SERIE TEIL 3 - Gerald Praschl · uns mit der Stalinorgel beschossen. Vorläufig komme ich jetzt...

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24 | SUPER illu Nr.05/2003 zu essen.Die letzten Jahre lebten wir im Heim. Die Nazis? Bei der Hitler- jugend verbrachte ich damals einen großen Teil der wenigen schönen Stunden in meiner harten Jugend.So stand ich den Parolen dieser Ratten- fänger leider unkritisch gegenüber. In meinem späteren Leben, unter den Kommunisten, war mir das eine Lehre. Noch einmal wollte ich nicht betrogen werden. Sterben vor Moskau. Mit 18 Jahren wurde ich 1940 eingezogen, kam als Artillerist in das schon seit 1939 von Deutschland besetzte Polen. Uns war klar, dass es bald gegen die Rus- sen ginge.Am 22. Juni 1941 kam der Angriffsbefehl. Wir marschierten bis kurz vor Moskau. Dann kam der S eine Hände zittern schon nach den ersten Sätzen.Falk Patzsch, geboren 1922 im sächsischen Königstein, heute Rentner in Weißwas- ser, ist ein Gefangener seiner schrecklichen Erinnerung. Seine Frau Ella (74) hält ihm die Hand,um ihn zu beruhigen. Dann setzt er erneut an, um die Geschichte seiner zerstörten Jugend zu erzählen. Eine Geschichte voller Wahnsinn, Krieg und Zerstörung. Falk Patzsch: „Ich wuchs in sehr elenden Verhältnissen auf. Meine Mutter ist früh gestorben. Mein Vater kümmerte sich überhaupt nicht um mich und meine Schwester. Oft bekamen wir nicht einmal etwas Rettung Aus Stalingrad aus- geflogen, wird Falk Patzsch im Dezember 1942 wegen seiner Verletzungen ausgemustert schreckliche russische Winter. Meine Kameraden erfroren in ihren Sommersachen zu Tau- senden. Im Frühjahr 1942 ver- sank dann alles im Schlamm. Wochenlang war unsere Divisi- on eingekesselt, die Russen schossen von allen Seiten. Jeder kämpfte nur noch für sich und sein Leben,Kameradschaft gab es nicht mehr. Mir erfroren Ohren und die Zehen. Den Glauben an den Führer oder gar einen Sieg hatten wir da längst verloren. Im 3 SERIE TEIL 3 3 SERIE TEIL 3 Schreckliche Erinnerung Falk Patzsch als 20-jähriger Soldat 1942. Durch viel Glück überstand er die Kämpfe und die Schlacht um Stalingrad, wo er als Artillerist eingesetzt war. Doch durch seine schweren Kriegsverletzungen wurde er zum Invali- den. Seit 60 Jahren plagen ihn epileptische Anfälle. Durch eine Bombenexplosion wurde er außerdem schwerhörig. Die erfrorenen Zehen schmerzen. Und nachts schreckt er schreiend aus Albträumen hoch STALINGRAD STALINGRAD EINE JUGEND IM KRIEG Falk Patzsch (80) aus Weißwasser über den sinnlosen, mörderischen Kampf von Deutschen und Russen in der Schicksalsstadt an der Wolga. Und wie er dieser Hölle entkam Artillerist Patzsch:»Wir hatten keine Hoffnung mehr«

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Page 1: SERIE TEIL 3 - Gerald Praschl · uns mit der Stalinorgel beschossen. Vorläufig komme ich jetzt hier doch nicht weg. 15. Dezember 1942 Ihr Lieben! Ich glaube, ihr werdet euch nun

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zu essen.Die letzten Jahre lebten wirim Heim.Die Nazis? Bei der Hitler-jugend verbrachte ich damals einengroßen Teil der wenigen schönenStunden in meiner harten Jugend.Sostand ich den Parolen dieser Ratten-fänger leider unkritisch gegenüber.In meinem späteren Leben, unterden Kommunisten,war mir das eineLehre. Noch einmal wollte ich nichtbetrogen werden.

Sterben vor Moskau. Mit 18 Jahrenwurde ich 1940 eingezogen, kam alsArtillerist in das schon seit 1939 vonDeutschland besetzte Polen. Unswar klar,dass es bald gegen die Rus-sen ginge.Am 22. Juni 1941 kam derAngriffsbefehl. Wir marschierten biskurz vor Moskau. Dann kam der

Frühsommer 1942 schickten sie unsauf den Marsch Richtung Stalingrad.Je weiter wir vorstießen,desto erbit-terter wurde der Widerstand derRussen. Und desto schlechter derNachschub. Wir hatten kaum nochzu essen, immer weniger Munition.Als wir in Stalingrad ankamen,waren wir völlig kraftlos und abge-magert. Auf der Suchenach Essen durchwühl-ten wir die Taschen derToten.

Kampf um Stalingrad.Dann begann dieSchlacht in der Stadt.Voruns die Russen, die umsÜberleben kämpften.Und hinter uns ein ande-rer schlimmer Feind:unsere eigenenLeute! Sie erschossen jeden, der eswagte, sich zurückzuziehen. Hun-derte Kameraden wurde so wegen»Feigheit vor dem Feind« an dieWand gestellt. Ich müsste lügen, zubehaupten,dass mich in dieser Situa-tion interessiert hätte, dass auf deranderen Seite genauso arme Schwei-ne wie wir kämpften. Unser Schick-sal war es eben, uns gegenseitigumzubringen. Einmal stand icheinem Russen ganz nah gegenüber.Für eine Sekunde blickte ich in seineAugen.Dann riß ich die Pistole hochund er im selben Moment seine MPi.Ich war schneller.

Der bittere Verrat. Wir Frontsol-daten redeten offen über unsereVerzweiflung. Ansonsten mussteman sehr vorsichtig sein, die Wahr-heit auszusprechen. In einem Brief,den ich meinem Vater Otto mit derFeldpost nach Königstein schickte,schilderte ich ihm unsere auswegloseLage und schrieb: „Ich habe keineHoffnung mehr,die Heimat wieder-zusehen.“ Das hätte ich besser nichtgetan. Mein Vater war ein so ver-bohrter Nazi,dass er den Brief post-wendend an meinen Kommandeur

Seine Hände zittern schonnach den ersten Sätzen.FalkPatzsch, geboren 1922 imsächsischen Königstein,heute Rentner in Weißwas-

ser, ist ein Gefangener seinerschrecklichen Erinnerung. SeineFrau Ella (74) hält ihm die Hand,umihn zu beruhigen. Dann setzt ererneut an, um die Geschichte seinerzerstörten Jugend zu erzählen. EineGeschichte voller Wahnsinn, Kriegund Zerstörung.

Falk Patzsch: „Ich wuchs in sehrelenden Verhältnissen auf. MeineMutter ist früh gestorben. MeinVater kümmerte sich überhauptnicht um mich und meine Schwester.Oft bekamen wir nicht einmal etwas

� Rettung Falk Patzsch (M.) mitder Familie, die ihn nach derSchlacht von Stalingrad aufnahm

� Feldpost Dieletzte Nachrichtvon HelmutHorstmann (F.)kam mit dieserPostkarte (links)

� Rettung Aus Stalingrad aus-geflogen, wird Falk Patzsch im

Dezember 1942 wegen seiner Verletzungen ausgemustert

� Horror Deutsche bei ihrer Gefan-gennahme in Stalingrad 1943. Patzschwar vorher ausgeflogen worden

3BEWEGEND: BRIEFE AUS STALINGRAD

Letzte Nachrichten Feldpost-Briefe, die bis zum Schluss aus dem Kesselvon Stalingrad geflogen wurden, sind Zeugnisse der Verzweiflung der Soldaten

Ein Soldat schreibt an seine Familie: Wir sind von den Russen eingeschlossen

an die Front weiterschickte und michbei ihm wegen »Wehrkraftzerset-zung« anzeigte. Darauf stand derTod. Doch mein Kommandeur warGott sei Dank ein ordentlicherMensch. Er rief mich zu sich, sagtemir: „Patzsch, dafür müsste ich Sieeigentlich erschießen lassen.“ Danngab er den Brief seinem Adjudanten.

Der legte ihn auf eineneisernen Rost und zün-dete ihn an. Schweigendsahen wir zu, wie dasPapier verbrannte.

Die Rettung. AnfangOktober 1942 wurde ichbeim Kampf um einFabrikgelände in Stalin-grad im Bombenhagel

getroffen. Der Einschlag brach mirviele Knochen,Granatsplitter schlu-gen in meinen Bauch, mein Schädelwurde gequetscht. Ich verlor dasBewusstsein.Ich muss wohl tagelangverschüttet unter Trümmern gelegenhaben. Es kam mir wie ein Wundervor, als ich Wochen später in einemMilitärkrankenhaus im polnischenLitzmannstadt (Lodz) wieder auf-wachte.Per Flugzeug war ich ausge-flogen worden.

Das neue Leben. Wegen meinerschwerenVerwundung wurde ichausgemustert. Weil ich mit meinemNazi-Vater nichts mehr zu tun habenwollte,zog ich zu einer befreundetenFamilie ins schlesische Namislau,diemich wie ihren Sohn aufnahm. Mitviel Glück überlebte ich dort auchden Einmarsch der Russen 1945. InWeißwasser fand ich eine neue Hei-mat. Durch die Kriegsverletzungenbin ich Invalide, leide auch heutenoch an epileptischen Anfällen. Ichwürde für niemanden mehr einGewehr anfassen. Hitler und Stalin,Ribbentrop und Molotow,diese Ver-brecher,machten Krieg,und wir ein-fachen Leute mussten es ausbaden.“

AUFGEZEICHNET VON GERALD PRASCHL

schreckliche russische Winter.Meine Kameraden erfroren inihren Sommersachen zu Tau-senden. Im Frühjahr 1942 ver-sank dann alles im Schlamm.Wochenlang war unsere Divisi-on eingekesselt, die Russenschossen von allen Seiten. Jederkämpfte nur noch für sich undsein Leben,Kameradschaft gab esnicht mehr. Mir erfroren Ohrenund die Zehen. Den Glauben anden Führer oder gar einen Sieghatten wir da längst verloren. Im

»Jederkämpfte nurnoch um seinLeben,Kamerad-schaft gab esnicht mehr«

3SERIE TEIL 33SERIE TEIL 3 60 Jahre danach: Zeitzeugen erinnern sich

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NÄCHSTE WOCHE: Soldat Erich Burkhardt aus Oelsnitz:„Meine Leiden in Stalingrad und der Todeszug der Gefangenen“3

Briefe aus der Hölle. DieBriefe, die der 20-jährige SoldatHelmut Horstmann aus dem Kesselvon Stalingrad an seine Elternschrieb, sind ein erschütterndesZeitdokument. Seine Schwester Hel-ga Kube (77) aus Berlin stellte sieSUPERillu zur Verfügung. Auszüge:

7. Dezember 1942Ihr Lieben! Ich habe mich nun dochentschlossen, euch zu schreiben,wie es um uns steht. Ihr brauchteuch nicht zu erschrecken: Wir sindseit 3 Wochen von den Russen ein-geschlossen. Ich bin aber der festenÜberzeugung, dass wir hier wiederherauskommen. Vielleicht könnenwir der Heimat zu Weihnachteneinen kriegsentscheidenden Erfolgals Geschenk bereiten.

10. Dezember 1942Ihr Lieben! Jetzt liegt eine Schnee-decke von 1 Meter und es sind 15Grad Kälte. Neulich waren feindlichePanzer durchgebrochen und habenuns mit der Stalinorgel beschossen.Vorläufig komme ich jetzt hier dochnicht weg.

15. Dezember 1942Ihr Lieben! Ich glaube, ihr werdeteuch nun doch einige Sorgenmachen. Wir haben im Augenblickein sehr schlechtes Quartier. Stellteuch vor, in einem Erdloch, zwei-einhalb mal vier Meter, hausen 16Mann. Nachts ist die Luft soschlecht, dass man kaum schlafenkann. Die Läuse fressen uns baldauf. Pro Tag gibt es ein Viertel Brot,mittags eine dünne Wassersuppe.Aber es wird sich schon alles zumBesten wenden. Es fragt sich bloß,wie lange das dauert.

21. Dezember 1942Ihr Lieben! Man wird hier zumWilden. Wir wohnen in einer Steppe,

� Schreckliche Erinnerung Falk Patzsch als20-jähriger Soldat 1942. Durch viel Glück überstand

er die Kämpfe und die Schlacht um Stalingrad, wo erals Artillerist eingesetzt war. Doch durch seine

schweren Kriegsverletzungen wurde er zum Invali-den. Seit 60 Jahren plagen ihn epileptische Anfälle.

Durch eine Bombenexplosion wurde er außerdemschwerhörig. Die erfrorenen Zehen schmerzen. Undnachts schreckt er schreiend aus Albträumen hoch

in der es auf hunderte Kilometernkeinen Baum und keinen Strauch gibt.

1. Januar 1943Ihr Lieben! Silvester haben wir ganzformlos verlebt. Um 22 Uhr machtendie Russen einen Angriff. Ein paarPanzer brachen durch und schossenin unsere Schlucht. (Wir) hatten nureinen Viertelliter Schnaps. Dasreicht nicht zum Besaufen.

4. Januar 1943Ihr Lieben! Heute sind wir 45 Tageeingeschlossen. Hoffentlich kann icheuch bald schreiben, dass bei unsalles wieder in Ordnung ist.

22. Januar 1943Ihr Lieben! Endlich mal wieder eineNachricht von dem Verschollenen.Wann ich mal wieder was von mirhören lassen kann, ist sehr fraglich.Sorgt euch aber nicht, wenn ihr wie-der lange nichts von mir hört. Herz-liche Grüße, euer Helmut.

*

Am 31. Januar 1943 kapitulierte die 6. Armee in Stalingrad. Helmut Horst-mann gilt seitdem als verschollen.

STALINGRADSTALINGRADEINE JUGEND IM KRIEG Falk Patzsch (80) aus Weißwasser über den sinnlosen, mörderischen Kampf

von Deutschen und Russen in der Schicksalsstadt an der Wolga. Und wie er dieser Hölle entkam

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� Erinnerung Helga Kube (77)mit dem letzten Foto ihres BrudersHelmut, der in Stalingrad umkam

Artillerist Patzsch: »Wir hatten keine Hoffnung mehr«

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24 | SUPER illu N r . 0 5 / 2 0 0 3

zu essen.Die letzten Jahre lebten wirim Heim.Die Nazis? Bei der Hitler-jugend verbrachte ich damals einengroßen Teil der wenigen schönenStunden in meiner harten Jugend.Sostand ich den Parolen dieser Ratten-fänger leider unkritisch gegenüber.In meinem späteren Leben, unterden Kommunisten,war mir das eineLehre. Noch einmal wollte ich nichtbetrogen werden.

Sterben vor Moskau. Mit 18 Jahrenwurde ich 1940 eingezogen, kam alsArtillerist in das schon seit 1939 vonDeutschland besetzte Polen. Unswar klar,dass es bald gegen die Rus-sen ginge.Am 22. Juni 1941 kam derAngriffsbefehl. Wir marschierten biskurz vor Moskau. Dann kam der

Frühsommer 1942 schickten sie unsauf den Marsch Richtung Stalingrad.Je weiter wir vorstießen,desto erbit-terter wurde der Widerstand derRussen. Und desto schlechter derNachschub. Wir hatten kaum nochzu essen, immer weniger Munition.Als wir in Stalingrad ankamen,waren wir völlig kraftlos und abge-magert. Auf der Suchenach Essen durchwühl-ten wir die Taschen derToten.

Kampf um Stalingrad.Dann begann dieSchlacht in der Stadt.Voruns die Russen, die umsÜberleben kämpften.Und hinter uns ein ande-rer schlimmer Feind:unsere eigenenLeute! Sie erschossen jeden, der eswagte, sich zurückzuziehen. Hun-derte Kameraden wurde so wegen»Feigheit vor dem Feind« an dieWand gestellt. Ich müsste lügen, zubehaupten,dass mich in dieser Situa-tion interessiert hätte, dass auf deranderen Seite genauso arme Schwei-ne wie wir kämpften. Unser Schick-sal war es eben, uns gegenseitigumzubringen. Einmal stand icheinem Russen ganz nah gegenüber.Für eine Sekunde blickte ich in seineAugen.Dann riß ich die Pistole hochund er im selben Moment seine MPi.Ich war schneller.

Der bittere Verrat. Wir Frontsol-daten redeten offen über unsereVerzweiflung. Ansonsten mussteman sehr vorsichtig sein, die Wahr-heit auszusprechen. In einem Brief,den ich meinem Vater Otto mit derFeldpost nach Königstein schickte,schilderte ich ihm unsere auswegloseLage und schrieb: „Ich habe keineHoffnung mehr,die Heimat wieder-zusehen.“ Das hätte ich besser nichtgetan. Mein Vater war ein so ver-bohrter Nazi,dass er den Brief post-wendend an meinen Kommandeur

Seine Hände zittern schonnach den ersten Sätzen.FalkPatzsch, geboren 1922 imsächsischen Königstein,heute Rentner in Weißwas-

ser, ist ein Gefangener seinerschrecklichen Erinnerung. SeineFrau Ella (74) hält ihm die Hand,umihn zu beruhigen. Dann setzt ererneut an, um die Geschichte seinerzerstörten Jugend zu erzählen. EineGeschichte voller Wahnsinn, Kriegund Zerstörung.

Falk Patzsch: „Ich wuchs in sehrelenden Verhältnissen auf. MeineMutter ist früh gestorben. MeinVater kümmerte sich überhauptnicht um mich und meine Schwester.Oft bekamen wir nicht einmal etwas

� Rettung Falk Patzsch (M.) mitder Familie, die ihn nach derSchlacht von Stalingrad aufnahm

� Feldpost Dieletzte Nachrichtvon HelmutHorstmann (F.)kam mit dieserPostkarte (links)

� Rettung Aus Stalingrad aus-geflogen, wird Falk Patzsch im

Dezember 1942 wegen seiner Verletzungen ausgemustert

� Horror Deutsche bei ihrer Gefan-gennahme in Stalingrad 1943. Patzschwar vorher ausgeflogen worden

3BEWEGEND: BRIEFE AUS STALINGRAD

Letzte Nachrichten Feldpost-Briefe, die bis zum Schluss aus dem Kesselvon Stalingrad geflogen wurden, sind Zeugnisse der Verzweiflung der Soldaten

Ein Soldat schreibt an seine Familie: Wir sind von den Russen eingeschlossen

an die Front weiterschickte und michbei ihm wegen »Wehrkraftzerset-zung« anzeigte. Darauf stand derTod. Doch mein Kommandeur warGott sei Dank ein ordentlicherMensch. Er rief mich zu sich, sagtemir: „Patzsch, dafür müsste ich Sieeigentlich erschießen lassen.“ Danngab er den Brief seinem Adjudanten.

Der legte ihn auf eineneisernen Rost und zün-dete ihn an. Schweigendsahen wir zu, wie dasPapier verbrannte.

Die Rettung. AnfangOktober 1942 wurde ichbeim Kampf um einFabrikgelände in Stalin-grad im Bombenhagel

getroffen. Der Einschlag brach mirviele Knochen,Granatsplitter schlu-gen in meinen Bauch, mein Schädelwurde gequetscht. Ich verlor dasBewusstsein.Ich muss wohl tagelangverschüttet unter Trümmern gelegenhaben. Es kam mir wie ein Wundervor, als ich Wochen später in einemMilitärkrankenhaus im polnischenLitzmannstadt (Lodz) wieder auf-wachte.Per Flugzeug war ich ausge-flogen worden.

Das neue Leben. Wegen meinerschwerenVerwundung wurde ichausgemustert. Weil ich mit meinemNazi-Vater nichts mehr zu tun habenwollte,zog ich zu einer befreundetenFamilie ins schlesische Namislau,diemich wie ihren Sohn aufnahm. Mitviel Glück überlebte ich dort auchden Einmarsch der Russen 1945. InWeißwasser fand ich eine neue Hei-mat. Durch die Kriegsverletzungenbin ich Invalide, leide auch heutenoch an epileptischen Anfällen. Ichwürde für niemanden mehr einGewehr anfassen. Hitler und Stalin,Ribbentrop und Molotow,diese Ver-brecher,machten Krieg,und wir ein-fachen Leute mussten es ausbaden.“

AUFGEZEICHNET VON GERALD PRASCHL

schreckliche russische Winter.Meine Kameraden erfroren inihren Sommersachen zu Tau-senden. Im Frühjahr 1942 ver-sank dann alles im Schlamm.Wochenlang war unsere Divisi-on eingekesselt, die Russenschossen von allen Seiten. Jederkämpfte nur noch für sich undsein Leben,Kameradschaft gab esnicht mehr. Mir erfroren Ohrenund die Zehen. Den Glauben anden Führer oder gar einen Sieghatten wir da längst verloren. Im

»Jederkämpfte nurnoch um seinLeben,Kamerad-schaft gab esnicht mehr«

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NÄCHSTE WOCHE: Soldat Erich Burkhardt aus Oelsnitz:„Meine Leiden in Stalingrad und der Todeszug der Gefangenen“3

Briefe aus der Hölle. DieBriefe, die der 20-jährige SoldatHelmut Horstmann aus dem Kesselvon Stalingrad an seine Elternschrieb, sind ein erschütterndesZeitdokument. Seine Schwester Hel-ga Kube (77) aus Berlin stellte sieSUPERillu zur Verfügung. Auszüge:

7. Dezember 1942Ihr Lieben! Ich habe mich nun dochentschlossen, euch zu schreiben,wie es um uns steht. Ihr brauchteuch nicht zu erschrecken: Wir sindseit 3 Wochen von den Russen ein-geschlossen. Ich bin aber der festenÜberzeugung, dass wir hier wiederherauskommen. Vielleicht könnenwir der Heimat zu Weihnachteneinen kriegsentscheidenden Erfolgals Geschenk bereiten.

10. Dezember 1942Ihr Lieben! Jetzt liegt eine Schnee-decke von 1 Meter und es sind 15Grad Kälte. Neulich waren feindlichePanzer durchgebrochen und habenuns mit der Stalinorgel beschossen.Vorläufig komme ich jetzt hier dochnicht weg.

15. Dezember 1942Ihr Lieben! Ich glaube, ihr werdeteuch nun doch einige Sorgenmachen. Wir haben im Augenblickein sehr schlechtes Quartier. Stellteuch vor, in einem Erdloch, zwei-einhalb mal vier Meter, hausen 16Mann. Nachts ist die Luft soschlecht, dass man kaum schlafenkann. Die Läuse fressen uns baldauf. Pro Tag gibt es ein Viertel Brot,mittags eine dünne Wassersuppe.Aber es wird sich schon alles zumBesten wenden. Es fragt sich bloß,wie lange das dauert.

21. Dezember 1942Ihr Lieben! Man wird hier zumWilden. Wir wohnen in einer Steppe,

� Schreckliche Erinnerung Falk Patzsch als20-jähriger Soldat 1942. Durch viel Glück überstand

er die Kämpfe und die Schlacht um Stalingrad, wo erals Artillerist eingesetzt war. Doch durch seine

schweren Kriegsverletzungen wurde er zum Invali-den. Seit 60 Jahren plagen ihn epileptische Anfälle.

Durch eine Bombenexplosion wurde er außerdemschwerhörig. Die erfrorenen Zehen schmerzen. Undnachts schreckt er schreiend aus Albträumen hoch

in der es auf hunderte Kilometernkeinen Baum und keinen Strauch gibt.

1. Januar 1943Ihr Lieben! Silvester haben wir ganzformlos verlebt. Um 22 Uhr machtendie Russen einen Angriff. Ein paarPanzer brachen durch und schossenin unsere Schlucht. (Wir) hatten nureinen Viertelliter Schnaps. Dasreicht nicht zum Besaufen.

4. Januar 1943Ihr Lieben! Heute sind wir 45 Tageeingeschlossen. Hoffentlich kann icheuch bald schreiben, dass bei unsalles wieder in Ordnung ist.

22. Januar 1943Ihr Lieben! Endlich mal wieder eineNachricht von dem Verschollenen.Wann ich mal wieder was von mirhören lassen kann, ist sehr fraglich.Sorgt euch aber nicht, wenn ihr wie-der lange nichts von mir hört. Herz-liche Grüße, euer Helmut.

*

Am 31. Januar 1943 kapitulierte die 6. Armee in Stalingrad. Helmut Horst-mann gilt seitdem als verschollen.

STALINGRADSTALINGRADEINE JUGEND IM KRIEG Falk Patzsch (80) aus Weißwasser über den sinnlosen, mörderischen Kampf

von Deutschen und Russen in der Schicksalsstadt an der Wolga. Und wie er dieser Hölle entkam

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� Erinnerung Helga Kube (77)mit dem letzten Foto ihres BrudersHelmut, der in Stalingrad umkam

Artillerist Patzsch: »Wir hatten keine Hoffnung mehr«