanent. Die Fremderfahrung durch die Fotogra-
fie ist demnach als eine Auseinandersetzung mit der
Welt zu lesen. Die Welt wird durch die Fotografie ka-
tegorisiert, strukturiert und erschlossen.
In diesem Verständnis wurde das Medium schließ-
lich auch von Beginn an auf Reisen und Expediti-
onen eingesetzt und nährte in seiner anfänglich
unbezweifelt präzisen technischen Wiedergabe den
Drang nach Wissenspräsentation. Die Vermessung
der Welt wurde mit anthropologischen und ethno-
graphischen Fotografien vorangetrieben, die nicht
nur fremde Länder und Gegenden, sondern vor allem
auch Sitten und Gebräuche, fremde Kulturen und de-
ren Lebensbedingungen portraitierten. In bewegten
Bildern vertieft der Film diese Botschaft und liefert
bis heute in groß angelegten Dokumentationen reich-
haltiges Bildmaterial zum Verständnis der Welt.
An der Grundstruktur hat sich seither nichts ge-
ändert: Es gibt ein Davor und ein Dahinter. Das
technische Instrument macht aus dem Blick eine ka-
tegorisierende Linse. Und in diesem Sinne lassen sich
Fotoserien über Armut, politische Grenzgänger oder
jugendliche Subkulturen auf einen gemeinsamen
Nenner herunterkürzen. Es ist immer eine Drauf-
sicht. Im Moment der Annäherung des Fotografen an
das zu fotografierende Sujet entsteht eine relationale
Gesellschaft bekannt. Was vereint diese Fotografen
in ihrem Schaffen? Ein Grundzug ihrer dokumen-
tierenden Motivation ist das Aufzeigen und Erfassen
sozialer Missständen und sozialer Randgruppen in
einer fotografischen Authentizität, die in einer seriel-
len Abfolge nachgezeichnet wird. Aber was passiert
in der Begegnung von Fotograf und Modell genau?
Auf welche Weise wird sich dem Sujet genähert? Ge-
mein haben die oben genannten Fotografen nämlich
auch, dass sie alle nicht zu der Gruppe der Menschen
gehören, die sie portraitieren.
Die Welt ihrer Modelle ist ihnen fremd, aber in das
Format des fotografischen Sujets gebannt, bauen sie
eine Beziehung zu ihnen auf. In der Soziologie hat
man den Begriff der Verwunderung gefunden, der
diese Motivation treffend beschreibt. Sie ist sowohl
ein Mittel der Aneignung, als auch ein Schritt zur
Anerkennung des Anderen.
Indem ich den anderen ansehe, erkenne ich ihn an
und er mich im Gegenblick. Diese Ambivalenz des
auSSEn. Über die Grenze zwischen Fotograf und Sujet
Fremdheit zwischen beiden. Das bedeutet einen gegenseitigen Abgleich und
eine Wahrnehmung ihrer angenommenen Unterschiedlichkeit. Es sind die
eigenen Normen, Werte, Gewohnheiten und kulturellen Selbstverständlich-
keiten, die durch das Fotografierte aus einer distanzierten Sicht betrachtet
werden. Die Objektivität des Gruppenfremden transformiert unseren Blick
und wirft ihn auf uns zurück (Georg Simmel: „Exkurs über den Fremden“,
in: „Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“,
Duncker & Humblot Verlag, Berlin 1908, S. 509-512.). Nichts anderes
meinen Wim Wenders, wenn er sagt, dass jede Kamera in zwei Richtungen
fotografiere, und Martin Parr, wenn er seine Arbeit als zeitgenössisches Ge-
sellschaftsbild, aber auch als Selbstportrait versteht.
Für den fotografischen Akt mag die Annahme der wechselseitigen Be-
trachtung eine Wahrheit haben – aber diesem Prozess des Fotografierens
geht ein mentaler Auswahlprozess voraus. Der Fotograf benennt bereits im
Geiste sein Thema und verfügt für einen kurzen Moment über die Autoren-
schaft an dem nun beginnenden kreativen Prozess. Dieser kurze Moment
erhebt ihn über das Sujet. Es entsteht – wenn auch nur durch den knappen
zeitlichen Vorsprung – ein hierarchisches Gefüge, das fotografiertes Sujet
und fotografierenden Autor klar voneinander trennt.
Der Fotograf muss das Sujet in einem ersten Schritt als etwas „Frem-
Fotografie Johannes Starke text Heide Häusler
Spielraum Einführung12 Spielraum 13 Einführung
des“ – etwas außerhalb seines Selbst liegendes – er-
kennen, damit er sich ihm nähern kann. Und so ist
der erste Blick des Fotografen, der selektiert und
kategorisiert, geistiger Natur. Die Auswahl eines
bestimmten Themas reflektiert seine Gedanken
über die Welt und macht an dieser Stelle eine eman-
zipierende Umdeutung für das betrachtete Objekt
kaum möglich. Das technische Gerät der Fotoka-
mera ist dann in der Umsetzung der Idee ein un-
terscheidendes Merkmal in der Charakterisierung
von Fotograf und Sujet und bestimmt diese beiden
Akteure fotografischer Inszenierungen zu Subjekt
und Objekt.
Die Grenzen dokumentarischer Fotografie und
anderen Genres des Mediums sind hier fließend.
Ein Blick in die Fotogeschichte zeigt, dass dieses
Subjekt-Objekt-Gefüge immer auch Thema foto-
grafischer Untersuchungen und künstlerischer Ex-
perimente wurde, die eine Umdeutung dieser kla-
ren hierarchischen Positionierung provozierte. Die
Möglichkeiten des figurativen Selbstportraits sind
vielseitig: das selbstbewusste Posieren und Affek-
tieren vor der Kamera, das Sich-ins-Bild-Schmug-
geln, Sich-im-Bild-Verstecken, Sich-vor-der-Kamera-Transformieren oder
In-einem-Sujet-Untergehen. In all diesen Selbstinszenierungen wird die
hermetische Blickstruktur zwischen Fotograf und Sujet aufgebrochen
und damit gleichsam bestätigt. So wie Cindy Sherman, die sich in Fremd-
heit inszeniert und dadurch fotografisches Objekt und Subjekt permanent
changieren lässt. Oder Nikki S. Lee, die sich ihren Modellen in spezi-
fischer Kleidung und Gestik bis zur vollendeten Mimikry anpasst und in
der von ihr dokumentierten Gruppe Menschen verschwindet.
Das wesentliche Verhältnis zwischen Fotograf und Sujet liegt diesem
Text zugrunde. Bedenkt man den oben beschriebenen eindrücklichen
Verortungsvorgang von Fotografie, formuliert sich gleichzeitig ein ver-
bindendes Wesensmerkmal aller fotografierten Sujets: Der Moment des
Auslösens der Kamera verwandelt alles in einen leblosen Gegenstand. Ob
der sterbende Soldat eines Robert Capa, der Hotdog essende Tourist eines
Martin Parr oder die radioaktiven Behälter einer Taryn Simon – in der
Zweidimensionalität ihrer Erscheinung werden die Sujets einander gleich
und zum vergleichbaren Gegenstand. Sie werden Bilder.
Auf anschauliche, später bisweilen amüsante Weise vermittelt gerade
das Medium der Ansichtskarte den Eindruck dieser Befreiung hierarchi-
sierter Blickmuster und untermauert zugleich die Bedeutung der Foto-
grafie als Kommunikationsmittel von Sensationen und Nachrichten aus
fernen Ländern. Im handlichen Format des Kleinbildes werden Länder,
Themen und Kulturen vereinheitlicht. Und gerade hier wird in einer Dr-
aufsicht das Wesentliche eines Gegenstandes entkernt und für eine Au-
ßenansicht zugänglich gemacht.
Fotografie ist immer eine Draufsicht. In der Dokumentarfotografie fällt
der Blickwinkel in diesem Sinne auf sämtliche Bereiche der Gesellschaft.
Ethnische Gruppenbeziehungen, prekäre Identitäten, Kinder, alte Men-
schen, Glaube. Für die Dokumentarfotografie ist das Anerkennen des
„Außen“ substantiell. Wer sich eigentlich immer im Außen befindet, ist
der Fotograf.
In den letzten Jahren ist mit dem digitalen Verfahren eine Phase des Um-
bruchs in der Fotografie eingeleitet, die der Darstellung der Wirklichkeit
die künstlerisch begründete Vorstellung von Welt an die Seite stellt. In
der Formensprache des Dokumentarischen werden mittels verschiedener
Produktionsmethoden und bildnerischer Strategien die klaren Grenzen
von Innen und Außen verwischt. Aus den Fotografien können Bildwelten
werden, deren einzelne Elemente sich zu einem Ganzen addieren. Aus
fotografischer Adaption wird Addition.
Auf diese Weise integriert sich die innere Vorstellung in die äußere
Wirklichkeit und wirkt mit Kräften der Behauptung entgegen, dass jede
Fotografie ausschließlich eine Veräußerung des Blickes sei. Der Blick, der
auf den anderen gerichtet über uns selbst Auskunft gibt, richtet sich nun
auch auf die Innenwelt des Fotografen und erfährt eine Erweiterung um
erfundene Landschaften und Protagonisten – dem Sujet einer eigenen gei-
stigen Welt.
AEsopAlmut HilfBülEnt EngüzElElmAr BAmBAcH DorotHEE DEiss roBErt EngElsmAnn fritz fABErt ollE fiscHErJulE frommElttAnJA BEAtE HEusEr DAniElA KlEin KErstin KolEtzKimArKus KrAll tHomAs KrügErAnEtt KuHlmAnn AnDrEAs oEtKEr-KAst cHristiAn rEistEr DiEtmAr spolErt JoHAnnEs stArKEmArKus stEffEn rAmi tufi JonAs WAltEr JAn zAppnEr DAviD DEnK sAnDrA fEJJEri mArco gütlE HEiDE HäuslErmAttHiAs stEffEnfAlKo HEnnig inAnA tom JEsKE AnDrEAs mEtzJAn pfAffJAn scHrEnKDAniEl sAltzWEDElKAtHArinA szovAtimArK vAn DEr mAArEl JoAcHim zimmErmAnn
contributors
Spielraum 14 ortszeit Spielraum 15 ortszeit
RhinoW
DER aBRiSS EinER gESaMtSchulE
in DER BRanDEnBuRgiSchEn PRoVinz ERzählt DiE
gESchichtE EinER SchRuMPFEnDEn REgion.
Eine Fotostrecke von Jonas Walter
Spielraum �� ortszeit Spielraum �� ortszeit
School´s out forever
Fuck Off Rhinow– hat irgendwer mit schwarzem Filzstift
auf die Bushaltestelle in Rhinows Ortsmitte geschrieben.
Der Bus aus Rathenow ist gerade weggefahren, die letzten rau-
chenden Schülergruppen haben sich zerstreut, und es wird es
ruhig. Still steht die Bushaltestelle, um sie herum die schmu-
cke Kirche, die Grundschule und der lokale Elektroladen. Der
Schneeregen hat gerade aufgehört, und eigentlich ist es ganz
schön in Rhinow, der kleinen 5000-Einwohner-Stadt im
Landkreis Havelland, Brandenburg. Wenige Schritte von der
Bushaltestelle entfernt liegt eine große Brachfläche. Hier stand
bis vor kurzem die Juri-Gagarin-Gesamtschule. Einst einer der
Lebensmittelpunkte des kleinen Städtchens, wurde sie im Som-
mer 2006 geschlossen, als die Schülerzahl zu gering wurde.
Ein Schicksal, das die Schule mit vielen anderen Schulen
im Land Brandenburg teilt. Allein im Bereich des Schulamtes
der Stadt Brandenburg wurden in der letzten Zeit fünf große
weiterführende Schulen geschlossen. Die Lehrer der verblie-
benen Schulen müssen in Teilzeit unterrichten, da die Anzahl
der Schüler nicht mehr ausreichend ist. Schulschließungen und
Lehrerteilzeit sind eine direkte Folge des umfassenden demo-
graphischen Wandels, den Brandenburg gerade erlebt. Offizi-
elle Studien sprechen von einem Bevölkerungsschwund von 2,5
auf 1,8 Millionen bis zum Jahr 2050.
„Demographischer Wandel“, „geringe Geburtenzahlen“,
„schrumpfende Stadt“ sind Schlagworte, die man im Rathaus
der Gemeinde routiniert und häufig verwendet. Amtsdirektor
Gerd Jendretzky und sein Kollege Michael Mirschel erzählen
die Geschichte der verschwundenen Schule. Im Jahre 1972
gegründet, lief der Betrieb der Juri–Gargarin–Schule bis zum
Sommer 2005 weitgehend ungestört. Zum folgenden Schuljahr
wurden die Vorgaben des staatlichen Schulamtes zur Eröffnung
der siebten Klassen schon nicht mehr erfüllt. In zwei Klassen
sollten jeweils 25 Schüler eingeschult werden, in Rhinow war-
teten jedoch nur 40 Schüler auf den Beginn der siebten Klasse.
Eine Ausnahmegenehmigung des Bildungsministeriums er-
möglichte ein weiteres Schuljahr. Im Sommer 2006 warteten
nur noch 19 zukünftige Siebtklässler auf ihre Beschulung. Das
staatliche Schulamt der Stadt Brandenburg zog die Konse-
quenzen und genehmigte die Einrichtung einer neuen siebten
Klasse in Rhinow nicht. Im Sommer 2006 besetzten empört-
te Eltern die Schule, um Presse und Bidungspolitiker für die
Problematik zu sensibilisieren – ohne Erfolg. „Stirbt die Schule
– stirbt unsere Region“ verkündet noch heute ein Protestban-
ner auf der Website der Schule.
Lakonisch berichten Jendretzky und Mirschel, dass das wei-
tere Existenz der Schule mit der Entscheidung des Schulamtes
finanziell nicht mehr tragbar war. Die Gemeinde entschloss, die
Schule zu schließen und das Gebäude unverzüglich abzureißen.
Die beiden Beamten zeigen bei dem Bericht wenig Emotionen.
Zu oft haben sie die Geschichte wohl erzählt, und nun scheint
ihnen nur mehr Schicksalsergebenheit zu bleiben.
Wie geht es weiter in Rhinow? Die Schüler der geschlossenen
Schule werden fortan in umliegenden Kleinstädten Friesack,
Neustandt an der Dosse und Rathenow beschult, so das Amts-
deutsch. Die Busfahrkarten müssen die Eltern der Schüler selbst
bezahlen – und die Schüler fortan lange Wege in Kauf nehmen.
Der Wandel in Rhinow betrifft mittlerweile auch andere Be-
reiche des öffentlichen Lebens. Gerd Jendretzky und Michael
Mirschel erzählen, wie vor kurzem die Bahnstrecke des Städt-
chens außer Betrieb genommen wurde. Nur noch Busse bedie-
nen heute den öffentlichen Nahverkehr in Rhinow. Auch das
örtliche Gewerbe bemerke den Bevölkerungsschwund und die
fehlenden Schüler: Bäcker, Kiosk, Dönerladen machen allesamt
weniger Umsatz.
Und sonst? Wolfgang Kastner, der ehemalige Rektor der Juri-
Gagarin-Gesamtschule, vermutet, dass Rhinow mit der Schlie-
ßung der Gesamtschule endgültig seine Lebensqualität einbüßt
und fortan für junge Leute noch unattraktiver wird. Es werden
keine jungen Eltern ein Häuschen bauen, da sie wüssten, dass
der Schulweg ihrer Kinder viel zu lang sein werde. Der Ver-
zicht auf die nächste Generation, das bedeute auch, dass die
Bevölkerung Rhinows immer älter werde. Schon jetzt sei die
Stadt deutlich verändert: „Wenn hier morgens die Busse mit
den Schülern weg sind, ist es totenstill.“
text Marco Gütle
Der Bus aus Rathenow ist gerade weggefahren und es wird still
»Stirbt die Schule - stirbt unsere Region« steht auf den Plakaten der Eltern
Spielraum �4 ortszeit Spielraum �5 ortszeit
every night she came to take me out to dreamland
when i‘m with her i‘m the richest man in the town
she‘s my coney island baby
toM WaitS, BlooD MonEy
Fotografie Jule Frommelt
Spielraum �6 ortszeit Spielraum �7 ortszeit
nostalgiaDas alte Coney Island verschwindet.
Was bleibt, ist die Erinnerung an einen Ort, der längst Mythos ist
text Sandra Fejeri
nach Zerstreuung in das Vergnügen der Rides von Dreamland
stürzt, für fünf Cent die Fahrt.
Anfang des Jahrhunderts zählt die Sommerfrische bereits meh-
rere Millionen Besucher pro Jahr. Und sie zieht immer mehr
Menschen in ihren Bann. Es ist die Schattenwelt von Coney
Island, die das Publikum fasziniert; das bizarre Universum
aus Vaudeville, Zirkus und Variété. Auf der Halbinsel sind
Künstler und Prostituierte zu Hause, Artisten und Freaks. A
different World oder A Dream World heißen die Shows, die
die Besucher von Lunapark und Dreamland in den abseitigen
Kosmos der Kabinette und Sideshows entführten. Die junge
Mae West tritt hier auf, so wie dutzende Sänger und Tänzer,
noch bevor sich der Broadway etabliert.
Coney Island ist eine grosteske Bühne des Alltags; eine
Welt, die sich physikalischen Gesetzen und gesellschaftlichen
Normen entzieht. Zugleich ist es eine soziale Utopie: Hier, im
Glanz der elektrischen Glühbirnen, begegnen sich Arbeiter und
Aristokraten, trifft die Coolness Harlems auf das gepflegte Un-
derstatement der Ostküste. Nirgendwo ist Amerika so sehr bei
sich wie hier. Mitte der Vierziger Jahre geht die Blütezeit Coney
Islands ihrem Ende entgegen. Mit dem Ausbau der Highways
werden für die New Yorker auch weiter entlegene Strände er-
reichbar; ein Prozess des urbanen Verfalls setzt ein. Zahlreiche
Brände setzen den Parks schwer zu, Coney Island beginnt zu
verwahrlosen. Als in den 50er Jahren Straßengangs das klei-
ne Viertel im Süden Brooklyns erobern, ist der legendäre Luna
Park längst geschlossen. 1964 drehen sich auch im Steeple Case
Park zum letzten mal die Karussells. Auf den freigewordenen
Flächen der geschlossenen Parks entstehen in den 60er Jahren
Blocks mit Sozialwohnungen. Doch statt erhoffter Belebung
gerät das Viertel durch eine hohe Straßenkriminalität weiter
ins abseits.
Astroland ist der letzte Park, der noch geblieben ist: Ein
Themenpark der Zukunft. Heute wirkt er mit seiner
großen, rot-blau lackierten Rakete am Eingangsportal fast
rührend altmodisch. Zwar ging es in den letzten Jahren auch
Astroland schlechter; doch immerhin kamen noch Besucher,
allen voran die New Yorker selbst. Sie lieben bis heute den
skurrilen Jahrmarkt, zelebrieren genüsslich die Weltmeister-
schaft im Hot-Dog-Essen, (der der Legende nach angeblich
genau hier erfunden wurde); bewundern die jährliche Parade
der Meerjungfrauen und feiern ihre Burlesque- und Variété-
stars. Dennoch haben die Besitzer von Astroland den Park
im November 2006 an einen privaten Investor verkauft. Zwi-
schen der 10. und 15. Straße südlich der Surf Avenue, soll in
Zukunft ein ganzjähriges Vergnügungsressort entstehen, mit
Luxushotels, Restaurants und Shopping Malls. Das neue Ge-
sicht Coney Islands soll an Greenwich Village erinnern, mit
Luxus und Freizeitangeboten will man an die Popularität von
einst anknüpfen. 2011 könnte das Projekt bereits fertig sein,
einzig die Bewohner des Viertels wehren sich. Sie fürchten,
dass das alte Coney Island damit für immer verschwinden
wird. Denn Coney Island war immer auch ein demokratisches
Massenvergnügen, der Besuch des Nickel Empire für jeder-
mann erschwinglich. Bis heute ist Coney Island eine Freizeit-
nische für ärmere Amerikaner geblieben; der Eintritt in die
Parks war stets frei. Und so regt sich Widerstand gegen den
Abriss. Zwar konnte die Bürgerinitiative die Schließung von
Astroland nicht verhindern; doch immerhin erreichte sie mit
einer Petition, dass der Park noch einmal öffnen darf, für eine
allerletzte Saison.
Auch wenn heute an den einstigen Ruf als „Sodom by the
sea“ nur mehr Postkarten erinnern – Coney Island hat sie
alle überlebt, die Moden und Stile, die der Insel über die Jahr-
zehnte prägten. Und war nicht nur das größte Vergnügungs-
ressort der USA. Es war ein immerwährendes Versprechen
auf Glück, Spiegel der amerikanischen Seele, die Wiege der
amerikanischen Massenkultur; schrill, laut und schön. It´s al-
ways sunny in Coney Island hat jemand mit geschwungenen,
schwarzen Lettern an eine Wand geschrieben. Ein stilles Ver-
mächtnis. Egal, was die Zukunft bringen wird. Coney Island
ist längst ein Mythos.
An schönen Herbstnachmittagen, wenn sich der Himmel
über Brooklyn langsam verfärbt, und ein paar Angler am
hölzernen Pier des Strands von Coney Island sitzen und ihre
Angeln in das kühle Wasser des Atlantiks werfen, dann krei-
schen die Möwen vor Vergnügen, und der hölzerne Board-
walk füllt sich - fast wie in früheren Zeiten - mit Leben. Die
Spaziergänger werden zu Flaneuren; ältere russischen Damen
und Hündchen ziehen vorbei, junges Volk, verliebte Paare
und Rentner, wehmütige Nostalgiker, dem Charme der In-
sel erlegen. Wenn es sie herauszieht, an die südliche Spitze
Brooklyns, dann wirkt es, als seien die Läden mit ihren he-
runtergelassenen Rollläden, über denen in roten und blauen
Buchstaben Souvenirs steht, oder Shoot ´em & Win, nur in
einen Winterschlaf gefallen; als wäre es nur eine Frage der
Zeit, bis der Beginn der nächsten Saison sie wieder zum Le-
ben erweckt.
Doch seit letztem Herbst scheint der Winterschlaf für das
einst größte Vergnügungsressort der USA ein endgültiger.
Der Wind, der durch die Straßen fegt, rüttelt an Drahtzäunen
und rostenden Schautafeln, deren Lettern ins Unkenntliche
verblassen. Als Oktober 2007 die Glühbirnen von Astroland
endgültig erloschen, schloss der letzte Vergnügungspark der
Halbinsel. Seitdem stehen große Schaufelbagger wie unheim-
liche Riesen auf dem abgesperrten Gelände bereit. Nur die
Wellen des Atlantiks spülen hier, an der südlichen Spitze
Brooklyns, genauso geschmeidig an die Gravesend Bay, wie
ehedem.
Coney Island: Vier Meilen lang, knapp eine halbe Meile
breit. Bereits aus der Ferne ist das Wahrzeichen der Insel er-
kennbar, der rote Parachute Jump. Vor mehr als sechzig Jah-
ren die größte Attraktion der Weltausstellung, ragt das Fanal
der Neuen Welt heute wie eine metallische Fontäne aus dem
Boden; ein Monument, das zwischen hölzernem Bretterpier
und sozialem Wohnblocks an die große Vergangenheit Coney
Islands erinnert. Dazwischen stählerne Karussells und Achter-
bahnschienen, die wie Metallgerippe im Sonnenlicht liegen;
morsche Vergnügungstrümmer, zugenagelte Bretterbuden. Die
Zeiten überlagern sich auf Coney Island so nahtlos wie bei ei-
ner Mehrfachbelichtung.
Angefangen hatte alles Mitte des 19.Jahrhunderts; da war
Coney Island noch eine Sommerfrische für die wohlhabenden
Schichten. Mit dem amerikanischen Bürgerkrieg entwickelte
sich die Halbinsel allmählich zum beliebten Ausflugsziel. Mit
den Zügen und Dampfern, die an den Stränden der Halbinsel
anlegten, kamen auch weniger betuchte Sommergäste; Hotels
und Privatstrände öffneten, an denen – eine Attraktion – das
gemischte Baden erlaubt war. Erste Karussells und Vergnü-
gungsparks siedeln sich an; Wettbüros und Taschenspieler fol-
gen. Die „Kanincheninsel“, wie sie von den Holländern einst
unschuldig getauft wurde, bekommt schon bald den Ruf eines
„Eldorado des Vergnügens“, noch lange bevor im Wüstenstaub
Nevadas die ersten Casinos eröffnen.
Als die Pferderennen Anfang des 20. Jahrhunderts verbo-
ten wurden, kehrt die Oberschicht der Insel allmählich den
Rücken; ihrer allgemeinen Beliebtheit tut dies jedoch keinen
Abbruch. Coney Island erlebt immer neue Rekorde: Das erste
elektrische Karussell, die erste Achterbahn, die sich in schwin-
delerregende Höhen schraubt. Es genießt die Massen, die mit
dem Ausbau des Eisenbahnnetzes in den schwül-heißen Som-
mermonaten den stickigen Mietskasernen entfliehen, um sich
in den Fluten abzukühlen; es erlebt, wie sich Amerikas Jugend
in Zeiten der großen Depression selbstvergessen und hungrig
Spielraum 28 Ortszeit Spielraum 29 Ortszeit
Sitting on a carousel ride without any music or lightEverything was closed at Coney IslandAnd I could not help from smiling
I can hear the Atlantic echo back Roller coaster screams from summers pastAnd everything was closed at Coney IslandAnd I could not help from smiling
Death Cab fOr Cutie , COney islanD
Would you like to go on the Coney Island Steeple
Go and have a good timeWe‘ll take the subway right
down to King‘s HighwayGonna have a good time
If it‘s all right it would be so niceIf you come and go with me
COney islanD steepleChase, VelVet unDergrOunD
fotografie groß Jule Frommelt fotografie klein Tanja Beate Heuser
Spielraum �0 ortszeit Spielraum �1 ortszeit
Stop off at Ardglass for a couple of jars of Mussels and some potted herrings in case We get famished before dinner
On and on, over the hill and the craic is good Heading towards Coney Island
I look at the side of your face as the sunlight comes Streaming through the window in the autumn sunshine And all the time going to Coney Island I‘m thinking, Wouldn‘t it be great if it was like this all the time
Van MoRRiSon , conEy iSlanD
Coney island girl
Now come here and don‘t get madI gave her all I thought I had
I must live my life alone and never kiss anyone else
on the Cyclone
Fun loVing cRiMinalS , conEy iSlanD
Coney island babyMan, I´d swear,
I´d give the whole thing up for you
lou REED, conEy iSlanD BaBy
Spielraum �� ortszeit Spielraum �� ortszeit
uRBan B´SiDES
das rauschen in den städten
Eine Fotostrecke von Christian Reister
nEW yoRk �006
Spielraum 40 ortszeit Spielraum 41 ortszeit
WaRSchauS SchlEchtERE
hälFtE
warschaus schlechtere hälfte
der stadtteil praga in warschau ist verrufen - doch hier lebt die
seele der polnischen hauptstadt
Fotografie Daniela Klein text Andreas Metz
Die Weichsel teilt Warschau wie eine Berliner Mauer in ein
besseres Westufer und ein schlechteres Ostufer – schreibt
der Warschauer Journalist Edwin Bendyk. Der Vergleich trifft
es nicht ganz. Tatsächlich ähnelt die Weichsel im Stadtzentrum
einer Schlucht, einem Burggraben, über den man von westlicher
Seite ein paar Zugbrücken geworfen hat. Zäh und schwarz quält
sich unter ihnen der Fluss dahin, so als wäre von den Burgzinnen
Pech herabgeflossen.
Auf der anderen Seite fängt Asien an, sagen die Hochnäsigen un-
ter den Warschauern und meiden den dort gelegenen Stadtteil.
Das 1916 eingemeindete Praga ist anders und daran sind auch
Deutsche und Russen schuld. Erstere machten im Zweiten Welt-
krieg nach dem Warschauer Aufstand die Stadt am Westufer dem
Erdboden gleich, letztere eroberten Praga am 15. September 1944
und sahen dann vier Monate lang zu, wie die Deutschen auf der
anderen Seite der Weichsel ihr Zerstörungswerk vollendeten.
Warschau-West wurde als sozialistischer Beton(alp)traum mit
rekonstruierter Retortenaltstadt wieder errichtet. Praga ist stehen
geblieben – als polnisches Trauma. Der APA-Guide Polen ringt
sich am Ende von 20 Seiten Warschau nur ein paar gequälte Sätze
über das andere Ufer ab. Von „Industriearchitektur der Jahrhun-
dertwende“ mit „unverfälschtem und bescheidenem Charme“ ist
die Rede, die gerne für Filmaufnahmen verwendet werde. Auf den
„Jarmark Europa“ – den gigantischen Freiluftmark rund um das
brachliegende „Fußballstadion des Zehnten Jahrestages“ wird
kurz verwiesen, für viele Warschauer der Schandfleck schlecht-
hin. Und dann kommen denkwürdige Sätze: „Gleichzeitig gehört
dieses Stadtviertel zu den am meisten heruntergekommenen und
gefährlichsten Gegenden der Stadt. Von nächtlichen Spaziergän-
gen ist daher unbedingt abzuraten – begegnet man Straßengangs,
so gehören die selten zu Filmteams, sondern sind meist real.“
Wer Warschaus Kehrseite besuchen will, nimmt am besten
die gewaltige Most Poniatowskiego. Mit ihren burgähnlichen
Brückenköpfen füllt sie die Rolle der Zugbrücke glänzend aus.
Straßenbahnen schaufeln diejenigen, die auf jeden Zloty achten
müssen, über die Weichsel zur Haltestelle „Rondo Waszyngto-
na“ am Eingang des „Jarmark Europa“. Teekessel, Sonnenbrillen,
Nylonstrümpfe, Bettwäsche, Parfum, Mobiltelefone, Holzlöffel,
Schweizer Taschenmesser, Angelhaken, Pfefferspray. Der „Jar-
mark Europa“ ist voller unmöglicher Produkte und ebensolcher
Geschichten. Fast alle beginnen weiter östlich, an den armen
Rändern Europas. Die von Natascha zum Beispiel, einer Kran-
kenschwester aus einem ukrainischen Nest nahe der Grenze zur
Republik Moldau. Ganz oben am Rand der Stadionschüssel hat
sie sich postiert, wo der Wind bläst und am meisten Zeit bleibt,
vor Polizisten in Deckung zu gehen. Oben stehen die, die in der
Hierarchie ganz unten sind: Schwarzafrikaner, Armenier, Rus-
sen. Wenn Natascha sich dreht, sieht sie am Westufer rund um
den stalinistischen Kulturpalast die Kathedralen des Kapitalis-
mus in den Himmel wachsen. Warschau-Downtown, die Cash-
Maschine Polens.
Seit fünf Jahren steht Natascha hier. Je höher die Türme wuch-
sen, desto tiefer sanken ihre Chancen. „Alles wird schlechter“,
klagt sie. „Täglich kommt die Polizei.“ Natascha handelt mit
Hollywoodfilmen und Computerspielen. Schwarzgebrannte
DVD. Zehn Zloty (2,50 Euro) das Stück. Zu Hause in der Ukra-
ine warten Monatslöhne von 50 Euro und zwei Töchter, deshalb
macht sie das. Deshalb steht sie hier mit heißer Ware neben den
„CD-Handel verboten“-Schildern. Bei Natascha gibt es die blan-
ken Platten zusammen mit schlecht gedruckten Papier-Covern in
Plastikfolie verschweißt. Alles wiegt fast nichts und kann wie ein
Pokerspiel kurz aufgefächert und schnell wieder zusammenge-
schoben werden, falls Polizei im Anmarsch ist.Unten am Anstoß-
kreis versumpft derweil der Rasen. 1983 hat Papst Johannes Paul
II. hier noch eine Messe gelesen. 1989 mietete die Firma „Damis“
das brachliegende Stadion mitsamt dem Parkplatz. Bis hinaus zur
benachbarten Bahnstation hat sich ein Labyrinth von Verkaufs-
zelten und Blechcontainern angesiedelt. Sowjetische Münzen,
gefälschte Fußball-Trikots, Kaviar, schwarze Sandalen, Dessous.
Die besseren Plätze machen Vietnamesen und Polen unter sich
aus. Vor allem die Asiaten sind es, die dem Markt ihren Stempel
aufdrücken. Gekonnt manövrieren sie Sackkarren vollgestapelt
mit karierten Plastiktaschen mit reiner Muskelkraft durch die
schmalen Gänge. In Praga beginnt Asien – es ist tatsächlich so.
5000 Marktstände sollen es insgesamt sein. Dazu kommen mo-
bile Bauchläden wie der von Natascha. Vor ein paar Jahren noch
erzielten alle Händler nach Schätzungen von Experten einen hö-
heren Umsatz als das damals größte polnische Unternehmen. Die
Betreibergesellschaft hat einen eigenen Sicherheitsdienst angeheu-
ert. In der grünen Blechcontainerlandschaft gibt es sogar eine rus-
Spielraum 4� ortszeit Spielraum 4� ortszeit
Füßen. Meist ist ihr Schaukasten mit Christbaumkerzen um-
rankt, die ein bisschen Helligkeit spenden. Das Geld mag auf der
anderen Seite der Weichsel wohnen, die Seele Warschaus aber
überdauert in den Hinterhöfen von Praga.
Als erste haben das diejenigen bemerkt, die immer auf der Suche
nach den neuesten Trends sind. „Es beginnt hier etwas. Künst-
ler, Lebenskünstler, Schauspieler ziehen her“, sagt die Studentin
Elzbieta, die seit fünf Monaten in Praga bedient. Über dem Ein-
gang der Bar „W oparach absurdu“ – „In absurden Nebeln“ - in
der Ulica Zabkowska hängt eine schwarze Riesenspinne. Hier
erträumt sich Elzbieta eine Zukunft für Praga. „Man könnte so
etwas wie Kazimierz daraus machen“, sagt sie und meint einen
früher jüdisch geprägten Stadtteil von Krakau, der heute ein Tou-
ristenmagnet ist. Immerhin gibt es auch in Praga noch eine alte
Synagoge. „Praga, sagt man, sei gefährlich. Aber ich habe keine
Probleme hier, die Leute sind in Ordnung.“
Julita Delbar, die vor eineinhalb Jahren im Nachbarhaus einen
Fotoladen eröffnet hat, sieht das ähnlich. „Es gibt Alkoholiker,
arme Leute, aber Mafia? Das ist eine Legende. Es gibt Leute von
der anderen Seite, die fahren aus Angst nicht hierher“, lacht sie,
doch Praga sei im Kommen.
Stärkster Beleg dafür sind zwei Fabrikkomplexe, die sich zu
Szenetreffs entwickelt haben. Die „Fabryka Trzciny“ einer alten
Marmeladenfabrik hat der Komponist Wojciech Tzcinski in ein
Veranstaltungszentrum umgebaut, in dem von Jazzkonzerten bis
zur Modenschau alles geboten wird. Ähnlich entwickelt sich die
alte Wodkafabrik „Koneser“ am Ende der Ulica Zabkowska.
In dem Backsteinkomplex aus dem Jahre 1897, der von seinen
Ausmaßen her an die Kulturbrauerei in Berlin Prenzlauer Berg
erinnert und mit schuld daran sein mag, dass in Praga die Al-
koholprobleme besonders groß sind, wird heute nur noch auf
kleiner Flamme produziert. Nun gibt es Raum für Künstler wie
Magdalena Przezdziak. Die junge Fotografin hat vor zwei Jahren
die Galerie „Luksfera“(Lichtsphäre) gegründet.
„In Praga gibt es Platz, die Räume sind billig“, bestätigt die
Galeristin, die Fotoarbeiten in- und ausländischer Künstler aus-
stellt. Nach Praga kam sie noch aus einem anderen Grund. „Wir
organisieren jeden Monat Workshops mit bekannten polnischen
Fotografen. Praga hat eine sehr schöne Atmosphäre. Hier gibt es
interessante Plätze.“ Ja, sie fühle sich hier sicher, sagt sie, obwohl
die Brezka-Straße ganz in der Nähe, als gefährlichste Straße War-
schaus gelte. Mit dem „Jarmark Europa“ hat die Fotografin so
ihre Probleme. „Es gibt da Leute, die schlafen im Garten oder
im Park. Das ist ein großes Problem. Andererseits weiß ich, dass
viele Leute dort Arbeit finden oder billig einkaufen können. Doch
dieser Ort sollte weiter außerhalb der Stadt sein.“
Wie die Zukunft des Jahrmarkts und Pragas aussehen könnte,
lässt sich an der Aleja Solidarnosci studieren. Die Straße teilt Praga
in zwei Hälften. Gegenüber der goldenen Türme der orthodoxen
Marienkirche ist ein Ufo gelandet - ein gigantisches Einkaufszen-
trums der französischen Kette Carefour. Es ist eine wohltempe-
rierte, gut überwachte Shoppingwelt. So vorhersehbar, dass jetzt
sogar kritische Warschauer den Weg über eine der sieben Weich-
selzugbrücken nehmen, um hier einzukaufen.
Shopping-Mall, Kulturmekka, Capuccino-Meile, EM-Stadi-
on, Touristentipp. Der Lauf der Zeit scheint unaufhaltsam. Doch
noch gibt Asien sich nicht ganz geschlagen, noch wehrt sich das
alte Praga mit seinen Mitteln: Am nächsten Morgen steht der
Stadtteil im Polizeibericht der Tagezeitung „Dziennik“ einmal
mehr ganz oben.
sischsprachige Bibliothek, einen buddhistischen Tempel und ein
eigenes Polizeirevier. An dem negativen Image konnte das nichts
ändern. Angeblich wird der Markt durch einen Mafia-Vorstand
regiert, in dem Vietnamesen, Armenier, Russen, Tschetschenen,
Bulgaren und Georgier vertreten sein sollen. Schon lange wird
dem Jahrmarkt der Tod prophezeit, nun steht er bevor: Polen hat
gemeinsam mit der Ukraine den Zuschlag für die Fußball-WM
2012 bekommen. Das Stadion wird für mehrere hundert Milli-
onen Euro saniert, der Markt muss weichen. Ein neues Domizil
irgendwo am Stadtrand wird gesucht.
„Ja, jetzt geht hier alles zugrunde“, sagt Josefa gutgelaunt. Bei
ihr gehen sie alle ein und aus, Käufer, Händler, Illegale, Polizisten
und Kriminelle gleichermaßen. Einen Unterschied zwischen letz-
teren gebe es sowieso nicht, lacht die Rentnerin, die seit elf Jahren
als Toilettenfrau auf dem Jahrmarkt arbeitet. Meist macht sie die
Frühschicht von 5 bis 14 Uhr. Ein windschiefer Container ist ihr
Reich. Rechts sind zwei Eingänge für die Damen, links einer für
Herren. Dazwischen sitzt sie hinter einem Glasfenster und sor-
tiert Wechselgeld. Ein Zloty (25 Cent) kostet das große Geschäft,
die Männer können für 30 Groszy auch die kleine Variante bu-
chen. Vielleicht ist ja im neuen Fußball-Stadion ein Plätzchen für
sie. Toilettenfrauen werden immer gebraucht.„Jarmark Europa“
- ein genialischer Name. Symbol für den Urknall 1989, für den
kapitalistischen Aufbruch Osteuropas und des ganzen unterge-
gangenen Sowjetimperiums bis Wladiwostok. Denkmal für Träu-
me und Alpträume, Glanz und Elend. Spontaner, unregulierter
Handel und Wandel. In EU-Zeiten ein Auslaufmodell, wie das
übrige alte Praga.
Die Ausläufer des „Jarmark Europa“ reichen in nördlicher Rich-
tung bis zur Ulica Targowa, der Marktstraße. Auch hier sitzen
Kleinkrämer am Straßenrand, verticken Blumen, Schnürsenkel,
Einlegesohlen, Modeschmuck oder die letzte Ernte aus dem Vor-
garten. Manche Häuserfront in den Seitenstraßen ist noch von
Einschusslöchern zersiebt, der letzte Putz weicht blanken, ruß-
braunen Backsteinen, von Balkonen sind nur rostige Stahlträger
übrig und die Treppenaufgänge und Hinterhöfe sind vermutlich
die finstersten und verkommensten in ganz Europa. Doch sie sind
eine echte Sensation: Mit Pech trifft man auf liegen gebliebene
Alkoholiker. Mit Glück hört man Kinderlachen, findet irgendwo
noch eine kyrillische Inschrift aus der Zarenzeit oder ein ver-
staubtes Jugenstilrelief. Fast schon garantiert ist ein Opferstock
für die heilige Mutter Gottes. Wenn das Licht für pflanzliches
Leben nicht ausreichend ist, liegen bunte Plastikblumen zu ihren
Auf der anderen Seite fängt Asien an, sagen die Hochnäsigen unter den Warschauern
„In Praga gibt es Platz,die Räume sind billig“.
Esrte Seite: Eine Frau lädt im
Viertel Praga zum Fensterplausch
Linke Seite: Zwei Frauen auf dem
„Jarmark Europa“
Rechte Seite: Hinterhofleben
in Praga
Spielraum 44 ortszeit Spielraum 45 ortszeit
moscheen
Eine Fotostrecke von Rami Tufi
#1/�4Kasinostraße
Zur öffentlichen Erscheinung des Islam in Deutschland:
Ein Besuch auf Allahs Hinterhöfen
in Frankfurt am Main.
Spielraum 5� identität Spielraum 5� leben
ruhe gegen ca$h
Nach Celebration, einem Vorzeigeobjekt des amerikanischen New Urbanism, zieht sich die Upper Class Zentralfloridas zurück. Die Preise sind hoch, man bleibt unter sich. Entwickelt vom Disney-Konzern regelt ein pfundschwerer Katalog dort die meistenBereiche des täglichen Lebens.Trotzdem oder gerade deswegen boomt das Geschäft.
Fotografie und text Markus Krall
Spielraum leben54 Spielraum 55 leben
ünf Meilen Richtung Osten und dann rechts ab“, lautet die
Wegbeschreibung meines Zimmernachbarn, als wir uns
abends auf der Motel-Veranda noch ein paar Drinks genehmi-
gen. „Ignorier‘ die Disney-Schilder und den ganzen Quatsch.
Wenn Du das Amerika von heute verstehen willst, dann fahr‘
nach Celebration.“ Mehr hatte er nicht verraten. Nur, dass
ich mir genug Zeit geben solle. Erst nach ein paar Stunden
würde man das Prinzip verstehen, würde immer genauer hin-
schauen, bis es einem eiskalt den Rücken herunterliefe. „Bei
30 Grad im Schatten?“ Die Antwort klingt schaurig. „Sogar
bei 50 Grad.“
Der nächste Morgen. Langsam rollt der Chrysler die Haupt-
straße von Kissimmee, knapp 30 Meilen südlich von Orlando,
entlang. Vorbei an Wäldern aus gigantischen Reklame-Schil-
dern wie sie für kleine amerikanische Orte so typisch sind,
die hauptsächlich von Durchreisenden wie mir leben. Die mit
den Jahren gewachsen sind, ohne dass jemand je auf ein eini-
germaßen attraktives Stadtbild geachtet hätte. Die einem mit
keinem Detail im Gedächtnis bleiben und mir auch nur mit
einer Kreuzung, weil ich zwischen den Burger-Plakaten den
Hinweis nach Celebration fast übersehen hätte. Seitdem weiß
ich: Chrysler baut gute Bremsen ein.
Der erste Eindruck: ziemlich beruhigend. Augenblicklich
fehlt jeglicher Kommerz-Hype. Das Straßenbild wirkt aufge-
räumt, die weißen, höchstens zweistöckigen Häuser traditio-
nell - edel, die Büsche davor wie mit der Wasserwaage gestutzt
und die Autos eine Nummer größer als in Kissimmee. Rechter
Hand liegt ein Golfplatz, dahinter ein Flüsschen, dann ein
kleiner Park. Meterhohe Palmen flankieren die blitzsauberen
Straßen und Gehwege, ein kleines Schild weist sogar auf ein
Zentrum hin.
Zwischen zwei smartähnlichen Elektroautos kommt der
Chrysler zum Stehen; am See vor dem Parkplatz hat ein Ang-
ler seine Ruten ausgelegt. „Scheiß-Tag heute. Bin die 20 Mei-
len hierher wohl umsonst gefahren.“, sagt er ungefragt. „Du
wohnst nicht hier?“ Er schmunzelt. „Mann, hast Du Dir mal
die Hauspreise angeschaut? Hier kann ich mir nicht mal ein
kleines Appartement leisten.“ Mein Gesicht scheint Bände zu
sprechen. „Du weißt gar nicht, was das hier ist, oder? Mann,
das ist Disney für die Upper Class.“ Augenblicklich würdigt
er die Posen im Wasser keines Blickes mehr und beginnt zu er-
zählen. Der prophezeite Schauder auf dem Rücken setzt ein.
Celebration, erzählt Bob, sei noch gar nicht so alt wie es
aussehe. Früher, vor zehn bis zwölf Jahren, wäre das kom-
plette Areal ein einziger Sumpf gewesen. „Da wurden die Al-
ligatoren ausgesetzt, die sich auf die Disney-Parkplätze ver-
irrt hatten.“ Irgendwann, Mitte der 90-er Jahre, wären dann
Bagger angerückt und hätten das Land erschlossen. Im Zuge
des New Urbanism-Booms erkannte der Disney-Konzern das Po-
tential der Fläche und traf bei den gut Situierten landesweit ins
Schwarze. Zum einen gilt Florida schon lange als einer der be-
liebtesten Staaten der USA, zum anderen vernichtet das Konzept
die Probleme jeder großstädtischen Wohnlage. Als wichtigste
Kriterien weist der „Congress for the New Urbansim“ etwa aus,
dass jede dieser Siedlungen ein Zentrum besitzen muss, das von
allen Häusern zu Fuß erreicht werden kann. Alle Straßen müssen
Bürgersteige haben, Haustüren und Terrassen sind so anzulegen,
dass sie der Straße zugewandt sind. Und wenn ein Achtjähriger
sich eine Dose Cola kaufen möchte, darf er auf dem Weg zum
Shop keine mehrspurige Straße überqueren. Pop-Test heißt das
Ganze, Pop nach dem amerikanischen Wort für Dose.Innerhalb
der Ortsgrenzen kann dann jeder Developer eigene Regelwerke
aufstellen. Für Celebration haben das selbstverständlich Disney-
Manager erledigt, die in einem knappen Pfund Papier allerlei
Ungewöhnliches versammelt haben. Unter anderem ist dort fest-
gelegt wie lange das eigene Auto vor der eigenen Haustür parken
darf, wie der Vorgarten zu bepflanzen ist und wie hoch der Rasen
wachsen darf. Zu den absoluten No-nos gehören Wahlplakate
zur Beeinflussung anderer Mitbürger auf dem Grundstück, das
Aufhängen von nasser Wäsche im Freien und auch das urame-
rikanische Barbecue auf der Veranda. Das „Beste“ dabei: Jeder
muss diese Statuten nicht nur selbst einhalten, sondern ist auch
verpflichtet, Verstöße seiner Nachbarn sofort zu melden.
Was zutiefst abschreckend klingt, generierte allerdings ein
unglaubliches Interesse. Bei Baubeginn mussten die Grund-
stücke verlost werden. Für jedes Objekt gab es mindestens zehn
Bewerber, und das bei Preisen, die fast 50 Prozent höher liegen
als in ähnlich erschlossenen Wohnlagen der Gegend. Der Durch-
schnittsinteressent ist knapp 40 Jahre alt, verheiratet, hat meist
mehrere Kinder und ein Einkommen, das es ihm erlaubt zwi-
schen 500 000 und eine Million Dollar für ein Haus auszugeben,
das hinter der immer sehr ansehnlichen Fassade zu 90 Prozent
aus Sperrholzwänden besteht und beim nächsten Hurrikan un-
weigerlich zum Trümmerhaufen wird. Dennoch ist die Nachfra-
ge auch rund zehn Jahre nach dem ersten Spatenstich ungebro-
chen. Sollte bis 2005 eigentlich der komplette Ort stehen, wird
immer weiter gebaut, um die Nachfrage der Fluchtwilligen zu
befriedigen. „Mit den Problemen des übrigen Amerika hast Du
hier nichts zu tun. Nur, wenn Du Nachrichten schaust, weißt
Du, das bei uns längst nicht alles so glänzt wie auf diesen Stra-
ßen.“, sagt Bob und holt seine Köder ein, für die sich immer noch
kein Fisch interessiert hat. Wir drehen uns in Richtung des zwei
Blöcke großen Zentrums und auf einmal sehe ich das kunterb-
unte, von Stararchitekten gestylte Panoptikum mit ganz anderen
Augen. Nein, so sieht es in keiner normalen Stadt aus. Und die
Palmen? Die sind doch auch älter als zehn Jahre. Und der See?
„Künstlich“, meint Bob und verabschiedet sich mit dem Rat, am
Ortsausgang doch am Celebration Place zu halten. Dort stehe die
Hexenküche, die die Retortenstadt angemischt habe. Ich halte an
einer steinernen Pyramide vor einem Bürokomplex. Aufschrift:
„Disney, Management & Marketing“. Hier sitzt die Regierung
von Celebration.
Unter anderem ist im umfangreichen Regelwerk
festgelegt wie lange das eigene Auto vor der eigenen
Haustür parken darf, wie der Vorgarten zu bepflanzen ist
und wie hoch der Rasen wachsen soll.
F
Spielraum leben56 Spielraum 57 leben
Position ist alles
Fotografie Andreas Oetker-Kast text Daniel Saltzwedel
Wiese abgeleitet; oder sie werden ganz zurückgetragen, in einer
resignativen, ufernahen Stromaufbewegung zurück zur Haupt-
strasse, einen anderen Nebenarm suchend.
Der Junge kennt die Rituale auf dem Campingplatz nicht, das
Ankommen, Auspacken, Planen auslegen, das Wohnwagen ein-
justieren und Gerätschaften ausbringen. Er kennt nur den Kiosk
an der Schranke und das Eissortiment auf der Karte neben dem
Tresenfenster. Das Gelände jenseits der Schranke zu erkunden,
ist verboten. Dass, was er weiß, ist durch vage Rückschlüsse an-
gesammelt, durch Blicke über die Hecke, die den Campingplatz
umfasst, vom Bahndamm aus. Oder, besser noch, von den Berg-
hängen, die sich in einiger Entfernung links und rechts erheben
und die Sicht freigeben, über die Umfassungshecke hinweg, auf
Wohnwagendächer und die Spitzen der Parzellierungshecken.
Beide verweisen auf das Leben am Grund, die Stellplätze, as-
phaltierten Strassen, Stromanschlusspunkte, das Waschhaus
und die Gastwirtschaft. Hinter Blättern verborgen ein Dorf im
Dorf, maßvoll, geregelt. Einmal im Winter würde er von oben
auf das Fort hinabsehen und wie immer überrascht sein, dass
Hecken und Wagen noch da waren, still stehend im Strom, der
vermutlich stete Austausch der Bewohner vollzieht sich unter-
schwellig, nach Außen hin unbemerkt.
Der dickledern verpackte Fahrer einer GoldWing hat seine
Maschine noch einmal verschoben und nimmt die Plastik-
koffer ab, die zum Sortiment des Herstellers gehören. Zügig wird
ein kleines Zelt aufgebaut, Luftmatratzen in kastenartige Form
gebracht, ein Einflammkocher installiert. Kleidung entfaltet.
Dieser Campist ist verflucht, sich erschöpfend zu offenbaren:
einmal, für einen kurzen Moment zwischen Ankunft und Zu-
hause, legt er alle Gegenstände, die in ihrer Summe die neue
Bleibe sind, im warmen Mähgras des Sommers aus, bereit zur
Archivierung. Links vom Biker, jedoch nicht zu nah, wird ein
etwa ein Meter hoher Zeltwohnwagen aufgeklappt, je ein Flügel
auf jeder Seite, die auf Tischhöhe Liegeflächen bilden. Durch den
Aufklappvorgang ist über den Betten ein Stoffdach entstanden.
für den Campisten, dass sieht der Junge in diesem Sommer, da
der abgesteckte Parzellenfriedhof des örtlichen Campingplatzes
überläuft. Er schwappt plötzlich hoch und spuckt Zelte über die
Straße auf die jenseitige Wiese, die rechts von einem Bach, links
von der Behelfsstrasse und hinten von einem mächtigen Bauern-
hof begrenzt wird. Der Junge sitzt auf seinem alten Fahrradt fast
zentral auf der Wiese, die der Bauer kurz geschnitten hat, rollt
manchmal etwas vor oder schiebt einen Meter zurück, wenn es
ein neues Detail zu beobachten gibt.
Seine Position ist gut. Die Campisten halten ihn für einen der
ihren, vielleicht am Vortag angekommen.
Vorn, auf der anderen Seite der Strasse, stauen sich vor der
beschrankten Zufahrt des Campingplatzes Fahrzeuge und
Anhänger, die Fahrer darin ungeduldig und voller Erwartung.
Doch die Schranke bleibt verschlossen. Ab und an treiben Men-
schen von dem Empfangskiosk auf die Strasse hinaus und an
den Rand der Wiese, um die erst durch wenige Campisten zer-
stückelte Fläche zu erwägen. Es gibt keine erkennbare Ordnung,
keine Stromanschlüsse, kein Waschhaus, keine Wege und keine
Nummerierung. Das Gras duftet. Die Menschen am Straßenrand
werden nach kurzer Ausdauer von einem unsichtbaren Untersog
zurück zu den wartenden Fahrzeugen gezogen und mit diesen
über die Strasse und weiter die Behelfsstrasse hinunter auf die
Spielraum Spielraum 5� leben
Zwischen den Betten sind in der Hartschale des Anhängers mit-
tig und längs zur Fahrtrichtung zwei gepolsterte Sitzbänke und
ein skatfester Tisch eingelassen, über eine winzige Tür im Heck
zu erreichen. Eine Tür mit Schloss und Klinke. Nach dem Claim
wurde das Vehikel zunächst mit auszukurbelnden Stützen in die
Waage gebracht und der Deckel des Anhängers zu einer Seite auf-
geklappt, schon stand die Hälfte des Faltwunders. Vorn auf der
Deichsel ist quer zur Fahrtrichtung eine Küchenzeile angebracht,
die demontiert und auf sehr fragil wirkenden Beinen im Vorzelt
platziert wird. Drei Personen, Eltern und ein Kind, besorgen die
Sesshaftwerdung. Für den Jungen existiert die Zeit nicht.
Als endlich Zeltwände verspannt und alles Zeug von der
Wiese im Inneren der Behausung verschwunden ist, bildet
sich das Leben aus als Fertigkeit. Zwischen Nachbar und Nach-
bar nur Baumwolle, Folie und Sandwichaluminium, so wie das
der Tabbert Comtesse, die, gezogen von einem senfgelben Opel
Rekord, gerade einen eleganten Bogen auf das unbeschriebene
Weiß des Ausweichbeckens malt. Mit fahrtmüden Augen misst
der Lenker die Entfernungen zu seinen zukünftigen Nachbarn,
die er im selben Schritt einer sozialen Kategorisierung unterzieht,
und verrechnet diese Informationen mit der relativen Geradflä-
chigkeit der Erdoberfläche am potentiellen Standort sowie den
dortigen Blickachsen nach Süden und Südwest.
Der Junge radelt über die Wiese zum Bach, und weiter zum
geräumigen Spielplatz der Siedlung, in der er wohnt. Er spannt
einen alten Poncho über Stöcke, besorgt Decken und eine Pe-
troleumlampe. Zusammen mit seinem Spielfreund ist er Cam-
pist. Schon bald gelingt es ihnen, auf einem kleinen Kocher eine
Tütensuppe zuzubereiten. Morgen werden sie den Staudamm
aufstocken und das Becken zur Spülküche umwidmen. Eine Wä-
scheleine spannen. Nachts schaut der Junge zwischen den Berg-
kämmen und der Unterkante des Ponchos, der seitlich nur knie-
hoch zum Boden reicht und an beiden Stirnseiten offen ist, in das
Draußen des Universums. Gegen zwei Uhr ist es sehr kalt, und
die Felder dampfen Nebel. Der Junge geht ein paar mal die hun-
dert Schritte, die es zu seinem Elternhaus sind. Im Ponchodach
erscheinen vereinzelt Löcher, durch die das Mondlicht Sterne
streut. Es ist eine dünne Wand, aber sie scheidet.
Spielraum leben60 Spielraum 61 leben
sonnenwende
„Wenn die Sonne tief steht,
werfen auch Zwerge lange Schatten“
Am Polarkreis wird im Sommer die Nacht zum Tage und im
Winter der Tag zur Nacht. Einsichten in das tägliche Leben
400 Kilometer nördlich des Polarkreises –
unter veränderten Lichtverhältnissen.
Fotografie Matthias Steffen
Spielraum leben66 Spielraum 67 leben
*Heute ist Brownie, mein wunderschönes Rattenmädchen
aus dem Tierschutzhaus, ein Monat nach Smokie, einem
verspielten, handzahmen Rattenmann, an Krebs gestorben.
Nun ist meine Knuffie leider ganz alleine, und sitzt mit rie-
sengroßen Kulleraugen verschreckt in ihrem Lieblingsver-
steck. Gibt es denn nicht irgendwo ein einsames, kastrier-
tes Rattenmännchen, das einen kuscheligen Platz sucht?
„meine rattis sind so zahm das sie mit mein hundis schmusen“
*Nun muss man aber der Vollständigkeit halber erwähnen,
dass es sich bei den von uns im Rattenzimmer gehüteten
Schätzchen um große, ein wenig aus der Form und dem be-
sten Alter geratene Laborpuschel handelt, die eine Sprung-
kraft wie ein Amboß besitzen – noch nie gesprungen sind
und das mit Sicherheit auch nie tun werden, sollte sich die
Kugel zwischen ihrem Kopf und Schwanz nicht doch als
verschluckter Gummiball erweisen. Das begriff auch irgend-
wann mein Verstand, der sich ein gutes Stück langsamer hin-
zuschaltete, und so langsam dämmerte mir ein Verdacht..._
*Ich gehe abends nicht mehr weg (außer einmal im Monat
zum Rattentreff). Wenn es irgend geht, lasse ich Freunde
und Bekannte aber hierher kommen. Die werden dann in
den Flur zu den Ratzen gesetzt und die Kommunikation
findet über die Absperrung zwischen den Zimmern statt._
Urlaub gibt es für mich nicht, denn ohne meine Ratzen
würde ich mich gar nicht wohl fühlen können.
*Endlich fällt es auf: die absurde Mülltrennung ist eben
nicht nur eine ästhetische Katastrophe, sondern auch eine
hygienische. Mit ewig wartenden „Biotonnen“ und gelben
Säcken wurde auch das größte Rattenförderprogramm der
Welt aufgelegt. Der Fortschritt durch Grüne und Co hat
wesentlichen zivilisatorischen Rückschritt gebracht. Jetzt
leben wir mit der Natur, den Ratten, in Einklang.
*Hier könnt ihr schauen welche Ratte wann Geburtstag
hat, unter Downloads könnt ihr Dokumente über Ratten
runterladen und unter Nose-Calc könnt ihr euch ausrech-
nen, wie viele Ratten in eurem Käfig reinpassen. Wer wich-
tige Fragen zu seiner Ratte oder zu irgendeiner anderen
Ratte, zum Beispiel von einem Freund die Ratte hat ist dort
genau richtig. Fast nichts, wo es keine Antwort drauf gibt.
*Es ist eine wahre Geschichte, so geschehen vor 2 Ta-
gen hier im “Tierhausi”, und der Held des
Ganzen ist ein Wildratterich namens
Herr Püsch, der sich anscheinend
in der Nähe von unserem “Tier-
hausi“ ganz wohl zu fühlen
scheint. Da ich zwar spontan
ganz gemein und schallend
über den kleinen Hopserich
gelacht habe, aber ihm nun auch
helfen wollte, ließ ich die Schuppentür über Nacht
offen, damit er in Ruhe sich in Sicherheit bringen konnte.
Das tat er denn auch, und ich meinerseits war recht erbaut
über die Begegnung.
*Die Ratte ist Bayern München im Tierreich, immer auf
dem Vormarsch, schlecht spielen, aber trotzdem gewinnen.
Und wer ist auch zahlenmäßig überlegen? Richtig, beide,
die Ratten und Bayern München. Was wir dagegen unter-
nehmen können? Na nichts. Aber wenn sie mir in die Quere
kommen, werde ich zum Tier, da kenne ich nix.
WaS Sich DEutSchE RattEnFREunDE iM intERnEt zu ERzählEn haBEn
*Warum streut man nicht Antibaby Pillen für Ratten und
andere unerwünschte Tiere aus? So etwas sollte in der heu-
tigen Zeit doch möglich sein. Damit könnte das Problem
doch auch gelöst werden
idee Sabine Wild illustration Robert Engelsmann
aufgeschrieben von Tom Jeske
Ratchat
Spielraum leben6� Spielraum 6� leben
enn man Magdalena fragt, was für sie Glück bedeutet,
dann blickt sie aus ihrem Fenster auf den Hof. Der Platz
sieht an diesem grauen Tag nicht sehr einladend aus, ein asphal-
tiertes Rechteck, dahinter ein paar Holzgestelle, Sitzbänke, Sperr-
müll, alte Wohnwagen. An einer Mauer hängt, aus Gips geformt,
der Kopf der amerikanischen Freiheitsstatue. Es ist der Hof der
Köpi, ein nach der Wende besetztes Haus in Berlin-Mitte und
heute das bekannteste autonome Wohn- und Kulturprojekt der
Hauptstadt. Für Magdalena bedeutet dieser Hof sehr viel. Es sei
der Freiraum, der ein Leben abseits des Mainstream möglich ma-
che, sagt sie. Hier trifft sie die anderen Hausbewohner, und sie
hat auf dem Hof immer etwas zu tun: Holz für die Ofenheizung
klein hacken, den angesammelten Schrott nach Verwertbarem
sortieren oder eine Bar für die nächste Party aufbauen.
Unter ihrer schwarzen Cap quellen Rastazöpfe hervor, im Ge-
sicht trägt Magdalena mehrere Piercings. Sie ist 22 Jahre alt, vor
drei Jahren zog sie von Polen nach Berlin. Freunde von ihr lebten
damals schon in der Köpi. Sie schlief ein paar Monate im Gä-
stezimmer, bis im ersten Stock ein WG-Zimmer frei wurde. Sie
strich die Wände rot, zimmerte ein Hochbett, stellte ein altes
Sofa und einen Couchtisch darunter. „Die Möbel habe ich auf
der Straße gefunden.“
Magdalena versucht, weitestgehend ohne Geld auszukommen,
nicht im kapitalistischen System mitzumachen. Ein paar Euro
verdient sie, indem sie an Straßenkreuzungen mit brennenden
Fackeln jongliert. Dann läuft sie mit einer alten Tasse durch die
Reihen der wartenden Autos, sammelt Kleingeld für ihre „Fire
Show“ ein. Auf dem Nachhauseweg sucht sie in Abfallcontainern
von Supermärkten nach Obst und Gemüse, das noch genießbar
ist. „Containern“ nennt sie das. „Richtigen Müll esse ich natür-
lich nicht, aber oft finde ich noch gute Sachen.“ Sie sei schon in der
Schule links gewesen, eine Punkerin, immer irgendwie dagegen.
Eine normale Mietwohnung könne sie sich mit ihrem Lebensstil
nicht leisten. Aber warum auch? Die Köpi sei für sie der perfekte
Ort. Magdalena schwärmt von dem Gemeinschafsgefühl, alles
wird im Hausforum besprochen, zusammen entschieden und um-
gesetzt.
Die Köpi ist eine Parallelwelt in der schicken neuen Mitte Ber-
lins: Das fünfgeschossigen Gebäude mit der verfallenen Fassade
wirkt düster, die meisten Bewohner kleiden sich in Schwarz. Zur-
zeit leben im Haus knapp 40 Menschen – Studenten, Arbeiter,
Arbeitslose, Lebenskünstler. Zahlreiche Kulturprojekte haben
außerdem in den hohen Räumen im Erdgeschoss Unterschlupf
gefunden. Es gibt eine Druckerei, ein Kino, eine Kneipe und eine
Sporthalle, alles in Selbstverwaltung organisiert. Bei Partys drän-
gen sich oft mehrere hundert Menschen im Hof und den Veran-
staltungsräumen. Weit über Berlin hinaus ist das Haus an der
Köpenicker Straße 137 daher auch ein Symbol für alternative Le-
bensentwürfe. Aber dieser Rückzugsraum linker Gesellschaftsu-
topien ist in letzter Zeit hart umkämpft.
Denn nach langen Jahren, in denen in Berlin mit Wohnungen
nicht viel Geld zu verdienen war, steigen die Immobilienpreise
rasant. Und der Hunger nach Luxus wächst. Aus Paris, London
und New York fliegen Vermögende ein, um sich noch ein Town-
house in Mitte oder eine Dachetage in Prenzlauer Berg zu sichern.
Makler berichten, dass vor allem Berlins Image der wilden, unge-
zähmten Metropole die reichen Kunden anzieht. Mehr als 14 Mil-
liarden Euro haben Investoren hier 2007 für Immobilien ausge-
geben. Kein Wunder, dass auch das Köpi-Grundstück mit seiner
zentralen Lage unweit des Alexanderplatzes Gelüste weckte. Zu
DDR-Zeiten war das Haus Volkseigentum. Nach der Besetzung
im Februar 1990 kam es bald zur Legalisierung, eine kommunale
Wohnungsverwaltung stellte den neuen Bewohnern Mietverträge
aus. 1995 wurden Grundstück und Gebäude dem Alteigentümer
rückübertragen, der es nach einer Pleite an Gläubiger-Banken
verlor. Interessenten für einen Kauf gab es über die Jahre immer
wieder, zwei Zwangsversteigerungen platzten aber. Die Aussicht
auf einen langwierigen Räumungskampf schreckte mögliche Inve-
storen ab – bis zum Mai 2007. Bei der dritten Versteigerung kaufte
eine Gesellschaft mit dem seltsamen Namen „Plutonium 114“ um
den Kosovo-Albaner Besnik Fichtner das Gebäude für die Hälfte
des Verkehrswerts, andere Interessenten hatte es nicht gegeben.
Kurz darauf bekamen die Hausbewohner Kündigungsbriefe.
Über Magdalenas Schreibtisch hängt ein Foto, das die letz-
te Köpi-Demo im Dezember zeigt. Ein Strom junger Leute, fast
durchweg schwarz gekleidet, manche mit Tüchern vor dem Ge-
sicht, schiebt sich an Polizisten in Schutzmonitur vorbei. Neun
Autos brannten in jener Nacht, mehr als 50 Köpi-Sympathisanten
nahm die Polizei fest. Die Botschaft des Demo-Bildes: Kampf-
los wird man die Köpi nicht aufgeben. Aber die Hausbewohner
setzten bei ihrem Widerstand nicht nur auf mehr oder minder of-
Die Köpi war nach dem Mauerfall eines der ersten besetzten Häuser im Osten Berlins. Heute ist sie eine Institution der linken Szene – und hart umkämpft. Zu Besuch in einem Haus, dessen
Bewohner ihre Vorstellung von Freiheit verteidigen.
ort des widerstands
Fotografie entnommen Flickr commons text Jan Pfaff
Der Hunger nach Luxus wächst. Aus Paris, London und New York fliegen Vermögende ein, um sich noch ein Townhouse in Mitte oder eine Dachetage in Prenzlauer Berg zu sichern. Makler berichten, dass vor allem Berlins Image der wilden, ungezähmten Metropole die reichen Kunden anzieht.
W
Spielraum leben70 Spielraum 71 leben
„Die Köpi ist eine Nische.“ Dass es sie weiter gebe, sei aber nicht nur für die Hausbewohner wichtig, sondern auch für die Menschen außerhalb dieser kleinen Welt.
„Als Erinnerung daran, dass ein anderes Leben möglich ist.“
fene Gewaltandrohungen. Sie recherchierten auch über den omi-
nösen Käufer. Es stellte sich heraus, dass Fichtner nur als Treu-
händer für den Berliner Immobilienmann Siegfried Nehls auftrat.
Er wolle 150 Wohnungen mit knapp 13.000 Quadratmeter Fläche
auf dem günstig gelegenen Gelände errichten, teilte Nehls mit. Die
„Plutonium 114“ mit Fichtner habe er vorgeschickt, weil solche
Pläne bei der gewaltbereiten Szene nicht ungefährlich seien, ließ
er wissen.
Das Köpi-Treppenhaus ist dunkel, die Wände und Fenster mit
Graffiti zugesprüht. Um in Lothars Wohnung zu gelangen, muss
man die langen Altbautreppen bis ganz nach oben steigen. Lothar
gehört zu den Veteranen des Hauses, mit Unterbrechungen lebt
er hier seit 16 Jahren. Er ist das Gedächtnis der Köpi, sammelt
Videoschnipsel und Fernsehbeiträge über das Haus, erzählt den
Jüngeren, wer schon alles vor ihnen hier wohnte. Viele Bewohner
bleiben nur zwei, drei Jahre, ziehen dann weiter in eine normale
Mietwohnung, wo das Leben ruhiger ist.
Lothar lebt unter dem Dach in einem knapp 30 Quadratmeter
großen Raum, die Decke ist mit Holz getäfelt. Aus dem Fenster
kann man die nahe Spree sehen, im Ofen knackt ein Feuer. „Ich
habe das alles selber ausgebaut“, erzählt er. Schließlich habe er
früher Maurer gelernt.
Stolz auf die Leistung der eigenen Hände sind viele Hausbewoh-
ner. Immer wieder hört man in Gesprächen, wie sie die Räume
verändert haben, was alles umgebaut wurde. Das Selbermachen
ist für autonome Wohnprojekte ein wichtiges Argument, um sich
zu legitimieren. Häuser professionell zu sanieren, nutze nur Spe-
kulanten, da diese dann höhere Mieten verlangen könnten, so
die Argumentation. In der Köpi zahlen sie nach den Verträgen
von 1992 eine Miete, die sich nach dem Zustand des Hauses zu
Wendezeiten bemisst. 14 Cent pro Quadratmeter. „Plus Neben-
kosten“, fügt Lothar hinzu.
Er habe nichts gegen Privateigentum, aber eine Miete zu zah-
len, die sich am freien Markt orientiere, sehe er wirklich nicht
ein, sagt er. „Wohnen ist ein Menschenrecht“, lautet der Slogan
der Hausbesetzer. Einer weiteren Begründung bedarf es in ihren
Augen nicht. Lothar ist ein kleiner, drahtiger Mann mit rasiertem
Schädel, 41 Jahre alt. Anders als viele im Haus geht er regelmäßig
arbeiten. Als Industriekletterer baut er an den Dachkonstrukti-
onen von Sportstadien und Flughafenhallen auf der ganzen Welt
mit: Dänemark, Kuwait, Nigeria. Auf Montage würden ihn Kolle-
gen manchmal schon komisch anschauen, wenn er erzählt, wo er
lebt. „Die meisten können sich das gar nicht vorstellen.“
Dabei kann er auf eine lange Karriere als Hausbesetzer zu-
rückschauen. Lothar wuchs in Jena auf, Mitte der Achtziger zog
er dort mit ein paar Freunden in eine leer stehende Altbauwoh-
nung. Die Staatsmacht ließ sie gewähren. Zu Zeiten des rigiden
DDR-Wohnungsmanagements war das illegale Beziehen herun-
tergekommener Altbauwohnungen allerdings weit verbreitet. Vor
kurzem erzählte Angela Merkel in einem Interview, dass auch sie
auf diese Weise an ihre erste Wohnung in Ostberlin gekommen
war. In der engen DDR-Welt eckten Lothar und seine Freunde
immer wieder an. Eine verbotene Kahnfahrt auf der Saale, spon-
tane Straßenmusik in Weimar – immer gab es Ärger. Als sie 1987
Ausreiseanträge stellten, ging alles ganz schnell. Man war froh,
die Störenfriede loszuwerden und Lothar fand sich plötzlich in der
Hausbesetzerszene in Kreuzberg wieder. Warum sollte er schließ-
lich alte Gewohnheiten aufgeben, nur weil er jetzt im Westen
war? Über Stationen in verschiedenen Hausprojekten gelangte er
schließlich 1992 in die Köpi.Ein paar Mal ist er auch hier weg-
gegangen. Zwei Jahre lebte er auf dem Land, 200 Kilometer vor
Berlin, ein Jahr im Dschungel in Papua-Neuguinea. Warum es ihn
immer wieder in die Köpi zurückzog? „Man kann sagen, dass
ich nie erwachsen geworden bin, aber ich habe hier einfach alles,
was ich brauche.“ Nirgends sonst gebe es Kino, Bar, Sporthalle
und Konzertbühne im eigenen Haus. Selbst kochen habe er in all
den Jahren nie richtig gelernt, erzählt er. Denn immer wenn er ir-
gendwo im Haus mit Freunden quatsche, forderten diese ihn zum
Mitessen in ihrer WG auf.
m ihr alternatives Idyll zu verteidigen, nutzten die Köpi-
Bewohner auch das ungeliebte System, genauer die Justiz.
Nach ihrer Recherche zu dem neuen Besitzer beauftragten sie
den Mieteranwalt Moritz Heusinger mit ihrer Verteidigung. Die-
ser legte Widerspruch gegen die Kündigungen ein und erklärte
Fichtner, dass er sich auf einen jahrelangen Rechtsstreit einstellen
könne. Außerdem wurde bekannt, dass die Berliner Staatsanwalt-
schaft gegen Fichtners Auftraggeber Nehls ermittelt. Der Vor-
wurf lautet auf Betrug. Nehls soll bei früheren Haussanierungen
Baufirmen um ihre Einkünfte geprellt haben. Zwischen Fichtner
und Nehls kam es daraufhin offenbar zu Unstimmigkeiten, die
die Köpi-Bewohner bei Verhandlungen mit Fichtner nutzen konn-
ten. Von seinem Partner im Stich gelassen und mit der Aussicht
auf einen jahrelangen Kleinkrieg vor Gericht zog Fichtner Anfang
März überraschend die Kündigungen zurück. Zudem stellte er
für die Veranstaltungsräume im Erdgeschoss neue Mietverträge
mit 30-jähriger Laufzeit aus. Die Köpi-Bewohner triumphierten.
Sie hatten sich als ausgebuffter erwiesen als der Immobilienmann
Nehls mit seinen hochfliegenden Plänen. Lothar hat die Nachricht
von der abgewendeten Räumung gelassen aufgenommen, genauso
ruhig wie zuvor das drohende Ende des Köpi-Projekts. Er habe
gelernt, sich nicht zu viele Gedanken über die Zukunft zu ma-
chen, sagt er. „Als ich 1987 aus der DDR ausreiste, hat man mir
gesagt, dass ich die nächsten 20 Jahre nicht wieder einreisen darf
– das kam dann ja anders.“ Und außerdem, fügt er zum Ende des
Gesprächs noch hinzu, könnte er eigentlich überall leben. Aber
warum muss die Köpi dann unbedingt erhalten bleiben?
Er sei zu alt, um von der Weltrevolution zu träumen, sagt Lo-
thar. Die Verhältnisse insgesamt werde man nicht verändern. „Die
Köpi ist eine Nische.“ Dass es sie weiter gebe, sei aber nicht nur
für die Hausbewohner wichtig, sondern auch für die Menschen
außerhalb dieser kleinen Welt.„Als Erinnerung daran, dass ein
anderes Leben möglich ist.“
U
Spielraum 7� identität Spielraum 7� Fussball
shootingstarsIn den Sechzigerjahren erlebte der Neuköllner Traditionsfußballverein NFC Rot-Weiß 1932 seine Glanzzeit.
Keiner im Kiez spielte besser – doch danach ging es stetig bergab. Heute sammelt sich der Staub in dem groß-zügigen Vereinskasino und man gibt sich mit dem kleinen Kaffee-Büdchen gleich daneben zufrieden. Es fehlt Geld, um dem Teufelskreis des Abstiegs zu entkommen. Einziger Sponsor ist derzeit eine fußballbegeisterte
Omi, die auch ab und zu bei den Turnieren vorbeischaut. So mancher bei Rot-Weiß träumt von einer Renais-sance des vergangenen Ruhmes, doch dahin scheint es noch ein weiter Weg zu sein. Ein Blick auf den Nach-
wuchs vermittelt hingegen ein weniger düsteres Bild – die Jungs von der C-Jugend wirken entschlossen, ihren Club aus der Misere heraus zu kicken.
Produktion Julia Hecht Fotografie Christian Reister Text Tom Jeske
Spielraum Fussball74 Spielraum 75 Fussball
Yusuf Cam, 14
Ich werde demnächst 15, dann muss ich aus der Mannschaft raus, und wechsele
in die B-Jugend. Das ist ein bisschen schade, weil es Spaß gemacht hat mit dieser
Mannschaft und diesem Trainer. In der Abwehr oder als Torwart muss man
sich sehr konzentrieren und die gegnerischen Bälle abfangen. Ansonsten muss
man schnelle und genaue Pässe geben können. Klar, vor unseren Spielen machen
wir genau wie die Profis auch eine Besprechung und überlegen, wie und in wel-
cher Formation wir gegen die andere Mannschaft spielen müssen. Neulich gegen
Hertha ging es darum, dass unser Mittelfeld und der Sturm immer weiter mit
nach hinten kommen mussten, um die Abwehr zu unterstützen. Es ging darum,
ein schnelles Spiel zu spielen, viel zu laufen.
Ich wollte schon immer Fußballer
werden. Am liebsten würde ich dann
bei Barcelona spielen. Meine Vor-
bilder sind Ronaldinho und Figo.
Falls es mit Fußball nicht klappt, wer-
de ich Polizist. Wenn Frauenfußball
im Fernsehen kommt, guck ich kurz
und schalt dann eins weiter. Ich guck
lieber Männerfußball. Dass die Män-
ner besser spielen liegt an der Natur.
Meine Schwester spielt kein Fußball,
würde ich ihr auch nicht erlauben.
Sami Issa, 13
Ich spiele zwischen Mittelfeld und Sturm, das ist unterschiedlich bei mir.
Je nachdem, wie mein Trainer mich einsetzt. Mir gefällt es aber besser,
wenn ich im Mittelfeld spiele, dann kann ich die Bälle verteilen, gebe die
Torchancen, schieß auch manchmal die Tore.... Im Verein bin ich schon
seit vier Jahren, immer bei demselben Trainer. Ich finde der trainiert
uns sehr gut und wir verbessern uns auch mit den Spielen.... Als ich
hier angefangen hab, war ich nicht besonders gut, konnte kaum Fußball
spielen und er hat mir alles beigebracht. Ich kann mir schon vorstellen
mal professionell zu spielen. Aber in der Schule läuft es auch sehr gut,
da bin ich Schnellläufer, und überspringe jetzt die achte Klasse. Ich will
probieren, das Abitur zu machen und dann Arzt zu werden. Oder Pilot.
Wenn ich das geschafft hab, geb ich das auf mit dem Fußball.
.
Emre Aktas
Adem Besi, 13
Was ein Stürmer können muss? Tore
schießen! Vor dem Verein hab ich auf der
Straße Fußball gespielt. Der Unterschied
ist, dass es auf der Straße keine Regeln
gibt, im Verein lernt man die Regeln und
muss sich dran halten. Ich hoffe mal,
dass ich später professionell spielen wer-
de. Jedenfalls werde ich das probieren.
Dann müsste ich aber in einen besseren
Verein, Hertha BSC. Frauen-Fußball?
Viele denken, dass Frauen kein Fußball
spielen können. Keiner guckt Frauenfuß-
ball, eher Männerfußball. Frauen haben
mehr Angst vor dem Ball.
Spielraum Fussball76 Spielraum 77 Fussball
In der Mannschaft hab ich zwei Positionen, rechtes Mittelfeld und Sturm.
Wenn das rechte Mittelfeld verletzt ist, dann muss ich ran. Vorher hab ich
nur rechtes Mittelfeld gespielt, aber dann hat mich der Trainer bei einem
Spiel gegen Lichtenrade gesehen und dann hat der mich in den Sturm
geschickt. Das war bei dem ersten Spiel hier in der Mannschaft. Wegen
meiner Schusstechnik. Letzten Sonntag hab ich ein Tor in der letzten Mi-
nute geschossen. 4:2 gewonnen. Zu den Spielen kommt mein Vater immer.
Wenn es 4:1 Steht für die andere Mannschaft und es ist noch ne halbe
Stunde zu spielen? Ich kämpfe weiter. In einer halben Stunde kann man
noch 3 Tore schießen.
Marvin Geister, 13
Ich bin noch neu in der Mannschaft, und
hab noch keine Spielberechtigung, des-
wegen war ich auch nicht am Wochenen-
de dabei, als wir 4:2 gewonnen haben. In
eine richtig gute Mannschaft wie Hertha
BSC oder Tennis Borussia kommt man
nicht so leicht rein. Du musst zu erst in
eine Mannschaft, die Verbandsliga spielt,
dann muss dich der Trainer weiteremp-
fehlen, an Hertha oder so. Du machst
ein Probetraining, wenn sie dich gut fin-
den, trainierst Du da ein paar Wochen,
dann kommen Einzelgespräche und die
wollen dein Zeugnis sehen. Du musst
nämlich in der Schule gute Noten haben,
um in eine solche Mannschaft zu kom-
men. Wenn du Fünfen hast, dann wirst
Du nicht angenommen, egal wie gut du
spielst. Weil, Hertha BSC, die trainieren
vier oder fünf mal in der Woche, und da
hast Du dann fast keine Zeit mehr für
deine Hausaufgaben. Natürlich habe
ich mitbekommen, dass die deutsche
Frauen-Nationalmannschaft Weltmei-
ster geworden ist. Wenn Deutschland
gewinnt freue ich mich immer beson-
ders, weil - ich bin halt Deutscher. Und
deswegen ist es mir egal ob Männer oder
Frauen spielen, ich guck jedes Spiel von
Deutschland.
Harun ErgunUfuk Satis, 14
Ich bin erst seit ein paar Monaten in der Mannschaft. Bei den Spielen kommt
manchmal meine Mutter und meine Schwester vorbei, aber nur wenn das
Wetter schön ist und wenn meine Schwester nicht arbeiten muss. Die spielen
keinen Fußball, aber machen auch Sport, Fitness. Fußball hält mich fit. Um
mich für den Fußball fit zu halten, mache ich aber eigentlich nichts beson-
deres. Ich esse nicht so viel, aber ansonsten ganz normal. Fußball ist schon
gut, macht Spaß. Ich weiß, dass dieser Verein mal richtig gut war. Warum das
nicht mehr so ist, weiß ich allerdings auch nicht. Vielleicht haben zu viele gute
Spieler den Verein verlassen und dann kamen keine guten mehr nach. Aber
wenn man gut trainiert, kann sich das wieder ändern. Am fehlenden Geld
liegt das glaube ich nicht.
Caner Gozmen,14
Ich würde schon gerne professionell spielen, aber ob das klappt: na ja. Wenn
ich damit viel Geld verdiene, kaufe ich meinen Eltern ein Haus, für meine Ge-
schwister, für meine ganze Familie..... Ich würd gern mal surfen.... und... ich
würde derselbe sein! Als Politiker würde ich versuchen, mehr Arbeitsplätze
zu schaffen. Und ansonsten weiß ich gar nicht. Ich würd nicht viel verändern.
Dass die Jugendlichen im Verein Sport machen, ist eigentlich besser, dann ge-
raten manche nicht auf die schiefe Bahn. Hab ich aber noch nicht selber erlebt.
Nur im Fernsehen gehört.
Spielraum Fussball7� Spielraum 7� Fussball
Ich bin der Libero. Das heißt ich spiele hinter der
Abwehr, und wenn die nicht dichthält, muss ich
Ganze noch mal retten, ein Tor verhindern. Wenn
gar nichts mehr geht, foult man da auch mal. Das
ist nicht nur bei den Profis so, bei denen es um viel
Geld geht. Hab auch schon einmal eine gelbe Karte
gesehen dafür. Insgesamt bin ich aber nicht beson-
ders brutal.
Ich bin erst seit dieser Saison im Verein. Vorher hab ich bei Neukölln
und Marathon 02 gespielt. Aber die waren schlecht, die waren nicht
so gut und dann bin ich hier hin gegangen. Professionell spielen?
Schwierig. Da müsste man jetzt schon bei Hertha sein, bei einem
Top-Verein. Jeden Tag trainieren. Schule geht vor. Obwohl ich lie-
ber Fußball spiele, als in die Schule zu gehen. Wie ich leben würde,
wenn ich reich und berühmt wäre? Darüber hab ich mir noch keine
Gedanken gemacht. Ich würde das Geld meiner Familie geben.
Fatjan Esati, 14:
Zurzeit bin ich noch Ersatztorwart, aber
weil der Haupttorwart die Mannschaft ver-
lässt, bin ich ab demnächst Haupttorwart.
Als Torwart tut man sich öfters weh, aber
ich hatte bisher nur Prellungen. Man muss
Schmerzen ertragen müssen, das ist normal.
Es gibt eigentlich keine Mannschaft, vor
der wir Angst hätten. Auch wenn der Geg-
ner alle Spiele gewonnen hat, wir versuchen
einfach unser Glück und geben nicht vorher
auf. Man muss einfach sein Bestes geben.
Mohammed Osman, 14Vorher war ich in einer anderen Mann-
schaft, aber auch hier in Neukölln. Außer
Fußball mache ich keinen anderen Sport,
das reicht mir. Später will ich auf jeden
Fall in Berlin bleiben. Oder vielleicht nach
London ziehen. Meine Tante lebt dort,
ich war schon öfter bei ihr und das gefällt
mir sehr da. Falls ich kein Profi-Fußballer
werde, würde ich gerne Ingenieur werden,
mit Architekten oder so zusammen arbei-
ten. In der Schule interessieren mich auch
eher die kreativen Sachen, Werkkunde,
also Kunst, Musik .... und Sport. Liegt
wohl ein bisschen in der Familie, meine
Mutter kann gut zeichnen..
Thevakar Uijayakumar, 14
Metin Dere, 14
Spielraum Fussball�0 Spielraum �1 Fussball
würde sich verbessern. Es war bestimmt mehr die Rücksicht
auf meinen ganz augenscheinlich labilen Zustand, der versch-
lungen dazu führte, dass ich zur WM 2007 nach Malmö doch
nominiert wurde. Es war wohl ein Test, wie ich das durchste-
hen würde.
Es war klar, dass ich als Ersatzspieler mitfuhr und es durch-
aus sein könnte, dass ich überhaupt nicht aufs Spielfeld käme.
Meine Mutter, selber eine große Fußballspielerin, war extra
aus Rangsdorf mit dem Klapprad nach Schweden geahren und
sah zu. Und meine konvulsivischen Stoßgebete wurden er-
hört, ich wurde doch eingewechselt. Wenn jemals die Annalen
denkwürdiger Kurzauftritte von Fußballspielern geschrieben
werden, dann habe ich eine gute Chance, in einer eigenen Ru-
brik gewürdigt zu werden. Ich war zwar nur eine Minute auf
dem Feld, aber was in diesen 60 Sekunden passierte, ist um
so erstaunlicher und keiner der es gesehen hat, wird es jemals
vergessen können.
Ich rannte dem Ball hinterher, der Ball war sehr weit weg, ich
hatte kaum eine Chance, ihn zu erreichen. Aber die Zuschauer
kuckten, meine Mutter kuckte, die ganze Welt kuckte und ich
rannte schneller, ich musste ihn bekommen, ich rannte noch
schneller, und dann fiel ich hin. Ich fiel einfach so hin, weit und
breit kein gegnerischer Spieler, kein Maulwurfsloch, ich war
einfach so, beim Versuch zu rennen, hingefallen. Ich lag auf
dem Platz und schluchzte, ich spürte alles Unglück dieser Welt
in mir konzentriert, alles Versagen meines Lebens, als Kind,
als Jugendlicher, und jetzt wieder. Meine Tränen netzten den
schwedischen Rasen, die Sonne schien gleichgültig auf mein
Schicksal.
Wir hatten einen Physiotherapeuten mit, und der redete da-
raufhin endlich Tacheles mit mir: „Du musst eine Psychothera-
pie machen.“ Ich war hell empört, erzählte den Kameraden, von
denen ich vermutete, dass sie mich am wenigsten hassten:„Der
Pysiotherapeut findet, dass ich eine Psychotherapie machen
sollte!“ Ich erwartete, dass sie das genauso aberwitzig finden
würden wie ich selber. Aber zu meiner Überraschung fanden
sie das völlig plausibel und dann geschah ein Wunder: Sie öff-
neten sich mir gegenüber, und sie hatten alle schon eine Psy-
chotherapie gemacht. Niemand hatte einen Schaden davon
getragen, alle hatten für ihr Leben etwas dadurch gewonnen.
Diese wunderbaren Sportsmänner, diese starken Kerle, diese
herrlichen Männer, hart und weich, kein bisschen wahnsinnig,
sie hatten eine Therapie gemacht! Ich bin ihnen sehr dankbar,
ihnen und dem Physiotherapeuten, denn endlich ging ich zu
einer Psychiaterin und sie gab mir Tabletten und ich begann
die Therapie.
Mir wurde klar, dass es nicht Unvermögen war, was mich
ausrasten und treten ließ, sondern dass sich da ein Hass Bahn
brach, der eigentlich auf etwas anderes gerichtet sein sollte.
Und da geschah das Wunder von Berlin: Mein Fußballspiel
wurde schlagartig besser. Als wäre ein Knoten in mir geplatzt,
traf ich jetzt und konnte abspielen und fiel nicht mehr hin und
wenn ich jemanden volle Pulle trat, hatte ich wenigstens davor
auch den Ball berührt.
Ich bin immer noch der schlechteste Spieler, aber ich blicke
zuversichtlich in die Zukunft. Das einzige, was mir noch
fehlt, ist ein geeignetes Hassobjekt. Ich habe meinen Töch-
tern einige Kuscheltiere entwendet, mit denen sie aber sowieso
nicht mehr spielen. Die schreie ich jetzt vor jedem Training
zwei Stunden an, dann würge ich sie, bis ihnen die Knopfaugen
herausploppen und schlage auf sie ein. Das tut soo gut.
Ich bin sehr viel kontaktfreudiger geworden, denn ich bin auf
der Suche. Ich unterhalte mich viel mit Männern und Frauen,
versuche zu verstehen, wie sie ticken.
Denn ich bin auf der Suche. Das mit den Kuscheltieren ist auf
Dauer keine Lösung. Mein Hass muss ein angemessenes Ziel
finden. Irgendwann wird es in meinem Kopf einrasten, meine
Augen werden kurz aufflackern, und für denjenigen, der mir
dann gegenüber steht, wird es das Letzte sein, was er sieht.
Dann habe ich endlich mein Ziel gefunden. Ich bin geheilt.
psychotherapie
Ich bin immer noch der schlechteste Spieler, aber ich blicke zuversichtlich in die Zukunft. Das einzige, was mir noch fehlt, ist ein geeignetes Hassobjekt.
Als ich begann, regelmäßig Fußball zu spielen, hatte das
eher psychische als körperliche Gründe. Es war eine lu-
stige und wilde Truppe von ehemaligen Dissidenten, die sich
damals, Anfang der 90er Jahre in einer Halle im Nordischen
Viertel von Prenzlauer Berg traf und mit denen ich einmal die
Woche spielte. Damals versuchte ich mich als Computergrafik-
Fachmann und schrieb Unmassen von Artikeln, die alle abge-
lehnt wurden. Mir war klar, dass ich bei meinen ausschließ-
lich geistigen Tätigkeiten, einen Ausgleich brauchte, um nicht
wahnsinnig zu werden.
Bänderdehnungen und ein Beinbruch machten diesem schö-
nen Hobby ein Ende, aber 2005 rief dann Thomas Brussig an,
der dem Italiener Paolo Verri zugesagt hatte, ein deutsches
Team für die Schriftsteller-WM zusammenzustellen. Wir wa-
ren eine erstaunliche Truppe, die sich da im Trainingslager auf
Thomas Brussigs Anwesen traf, an Krüppeln und Versehrten
herrschte kein Mangel. Hans Meyer kam nachmittags und er-
zählte von seinem größten sportlichen Erfolg, als er eine hol-
ländische Mannschaft bei einem Behinderten-Turnier zum Sieg
verholfen hatte. Mit uns erhoffte er sich Ähnliches.
Er wirkte gutgelaunt, obwohl er „von Brussig beschissen“
worden sei, nördlich von Berlin, so habe der ihm den Ort be-
schrieben, als er das Dorf in sein Navigationssystem eingab und
da erschien die Zahl, über 800 Kilometer, da dachte er, er ku-
cke nicht richtig.
Das Ergebnis des ersten Trainingsspiels war verheerend,
Bohni brach sich ohne Gegnerberührung durch einen unglück-
lichen Sturz den Arm, Andreas Landert fügte sich eine Zerrung
zu und musste abreisen. Der Acker, auf dem wir spielten, war
aber auch eine Todesfalle. Als sich Meyer wunderte, warum
Robert Naumann nicht auf seine Bitte, die Bälle zu holen, rea-
gierte, musste ich den großen Trainer aufklären:
„Der ist schwerhörig.“ Dann sollten wir alle mal solange wie
möglich den Ball hochhalten, der Anblick, der sich Meyer da-
bei bot, nahm ihm sämtliche Illusionen über uns, aber er gab
nicht auf, er war ein Mann für eigentlich hoffnungslose Fälle.
Der größte Risikofaktor in jedem Spiel, egal ob nun im Trai-
ning oder ernst, war ich. Ich war ich ziemlich gefürchtet. Dabei
war ich überzeugt, dass ich nicht absichtlich foulte, sondern aus
Unvermögen, einfach durch meine mangelhafte Körperbeherr-
schung. So verletzte ich in jedem Spiel mindestens einen Gegner
schwer durch Tritte, selbst in Situationen, als der Ball auf der
anderen Hälfte des Spielfeldes war. Es ging soweit, dass sich alle
Kameraden weigerten, in der jeweiligen Gegner-Mannschaft
zu spielen. Es kam dann zu sehr eigenartigen Trainingsspie-
len, und dass ich mangels gegnerischer Spieler nun die meiner
Mannschaft krankenhausreif trat, verbesserte das Klima in der
Mannschaft nicht. Oft nahm mich unser Co-Trainer Ulli beisei-
te und versuchte zu ergründen, was denn mit mir los war.
Bei der WM in Italien 2005 kam es, wie es kommen muss-
te, alle Spiele, bei denen ich vom Rand aus zusah, wurden ge-
wonnen. Aber im Endspiel gegen eine Mannschaft aus Dänen,
Schweden, Finnen, Norwegern und Engländern wurde ich auf
mein flehentliches Betteln hin eingewechselt und trat unseren
eigenen Torwart Albert Ostermeier so hart, dass sein Sprung-
gelenk brach, wir verloren 5:0. Aber noch immer hatte ich kei-
ne Zweifel an meiner Strategie: Ich brauchte den Fußball, um
nicht wahnsinnig zu werden. In Wirklichkeit war ich es längst
und der Fußball ein Teil davon.
Der schwerste Moment war für mich 2006, als ich zur Schrift-
steller-WM in Bremen nicht nominiert wurde. Nach außen hin
versuchte ich, nicht zu verbittert zu wirken, wünschte meiner
Mannschaft viel Glück. Aber innerlich haderte ich und haderte.
Damals machte ich mir ziemlich viel vor. Der Grund, für meine
Nichtnominierung war sehr simpel: Ich war der schlechteste
Spieler. Es hatte im Team ein rasender Verjüngungsprozess
stattgefunden, immer mehr bessere Spieler waren zu unserer
Mannschaft gestoßen. Und während ich mit Augenzudrücken
davor noch Spieler auszumachen meinte, die noch schlechter
waren als ich, war ich nun einfach mal der schlechteste.
Damals begann das, was vielleicht eine Geisteskrankheit
war. Ich weinte und weinte, hatte Zwangsvorstellungen
meiner triumphierenden Sportfreunde und von Spielsituationen,
in denen ich immer versagte. Ich konnte nicht schlafen, wenn
ich doch in einen kurzen Schlummer sank, hatte ich Alpträume,
in denen ich auf dem Feld stand, den Ball bekam und einfach
nicht spielen konnte, der Gegner lief auf mich zu und nahm mir
den Ball ab. Ich war wie gelähmt. Diese Alpträume waren so
schrecklich, dass ich lieber ohne Schlaf blieb, ich zitterte und
rauchte Kette, kaufte mir schlimmste Drogen zu überhöhten
Preisen und brach bei jeder Gelegenheit in Tränen aus.Heute ist
es mir völlig schleierhaft, dass ich nicht zum Arzt ging. Aber es
gab da in meinem Kopf dieses Tabu: Geisteskrankheit! Wahn-
sinn! Psychiatrie! Erblicher Selbstmord! Ich doch nicht! Ich
machte verbissen weiter, in der irren Erwartung, irgendetwas
Bei der WM in Italien 2005 kam es, wie es kommen musste, alle Spiele, bei denen ich vom Rand aus zusah, wurden gewonnen.
Wir waren eine erstaunliche Truppe, die sich da im Trainingslager auf Thomas Brussigs Anwesen traf, an Krüppeln und Versehrten herrschte kein Mangel.
text Falko Hennig
Spielraum Fussball�� Spielraum �� Fussball
Die Färøer Inseln, auf denen neben 3,5 Millionen Vögel und 70000 Schafen
knapp 48.500 Einwohner leben, gehören politisch zu Dänemark. Die 18 Inseln sind seit 1948 weitest-
gehend autonom und tragen wie Grönland den Titel einer gleichberechtigten Nation innerhalb des
dänischen Königreichs. Trotz gemeinsamer Wurzeln machen sich die Isländer über die Färinger lustig.
So wird in Reykjavík erzählt, dass, als die Wikinger losfuhren, um Island zu besiedeln, sie diejenigen
auf den Färøer Inseln aussetzten, die auf halber Strecke seekrank wurden.
Hier lacht der 85ste der FIFA-Weltrangliste über den 193sten.
Denn seit 1988 sind die Färøer das kleinste eigenständig in der FIFA organisierte Land und im
internationalen Fußball immer mal wieder für eine Überraschung gut.
Fotografie Elmar Bambach text Jan Schrenk
Ein t R zuR WElt
Spielraum Fussball�4 Spielraum �5 Fussball
Ihren größten Erfolg feierte die färøische Nationalmannschaft 1990 gleich im ersten Spiel, das kein Freundschaftsspiel war. Weil auf den Inseln kein einziges FIFA-taugliches Stadion existierte, fand das Qualifikationsspiel zur EM gegen Österreich im schwedischen
Landskrona statt. Vor 1265 Zuschauern besiegte die nur aus Amateuren bestehende Mannschaft die österreichischen Profis 1:0. Die herausragenden Spieler sind der einzige Torschütze Torkil Nielsen, ein Holzhändler, und der Torhüter Jens Martin Knudson, der
gleichzeitig auch der Handball-Nationaltorhüter ist. Nach der „größten Niederlage des österreichischen Fußball” muß der Trainer Josef Hickersberger am nächsten Tag seinen Hut nehmen.
iM EchtEn lEBEngRöSStER ERFolg
Die färøische Mannschaft bestand beim Sieg gegen Österreich aus fünf Hochschülern, je einem Kraftfahrer, Fischverkäufer, Postboten, Maschinenschlosser, Gelegenheitsjobber, Handelslehrling, Holzhändler, Bäcker, Bankangestellten, Abiturient, Elektriker, Lebensmittel-
prüfer in einer Fischfabrik, Tischler, Fischfabrikarbeiter, Flugzeugmechanikerlehrling und dem Leiter eines Kühlhauses. An die sensa-tionelle Überraschung erinnert sich der färøische Torwart Knudson wie folgt:„Unsere Anhänger machten sich einen Spaß daraus, die
letzten Sekunden jeder Viertelstunde herunter zu zählen, die wir ohne Gegentor überstanden. Je öfter das notwendig wurde, desto mehr stimmten ein. Der Countdown zur 60. Minute war gerade verklungen, da machte Torkil Nielsen das 1:0. Ich war völlig fassungslos.“
Spielraum Fussball�6 Spielraum �7 Fussball
MythoS PuDElMützE RuDi VöllERS FRuSt
11. Juni 2003, Qualifikation zur EM 2004, Deutschland gegen die Farøer Inseln. Nach einem in den letzten Minuten 2:0 gewonnen Spiel erklärt der deutsche Teamchef Rudi Völler:„Ich habe immer an den Sieg ge-glaubt. Wir haben es leider recht spannend gemacht In der ersten Halbzeit haben wir etwas behäbig gespielt, aber in der zweiten Hälfte
haben wir alles versucht. Ich kann der Mannschaft keinen Vorwurf machen. Gegen einen solchen Gegner kann man nicht glänzen, da geht es nur mit der Brechstange.“Bis in die 89ste Minute war kein Tor gefallen.
Viele Geschichten ranken sich um die weiße Pudelmütze vom färøischen Torhüter Knudson. Einerseits soll die Mütze von seiner Mutter gestrickt worden sein, anderseits erzählte er selbst, dass er sie speziell für das Spiel gegen Österreich gekauft hätte. Angeblich bot nach dem sensationellen Sieg gegen Österreich ein englischer Millionär für diese Pudelmütze
rund 67.000 Euro. Dagegen gilt es als gesichert, dass Jens Martin Knudsons Mutter sehr viele solcher Mützen als Glückbringer für internationale Fans stricken mußte.
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coMPEtition WETTBEWERB
Eine Fotostrecke von
Markus Steffen
Bielefeld
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Die Stadt – ein Raum der Codes und Zeichen. Hier herrscht die kulturelle Grammatik, die festlegt, wer autorisiert ist, was in welchem Kontext zu sagen. Die Produktion von Zeichen als Bedeutungsträger
ist zum symblischen Kapital geworden, transferierbar in ökonomischen Wert. „Sie haben Macht, doch wir haben die Nacht“, titelte ein Mauergraffiti in den 90ern. Nach wie vor besetzen Sprayer Wände
und Bahnen mit Null-Botschaften, führen die urbane Signalethik ad absurdum.
die zugbegleiterFotografie Aesop interview Katharina Szovati
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„Seltsamerweise machen übrigens die Graffiti die Wände und Flächen der Stadt oder die U-Bahnzüge und Busse wieder zu einem Körper, zu einem Körper ohne Ende noch Anfang, gänzlich erogenisiert durch die Schrift, so wie der Körper durch die primitive Inschrift der Tätowie-rung erogenisiert werden kann. Tätowierung, das findet auf Körpern statt, das macht in primitiven Gesellschaften zusammen mit anderen rituellen Zeichen aus dem Körper das, was er ist: ein Material symbolischen Tauschs- ohne Tätowierung, wie ohne Masken, wäre der Körper nur noch das, was er wirklich ist: nackt und nichtssagend. In-dem sie die Wände tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERKOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung.“ Jean Baudrillard, Kool Killer.
Warum interessieren Dich innerhalb der Sprayerszene ausgerechnet die Trainwriter?In jeder Schulklasse gibt’s bestimmt ein zwei Leute, die auch
Graffiti machen. Die Frage ist, wie lange macht man das, wie
intensiv betreibt man das. Irgendwann kommt man auf die Idee,
Züge zu besprühen. Da bewegen wir uns in einem sehr kleinen
Kreis, weil es mit viel Risiken und einer sehr starken Motivation
verbunden ist. Die, die mich interessiert haben, machen das ähn-
lich wie Extremsportler, um ihre eigenen Grenzen zu erfahren.
Und es gibt Leute, die einen großen kreativen Anteil mitbringen.
Es hat mich gereizt, jemanden kennenzulernen, der das auf einem
sehr hohen Niveau betreibt, der eben nicht der stumpfe Kaputt-
macher sein will und trotzdem in dem Prozeß gefangen ist – er
muß ja letztendlich auch an den Zug oder die Wand malen.
Wer genau sind die Trainwriter?Im Durchschnitt sind sie zwischen 20 und 30, haben eine 5jäh-
rige Graffitikarriere hinter sich. Wer auf die Idee kommt, Züge
zu bemalen, muss in seinem Leben einige Dosen geleert haben.
Mit einer Grundausbildung fängt es an: erst auf der Strasse ein
bisschen rumschmieren, dann mit Freunden organisiert Dosen
holen und irgendwo auf dem dritten Hinterhof loslegen. Dann
traut man sich auf die Hauptstrasse und muss schon abwägen, ob
man gesehen wird. Irgendwann merkt man: dass jeder irgendwo
in der Stadt meinen Namen gelesen hat, ist nicht alles. Wenn ich
wirklich Respekt haben will, dann bin ich der, der die härtesten
Aktionen klarmacht, über den kaum einer etwas weiß und des-
sen Sachen kaum einer zu Gesicht bekommen hat. Dieser Fame
auf den zweiten Blick ist es. Trainwriter werden ist ein Prozeß
und am Ende steht eine hochgradige Organisation: Gummihand-
schuhe und Maske, die Dosen sind geputzt und jede Farbe hat in
der Kiste ihren genauen Platz, damit man nachts die richtige fin-
det. Und wenn man dann noch mit seinen Kumpels ins Ausland
fährt ist man wirklich besessen.
Weltweit steigen Trainwriter in die U-Bahnschächte. Im Internationalen Vergleich - wie kann man den deutschen Sprayer beschreiben?Die deutschen Jungs sind klischeehaft ordentlich, gründlich.
Die Italiener kommen aus der Disco raus und legen dann mal
los… Tendenziell kann man über die Deutschen sagen: ordent-
lich maskiert, schön geputzt die Dosen, Handschuhe dabei. Die
Kameras - da wissen sie genau, wo die stehen, auch die Auf-
passer. Wann die Bahn kommt, wann die Einsetzer - für alles
gibt’s Pläne, und das funktioniert in Deutschland. Da weiß man
genau: 01:23 kommt die letzte Bahn, jetzt warten wir zehn Mi-
nuten, danngeht der Fahrer pennen, macht die Rollos runter
und wenn wir am letzten Hänger stehen, ist die Krümmung der
Kurve so, dass der uns im Spiegel nicht sehen kann. Wir sind
nachts auch nach Hause gegangen, weil ein Fahrer den Spiegel
rausgedreht hat oder die Bahn zu weit vorn oder in der falschen
Spur stand. Aktion gelaufen, da kann man nichts machen.
Planung spielt demnach die entscheidende Rolle? An die Orte heranzukommen ist nicht mehr so einfach; alles ist
gut bewacht, es gibt Wachschutz, Polizei und Bundesgrenzschutz,
die passen alle verdammt gut auf. Also muss man das stunden-
lang vorher organisieren. Letztlich ist es ein Kampf mit der Mög-
lichkeit; ein zeitlich, örtlich begrenztes Risiko. Das Tollste ist:
Die Leute, die wissen wie es läuft, haben diese innere Ruhe und
reden nicht drüber. Es gibt aber auch solche, die Autorität ver-
breiten und die Gruppe nach außen repräsentieren - gerade wenn
zwei Gruppen aufeinander treffen. Diese ganzen Gepflogenheiten
und warum es manchmal auch aggressiv zugeht, haben ja ihren
Grund: die Orte sind gut bewacht und die Gelegenheiten so sel-
ten. Deshalb hat man Angst, dass man sich drei Nächte umsonst
hingelegt hat, um die nächste Aktion zu planen. Man beschließt,
am Samstag um neun muss man das machen und dann kommt da
eine andere Gruppe. Außerdem muss man das Prinzip der Regel-
mäßigkeit beachten, die Soko ist ja auch nicht blöd. Wenn man
drei Wochenenden hintereinander an die gleiche Stelle geht, ist
es klar, dass man am vierten in die Falle geht. Dann ergeben sich
bestimmte Kombinationen, wo es überhaupt möglich wird, allein
durch die Sommer- und Winterzeit. Im Sommer wird es schon
Aesop hat drei Jahre lang eine Gruppe von Trainwritern Photographisch begleitet. Ein Interview
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03:30 hell, da steht man im Hellen, bevor die Züge überhaupt
losfahren, im Winter ist es dann schon um 05:00 dunkel.
Trotz aller Vorbereitung ist es sicher nicht ungefährlich, zwischen den Zügen, in den Schächten entlang zu pir-schen?Es gibt Stromschienen und man klettert zwischen den Hängern
herum. Es sind auch Leute ums Leben gekommen. Bei Bergstei-
gern stirbt auch die Hälfte. Es ist schon ein enormer physischer
Kick dabei. Um das poetisch auf den Punkt zu bringen: es ist,
als ob man den schlafenden Drachen besucht. Wenn die Züge
die Druckluft ablassen, erschreckt man sich schon.
Abgesehen vom Kick - was ist für den Sprüher die Belohnung dafür, diese enormen Risiken auf sich genommen zu haben ? Der Graffiti–Sprüher ist eine eher introvertierte Person, die das
Glücksgefühl für sich behält und mit einer inneren Selbstzu-
friedenheit den Erfolg genießt, den er durch das Gerede erreicht
hat. Da gibt es eine richtige Mythenbildung. Der, der am unab-
hängigsten bleibt und es trotzdem auf die Reihe kriegt, ist das
Idol. Züge machen, das ist nicht der normale Graffitityp, das
ist die Endstufe, die Königsdisziplin. Wenn man den Namen
groß verbreiten will, nimmt man die Wand, aber die Züge - das
wird nur in einem kleinen Kreis bekannt. Da bekommt man nur
Respekt von Leuten, die Ahnung haben.
Was hat Dich zu dieser Arbeit motiviert?Ich habe mich viel mit Reportagefotografie beschäftigt, zum
Beispiel mit Kriegsschauplatzfotografie. Das sind relevante The-
men, weil die Situationen so extrem sind. Die Motivation bei der
Graffiti - Arbeit speiste sich auch aus dem Wunsch, selbst ein
physisches Erlebnis zu haben. Ich mag es generell, an Orte zu
gehen, an denen man als normaler Mensch in seinem täglichen
Leben nicht vorbeikommt. Das Besondere, die Grenzerfahrung
eines Ortes, hatte ich schon vorher mit Architekturfotografie ge-
macht. Das man sagt: für das Foto traue ich mich auch mal auf
die Bahngleise, mich mit der Kamera auch mal abseits zu bewe-
gen. Ich war in dem Moment, als ich angefangen habe, richtig
gierig darauf.
Hast du dieses Glücksgefühl durch Extremerfahrung selbst auch erlebt?Ich hab da Aktionen mitgemacht… da kam uns beim Wegrennen
aus dem Schacht eine Bahn entgegen und hat gehupt und wir sind
raus und draußen: neun Uhr morgens, mitten am Brandenburger
Tor, lauter Leute, und wir kommen da mit unseren ganzen Sa-
chen. Das große Prinzip dahinter ist Adrenalin, Angst. Vorher,
schon bevor es losgeht, hat man ein Grummeln im Bauch. Dann
das Lampenfieber, dass man es durchzieht. Und dann kommt
der Moment, da löst sich alles, wenn man’s geschafft hat.
Es ist Dir gelungen, mit diesen Jungs loszuziehen, die sich nachts regelmäßig jenseits der Legalität bewegen. Gemes-sen am Risiko muss deren Mißtrauen von außen Kom-menden gegenüber sehr groß sein. Wenn man in so eine Gruppe rein möchte, dann muss man be-
stimmte Codes und Regeln kennenlernen. Diesen Prozeß mußte
ich auch durchmachen und es hat Jahre gedauert, Vertrauen auf-
zubauen. Die Leute haben viel zu verlieren, von allen Aktionen
werden von der Polizei Fotos gemacht. Wenn dann jemand ge-
schnappt wird, gibt es sofort die komplette Akte dazu und dann
kommt schnell eine Summer von mehreren Hunderttausend zu-
sammen. Das heißt, je länger man dabei ist, um so größer das
Risiko. Und dann kann man ja auch nicht immer nur hingehen
und ne Aktion geliefert bekommen. Dann sagt die Gruppe auch
irgendwann: du kannst ja auch mal was tun, ne Aktion vorberei-
ten, was klarmachen. Insofern hatte ich eine Sonderstellung und
bin sehr dankbar für das ganze Vertrauen.
Gibt es für Dich ein politisches Moment an Graffiti, das dich interessiert?Solange es möglich ist, zu einem Zug zu gehen und dort ein Zei-
chen zu hinterlassen, muss es freiheitliche Tendenzen geben. Da-
rin manifestiert sich ein freiheitlicher Staat. In einer Diktatur ist
das nicht möglich. Für diese Möglichkeit habe ich Sympathie. Es
drückt sich natürlich auch Protest am Privateigentum aus. Was
besitzt man selbst schon? Graffiti bedingt auch Zerstörung, also
greift man den Besitz anderer an. Und auf den gleichen Zügen,
die sauber gemacht werden, klebt Jägermeisterwerbung drauf.
Wo ist da der Unterschied? Die Frage ist eher, wen stört̀ s?
Deine Bilder sind unter schwierigen Bedingungen entstan-den. Hat gerade diese enorme Mühe den fotografischen Reiz ausgemacht?In so einer dunklen Lichtsituation ein scharfes Bild zu machen,
das war eine Herausforderung. Etwas sichtbar zu machen, was
eigentlich nicht zu sehen ist. Wenn man unten auf der Strasse
läuft, ahnt man nicht, was gerade da oben auf dem Dach pas-
siert. Ich mache ungern Sachen, wenn Leute die Möglichkeit ha-
ben, das nachzumachen. Deswegen hat mich die ganze Anstren-
gung beflügelt. Zu sagen, ich krieg da was Exklusives geboten,
soviel Knowhow, soviel Vertrauen. Trotz des enormen Risikos
bekomme ich Bilder, die meine Bilder sind.
Wie hat Dich diese Art der Stadterfahrung geprägt?Ich bekomme ein breites Grinsen, wenn ich U2 fahre. Alle Leute
denken nur, sie fahren eben U-Bahn und draußen ist es dunkel.
Ich schaue aus dem Fenster und sehe, was dahinter ist. Wenn
ich denke: letzte Woche stand ich da hinter dem Pfeiler und hab
mich versteckt, fahren die Leute vorbei, lesen Bücher und kom-
men nicht mal auf die Idee, dass was hinter der Scheibe passiert.
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Hier & JetztEin Bericht von Inana die eine Insulinpumpe tragen. Sozusagen eine künstliche externe Bauchspeicheldrüse, die
mich über einen subkutanen Katheter (liegt bei mir am Bauch) mit Insulin versorgt. Das
erspart mir auf der einen Seite das Spritzen, macht andererseits gleichwohl auch unflexi-
bel, denn die Pumpe ist immer an mir dran. Dies kann einem eben beim Tanzen wiederum
lästig werden.
Und tanzen gehe ich oft. Auch alleine. Den Club verlasse ich hingegen öfters in Beglei-
tung. Das ist so eine Seite von mir, über die ich eigentlich auch nicht spreche. Ich merke das
bereits jetzt beim Schreiben. Es fällt mir schwer, die Worte auf dem Papier festgehalten zu
sehen, die mir durch den Kopf schwirren. Und dann denke ich an die Menschen, die nicht
einmal in ihren Gedanken wirklich frei sind. Immerhin habe ich diese Nächte, in denen
ich alleine losziehe (selbst wenn ich nicht so gerne darüber spreche…). Aber warum auch?
Die Gesellschaft ist ohnehin nicht emanzipiert genug – als Frau bist du unten durch. Aber
ich brauch das. Ich hab Probleme echte Gefühle zuzulassen. Also versuche ich die Lücke
zu füllen.
*Hier aber können wir es wagen. In dieser stillen verständnisvollen Beziehung; ich bin
froh, dass du da bist und hoffe es geht dir gut. In diesem anonymen Zimmer müssen wir
die gewöhnlichen, zerknirschten Masken nicht tragen, die uns am Leben erhalten und
uns abstumpfen lassen. Hier in diesem Moment sind wir schöne Geschöpfe der Nacht
und unsere Gedanken und Worte sind Juwelen, bewacht vom Mond.* Im Prinzip läuft es
immer ziemlich ähnlich ab: man bemerkt sich, blickt den anderen an, lächelt, flirtet – man
kommt sich näher und fängt an, zusammen zu tanzen… und auch eben mehr. Anonyme
Zärtlichkeiten. Manchmal möchte ich überhaupt nicht sprechen. Findest du das jetzt
billig? Ich finde es in den Momenten ziemlich intensiv – sich einzulassen, hinzugeben,
wahrzunehmen. Wir tanzen zusammen – er steht hinter mir und ich vor ihm. Er greift
mir von hinten unter das Shirt, um seine flache Hand beim Tanzen auf meinen Bauch zu
legen. CUT. Und schon sind wir wieder bei der Pumpe. Wie erklär ich das jetzt?
*Du hast in deinem Zimmer gesessen und dir diesen Moment ausgemalt; jetzt wo der
Zeitpunkt gekommen ist, ist nichts so, wie du es dir vorgestellt hast. Alle Sprüche, die du
dir aufgespart hast, sind vergessen. Du hast gedacht, du würdest richtig locker sein und
jetzt bekommst du nicht einmal den Mund auf.*Ich hasse es, wenn das passiert – und
es passiert unweigerlich. Es sind diese Dinge, die den Moment kaputt machen und mich
zurückholen.
Zumal ich in der Situation gar keine Lust habe,irgendwem irgendwas zu erklären.
Naja- um wirklich ganz aufrichtig zu sein, muss ich erwähnen, dass ich mich seit einer
Woche wieder spritze. Meine Insulinpumpe liegt im Bücherregal. Ist halt alles eine Frage
der Prioritäten – soll heißen, die Frage nach dem, was einem eben lieber ist. Unflexibel
ohne Spritzen oder Spritzen und dafür flexibel; der Diabetes bleibt so oder so. Und das
nächste Wochenende rückt näher. Heute Abend kommt eine Freundin zu Besuch, die ich
zum Essen eingeladen habe. Ich denke das wird eine lange Nacht.
*Genau jetzt in irgendeiner Stadt, irgendwo hinter einem Fenster ist Licht. Die Vorhänge
sind teilweise zugezogen und du kannst von der Straße aus nicht hineinsehen. Es läuft
Musik und die Tür ist abgeschlossen. Das bin ich.*
Ich liebe die Nacht. Ich schlafe ohnehin nicht sehr viel. Wie auch – der Tag hat nur 24h.
Meist genügt mir das nicht. Soviel Zeit geht für so vieles VERLOREN. Ich brauche Zeit,
in der ich alleine sein kann, in der ich einfach sein kann.
*Wenn du das Gefühl hast, du müsstest dich abseilen – seil’ dich ab. Einen Großteil die-
ser Scheiße regelst du ja eh’ alleine. Du weißt was ich meine.*
Weißt du? Mein nächtlicher Exzess ist zur selbstzerstörerischen Sucht geworden. Schlaf-
lose Nächte während der Woche.Am Wochenende gehe ich tanzen.
Vorzugsweise laut, elektronisch bis zur Erschöpfung. Ehemalige Fabrikhallen, S-Bahn-
bögen, Kellerdurchbrüche und besetzte Häuser vermitteln ein Gefühl von Untergrund.
Wenn ich tanze, schließe ich die Augen und spüre, dass ich am Leben bin. Früher hatte
ich an Songs immer den Anspruch guter Lyrics. Ich wollte mich in den Liedern wieder
finden – ich hab mich stark über die Musik definiert. Das ist auch so ein Identitätsding.
Die Musik hat mir geholfen, mit Problemen fertig zu werden.Mittlerweile ist mein An-
spruch jedoch ein anderer.
Also noch mal: wenn ich tanzen gehe, will ich die Musik pur. Musik – das ist die erlebte
Interpretation durch dein Gehirn. Das Wesen eines materiellen Prozesses (Schwingung)
steckt in abstrakter Form kleiner Stromimpulse in meinem Nervenzellennetzwerk und
wird zu Wahrnehmung während ich die Basslinie direkt im Brustkorb spüre. Wenn ich
tanze kann ich es spüren und verschmelze mit der Musik.
*Es ist seltsam, inmitten der Verwirrung und des Lärms habe ich einen klaren Kopf und
meine Gedanken sind ruhig und vernünftig.*
Das einzige, was mich zeitweise doch noch zurückholt, ist die Realität. Nennen wir sie
mal Diabetes. Ich bin leider wirklich kein vorbildlicher Diabetiker und diese Nächte
lassen es mich immer wieder spüren (Alkohol kommt erschwerend hinzu…). Um ehrlich
zu sein: heutzutage ist Diabetes eigentlich kein so großes “Ding“ mehr. Die Forschung
ist ziemlich weit, man hat viel Erfahrung und die Behandlung ist easy, wenn man sich an
einige Regeln hält.Wenn.
Wenn mein Blutzucker hoch ist und ich ihn senke, werde ich kurzzeitig euphorisch – high
sozusagen. Sofern ich mich jedoch wieder an den Rand meiner Kräfte gebracht habe und
völlig unterzuckere, fange ich an zu zittern und zu schwitzen. Ich bin plötzlich unfähig klar
zu denken, werde mitunter beängstigend emotional, mir ist einfach nur schlecht. So muss
sich Entzug anfühlen, denke ich dann manchmal. Ich gehöre übrigens zu den Diabetikern,
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Die Vergangenheit
lebt
Einmal im Jahr treffen sich tausende ultraorthodoxe Juden der ganzen Welt auf einer Pilgerfahrt im ostpolnischen Lezajsk. Dort beten sie zur Seele des heiligen Zaddik (Rabbi) Elimelech. Sie glauben,dass die Seele eines Toten anseinem Todestag auf die Erde zurückkehrt. Ein „spirituelles Feuerwerk“ sei diese Erfahrung, wie ein Pilger erzählt. Doch bleiben will im Land ihrer Vorväter niemand. Auch wenn Leza-jsk vor dem Krieg zur Hälfte jüdisch besiedelt war. Anschließend besuchen sie die Stätten des Grauens
in Auschwitz, Treblinka oder Sobibor und fliegen zurück in ihre Heimat.
Fotografie und text Jan Zappner
Der milde Schein hunderter Kerzen hüllt Moti Glueck in
ein warmes, gelbes Licht. Mit einem leichten Lächeln
schiebt er seine Kippa zurecht und schaut der Flamme sei-
ner Kerze zu, wie sie sanft hin- und her tänzelt. „Extra aus
New York mitgebracht, um sie hier für Elimelech anzuzün-
den“, sagt Glueck und drückt sich mit aller Kraft durch die
Menschenwand Richtung Grabkammer. Wie tausende ande-
rer orthodoxer und chassidischer Juden ist er heute gekom-
men, um zur Seele des heiligen Zaddiks Elimelech zu beten.
Es ist der 21.Adar des jüdischen Kalenders und „Jahrzeit“,
der Todestag des Zaddiks Elimelech, der 1787 in Lezajsk
starb. In der Grabkammer drängen sich hunderte Männer in
schwarzen Mänteln und Hüten. Besonders eng ist es um das
mit einem goldenen Gitter versehene Grab Elimelechs. Jeder
versucht, so nah wie möglich an den verehrten Zaddik her-
anzukommen. Tief versunken lesen sie Gebete aus dem Buch
der Psalme und bewegen dabei ihren Oberkörper rhythmisch
vor und zurück. Ihr asynchrones Gemurmel hallt von den
kahlen Wänden wider und erfüllt den Raum mit einem tiefen
Rauschen.
Moti Glueck steht inmitten der Menge und ist endlich am
Ziel angekommen: „Hier spüre ich etwas viel Größeres als
mich. Das macht mich demütig.“ Andere sind weniger zu-
rückhaltend und bezeichnen es als „spirituellen Vulkan“,
an diesem Ort beten zu dürfen. Elimelech Weissblum von
Lezajsk (1717-1787) gilt als einer der Gründerväter des
Chassidismus. Nach mehreren Jahren als Wanderprediger in
Galizien ließ er sich 1772 in Lezajsk nieder. Dort erweiterte
er die grundlegende Idee des Chassidismus. Danach soll im
Mittelpunkt einer Gemeinde ein Rabbi stehen, der seine An-
hänger führt und gleichzeitig lehrt. Sein Ruhm verbreitete
sich schnell auch außerhalb der Stadtgrenzen. Juden aus ganz
Galizien pilgerten nach Lezajsk, um bei ihm Rat zu suchen.
Schließlich wurde er als besonders weiser Rabbi von seinen
Anhängern Zaddik genannt. Seither werden außergewöhn-
liche Rabbiner von den Chassiden als Zaddiks verehrt.
Vor 200 Jahren war eine Pilgerfahrt ein beschwerliches
und auch gefährliches Unterfangen. Heute ist sie dank
Isaak Reichberg eine durchorganisierte, bis in die letzte
Minute geplante Reise. Er steht am Fuße des eingezäunten
Friedhofs und krault sich zufrieden den dichten, grauen
Bart. Sein letzter Reisebus ist eingetroffen und nun strömen
die Insassen laut diskutierend Richtung Grabhügel an ihm
vorbei. Die Skepsis war groß, als sein Vater vor 32 Jahren
das erste Mal Reisetouren zu jüdischen Stätten in Ostpolen
anbot. „Sie bringen uns um!, dachten fast alle“, sagt Reich-
berg. Nur 8 Pilger waren damals mutig genug, sich auf das
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Wagnis einzulassen. Heute sind es 500. Die Angst der Eltern-
generation, die die Vernichtung der jüdischen Kultur noch
miterlebte, spielt bei ihnen keine Rolle mehr. Sie kommen aus
Neugier und der spirituellen Erfahrung wegen. An das Grab
von Elimelech Weissblum pilgern das ganze Jahr über Juden.
Besonders viele kommen jedoch zur Jahrzeit. Die orthodoxen
Juden glauben, die Seele eines Toten kehre alljährlich an sei-
nem Todestag an den Platz zurück, an dem der Körper begra-
ben liegt. Seit 1787 pilgern deshalb Menschen nach Lezajsk,
um ihre Sorgen im Zwiegespräch mit der Seele von Zaddik
Elimelech zu teilen. Bei diesen Seelenbegegnungen lernen die
Pilger aus der über 200-jährigen Erfahrung des Zaddiks und
erklimmen im besten Fall eine weitere Stufe in der eigenen
spirituellen Entwicklung. Zum Dank wird eine Kerze für die
Seele entzündet.
Wenn ich was für ihn mache, macht er auch was für
mich“ erklärt Moti Glueck, der seine Gebete in der
Grabkammer beendet hat. Dabei symbolisiert das Abbrennen
der Kerze den Übergang der Seele aus dem physischen Kör-
per in die nicht greifbare spirituelle Welt. Zusätzlich wird ein
mit Wünschen beschriebenes Stück Papier, der „Kvitel“, nach
dem Beten auf den Grabstein des Zaddiks geworfen. Er ver-
leiht den Bitten nach Gesundheit für die Familie und Erfolg
im Geschäft die nötige Festigkeit im Reich des Spirituellen.
Die Geburt des Chassidismus begann mit einer Katastro-
phe. 300.000 Juden wurden im Jahr 1648 von kosakischen
Horden während des Unabhängigkeitskampfes von Polen in
einem Blutrausch in Galizien umgebracht. Auch Synagogen,
Jeshiwas (jüdische Schulen) und Bibliotheken wurden dem
Erdboden gleichgemacht und damit der Mittelpunkt des gei-
stigen und kulturellen Lebens zerstört. Dieses Vakuum an
Spiritualität füllte der Baal Shem Tov (1689– 1760) mit der
Lehre des Chassidismus. Danach sei Gott überall und ein reli-
giöses Gefühl könne auch durch gemeinsame Gebete, Gesang
und Tänze erlebt werden. Diese Lehre traf ins Herz der unge-
bildeten und verarmten Juden Galiziens. Innerhalb kürzester
Zeit sammelten charismatische Anführer zahlreiche Anhän-
ger um sich. Gemeinsam mit Polen und Ukrainern wohnten
sie in den so genannten „Schtetls“.
Bis vor dem 2. Weltkrieg war Lezajsk so ein typisch galizi-
sches „Schtetl“. Von den 5000 Einwohnern waren 3000 Ju-
den. Heute kommen sie vor allem zur Jahrzeit des Zaddiks in
das verschlafene Städtchen an der polnischen Ostgrenze zur
Ukraine. Eine surreale Situation nicht nur für Einheimische,
die als Zaungäste jede Pilgerfahrt in respektvollem Abstand
miterleben. „Diese Bilder kenne ich sonst nur noch aus Bü-
chern“, erklärt Macej, „So wie wir unseren Papst in Rom ha-
ben, kommen sie eben nach Lejazk.“ Für die älteren Juden ist
diese Szenerie jedoch eine lebendige Erinnerung aus der Kind-
heit. Geschichten von früher hat Jungreis Teitelbaum von ihrer
Mutter im Bus auf dem Weg nach Lezajsk erzählt bekommen.
Allerdings waren das keine Gute-Nacht-Geschichten.
Jenen Wald hat sie wieder erkannt, in dem sie sich vor 66
Jahren vor den faschistischen Häschern versteckt hielt. Von
Hunger und Kälte und vor allem der Angst hat sie erzählt.
Schwer vorstellbar sei das gewesen, so Teitelbaum. Deshalb
ist sie auch stolz, in Lezajsk immer wieder die aufkeimende
Kraft des jungen Judentums zu spüren. „Wir bauen auf dem
auf, was wir damals verloren haben. Das ist unsere Stärke!“,
sagt sie. Auf diese Stärke setzt auch der Reiseunternehmer
Isaak Reichberg.Mithilfe der „Reichberg Stiftung“ bewahrt
er jüdische religiöse Stätten in Polen vor dem Vergessen. „Auf
meinen Reisen durch Ostpolen musste ich feststellen, dass auf
ehemaligen Friedhöfen jetzt Garagen standen“, sagt er. Ande-
re Friedhöfe waren völlig vergessen und verwahrlost. Nicht
immer ist eine vollständige Rückgabe oder Wiederherstellung
möglich. So wie in dem kleinen Städtchen Lelow in der Nähe
von Tschenstochau. Dort stand inzwischen ein Supermarkt
auf dem jüdischen Friedhof. Also ließ Reichberg einfach ei-
nen Gebetsschrein in eine Ecke des Supermarktes einbauen.
Lezajsk ist dabei nur ein Teil eines Puzzles, das Reichberg mit
Hilfe der Reiseagentur und der Stiftung zusammenlegen will.
„Die Menschen erleben in Lezajsk die Vergangenheit und sind
glücklich. Was gibt es Schöneres, als mit seiner Arbeit Men-
schen glücklich zu machen?“, sagt Reichberg. Dann dreht
er sich um und reiht sich in den Strom der Pilger hinauf zur
Grabkammer ein. Zaddik Elimelech Weissblum wartet.
Die Skepsis war groß, als Isaak Reichbergs Vater vor 32 Jahren das erste Mal Reisetouren zu jüdischen Stätten in Ostpolen anbot.“ Sie bringen uns um!, dachten fast alle“, sagt Reichberg. Nur 8 Pilger waren damals mutig genug, sich auf das Wagnis einzulas-sen. Heute sind es fünfhundert.
„Die Menschen erleben in Lezajsk die Vergangenheit und sind glücklich. Was gibt es Schöneres, als mit seiner Arbeit Menschen glücklich zu machen?“Dann dreht Reichberg sich um und reiht sich in den Strom der Pilger ein.
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mimikriEine Modestrecke von Joachim Zimmermann Mode Nina Sophie Gekeler Model Stef
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der tanzpalast
Jedes Wochenende bringen Busse aus ganz Deutschland
Rentner nach Berlin zur Nummernrevue in den Friedrichstadtpalast. Einst
Vorzeigeballett der DDR, entspricht er heute nicht mehr
modernen Rentabilitätsansprüchen.
Ein Einblick.
Fotografie Dietmar Spolert text David Denk
Petra
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Günter Strohbach ist nicht zu sprechen, als er den Besucher
an der Pforte abholt. Er ist nur die Eskorte. Seit 15 Jah-
ren arbeitet Strohbach am Friedrichstadtpalast, davon 14 Jahre
lang als Pressesprecher. Er hätte also bestimmt viel zu erzäh-
len. Genau deswegen hatte Nicola Pattberg, Strohbachs zweite
Nachfolgerin binnen eines Dreivierteljahrs, ihn als Gesprächs-
partner vorgeschlagen - um ein paar Tage später mitzuteilen,
Herr Strohbach stehe nun doch nicht zur Verfügung, er sei ja
nur noch freier Mitarbeiter des Hauses, was er freilich auch
schon zum Zeitpunkt des ersten Telefonats war und ihn zudem
als Gesprächspartner nicht weniger interessant macht - eher im
Gegenteil. „Dazu kann ich Ihnen nichts sagen“, ist Strohbachs
einsilbige Reaktion auf den verhängten Maulkorb, während er
den Besucher durch die weißgetünchten Endlosflure des Ost-
berliner Revuetheaters lotst und ihm dabei an den Türen stets
den Vortritt lässt.
Strohbach schweigt, weil sein neuer Chef das so will. „Ich
bin die Stimme des Hauses“, hatte Geschäftsführer Bernd
Schmidt im November in seiner Antrittsrede klar gestellt - um
„Vielstimmigkeit“ in der Außendarstellung des Palasts zu ver-
hindern, sagt er. Der Staat bin ich, hieß das bei Ludwig XIV.
Das Signal war klar: Jetzt wird durchregiert. Seit seinem Amts-
antritt hat Schmidt 40 von knapp 300 Stellen gestrichen, um
sein Haus wieder profitabler zu machen. Drei Millionen Euro
Miese machte der Friedrichstadtpalast 2007 - bei einer durch-
schnittlichen Auslastung von 70 Prozent. Bei 10 oder gar 20
Prozent weniger hätte er das Defizit verstanden, aber so? „Da
stimmt die Statik“ nicht, war Schmidt überzeugt - und stabili-
sierte seinen Laden, indem er 40 Mitarbeitern den Boden unter
den Füßen wegzog. Mit den gestrichenen Stellen habe er 1,7
Millionen Euro an Personalkosten eingespart, rechnet Schmidt
vor. Nein, als „harter Hund“ sehe er sich nicht, wird er später
in seinem Büro sagen. „Ich habe nie Leute entlassen, um mich
zu profilieren.“
Zunächst führt Strohbach, ein alerter Frühsechziger, der
die Ärmel seines orangefarbenen Pullovers zupackend hoch-
geschoben trägt, den Besucher allerdings in das gemeinsame
Büro von Jürgen Nass, ebenfalls kurz vor der Pensionsgren-
ze, und Roland Welke, 39, die in Schmidts Umbauplänen eine
zentrale Rolle spielen. Das Regieduo inszeniert seit 16 Jahren
gemeinsam, aber auch immer wieder einzeln am Friedrich-
stadtpalast, ist also ein Glücksfall für Schmidt, der sich mit
ihnen jede Woche zum „Jour Fixe“ trifft, wie Nass/Welke die
Besprechungen etwas hochtrabend nennen: Zum einen verfü-
gen die Regisseure über die künstlerische Credibility, an der es
dem promovierten Wirtschaftswissenschaftler Schmidt fehlt;
und außerdem kann dieser durch die unausgesprochene Be-
förderung der beiden in die künstlerische Leitung des Hauses
ohne viele Worte signalisieren, dass er nicht gegen seine Mit-
arbeiter arbeiten will, sondern mit ihnen. Besonders bei Jürgen
Nass rennt er damit offene Türen ein. Er war bei Schmidts
Vorgänger Thomas Münstermann in Ungnade gefallen und
entlassen worden. „Der Newcomer aus Osnabrück, der Berlin
neu erfinden wollte“, nennt Nass seinen ehemaligen Chef, der
den Friedrichstadtpalast zwar seit Monaten nicht mehr betre-
ten hat, dort aber immer noch rumgeistert: als Schreckgespenst
und Buhmann.
Es gibt in diesen Tagen im Friedrichstadtpalast nur ein grö-
ßeres Reizwort als den Namen des früheren Chefs: Krise. Neu-
anfang - das schon, aber Krise? Bloß nicht!
Optisch muss man sich Nass und Welke als Pat und Patachon
des Friedrichstadtpalasts vorstellen: Nass, klein und knubbe-
lig, sieht man seine Vergangenheit als Solotänzer an der Berli-
ner Staatsoper nicht unbedingt an, und Welke, vergleichsweise
groß und drahtig, scheint all die Bücher, die er im Laufe des
Gesprächs erwähnt, auf dem Trimm-Dich-Fahrrad gelesen zu
haben. Welke ist der Kopf des Duos, Nass der Bauch. Sie brau-
chen einander - allein schon weil Welke auf Proben so ungern
rumschreit und Nass‘ Händchen für den Massengeschmack
ohne den intellektuellen Input seines Dramaturgen nur halb so
viel wert wäre. Ihre Symbiose spiegelt sich am Tag des Besuchs
sogar in der Kleidung: Nass trägt ein kurzärmliges schwarzes
T-Shirt und Welke ein langärmliges weißes - wie sie so ne-
beneinander sitzen, muss man an Yin und Yang denken. Und
Gleichgewicht ist es, was der Friedrichstadtpalast im Moment
am dringendsten braucht.
Der Friedrichstadtpalast sucht seine Mitte und hofft sie in der
demonstrativen Abkehr vom Kurs des ehemaligen Intendanten
zu finden. „Schluss mit dem Theater“ fasste eine Berliner Ta-
geszeitung die von Schmidt zu Beginn seiner Amtszeit ausgege-
bene Parole zusammen. „Unser Ziel ist Überwältigung“, sagt
Jürgen Nass, „dass die Zuschauer das Theater verlassen und
sagen: Boah! Das war toll - in der Farbe, im Kostüm, im Büh-
nenbild.“ Nach den Musiktheaterversuchen Münstermanns ist
die Rückkehr zur klassischen Nummernrevue also beschlos-
sene Sache. „Münstermann wollte das Fahrrad neu erfinden
und hat statt Reifen viereckige Kisten dranmontiert“, sagt
Nass, der davon überzeugt ist, das der Bilderreigen zeitgemäßer
ist als der Begriff klingt: „Madonna-Konzerte sind im Grun-
de Revuen.“ Dass weite Teile des Palast-Stammpublikums mit
diesem Namen eher die Mutter Jesu verbinden als eine Musike-
„Ich bin die Stimme des Hauses“, hatte Geschäftsführer Bernd Schmidt im No-vember in seiner Antrittsrede klar gestellt.
Neuanfang - das schon, aber Krise? Bloß nicht!
Max
Spielraum arbeit1�� Spielraum 1�� arbeit
rin, macht die Sache nicht unbedingt leichter. „Wir können uns
nur schrittweise vom alten Friedrichstadtpalast entfernen und
neues Publikumspotenzial einbeziehen“, sagt Welke. Im Vor-
zimmer unterhält Günter Strohbach einige Sekretärinnen. Dem
Gelächter nach zu urteilen, macht er einen guten Job.
Die Hoffnungen des Friedrichstadtpalasts ruhen auf der
nächsten Show, die im Oktober Premiere haben soll und von
der es bislang kaum mehr zu sehen gibt als den weißen Zettel,
den Bernd Schmidt dem Besucher in seinem weitläufigen Büro
präsentiert. Es ist eine Art Strategiepapier - auch wenn darauf
nur drei Wörter stehen: „Qi - eine Palast-Phantasie“. „Neue
Zuschauer gewinnen“, sagt Schmidt und zeigt auf „Qi“, „diese
große Projektionsfläche, auf die sich jeder seinen eigenen Reim
machen soll“; „ohne die alten zu verlieren“, ergänzt er und
deutet auf „Eine Palast-Phantasie“. Schmidt, Mitte 40, nacht-
blauer Einreiher, gestreiftes Hemd, offener Kragen, hat mit
seiner Verpflichtung am Friedrichstadtpalast eine Einladung
zum Eiertanz angenommen. Überraschen ohne zu verschre-
cken - wie das gehen soll und ob das überhaupt funktionieren
kann, wissen die Verantwortlichen im Palast selbst nicht so
genau. „Wir haben kein Patentrezept“, gibt Roland Welke zu.
Aber sie müssen es versuchen. Die Verantwortung ist groß.
Grundsatzfragen verbieten sich da von allein: Die Revue
muss eine Zukunft haben, damit der Friedrichstadtpalast eine
Zukunft hat.
Es ist wie im Profifußball. Wenn‘s nicht läuft, gibt man
dem Trainer den Laufpass und hofft auf Besserung unter dem
Nachfolger. Die Kraft des Neuanfangs kann groß sein - ob sie
auch stark genug war, stellt sich allerdings erst heraus, wenn
man es probiert hat. Es ist ein Vabanquespiel. Der smarte
Kulturmanager Bernd Schmidt ist der Gegenentwurf zu sei-
nem Vorgänger Thomas Münstermann, dem Regisseur und
Bühnenautor, der zum Gespräch in einem Kreuzberger Café
in Jeans und senffarbenem Cordhemd erscheint, darunter ein
weißes T-Shirt mit ausgeleiertem Kragen, und seinen achtjähri-
gen Sohn Ludwig mitgebracht hat, weil der nun mal gerade zu
Besuch bei Papa in Berlin ist. Thomas Münstermann hat in den
vergangenen Monaten das gemacht, was auch Fußballtrainer
nach ihrer Entlassung machen: Wunden lecken und überlegen,
wie es weitergehen soll. Weder über geplante Projekte noch
über den Friedrichstadtpalast möchte Münstermann eigentlich
sprechen, hat er zuvor am Telefon gesagt, und nutzt dann doch
die Gelegenheit trotz des Dauerquengelns seines Sohns zwei
Cappuccinos lang, seine Sicht der Dinge darzustellen, ohne das
eigene Scheitern zu beschönigen: „Ich habe es nicht geschafft,
mein Konzept umzusetzen und so zu kommunizieren, dass
die Mitarbeiter es mittragen.“ Es ist Münstermann wichtig,
ein fairer Verlierer zu sein und nicht nachzutreten. Das unter-
scheide ihn von seinem Nachfolger. „Ich kenne keinen Thea-
terleiter, der sich so klar von seinem Vorgänger distanziert hat
wie Bernd Schmidt“, sagt Münstermann und gibt diesem einen
Rat: „Man definiert sich über seine eigenen Taten, die sollten
für sich sprechen.“ Die Verpflichtung von Lido-Star Sabine
Hettlich für die aktuelle Show „Glanzlichter der Revue“ und
das Konzept dafür sowie die soliden 70 Prozent Auslastung im
Jahr 2007 seien jedenfalls - anders als immer wieder darge-
stellt - sein Verdienst. Gedankt hat ihm das keiner - auch nicht,
dass er „mit Haltung und Fairness das Schiff übergeben“ habe,
obwohl, wie Münstermann betont, klar gewesen sei, dass es
sich nach seiner Abberufung „in ein Fahrwasser begibt, das ich
nicht angesteuert hätte.“
Münstermanns künstlerisches Ziel war es, „das unglaub-
liche Nebeneinander, Durcheinander und Übereinander von
verschiedenen Strömungen in Berlin in Unterhaltungsstruk-
turen zu übersetzen“, „Zeitwirklichkeit zu reflektieren“. So
hat er die Musik für die Produktion „Rhythmus Berlin“ unter
anderem von Peter Thiessen komponieren lassen, dem Sänger
der Band Kante. „Ich bin selber 52 und Peter ist auch nicht
mehr 20“, begegnet er dem Vorwurf von Nass und Welke, er
habe den Friedrichstadtpalast in einen Jugendclub verwan-
deln wollen. „Es ging mir immer darum, das Haus zu öffnen
und nicht um Schockeffekte“, aber, stellt Münstermann klar:
„Ich bin engagiert worden, um das Theater ästhetisch nach
vorne zu entwickeln.“ Kunstpause. „Das ist aber jetzt nicht
mehr das Ziel.“
Und dann, nachdem all die Kritik und all der Frust aus ihm
herausgebrochen ist, sagt Münstermann noch einen erstaun-
lichen Satz: „Ich liebe dieses Theater nach wie vor.“ Nicht er-
widerte Liebe kann einem sehr lange nachhängen.
Münstermanns Nachfolger Bernd Schmidt lässt in seinem
Büro keinen Zweifel daran aufkommen, wer für ihn die Män-
ner der Zukunft im Friedrichstadtpalast sind: Jürgen Nass und
mehr noch Roland Welke. „Die beiden haben bislang eigent-
lich nicht das machen können, was sie können“, ist Schmidt
überzeugt. „Ich bin sehr, sehr froh, dass sie da sind“ - wohl
auch weil sie nicht so teuer sind wie die Verpflichtung eines
revueerfahrenen Gastregisseurs, den man zudem erst mal fin-
den müsste. „Wir sind einmalig auf der ganzen Welt“, freut
sich Schmidt, ein reines Revuetheater mit 1895 Sitzplätzen
Grundsatzfragen verbieten sich da von allein: Die Revue muss eine Zukunft haben, damit der
Friedrichstadtpalast eine Zukunft hat.
„Wir sind einmalig auf der ganzen Welt“, freut sich Schmidt, ein reines Revuetheater mit 1895
Sitzplätzen und ohne Schmuddelkram.
Wolfgang
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und ohne Schmuddelkram, eine Arena für eine Kunstform, die
„perfekt mit den Sehgewohnheiten der MTV-Generation“ har-
moniere. Theater für Menschen ohne Geduld, könnte man auch
sagen, Zapping mal anders. Um jüngere Zuschauer davon zu
überzeugen, müsse man diese jedoch erstmal dazu bringen, den
Friedrichstadtpalast überhaupt zu betreten, gibt Thomas Müns-
termann zu bedenken, der sich, was die Aktualität der Kunst-
form Revue angeht, mit Schmidt erstaunlich einig ist.
Und das sei verdammt schwierig. „Ich finde nichts hip, wo
Bustouristen hingehen“, beschreibt Münstermann die bei der
angepeilten Klientel weit verbreitete Einstellung. Dass der Anteil
von Bustouristen in den letzten Jahren von etwa einem Drittel
auf 15 Prozent gesunken ist, viele Reiseveranstalter den Fried-
richstadtpalast mangels Nachfrage aus dem Programm genom-
men haben, spielt da keine Rolle. Es geht ums Gefühl: Das ist
was für meine Oma, nicht für mich.
Hans-Jochen Rosenbauer, den am Friedrichstadtpalast alle nur
„Honsa“ rufen, und Tobias Engelmann sind privat auch nicht
gerade Revuefans, haben sich jedoch dran gewöhnt. Der Hy-
drauliker und der Bühnenmeister arbeiten seit dem Umzug des
Friedrichstadtpalasts in den Neubau am nördlichen Ende der
Friedrichstraße im Jahr 1984 hinter den Kulissen und sehen jede
Produktion zigfach. „Hinter ‚Glanzlichter‘ kann ich hundertpro-
zentig stehen“, sagt Engelmann, Honsa nickt, die Show sei durch
die Umstellung einiger Passagen nach dem Weggang Münster-
manns sogar „qualitativ nochmal besser geworden“.
Dass er die beiden überhaupt kennenlernt, hat der Besucher
Bernd Schmidt zu verdanken, der den Verdacht nicht auf sich
sich sitzen lassen will, dass der Friedrichstadtpalast sich gegenü-
ber der Presse abschottet. Kaum hat man sich darüber beschwert,
dass die Pressesprecherin nur Interviews mit der Leitungsebene
vermittelt, eilt Schmidt nebst Eskorte durch den Palast, auf der
Suche nach der Stimme des Volkes. In der Kantine wird er fün-
dig. Dort essen Honsa und Rosenbauer noch schnell zu Abend,
bevor sie mit den Vorbereitungen für die Vorstellung in rund
zwei Stunden beginnen. Es gibt Ravioli mit Sahnesauce und di-
ese Ost-Rote Grütze, die eher pink ist. „Sprechen Sie frisch von
der Leber weg“, instruiert Schmidt seine Mitarbeiter und ver-
abschiedet sich. Die Eskorte kündigt an, in einer Viertelstunde
wiederzukommen.
Im Gespräch mit Honsa und Rosenbauer ist viel von Vertrauen
die Rede und wie man es verspielt. Von Münstermann hätten
sich die Techniker nicht ernst genommen gefühlt, erinnern sie
sich. „Wir haben uns zu reinen Befehlsempfänger degradiert ge-
fühlt“, sagt Rosenbauer. Und Honsa ergänzt: „Münstermann hat
sich nicht auf unseren technischen Sachverstand verlassen - auch
wenn wir gesagt haben, dass wir diesen Stepptanz vertikal am
Eisernen Vorhang beim besten Willen nicht hinkriegen.“ Er habe
alles, auch das Unmögliche, immer ausprobieren wollen und die
Techniker damit zur Weißglut getrieben.
Die Zusammenarbeit sei schwierig gewesen, aber kein Ver-
gleich zur Amtszeit des Amerikaners Julian Herrey von 1992
bis 1994. Seine Produktion „JazzLeggs“ war ein Fiasko. Zwei
Drittel der Plätze blieben leer. „Da konnten Sie jeden Abend die
Zuschauer zählen“, sagt Honsa, der darüber nur im Rückblick
lachen kann, denn das ging an die Substanz des Hauses, gefähr-
dete seinen Job und den seiner Kollegen. „Wir waren uns ziemlich
einig“, sagt Rosenbauer, „dass der das Haus abwickeln sollte.“
Unter diesem Verdacht steht der aktuelle Chef nicht - auch wenn
die 40 gestrichenen Stellen nach Meinung von Thomas Münster-
mann schon ein ziemlicher Schlag ins Kontor sei. „Wer mit 285
Mitarbeitern knapp 400.000 Zuschauer im Jahr generiert, kann
nicht weiter runtergehen - zumal wir ja ausschließlich Eigenpro-
duktionen zeigen“, ist er überzeugt.
Die Eskorte ist wieder da, setzt sich mit an den Tisch und war-
tet stumm vor sich hin. Warum erzählt er keinen Witz wie vorhin
im Vorzimmer von Nass/Welke? Erst als er den Besucher wieder
übernimmt und hinausführt, beginnt Günter Strohbach zu re-
den. Reden? Nein, plaudern trifft‘s eher. Er ist wie ausgewech-
selt. Fehlt nur noch, dass er wirklich noch einen Witz erzählt. Ob
man zufrieden sei? Noch Fragen habe? Vielleicht noch eine Tän-
zerin treffen wolle? „Das kriegen wir alles hin“, sagt Strohbach.
„Dafür sind wir ja da.“
Am Bühneneingang parken zwei Kleiderständer. An dem ei-
nen hängen die kleinen weißen Engelsflügel und an dem anderen
die großen orangefarbenen, die sich die leicht bekleideten Tän-
zerinnen, für die der Friedrichstadtpalast im Osten der Republik
weltberühmt ist, gleich umschnallen werden. Ohne sie und ohne
das Scheinwerferlicht sehen sie ein bisschen gerupft aus. Zum
Leben werden sie erst wieder auf der Bühne erwachen.
Bevor Günter Strohbach den Besucher zum Abschluss noch ge-
nau dort hinführt, ins Allerheiligste des Friedrichstadtpalasts,
worauf er so stolz ist, als hätte er die Bühne mit seinen eigenen
Händen gebaut, sagt er einen Satz, der Faszination und Misere
des Friedrichstadtpalasts ziemlich knackig zusammenfasst: „Wir
produzieren hier, was kein Mensch braucht - aber es ist schön.“
Es gibt Ravioli mit Sahnesauce und diese Ost-Rote Grütze, die eher pink ist. „Sprechen Sie
frisch von der Leber weg“, instruiert Schmidt seine Mitarbeiter und verabschiedet sich.
„Wir produzieren hier, was kein Mensch braucht - aber es ist schön.“
Roland
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