SEJRANOVIC Nirgendwo nirgendher Auszug deutsch...Bekim Sejranovic: Nirgendwo, nirgendher. Auszug....
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Bekim Sejranovic: Nirgendwo, nirgendher. Auszug.
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Bekim Sejranović: Nirgendwo, nirgendher
Übersetzung: Boris Perić | Übersetzungslektorat: Christine Koschmieder
Originaltitel: Nigdje, niotkuda. (Profil, Zagreb 2008). Roman, 254 S. Ausgezeichnet mit dem Meša
Selimovic-Preis 2009
IV
1. Dino und Natascha
Gleich da, wo unsere Straße anfängt, steht auf der linken Seite ein Haus mit
grüner Fassade. Die glitzert als wäre sie mit Brillanten besetzt. Mein Freund Dino, der
da wohnt, behauptet, dass es die Sandkörner sind, die so glitzern, und der Sand sei
Bestandteil des Mörtels, mit dem die Fassade verputzt ist. Ich hab ihm das nicht
abgekauft und versucht, ihn zu überreden, die Brillanten aus dem Putz zu kratzen und
damit reich zu werden. Aber er wollte nicht, und immerhin war es ja sein Haus,
außerdem hatte er Schiss vor seinem Großvater. Seit seine Eltern offiziell geschieden
waren, war sein Vater weggezogen und deswegen wohnte Dino mit seiner Mutter bei
seinen Großeltern. Zu seiner Großmutter sagte er Mutter, genau wie ich zu meiner.
Ich war eifersüchtig auf Dino: nicht nur, weil er der bessere Fußballer war und
von der Statur her viel eher als Bruce Lee durchging als ich, nein, am unerträglichsten
war, dass auch noch Natascha in ihn verknallt sein musste. Irgendwann, als wir noch
viel kleiner waren, war diese Familie aus Srijem bei Dino im Haus eingezogen. Die
hatten eine Tochter – nämlich Natascha - und einen Sohn, Mališa. Ihr Vater spielte
Fußball und war Torwart beim FC Einheit in der Zweiten Liga West.
Natascha war blond und süß und von Anfang an in Dino verknallt. Mir lag gar
nicht so viel an Natascha, aber es ging mir gegen den Strich, dass sie sich
ausgerechnet in Dino verliebte, der sie ununterbrochen fertig machte, ihr an den Haaren
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zog, unanständige Lieder sang, furzte, rülpste und all sowas, und trotzdem konnte sie
nicht aufhören, ihn mit ihren naiven blauen Augen fast zu verschlingen. Um sie von ihm
abzubringen, hab ich ihr irgendwelche Lügenmärchen aufgetischt. Aber trotz meiner
abenteuerlichen Geschichten und Erlebnisse hat sie sich immer nur über mich lustig
gemacht. Dino hingegen musste nur kommen, tief aus seinem Magen einen Rülpser aus
aufsteigen lassen und dazu „Knooooorr“ sagen, wie in der Werbung für Knorr-
Brühwürfel, und sofort hat Natascha in die Hände geklatscht, ein Duckface aufgesetzt,
„iiih, was bist du eklig!“ gesagt – und ist ihm dann trotzdem weiter hinterhergelaufen.
Einmal hab ich Natascha nach ihrer Mutter gefragt. Sie hätte keine Mutter, nur
eine Großmutter in Sremska Mitrovica, aber die sei schon verstorben. Ich wusste nicht,
was verstorben bedeutet, und deswegen ist es mir passiert, dass ich irgendwann mal
auf diese verstorbene Großmutter geschimpft habe und Natascha deswegen weinen
musste. Seitdem wollte sie nicht mehr mit mir sprechen. Ich hab dann Susanna gefragt,
was verstorben bedeutet. „Das ist, wenn jemand tot ist, kapiert?“
2. Pele und Liso
Pele, der auf der Straßenseite gegenüber wohnte, war blond und garstig. In
seiner Gegenwart musstest du wie ein Schießhund aufpassen, was du gesagt hast, weil
der immer sofort ausgerastet ist und, was es noch schlimmer machte, dann richtig
hinterhältig werden konnte. Ein falscher Ton und er hat dich tagelang gepiesackt, schon
die belangloseste Kleinigkeit hat ausgereicht, um ihn auf 180 zu bringen. Sein Bruder,
der war zwei Jahre älter, hieß Liso, das bedeutet Fuchs. Ich weiß noch, wie ich mal zu
Dino gesagt hab, dass Liso ja irgendwie ein echter Fuchs ist, erst andere zu
Dummheiten anstiften und sich anschließend auf ihre Kosten lustig machen. Und
natürlich haben immer alle mitgespottet. Wer letztendlich am meisten unter seinen
grausamen Späßen zu leiden hatte, war sein Bruder Pele, der dann seinerseits keine
Gelegenheit ungenutzt gelassen hat, sich mit einer Schlägerei zu revanchieren.
Gnadenlos sind die aufeinander losgegangen und haben sich angebrüllt wie bekloppt.
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Aber hätte einer von uns sich gewagt, Pele zu beschimpfen, hätte Liso sich sofort auf
den gestürzt. Allerdings konnte Pele es nicht ausstehen, von seinem Bruder verteidigt
zu werden, und ist dann gleich auf beide losgegangen, also auf Liso und auf den, mit
dem er eigentlich im Clinch lag.
3. Fußball
Dino und Pele waren Partizan-Fans, Liso und ich hingegen für Zvezda, was
natürlich Anlass zu Dauerkonflikt bot: welche Mannschaft ist toller, wer hat mehr
Meisterschaften gewonnen, wer ist der bessere Spieler, Momčilo Vukotić oder Vladimir
Petrović Pižon? Von uns war ich der schlechteste Spieler und Liso der beste. Also
spielten immer Liso und ich gegen Pele und Dino.
Eigentlich ist mir schon damals klargeworden, dass Fußball das absolut
Schlechteste in jedem Menschen zum Vorschein bringt. Unsere Konflikte, die nicht
selten in blutige, kleine Kriege ausarteten, wurden regelmäßig durch die Tatsache
ausgelöst, dass wir keine richtigen Tore hatten. Also haben wir die improvisiert, aus
Steinen oder den Oberteilen unserer Trainingsanzüge oder wir haben einfach Pflöcke in
den Boden gesteckt. Das hätte auch funktionieren können, vorausgesetzt, der Ball wäre
eben wirklich einfach nur durchs Tor gerollt, aber so war es ja nie. Fast jedes Mal kam
er über die Flanke, flog also oberhalb der Steine oder eins von unseren
Kleidungsstücken entlang. Und wenn er wirklich mal mitten im Tor gelandet ist, hat
natürlich sofort einer behauptet, er sei zu hoch, also übers Tor hinausgeschossen. Der
imaginierte Balken, den unsere stillschweigende Vereinbarung vorsah, befand sich
ungefähr auf Kniehöhe. Das Problem war nur, nach wessen Knie sollten wir uns richten,
wir waren ja alle unterschiedlich groß.
Und genau da ging dann der Streit los: war das ein Tor oder war es keins?
Vollkommen sinnlos, dass wie alle nacheinander unsere Mütter, Väter, toten Großväter
und Großmütter beschworen. Keiner gab nach und schließlich endete alles in einer
Prügelei. Die Unterlegenen mussten dann dem anderen Team den Sieg zugestehen.
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Bei meiner Mutter zu schwören, beinhaltete für mich die geringste Tragweite, bei
meiner Mutter schwor ich nur bei kleineren Streitereien. Schwerer wogen da schon ein
toter Großvater oder eine tote Großmutter, unabhängig davon, ob sie wirklich tot waren
oder noch lebten. Und wenn es wirklich um etwas ging, dann schwor ich bei Tito.
4. Soll Tito doch verrecken
Es war ein Sonntag und wir kickten hinter der technischen Schule. Eigentlich auf
dem Lehrerparkplatz, einer ungleichmäßig betonierten Fläche, aber für Fußball mit
Aushilfstoren völlig ausreichend. Wir spielten in der üblichen Aufstellung, Liso und ich
gegen Pele und Dino. Beziehungsweise das Derby Zvezda gegen Partizan.
Für dieses spezielle Sonntagsderby hatten wir sogar Trikots. Liso und sein
Bruder Pele waren irgendwie an echte rangekommen, Liso trug eins von Zvezda, Pele
eins von Partizan. Sie sahen wirklich fast wie ihre Vorbilder aus, sogar mit Nummern auf
dem Rücken, Liso die Sieben, Pele die Neun, allerdings waren ihm die Ärmel viel zu
lang und er musste sie dauernd hochschieben.
Ich trug auch ein Zvezda-Trikot, aber nicht so eins wie Liso. Ich hatte meins von
meinem Vater bekommen, ursprünglich ohne Rückennummer. Erst meine Mutter hat mir
später eine weiße Fünf draufgenäht, eine irgendwie schiefe, traurige Fünf.
Ursprünglich war das mal ein Trikot vom FC Kozara aus Bosanska Gradiška, ein
rotes Hemd mit zwei weißen Streifen auf der Vorderseite. Ich hatte meinen Vater darauf
hingewiesen, dass es nicht für ein Zvezda-Hemd durchginge, die weißen Streifen waren
zu schmal, auf dem Zvezda-Trikot sind die weißen und roten Streifen gleich breit und
symmetrisch angeordnet. Daraufhin hatte mein Vater grimmig geguckt und behauptet,
das mache keinen Unterschied.
- Ist es rot-weiß? Ja. Also was? – Der Blick, mit dem er mich dabei bedacht hat,
gehört zu denen, die die augenblicklich jeden Widerspruch über Bord werfen lassen.
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Als der Ball plötzlich unerwartet auf mich zurollte, stand es 3:2 für Partizan.
Zwischen dem Tor und mir nur Dino, der sich in Position brachte, um mir den Ball
abzunehmen. Dribbeln hatte ich nicht sonderlich gut drauf, also drosch ich auf Teufel
komm´ raus los. Der Ball schoss Dino ans Bein, prallte schräg ab und landete hinter
dem Tor. Liso und ich brüllten auf:
- Tooooooor! – worauf die beiden von Partizan erwiderten: - Träumt weiter, der
Ball ist von der Latte abgeprallt, das war ein Abseits!
Unsere Torlatten markierten heute zwei Steine, der Ball war über den linken
hinweggeschossen, ob von außen oder von innen, lässt sich da wirklich schwer sagen.
Also kriegten wir uns in die Haare und mussten nacheinander all unsere Vorfahren
beschwören, lebendig, tot, egal.
Lisos und Peles Großväter lebten noch, also fluchte Liso:
- Mein Großvater soll verrecken, wenn das kein Tor war!
Pele brüllte: - Mein Großvater UND meine Großmutter sollen verrecken, wenn es
eins war!
Jetzt lag es bei Dino und mir, die Entscheidung herbeizuführen. Es brauchte ganz
klar härtere Argumente als Großväter und Großmütter.
Dino fing an: - Wenn das ein Tor war, dann will ich Tito nicht mehr lieben! Nehmt
das.
- Aaaaah – schrie ich. – Du liebst Tito nicht mehr! Dino liebt Tito nicht mehr!
- Wer liebt Tito nicht!? – patzte der zurück. – Schwör doch was Besseres, wenn
du dich traust.
Liso und Pele fingen an zu brüllen: - Los, los!
Liso kreischte: - Los, schwör! Es war ein Tor, so wahr mir Tito helfe, ich hab´s
genau gesehen.
Pele brüllte: - Von wegen Tor! Los, lass ihn bei Tito schwören, wenn er sich traut.
Was blieb mir anderes übrig?
Ich sagte: - Es war ein Tor, bei Tito, es war ein Tor!
Und plötzlich grinst Dino mich hinterhältig an: - Los, sag schon, falls du dich
traust: Tito soll verrecken, wenn das kein Tor war!
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Ich zögerte kurz. Hundert Prozent sicher war ich mir auch wieder nicht, dass es
ein Tor war, aber was sollte ich machen? Und sie konnten es ja auch bloß nicht wissen.
- Tito soll auf der Stelle verrecken, wenn das kein Tor war!
Plötzlich sagte keiner mehr was. Das war´s. Einen stärkeren Schwur gab es
nicht. Man musste nur die Courage haben, ihn auszusprechen.
- Ihr habt´s nicht anders gewollt, dann eben drei zu drei, aber dafür werdet Ihr
jetzt büßen – zischte Pele und wechselte dabei Blicke mit seinem Bruder, der boshaft
kicherte.
5. Tito ist tot, wer hätte das gedacht
Bis heute bin ich mir nicht sicher, ob es damals ein Tor war oder nicht, aber
zumindest ist Tito nicht auf der Stelle gestorben, sondern erst sieben Tage später.
Dino und ich übten auf der Straße Zuschießen, spielten uns gegenseitig den Ball
zu, nur eben ohne Tore. Plötzlich kam Dinos Mutter auf uns zugelaufen. Dino konnte sie
nicht sehen, weil er mit dem Rücken zu ihr stand, und so sah nur ich sie die Straße
runtergekommen. Sie wirkte völlig außer sich und hatte ein grünes Hauskleid aus
Frottee an.
Jetzt kriegt Dino Ärger, ist es mir durch den Kopf geschossen und hatte kurz
Mitleid mit ihm, aber wirklich nur kurz.
In dem Moment, als sich mein vorübergehendes Mitleid in Schadenfreude
verwandeln wollte, rief sie:
- Dino, sofort nach Hause! Tito ist gestorben!
Kaum hatten die Worte ihren Mund verlassen, drehte sie sich auch schon wieder
um marschierte ins Haus. Der Ball, den ich Dino gerade zugespielt hatte, war vor seinen
Füßen zum Stillstand gekommen und kurz setzte er sich drauf, dann fiel er auf die Knie
und starrte mich erschreckt an, als wäre ich ihm eine Erklärung schuldig.
Ich sagte: - Deine Alte lügt doch. Einer wie Tito stirbt nicht. Los, schieß.
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Ein paar Augenblicke lang starrten wir uns an, bevor uns eine Erregung überkam
wie sonst nur bei einem Abenteuer, einem Coup oder einer Schlägerei.
6. Tränen für Tito
Wir trollten uns beide heimwärts. Bei mir zuhause hockte mein Großvater mit
unserem Nachbarn Sakib, der war alt, um die achtzig, aber immer noch rüstig, sie
rauchten und bliesen den Rauch in die Luft.
Sakib und seine Frau lebten nebenan, er hatte seit fünfzehn Jahren nicht mehr
mit ihr gesprochen und niemand kannte ihren Namen, weil alle sie bloß Sakibs Frau
nannten.
Sakib seufzte: - Genosse Walter ist gestorben.
- Ja, mein Sakib, er ist gestorben – erwiderte mein Großvater mit aufrichtiger
Traurigkeit.
Als ich in die Küche kam und meine Mutter an den Töpfen herumhantieren sah,
fragte ich sie, was passiert sei. Sie sagte nur, ich sollte den Mund halten, Tito sei
gestorben. – Es ist am besten, jetzt zu schweigen – wiederholte sie.
Mein Großvater rief: - Kannst du nicht mit diesem Krach aufhören. Musst du
ausgerechnet jetzt die Töpfe sauber machen?
Dann hockten wir uns alle vor den Fernseher. Ich saß auf den Boden, umarmte
meine Knie und wartete, was passieren würde. Im Hintergrund spielte tragische Musik
und quer über dem schwarzen Bildschirm stand „Sondernachrichten“. Die Musik machte
mich schläfrig, ich musste gähnen und wenn ich gähne, kommen mir die Tränen. Sehr
hilfreich, um in der Schule Bauchschmerzen oder Kopfweh vorzutäuschen. Ein, zwei Mal
gähnen und schon kommen die Tränen.
Dann erfolgte die Ansage, dass an diesem Tag, genau um 15.05 Uhr, das große
Herz unseres geliebten Genossen Tito zu schlagen aufgehört habe. Es klang
bedrohlich, ohne Frage. Und in gewisser Hinsicht war es das ja auch, nur dass niemand
wusste, in welcher. Zumindest damals noch nicht.
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7. Das Messer
Als ich am nächsten Tag zur Schule aufbrechen wollte, stand auf einmal das Auto
meines Vaters vor der Tür. Ich war überrascht, ihn zu sehen. Schnell wich die
Überraschung einem leichten Unbehagen. Er tauchte immer überraschend auf. Erst sah
ich ihn monatelang nicht, und dann war er auf einmal da, um zuerst an meinen
Klamotten und an meinen Schuhen rumzumeckern und sich zu beschweren, dass ich
mein T-Shirt nicht in die Hose steckte (worauf ich ihm am liebsten gesagt hätte, dass
das nur Vollidioten machen, aber das ging ja nicht), warum meine Fingernägel nicht
sauber waren und mein Hals so dreckig, als hätte ich mich monatelang nicht
gewaschen, nur um im Anschluss mit mir Cevapcici essen zu gehen oder etwas trinken
oder einkaufen.
Einmal sind wir in ein Kaufhaus gegangen und er hat mich aufgefordert: - So,
mein Sohn, such dir mal eine Hose aus, die Papa dir kaufen soll.
Aber als ich ohne zu Zögern auf ein Paar grüne Stoffhosen zugegangen war, die
mir ausgesprochen gut gefielen, hatte mein Vater mir mit der Hand in den Nacken
geschlagen und gezischt: - Warum gerade die grünen, du Bauerntölpel?
Und mir stattdessen eine Jeans mit weißer Naht gekauft. Nicht nur, dass ich die
nicht mochte und mir der Nacken wehtat, am schlimmsten war, dass er mich einen
Bauerntölpel genannt hatte. Ganz abgesehen davon, dass er sein Versprechen nicht
gehalten hatte, dass ich mir die Hose selber aussuchen durfte. Auch wenn ich längst
nicht mehr sagen kann, warum, war es genau diese grüne Hose war, die ich haben
wollte.
Und dann taucht er plötzlich zu Titos Tod auf und zitiert mich an sein Auto, einen
polnischen Fiat, zu dem wir „der Pole“ sagten. Nachdem wir uns eine Zeit lang im Auto
unterhalten hatten, schenkte mein Vater mir ein blaues Messer, das ich den ganzen
Schulweg über bewunderte. Ich mochte seine Farbe.
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8. Es war ein Tor
Auch in der Schule wurden wir von der Lehrerin uns noch einmal erneut über
alles unterrichtet und erfuhren, dass wir statt des Mathematik- und
Naturkundeunterrichts heute über Tito sprechen würden. Außerdem, so teilte sie uns
mit, seien ab jetzt sieben Tage Trauer verhängt, und damit: kein Singen, kein Pfeifen,
kein lautes Geschrei, kein Lachen, nichts. Ich sah trotzdem viele, die auf der Straße
pfiffen oder lachten, und ein schnurrbärtiger Mann, der auf dem Fahrrad die Straße
entlang fuhr, summte sogar ein Liedchen, das hatte ich genau gesehen. Wie konnte er
summen, wenn doch Trauer verordnet war? Ich sang und pfiff nicht. In dieser Woche
fielen auch die Zeichentrickfilme um 19.15 Uhr aus.
Als Dino, Pele und ich uns an diesem Montag nach der Schule auf den Heimweg
machten, mussten sie natürlich wieder von dem Tor anfangen.
Pele fing an: - Siehste, das kommt davon, wenn man schwört und dabei lügt.
Dino konnte seinen Einsatz kaum erwarten, sie hatten sich ganz klar gut
vorbereitet.
- Pass auf, wir erzählen rum, wie es dazu gekommen ist, und dann geht´s dir so
richtig an den Kragen!
Und dann fingen sie an, mich fertig zu machen und ich muss zugeben, das
machten sie ziemlich gut.
Eine Weile hielt ich durch, aber irgendwann schrie ich sie an: - Schert euch zum
Teufel, alle beide! – und flüchtete mich nach Hause.
Jetzt musste ich wirklich heulen, aber nicht aus Angst, dass sie mich verpetzen
würden, sondern aus Wut über mich selber, dass mich das so fertigmachte. Wo ich doch
wusste, dass Tito nicht meinetwegen tot war. Er wäre auch so gestorben. Ein Tor war es
trotzdem.
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9. Spitzname: Cigo
Am Dienstag wurde in der Schule weiter über Tito gesprochen. Natürlich wurde er
über den grünen Klee gelobt. In der Halle vor dem Lehrerzimmer hatten sie einen Tisch
aufgebaut, darüber lag ein rotes Tischtuch und darauf stand ein Schwarzweißbild von
Tito aus den Fünfzigern. Oben links war ein schwarzer Trauerflor befestigt. Alle zehn
Minuten lösten sich zwei vorschriftlich bekleidete Schüler mit der Totenwache am Tisch
ab, auf dem Kopf eine Tito-Mütze, um den Hals das rote Halstuch der Pioniere. Auch ich
hatte die Ehre, zusammen mit Mustafa. Er war klein, kräftig und dunkelhäutig. Noch
dunkler als ich. Und schon zu mir sagten sie Cigo.
Das hatte mich nie gestört, bis ich einmal heulend und mit gebrochener Nase
nach Hause gekommen war, weil ich mich mit einem gewissen Osman geprügelt hatte,
der mich die ganze Zeit geärgert und einen Zigeuner genannt hatte, und mir Onkel Alija
erklärte:
- Zigeuner sind Menschen wie du und ich, die sich allerdings nicht für Fußball
oder Politik interessieren, weswegen Fußball und Politik verboten gehören, alles klar? –
Er hatte mir bekräftigend mit dem Fingerknöchel auf den Kopf geschlagen und war wie
ein Weiser aus dem Osten vom Hof spaziert, während ich mit blutender Nase am Tor
stand und mir den Schädel rieb, der mir vom Schlag seines Mittelfingers wehtat.
Mustafa also, von dem ich´s gerade hatte, wuchsen die Haare beinahe schon aus
der Stirn. Er war eine miese Type, aber einer von der dämlichen Sorte, die dir weder
Angst einflößen noch dich zum Lachen bringen. Zumindest eines von beiden solltest du
allerdings draufhaben, auch wenn das damals noch keinem von uns klar war.
Während wir also stramm standen, besagter Mutsche und ich, jeder auf seiner
Seite, spürte ich, wie er mich anstarrte. Ich fauchte ihn an - was willst du von mir?, und
er flüsterte: Sag mal, war das echt ein Tor?
Ich tat, als hätte ich ihn nicht gehört, und verfluchte ihn innerlich. Und Pele und
Dino gleich mit. Als Mutsche nicht aufhörte, mir auf die Nerven zu gehen, sammelte ich
Spucke im Mund, bis ich genug hatte, trat an ihn heran und spuckte ihm ins Gesicht. Er
wischte sich die Spucke ab und ging auf mich los. Da kamen aber schon die neuen
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Ehrenwachen und zerrten uns auseinander. Im Klassenzimmer behauptete Mutsche
dann, ich hätte ihn grundlos angespuckt.
Ich kassierte ein Paar Schläge mit dem Lineal auf den Hintern, Mutsche musste
sich nur setzen. Die Lehrerin war außer sich, allerdings mehr aus Beunruhigung als aus
Wut. Als sie mit mir fertig war, sagte sie, nur Zigeuner würden andere anspucken.
10. Die unglückliche Lehrerin
Die Lehrerin war mittelalt, blond und sehr hübsch und ihr Mann hatte einen
Spielsalon am Ort: Videospiele, Tischfußball, Flipper, lauter Zeug, um
Heranwachsenden das Geld aus der Tasche zu ziehen. Einmal hatte ich meinem
Großvater eine ganze Rolle Silbermünzen mit Titos Bild drauf geklaut, um ein Spiel zu
spielen, das „Pacman“ hieß. Statt der üblichen fünf Dinar hatte ich die Silbermünzen in
den Schlitz geworfen und der Automat hatte sie problemlos akzeptiert. Ich weiß nicht, ob
das zu ihrem plötzlichen Reichtum geführt hatte, jedenfalls bauten sie kurz darauf ein
großes Haus und gründeten eine Firma.
Ihren Mann haben sie in den ersten Kriegstagen umgebracht und sie ist nach
Deutschland geflüchtet. Auch als ältere Frau war sie noch sehr schön. Unglücklich war
sie sowohl als junge als auch als ältere Frau.
In ihrer Jugend, weil sie wegen des Geldes geheiratet hatte, und als sie älter war,
weil sie in ihrer Jugend mal schön gewesen war.
11. Titos Begräbnis
Am Mittwoch fand Titos Beerdigung statt. Der Unterricht wurde an diesem Tag
früher beendet, damit wir uns die Fernsehübertragung ansehen konnten.
Susannas Mutter, Nachbar Sakib und Onkel Alija waren bei uns.
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Alle waren festlich und traurig, außer Alija. Der guckte nur finster und unrasiert.
Man hätte Angst vor ihm kriegen können, ohne eigentlich zu wissen, warum.
Das Begräbnis geriet zur großen Inszenierung. Hunderttausende waren in
Belgrad auf den Straßen und alle am Weinen. Weinende Frauen und Kinder lieben die
Kameras besonders.
Ich gähnte, so viel ich konnte, im Vergleich zu den Menschen auf dem Bildschirm
aber mit eher magerer Tränenausbeute und daher unzufrieden. Mein Großvater guckte
ernst. Auch meine Mutter hatte einen traurigen Gesichtsausdruck, war aber in
Gedanken wahrscheinlich eher beim Essen für den nächsten Tag. Nachbar Sakib
rauchte und biss seine dritten Zähne zusammen.
Als der Sarg in das marmorne Grab hinabgelassen wurde, erhob sich Susannas
Mutter, verschränkte die Arme vor dem Bauch und an ihren Wangen rollten die Tränen
hinunter. Auch mir kamen jetzt endlich mehr Tränen, aber ich kann nicht sagen, ob mein
Gähnen endlich den gewünschten Effekt erzeugte, oder ob ich wirklich weinen musste.
Es war ja auch nicht gerade leicht, bei dieser Nummer ungerührt zu bleiben.
Nur Alija blieb schweigend und mit starrem Gesichtsausdruck sitzen und rauchte
weiter seine Zigaretten, die er mit unglaublicher Geschwindigkeit drehen konnte. Er
hatte ein Feuerzeug, das nach Benzin roch. Ich roch leidenschaftlich gern daran. Alle
schwiegen und ich fragte mich, warum er wohl sitzenblieb. Vielleicht, so reimte ich mir
zusammen, wegen der Beinverletzung, die er sich im Bergwerk zugezogen hatte, aber
ich traute mich nicht, laut danach zu fragen.
Und ihn selber schon gleich gar nicht. Bei den Augenbrauen.
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XVII
1. Hokahe
Halbkreisförmig schraubt sich die Maschine der skandinavischen SAS über Oslo
in die Höhe, während sie die immer dichter werdende Wolkendecke durchdringt. Ich
werfe noch einen Blick auf die Stadt, in der ich jahrelang die Scherben meines Lebens
verbreitet habe. Vielleicht, fährt es mir durch den Kopf, sehe ich sie zum letzten Mal,
was mich aber nicht weiter tragisch stimmt.
Bevor das Flugzeug seine Nase in die dicke Wolkenschicht bohrt, genieße ich die
großartige Aussicht über den gesamten Oslofjord mit seinen vielen Inseln. Sobald es mit
dem ganzen Körper ins milchige Weiß eintaucht, schließe ich die Augen und unter
meinen geschlossenen Lidern beginnt die Vergangenheit zu flimmern und fügt sich zu
einem Mosaik aus Inseln, Schiffen und einem schmuddelig-weißen Papagei.
Es war mein sorglosester Sommer in Oslo. Von Sara waren nur ein paar
Erinnerungen geblieben, von denen ich behaupten kann, dass sie schön waren. Ein
paar Monate, nachdem wir unsere längst gestorbene Liebe für immer beerdigt hatten,
war sie in ihr Dorf im Süden Norwegens zurückgekehrt. Gegen Sommerbeginn, ein
halbes Jahr nach ihrem Weggang, hatte mich die Nachricht erreicht, dass sie wieder mit
ihrem Mann zusammenlebte und hochschwanger war. Ein Bekannter von mir, ein
Bosnier, der in Kristiansand lebte, hatte mir das am Telefon so behutsam nahegebracht,
als bedürfte ich der Schonung. Dabei hatten seine Worte mir letztendlich eine diffuse
und leicht trügerische Erleichterung verschafft, obwohl ich zugeben muss, dass mir die
Neuigkeiten anfangs wehtaten. Ich fühlte mich irgendwie verraten, konnte aber nicht
sagen wodurch, und außer meiner männlichen Eitelkeit bestand auch gar kein Anlass
dazu. Es brauchte also nicht lange, bevor ich mich endlich frei und leicht fühlte. Mich
nicht mehr fragte, ob Sara und ich uns nicht doch hätten versöhnen und dadurch etwas
in unseren öden Leben ändern sollen.
Es war ein warmer Sommer, wie es sie in Norwegen gibt. Oslo war voller
sonnengebräunter, verführerischer Blondinen, die, auffallend knapp bekleidet, vor aller
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Welt ihre Rundungen zur Schau stellten, wie Pfauen in zu engen Käfigen. Ich spielte
Gitarre und sang an der U-Bahn-Station beim Nationaltheater. Dabei suchte ich die
Blicke der Passanten, bemüht, sie dahingehend zu hypnotisieren, mir ein paar Kronen
mehr in den Koffer zu werfen. Es war schön, wieder frei zu sein, schoss es mir durch
den Kopf. Und schon bald blieb von Sara nicht einmal mehr die Erinnerung. Und das
war gut so.
Obwohl ich als Straßenmusiker ganz o.k. verdiente, reichte es für einen
angemessenen Lebensunterhalt nicht aus. Außerdem ödete es mich an, jeden Tag
spielen zu müssen. Ich guckte mich also nach einer vorübergehenden Beschäftigung
um. Ein bisschen arbeiten, ein bisschen Musik machen, wenn mir danach ist, und das
Leben wäre das reinste Vergnügen, so zumindest versuchte ich es mir einzureden.
Ich fand einen Job auf einer der Fähren, die kreuz und quer über den Oslofjord
schippern. Die Fähre legt in Oslo ab und bringt die Menschen zu den Inseln, von denen
unsere Route drei abdeckte: Hovedoya, Lindoya und Gressholmen. Auf diesen Inseln
befanden sich Wochenendhäuser, Strände und hier und da ein kleines Restaurant.
Meine wichtigste Aufgabe bestand darin, Fahrscheine zu verkaufen. Ich hatte eine
weiße Uniform, eine dunkle Brille und lächelte ununterbrochen den Mädchen in ihren
Badeanzügen zu. Manchmal auch ihren Müttern.
Mein Kollege Lars, ein kräftiger, kleiner Schwede, war an Bord für den Rest
zuständig. Manchmal verkaufte er mit mir Fahrscheine, manchmal putzte er das Deck,
hantierte am Motor herum oder stand am Ruder; kurz, er machte einfach alles. Und
darin war er sogar besser als der Kapitän, ein fast immer mürrischer alter Mann. Aber
um den kümmerten wir uns nicht, Lars und ich.
Zuerst hatte ich Lars für nur ein paar Jahre älter geschätzt als mich und war nicht
wenig erstaunt, als er mir sagte, dass er vierzig war. Alle paar Tage schor er sich den
Kopf kahl, aber aus seinem Bart war zu schließen, dass sein Haar leuchtend rot sein
musste. Unter seinen Hemdsärmeln guckten zahlreiche Tätowierungen hervor.
Hauptsächlich Motive aus der Mythologie der Wikinger: Schwerter, furchterregende
Riesentypen mit Äxten und Helmen, wie bei Hägar, dem Schrecklichen, oder Conan,
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dem Zerstörer. Später, als wir baden gingen, sah ich, dass eigentlich sein ganzer Körper
tätowiert war, der Rücken, die Brust, sogar die Schenkel.
Als wir am Ende des ersten Tages unsere Einnahmen abrechneten, stellte sich
heraus, dass zu viel Geld in der Kasse war. Nicht viel, vielleicht genug für ein paar
Biere. Als ich ihn fragte, was wir mit dem Geld anstellen sollten, lachte er nur:
- Was denkst du denn? Wir machen halbe-halbe.
Wir hatten später nicht mehr dieselbe Schicht, außer in dieser ersten Woche, als
Lars mich einwies. Einer arbeitete am Vormittag, der andere am Nachmittag, aber ein
paar Stunden Überschneidung, in denen wir zusammen arbeiteten, ergaben sich
meistens. Einmal bat er mich, für ihn einzuspringen, weil er seinen Papagei zum Tierarzt
bringen musste, wegen eines Beinbruchs, wie er mir zurückhaltend erklärte. Es fiel mir
schwer, mir diesen tätowierten, kahlköpfigen Wikinger vorzustellen, wie er einen
Papagei zur Beinbehandlung trägt. Ich musste lachen, hielt das Ganze für einen Scherz,
aber er war ernsthaft besorgt um seinen gefiederten Freund.
Lars und ich hatten den ganzen Sommer über zu viel Geld in der Kasse und
gingen jeden Abend zusammen Bier trinken. Aber nicht nur saßen wir abends bei fadem
norwegischen Bier zusammen, wir machten auch Ausflüge, gingen auf Konzerte oder
bei Regen ins Kino. Sogar Bücher ließ er sich von mir aufschwatzen, auch wenn es
mich meine ganze Überzeugungskraft kostete, ihm nahezubringen, dass sie lesenswert
waren. Einige gefielen ihm, einige gab er mir mit einem verächtlichen Lächeln zurück.
Ab und zu gab auch er mir auch eins der Bücher, die er gerade las. Ich konnte damit
nichts anfangen, musste ihm das aber jedes Mal behutsam beibringen. Es waren billige
historische Schinken, in denen Schwerter, Äxte und nackte Muskeln die Hauptrolle
spielten. Am häufigsten las er Waffenmagazine, kannte jedes Gewehr, jedes Messer,
von Kampfflugzeugen ganz zu schweigen.
Einmal machten wir einen Fahrradausflug in die Nordmark, ein waldbewachsenes
Gebiet, das sich über Hunderte Quadratmeter nördlich von Oslo erstreckt. Es verschlug
uns an den See Brjornjoen, an dem wir ein Kanu mieteten und zu einer kleinen Insel mit
einem Föhrenwald ruderten und dort unser Nachtlager aufschlugen. Lars hatte sich an
dem Tag einen Sonnenbrand zugezogen und ich zog ihn auf, dass er wie der letzte
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Mohikaner aussehe. Er konnte mit meinem Humor wenig anfangen, aber ich fand es
komisch, dass ein grimmiger Wikinger wie er sich einen krebsroten Rücken zugezogen
hatte. Ab und zu sagte ich „Howgh, Häuptling“ zu ihm, was er nicht verstand und ich ihm
nicht übersetzen konnte. In den Comics in meinem Land hätten die Indianer dieses Wort
in jedem Satz verwendet. Einmal sagte ich „hokahe“, das zumindest konnte ich erklären.
In der Sprache der Sioux bedeutet das „ein schöner Tag zum Sterben“. Das hatte ihm
gefallen, sodass er später lauthals davon Gebrauch machte, egal, ob es passte oder
nicht.
Eines Abends gingen wir nach dem Abendessen zusammen in die Stadt, liefen
von Pub zu Pub und ließen uns mit Bier volllaufen. Jedes Mal, wenn wir uns
zuprosteten, riefen wir: „Hokahe!“, und lachten lange und betrunken. In einer Kneipe
stießen wir auf ein ziemlich angetrunkenes Mädchen. Sie saß alleine am Nebentisch
und trank, suchte aber unvermittelt das Gespräch mit uns. Ich hatte den Eindruck, sie
hatte ein Problem, konnte aber nicht sagen, was für eins. Lars stürzte sich auf sie wie
ein hungriger Tiger und versuchte gar nicht erst, seine Absichten zu verbergen. Die
junge Frau war keine von denen, nach denen man sich umdreht oder pfeift, aber ich
welche Frau hätte zwei wie uns schon freiwillig angesprochen, einen schrägen Fremden
mit abgelaufenen Winterschuhen und einen tätowierten, kahlköpfigen Indianer.
Zu dritt zogen wir noch durch ein paar Kneipen, tranken, tanzten, ließen es uns
gutgehen. Lars wurde immer offensiver, fing an, ihr an die Schenkel zu fassen, an den
Po, sie zu umarmen und an sich zu zerren. Mir gefiel das kein bisschen, aber sie war zu
besoffen, um sich zu wehren. In der letzten Kneipe, als sie auf Toilette war, schlug Lars
vor, nach diesem Bier zu ihm zu gehen und sie dort flachzulegen. Kokain hätte er auch
zu Hause, was für ein Spaß. Ich dachte an das magere Mädchen, ihren Körper
zwischen Lars' tätowierten Händen. Und meinen. Zuerst war mir nach Heulen,
wahrscheinlich wegen des Alkohols, dann wollte ich Lars eins mit der Flasche
überziehen, mit dem Mädchen verschwinden, ihr zu essen geben und sie in meinem
Schoß einschlafen lassen, während ich ihr Haar streichelte.
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Stattdessen sagte ich, dass ich das für eine dämliche Idee hielt. Sie müsste doch
nur wieder nüchtern werden und sehen, wo sie gelandet wäre, um auf der Stelle die
Polizei zu rufen und zu behaupten, dass wir sie vergewaltigt hätten, was ja von der
Wahrheit nicht so weit entfernt läge. Lars schüttelte den Kopf und sagte:
- Kann uns doch egal sein, oder? Zwingt sie ja keiner, mit uns rumzuhängen.
Er ließ nicht locker, aber ich blieb hart. Da wurde er richtig sauer, ich sei ein
Arschloch, warf er mir vor, und dass er doch nur ficken wolle und sonst nix.
Dann ging er aufs Klo und ich blieb alleine mit dem Mädchen. Ich steckte ihr unter
dem Tisch einen Hundert-Kronen-Schein zu, fürs Taxi, und dass sie jetzt verschwinden
solle und genug getrunken habe. Ihr ginge es gut, gab sie zurück, und dass sie gerne
noch bleiben würde. Es gelang mir nicht, zu ihr durchzudringen, sie war viel zu besoffen,
um noch irgendetwas zu schnallen. Und da kam Lars auch schon zurück. Ihm war
anzusehen, dass ihm klar war, worüber ich mit ihr gesprochen hatte. Er legte sofort los,
brüllte mich an, drohte mir mit der Faust und legte seine knochigen Arme um meinen
Hals, wobei deutlich sichtbar die Adern auf seinem Schädel anschwollen und sich seine
Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Jetzt sah er wirklich wie ein Indianer aus. Einer
von der Sorte, die zu Dieben und zu Mördern werden, wenn ein Bleichgesicht sie mit
Feuerwasser abgefüllt hat.
Ich brüllte zurück, allerdings eher leidenschaftslos und wenig bedrohlich. Ich
werde aus diesem Kerl nicht schlau, dachte ich bei mir. Das Mädchen musste bei
unserem Anblick haltlos lachen. Dann nahm sie Lars an der Hand und führte ihn aus der
Kneipe. Kurz überlegte ich, ihnen zu folgen, aber da sah ich sie schon miteinander ins
Taxi steigen und verschwinden.
2. Lars
Einmal, als Lars mir ein paar Bücher zurückbrachte, die ich ihm zum Lesen
geliehen hatte, erwähnte er, dass er darüber nachdenke, selber ein Buch zu schreiben.
Über sein Leben. Er war überzeugt, dass das ein gutes Buch abgeben würde. Ich
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reagierte unfasslich arrogant, ließ ihn wie ein Kind dastehen, indem ich ihn belehrte,
dass es ja nicht so sehr darauf ankam, worüber jemand schreibt, sondern wie er
schreibt. Lars lachte verächtlich.
In diesem Sommer erfuhr ich dann Stück für Stück seine Lebensgeschichte,
während der Arbeit, in den Pausen, in stickigen Kneipen voller klebriger Ausdünstungen
oder auf einer der Inseln, auf die wir zum Stockfischangeln fuhren.
Lars war als Einzelkind und ohne Mutter in einem kleinen Ort mitten in Schweden
aufgewachsen, an einem der großen Seen, die das Land in zwei Hälften teilen. Seine
Kindheit hatte er mit Fischfang zugebracht, zusammen mit seinem Vater, einem
Holzfäller, dem ein Unfall das linke Schienbein zerschmettert hatte, weswegen er
vorzeitig in Rente war. Sie hatten Süßwasserfische geangelt, überwiegend Barsche und
Rotfedern, aber ihr größter Triumph war immer, wenn sie es schafften, einen Hecht an
Land zu ziehen.
Als seine Mutter die Familie verlassen hatte, hatte sein Vater noch heftiger als
zuvor dem illegalen Selbstgebrannten zugesprochen, der in Skandinavien mit Kaffee
gemischt und Krajsk genannt wird. Lars war sechzehn, als er erfuhr, dass seine Mutter
in Stockholm gestorben war. Weil er nicht mal einen Mittelschulabschluss hatte, hielt er
sich mit allen möglichen Jobs über Wasser, aber irgendwie war nie das Richtige für ihn
dabei. Als er sich in eine junge Frau aus seinem Ort verliebt und sie ein paar Monate
später geheiratet hatte, verkaufte der Vater das alte Haus der Familie, kaufte sich selbst
eine Wohnung und dem jungen Paar ein Häuschen, in dem sie die nächsten Jahre
lebten. Nach ein paar idyllischen Monaten, und als Lars das erzählte, betonte er
„idyllisch“ in Anführungszeichen, war er an diese Biker-Gang geraten. Er hatte die total
o.k. gefunden, immer gab es Partys, Bier, Frauen, man war die ganze Zeit auf Achse,
und klar, ehrlich betrachtet, räumte er missmutig ein, waren natürlich auch Drogen und
Gesetzeskonflikte Teil der Routine. Durch sein ständiges on the road-Leben verlor er
einen Job nach dem anderen. Er soff und lebte halsbrecherisch und so beschloss seine
Frau nach nur drei Jahren, ihn zu verlassen und künftig ihr Glück alleine zu suchen. Nur
wenige Monate später hatte dann auch Lars die Schnauze voll von den ewigen
Seeleuten und tätowierten Gangstern und Gesetzeskonflikten, weswegen er also sein
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Haus unter Wert verschleudert und kurz darauf erneut panisch zu werden, weil ihm auch
all die anderen Typen zuwider sind, die sich in der schwedischen Einöde den American
Dream vorgaukeln, und die Motorräder hat er sowieso auch satt. Am schlimmsten muss
ihm allerdings zugesetzt haben, dass die einzige Alternative darin zu bestehen schien,
sich selbst dabei zuzusehen, genau wie sein Alter zu werden, mit der Motorsäge
Tannen zu fällen, Krajsk zu saufen und darauf zu warten, dass der Hecht seines Lebens
an seinem Angelhaken landet.
Also hat er´s mit Brasilien versucht, war eine Zeit durchs Land gereist und hatte
sich dann in Salvador de Bahia im Norden des Landes in eine wunderschöne
dunkelhäutige Frau verliebt, mit der er ein halbes Jahr zusammen war (dabei zuckte er
kommentierend mit den Augenbrauen). Die Zeit hatten sie mit Sex und Kokain
totgeschlagen. Die beste Frau, die er je hatte, seufzte Lars Karlsson, pathetisch wie ein
seniler Greis, dessen letzte Erektion nur noch eine meilenweit zurückliegende
Erinnerung ist. Sie hatte ihm einen herzzerreißenden, in schlechtem Englisch verfassten
Abschiedsbrief hinterlassen, garniert mit drei feuchten Flecken, die ihre Tränen
darstellen sollten. Danach hatte er in Thailand Station gemacht und versucht, seine
dunkelhäutige Liebe und das Kokain durch Prostituierte und Opium zu ersetzen. Was,
so seine enttäuschte Bilanz, sich auch nicht als das Wahre erwiesen hatte. Es folgte
eine Zeit auf den Philippinen, bevor er sich in Asien herumtrieb, aber nur bis Japan kam,
das sich als viel zu teuer zur Aufrechterhaltung seiner bevorzugten Leidenschaften
erwies. Und so landete er schließlich in Amsterdam, allerdings auch da nur für kurze
Zeit, bis ihm das Geld ausging und er sich als Seemann verdingte, auf einem
Transportfrachter, der unter panamesischer Flagge Schüttgut verschiffte. Dreizehn
Jahre war er zur See gefahren, unter wechselnder Flagge, hatte den Erdball ein paar
Mal umrundet, jede Hafenkneipe zwischen Indien und Südamerika besucht, mit einer
anzuzweifeln hohen Zahl von Nutten geschlafen und war, nachdem er von allem die
Schnauze voll hatte, mit einem kleinen Guthaben in sein Dorf in Schweden
zurückgekehrt, wo er eine Wohnung mietete und sich wieder seiner alten Clique
anschloss. Was ihn schon bald ins Gefängnis brachte, aus Gründen, die er mir nicht
mitteilen wollte, und nach Beendigung seiner Haftstrafe ein Jahr später wusste er nicht
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mehr, wohin mit sich. Mittellos, ohne Arbeit, ohne Bleibe. Eine Weile war er bei seinem
inzwischen senilen und vom Alkohol zerfressenen, kranken Vater untergekrochen, aber
dann zog es ihn wieder fort, kreuz und quer durch Schweden, wenn es sich ergab, nahm
er einen Job an und lebte ansonsten bescheiden und zurückgezogen. In Norwegen war
er erst seit ein paar Monaten und er hatte keinen Plan, wie lange es ihn hier halten
würde, aber das schien ihn auch nicht weiter zu bekümmern. Das einzige, was ihn
bekümmerte, war sein Riesenpapagei, der sich diesen Sommer das Bein gebrochen
hatte, ohne dass er mitgekriegt hatte, wie das passiert war.
3. Meine künftige ehemalige Frau
Ungefähr in der Mitte des Sommers wollte Lars nach Schweden, seinen Vater
besuchen. In den zwei Wochen seiner Abwesenheit war ich für seinen Papagei
zuständig, dem sie inzwischen den Gipsverband vom Bein entfernt hatten. Der Papagei
war groß und weiß, sah aber nichtsdestotrotz seltsam schäbig und abgenutzt aus. Das
einzige, was er sagen konnte war „Hasta la vista... hasta la vista, baby“, und das in
einem so krächzenden Tonfall, dass man ihn kaum verstand. Muss ich dazu sagen,
dass der Papagei Terminator hieß?
Während Lars weg war, lernte ich Selma kennen, meine künftige Frau. Meine
künftige ehemalige Frau und Mutter eines Kindes, das vielleicht nicht einmal von mir ist.
Einander zur Kenntnis genommen hatten wir schon lange vorher, weil sie jeden
Tag um 12.15 Uhr die Fähre nach Gressholmen nahm, eine Insel voll von Kaninchen.
Konntest keinen Schritt machen, ohne in Hasenscheiße zu treten. Hordenweise wurden
da Kinder hingeschifft, um die fettgefressenen Nager zu füttern, während ihre Eltern in
der Inselkneipe, in der Selma kellnerte, dicke, trübe Bierkrüge leersoffen. Spätabends
fuhr sie dann zurück, aber nicht täglich. Ich hatte die Vermutung, dass sie manchmal auf
der Insel übernachtete. Selma war groß, größer als ich, hatte ein kantiges Gesicht mit
ausgeprägten Knochen und eine Jungsfrisur. Eigentlich wirkte sie mit ihren viel zu
langen Beinen und den Minibrüsten eher wie ein frühpubertärer fünfzehnjähriger Junge.
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Ihre kugelrunden braunen Augen lagen tief in ihren Wölbungen. Wenn sie ernst guckte,
wirkte sie irgendwie ausgelaugt, manchmal sogar fast bedrohlich, aber wenn sie lachte,
lachte sie mit dem ganzen Gesicht, mit den Augen und dem ganzen Körper. Dabei
lachte sie viel zu laut, ein fast schon übertrieben aufdringliches Meckern, und später
machte mir ihr neurotisch-explosives Gekicher, das mich an Pinocchio erinnerte, sogar
Angst. Aber am Anfang fand ich ihr Lächeln und ihren dicken, schmerzlich gedehnten
Mund attraktiv. Ganz zu schweigen von ihrem perfekten, fast nicht vorhandenen
mageren Minihintern.
Zuerst grüßten wir einander nur mit einem „Hallo“ oder indem wir uns zunickten.
Wenn ich sie anlächelte, lächelte sie entweder zurück oder ignorierte mich mit
gespitzten Lippen und übereinandergeschlagenen Beinen, wobei sie versuchte, cool
und sexy gleichzeitig zu wirken. Wenn sie wütend guckte, was auch manchmal vorkam,
zogen sich ihre knabenhaften Augenbrauen zusammen und auf ihrer Stirn trat eine
dunkelblaue hervor.
An einem dieser Tage, als Lars schon in Schweden war, kamen wir ins
Gespräch. Wir tauschten ein paar Banalitäten aus und dabei lachte sie laut und schlug
mir übermütig mit der Hand aufs Knie, als würden wir uns schon lange kennen. Ich
fragte sie, ob sie abends mit mir was trinken gehen würde. Worauf sie nicht antwortete.
Als ich vorschlug ich vor, wir könnten ja auch an einem anderen Tag etwas
unternehmen, ganz wie es ihr passte, kippte ihre Stimmung und sie verpasste mir mit
dem Zeigefinger einen Schlag ins Gesicht, wie einem ungezogenen Kind, nicht fest,
aber entschlossen. Ich solle sie so etwas nie wieder fragen. In den folgenden Tagen
grüßten wir einander nicht.
Aber eines Tages kam sie dann plötzlich lächelnd auf mich zu, aufgeregt und
schrill wie ein überdrehtes Kind oder eine hysterische Frau, so genau konnte ich das
nicht einschätzen. Jedenfalls lud sie mich ein, nach der Arbeit bei ihr in der Kneipe
etwas zu trinken.
Weil ich auch Lars' Schicht übernehmen musste, war es schon gegen zehn, als
ich auf Gressholmen abstieg. Auf meinem Weg zur Kneipe musste ich unentwegt
Kaninchen vertreiben, die ungezieferartig aus dem Gebüsch hervorquollen. Kaum hatte
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sie mich erkannt, nahm sie ihre Schürze ab und wir setzten uns an einen Tisch in der
Ecke. Sie holte uns zwei Bier von der Theke. Gelegentlich tauchte ihr Chef auf, um die
Gäste zu bedienen. Er war um die fünfzig, sechzig Jahre alt, groß, schlank und wirkte
ziemlich jugendlich. Mit seinem Bart sah er ein bisschen wie Sean Connery aus. Es
missfiel ihm ganz offensichtlich, dass sie bei mir saß, und irgendwann stand er vor uns
und forderte sie mit väterlicher, autoritärer Stimme auf, ihm zu helfen, er müsse das
Essen vorbereiten und jemand müsse ja die Gäste bedienen.
- Verfick dich, Alter, siehst du nicht, dass ich Besuch habe? – der Ton, den sie
ihm gegenüber anschlug, war ziemlich intim.
Das war mir unangenehm und ich bot an, zu gehen, wo doch in der Kneipe so
viel los sei.
- Und wohin willst du gehen? Wie willst du in die Stadt kommen? Sigi kann dich
später mit dem Motorboot mitnehmen, stimmt doch, Sigi? – ihre Stimme klang meckernd
und provokativ.
Sigi seufzte resigniert und ging in die Küche zurück. Im Befehlston rief sie ihm
hinterher, uns noch zwei Bier und etwas zu essen zu bringen.
Später, kurz vor Sonnenuntergang, knapp vor Mitternacht, brachte uns der
Kneipenpächter, ich nennen ihn jetzt selber Sigi, weil Selma ihn so genannt hatte,
obwohl er eigentlich Harald heißt, mit seinem Motorboot in die Stadt. Selma und ich
waren betrunken und klammerten uns aneinander, als wir aus dem Boot stiegen. Ich
bedankte mich bei Harald für die Überfahrt, worauf mich Selma am Arm packte und das
Ufer entlang zerrte.
Harald, also Sigi, verschwand Richtung Insel. Als ich mich umdrehte, sah ich die
Sonne untergehen. Sie versank im Meer wie mein schlechtes Gewissen. Ich spürte, wie
Selma ihre Schritte mit meinen in Einklang brachte und wusste, dass jetzt alles vorbei
war.
Schnell tranken wir noch ein paar Tequila auf einer Terrasse an der Aker Brygge,
dann fiel mir ein, dass ich den Papagei füttern musste und ich lud sie ein, mitzukommen.
Als wir in meinem Zimmer ankamen, merkte sie verächtlich an, der Papagei habe
Nahrung und Wasser für mindestens zwei Tage. Sie überredete mich, ihn aus dem Käfig
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zu lassen. Terminator flatterte mit den Flügeln und stürzte sich wie ein Kamikaze auf
unsere Köpfe. Dabei krächzte er sein metallisches „Hasta la vista, baby, hasta la vista...
hasta... hastaaaa...“ Wir jagten ihn quer durchs ganze Zimmer und da ich mich dabei
ziemlich ungeschickt anstellte, habe ich wohl sein Bein etwas zu heftig gedrückt. Als er
wieder in seinem Käfig war, stand er jedenfalls nur noch auf einem Bein und hinkte
sichtlich, wenn er das Bein zu wechseln versuchte. In der tierärztlichen Notaufnahme
stellte sich dann aber anhand der Röntgenaufnahme heraus, dass das Bein in Ordnung
war. Der Tierarzt, ein schnurrbärtiger Mann im weißen Kittel, gab und ernsthaft die
Erklärung mit auf den Weg, dass ihm das Bein vermutlich noch wehtäte, nach der
langen Zeit im Gips. Streng ermahnte er uns, künftig besser auf ihn aufzupassen. Als wir
die Tierklinik verließen, küsste mich Selma zum ersten Mal. Ich hätte dem Papagei
beide Beine brechen können.
4. Vergiss die Aktion, Lars
Lars kehrte direkt zur Nachmittagsschicht aus Schweden zurück. Er wirkte müde
und erschöpft. Seine Pupillen waren fast nicht zu erkennen. Ich hätte ihm gerne von
meinem frischen Liebesglück erzählt, den Teil mit dem Papagei hätte ich natürlich
ausgelassen, aber er war in keiner Verfassung, mir zuzuhören.
In den nächsten Wochen änderte sich daran nicht viel. Lars kam mit verengten
Pupillen zur Arbeit und saß unbeteiligt am Heck.
Manchmal machte er kurz die Augen zu und sein Kopf senkte sich unkontrolliert
auf die Brust, dann schreckte er kurz hoch, blickte um sich und schlummerte wieder ein.
Von Zeit zu Zeit rauchte er eine Zigarette, kam zu mir an den Bug und begann ein
Gespräch, das weder Anfang noch Ende hatte und ebenso sinnlos war. Dann fingen
unvermittelt seine Knie zu zittern an und er ging zurück ans Heck. Seine weiße Uniform
wurde immer schmutziger. Er nahm immer mehr Geld aus der Kasse, ohne dabei
Fahrkarten zu verkaufen. Das hatten wir früher zwar auch gemacht, uns dabei aber
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Grenzen gesetzt. Er rief mich nie zu sich, so dass ich meine Freizeit hauptsächlich in
Selmas Gesellschaft verbrachte.
An einem verregneten Tag, als meine Schicht um war und mit großen Schritten
über den Anlegeplatz Vippetangen hastete, rief er nach mir und kam auf mich zu. Wir
liefen unter dem Vordach, das den Warteplatz für unsere Passagiere überdachte, die
Mole entlang. Er legte mir den Arm um die Schulter und flüsterte mir mit gedämpfter,
geheimnisvoller Stimme ins Ohr, ob ich Lust auf eine Chose hätte.
- Was für eine Chose? – ich stellte mich dumm.
- Eine Chose, die uns Geld einbringen wird, verstehst du? So eine Chose.
Ich hielt an, schob seinen Arm von meiner Schulter und sagte:
- Vergiss die Chose, Lars.
Ich ging in den Sommerregen hinaus und ließ ihn zurück.
5. Beim nächsten Mal fliegst du
Lars ließ nicht locker. Einige Male kam er noch mit irgendwelchen Chosen an. Als
ich ihm Mitte Herbst, es war einer von diesen kurzen, nordischen Herbsten, mitteilte,
dass Selma und ich beabsichtigten, nach unserer Hochzeit auf den Balkan zu fahren,
hatte er kurz eine neue Idee. Ob es dort unten noch Waffen gäbe, wollte er wissen. Mir
wurde klar, dass er jetzt wirklich von allen guten Geistern verlassen war. Davon,
erwiderte ich, hätte ich keine Ahnung. – Du bist ein echtes Arschloch! – stieß er hervor.
Ich redete auf ihn ein wie auf ein Kind, um ihm klar zu machen, dass ich kein
Interesse hatte und auch er sich da besser raushalten sollte. Selbst wenn die Idee an
sich nicht schlecht sei, versuchte ich ihm zu schmeicheln, hätte ich schlichtweg keine
Lust, wieder im Gefängnis zu landen. Bei der nächsten Dummheit, vertraute ich ihm an,
drohte mir die Abschiebung.
Ich hatte da Erfahrung mit, vor ein paar Jahren, als ich noch mit Sara zusammen
war und in einem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim lebte. Ich arbeitete in einem
kleinen Unternehmen, für das ich Software-CDs für den Versand verpackte. Ich hatte
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rund fünfzig Multimedia-CDs mit Programmen zum Fremdsprachenerwerb geklaut und
die ganze Uni mit Anzeigen zugekleistert, in denen ich die CDs zu einem dreimal
niedrigeren Preis anbot, und zwar unter meinem vollständigen Namen und meiner
Telefonnummer. Natürlich gehörten die Autoren dieser Programme zur Fakultät und
kriegten meine Anzeigen natürlich zu Gesicht, sie hingen ja überall rum. Sie schöpften
natürlich Verdacht, denn die CDs standen noch gar nicht zum Verkauf. Also erkundigten
sie sich bei der Firma, für die ich arbeitete, dort schaltete man die Polizei ein und die
stellte mir eine Falle. Dabei hatte ich erst drei CDs verkaufen können. Insgesamt fünf
Polizeibeamte, die zwei Zivilpolizisten, die die Lockvögel gespielt hatten, sowie zwei
Kollegen und eine Kollegin, durchsuchten mein 12-Quadratmeter-Zimmer und fanden
neben den restlichen CDs und etwas Dope. Die Polizistin, optisch eher nicht mein Fall,
aber ziemlich sexy in ihrer Uniform, fand meine ziemlich umfangreiche und nicht ganz
harmlose Pornosammlung. Sie warf nur einen kurzen Blick darauf, bevor sie sie zurück
in die Schublade legte.
Im Polizeiauto saß sie neben mir auf der Rückbank. Die Idee mit den CDs sei ja
nicht von schlechten Eltern.
- Du wärst ein guter Verkäufer – sagte sie lächelnd.
- Und du ein guter Pornostar – dachte ich hinterhältig. Und zwar in deiner
Sommeruniform.
Der korpulente ergraute Polizist, der auf der Polizeiwache meine Personalien
aufnahm, war ziemlich erstaunt, als er hörte, dass es sich um meine erste Verhaftung
handelte.
- Keine Sorge – ergänzte er und verzog die Oberlippe, während er mit den
Zeigefingern auf die Tastatur eindrosch – das bleibt garantiert nicht das letzte Mal. Und
beim nächsten Mal fliegst du... ha, ha...
Als ich Lars davon erzählt hatte, musste er aufrichtig lachen. Für solche Dinge, so
seine Einschätzung, sei ich viel zu planlos, und das sei mir anzusehen.
Was in mir die Frage aufwarf, warum er mich dann die ganze Zeit für
irgendwelche Chosen rekrutieren wollte, sprach es aber genauso wenig aus wie meinen
mitleidigen Gedanken, Du bist auch nicht gerade der größte Lebenskünstler.
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Immer, wenn ich versuchte, mehr über seine Knastgeschichten aus Lars
rauszuquetschen, winkte er nur ab, das sei nicht der Rede wert. Man habe ihn wegen
Erregung öffentlichen Ärgernisses und tätlichen Angriffs auf eine Dienstperson
eingesperrt. Natürlich völlig zu unrecht. Er habe sich nichts zuschulden kommen lassen,
für das man eingesperrt gehöre.
Ich lachte und bedrängte ihn, mir doch wenigstens ein paar Details zu berichten,
aber er hüllte sich in unerbittliches Schweigen.
Ich bin unschuldig, komplett unschuldig – beteuerte er.
Ich guckte auf seine verengten Pupillen und glaubte ihm kein Wort. Ich kam mir
vor wie Karadjos, der Gefängnisdirektor aus Ivo Andrićs „Der verdammte Hof“. Niemand
ist unschuldig.
Ich musste an Onkel Alija denken, von dem meine Mutter immer behauptet hatte,
dass er „völlig unschuldig im Gefängnis saß“.
6. Der verfluchte Alija
Am Abend war eine Gruppe von Jägern auf der Rückkehr von der Jagd an Alijas
Haus vorbeigekommen und Alijas Hund hatte angefangen zu bellen. Und wer weiß,
vielleicht war es Leichtsinn, vielleicht Enttäuschung, weil sie an dem Tag nichts erlegt
hatten, jedenfalls feuerte die Jagdgesellschaft ein Paar Schüsse ab und erschoss dabei
Alijas Hofhund. Als Alija aus dem Haus gestürzt kam, bot sich ihm natürlich ein schöner
Anblick: sein Hund, nur noch mit dem linken Hinterbein zuckend, auf ihn gerichtet
Gewehre, aus denen noch Rauch aufstieg. Alija, aufbrausend wie er war, wollte auf sie
losgehen, aber sie stießen ihn weg und richteten ihre Gewehre auf ihn. Daraufhin waren
Alija die Tränen aus den Augen geschossen und er fing an, sie ohnmächtig zu
verfluchen. Der Vater von einem der Jäger hieß Kita, wobei man ihn im Dorf eigentlich
nur so nannte, weil er mit Nachnamen Kitić hieß. Jedenfalls verfluchte Alija diesen Kita
mehrmals, bis die Jagdgesellschaft den Bach überquerte und kichernd und schreiend
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die Dorfstraße entlang lief. Als Alija zur Polizei ging, um den Vorfall anzuzeigen, wurde
er verhaftet, weil er angeblich Tito verflucht hatte. Kitas Sohn hatte ihn angezeigt.
- Du hast keine Chance – betonte meine Mutter. – Alija hat ja versucht, ihnen zu
erklären, dass er nicht Tito, sondern Kita verflucht hat, aber die Polizei hat das völlig
ungerührt gelassen. Schließlich ist es ja viel schwerwiegender, Tito zu verfluchen, als
wenn jemand deinen Hund totschießt. Als Alija nicht aufgehört hat zu beteuern, dass er
nichts getan habe, widersprachen sie ihm, das habe er wohl, und schlugen auf ihn ein,
bis Alija endlich gestand: ja, ich habe es getan, soll Tito euch doch alle ficken! Und
damit war ihm ein halbes Jahr Gefängnis sicher. Mit der Polizei ist nicht zu spaßen –
beendete meine Mutter ihre Version der Geschichte.
Mein Großvater hingegen hielt das für Unsinn und behauptete, es habe sich alles
habe sich ganz anders zugetragen.
- Was erzählst du denn da, von wegen er hätte Tito verflucht! – griff er meine
Mutter an. – Klar, stimmt schon, dass sie seinen Köter erschossen haben, aber Alija war
zu dem Zeitpunkt gar nicht zu Hause. Als er das spitzgekriegt hat, hat er sie der Reihe
nach verdroschen. Einen, den Sohn von diesem Kita, den man auch Kita nannte, hat er
in Agans Kneipe so zusammengeschlagen, dass er ins Krankenhaus musste.
Deswegen ist Alija in Knast gelandet.
- Sie haben seinen Köter totgeschossen – so ging die Version meines Großvaters
– weil er sie angegriffen hat und aus Schiss haben sie dann angefangen zu schießen. -
Da habt ihr eure Geschichte, von wegen Tito, das hättet ihr wohl alle nur gerne?
7. Hasta la vista, Lars
Als Selma und ich vom Balkan zurückkamen, war Lars nicht mehr da. Mein
garstiger Chef bedachte mich mit einem verächtlichen Blick und sagte, Leute wie Lars
hätten auf seiner Fähre nichts verloren. Ich musste ihm zustimmen. Lars sei übermüdet
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und verkatert zur Schicht erschienen und habe beim Fahrscheinverkauf Geld
unterschlagen. Also habe er ihm gekündigt und mit einer Anzeige gedroht.
- Wer weiß – stieß er böswillig nach – Vielleicht hat er auch Drogen genommen.
- Vielleicht – sagte ich vage.
Ich habe nie erfahren, was aus Lars geworden ist. Als ich ihn auf dem Handy zu
erreichen versuchte, war es ausgeschaltet. Also fuhr ich am nächsten Tag mit der U-
Bahn bis nach Lysaker, dem Vorort, in dem Lars im Erdgeschoss eines Hauses bei
Vidar und Heidi wohnte, einem ewig zugekifften Paar, von denen ich ab und zu mein
Dope bezog.
Ich versuchte es zuerst bei den beiden und als sie mir aufgemacht hatten, gingen
wir erstmal rein und rauchten einen Joint, bevor wir anfingen, uns zu unterhalten.
Seien schon ein paar Tage, seit sie Lars das letzte Mal gesehen hatten, aber wie
viele, konnten sie nicht sagen. Das letzte Mal sei er bei ihnen gewesen, um zu kotzen,
sagte Heidi und reichte mir die Wasserpfeife.
Nein, an seine Tür hätten sie nicht geklopft, er hätte sich doch gemeldet, wenn er
da gewesen wäre.
Wir gingen alle drei zu seiner Tür. Vidar hatte einen Schlüssel, aber die Tür war
nicht abgeschlossen.
Drinnen war es dunkel, stickig und leer. Plötzlich ertönte eine krächzende
Stimme: „Hasta la vista, baby, hasta la vista...“
Einbeinig stand der Papagei auf dem Schrank und taxierte uns mit eisigen
Blicken. An seinem Käfig hing etwas. Ich trat näher, um es mir anzugucken, ein Foto,
aber im Dunkeln konnte ich nicht erkennen, wer drauf war. Ich steckte es ein und ging
zur Tür.
Es war ein Foto, das ich geschossen habe, als Lars und ich mit dem Kanu nach
Brjornsjoen gefahren waren und dort übernachtet hatten. Lars war aus dem Foto
herausgeschnitten. Ich drehte das Bild um.
Auf der Rückseite stand: „Hokahe“.
Bekim Sejranovic: Nirgendwo, nirgendher. Auszug.
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„Bekim Sejranovićs Roman kann sowohl zeitgenössischer Roman als auch als
Handbuch eines Flüchtlingsdaseins gelesen werden. Vertrieben aus einer Sprache in
eine andere, aus Bosnien nach Kroatien, aus Rijeka nach Oslo, aus dem „Palach“ ins
Gefängnis für illegale Einwanderer, aus dem Leben in Formulare, aus der Zivilisation in
die Wildnis des hohen Nordens, aus der Kindheit in keineswegs gastfreundlichere
Landschaften des Erwachsenseins – die Helden diese Buches kommen tatsächlich
nirgendwo an und nirgendwo her, während die (keineswegs zufälligen) Verse der
Rockband „Let 3“ aus Rijeka zu einem Titel werden, der ihre Reiseroute, ihre
gegenwärtige Position, die Welt, in der sie leben, aber auch jene, aus der sie gekommen
sind, auf präzise Weise beschreibt.
Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das, wo sie herkommen, nicht mehr existiert,
während jenes, wo sie angekommen sind, zwar auf Landkarten zu finden ist, aber
keinerlei Bedeutung hat. Nirgendwo, von nirgendwo her, weil das Ziel kein Ort ist, an
dem man sich ausruhen könnte und der Weg hierher auch keine Reise war. Aber Bekim
Sejranović lässt sich von dieser Last nicht brechen – inmitten all dieser Widersprüche
(und vielleicht auch ihnen zum Trotz) bleibt sein Buch ein warmer, frischer,
aussagekräftiger und lebendiger Roman, wie wir sie nicht oft zu lesen bekommen.“
Boris Perić