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Segmentelle und Suprasegmentelle Phänomene europäischer Sprachen
Akustische Analysen gesprochener Korpora
Oliver Niebuhr
Probevortrag im Rahmen der W1-Juniorprofessur zur “Analyse gesprochener Sprache”
Kiel, den 09.12.2008
Warum ist der Titel des Vortrags so lang?• Ganz einfach, weil er ein Programm repräsentiert.• Die phonetischen Module
– in einem Studiengang „Empirische Sprachwissenschaft“• müssen eine Vorstellung von den suprasegmentellen und den segmentellen
Phänomenen in Sprachen vermitteln• sowie von deren Verbindungen untereinander und mit der linguistischen Struktur• auf experimentell-phonetischer Grundlage (Akustik und Perzeption)• ausgehend von der deutschen Muttersprache der Studierenden• aber mit Bezug zu anderen europäischen und außereuropäischen Philologien• und neuesten Forschungsergebnissen
– in einem Studiengang „Sprachdokumentation und Korpuslinguistik“• ist zu vermitteln, wie Sprachkorpora erstellt werden können,• wie Korpora in die Erforschung sprachlicher Phänomene eingebunden werden
müssen• und wie Sprache phonetisch beschrieben, analysiert und manipuliert werden kann
Warum ist der Titel des Vortrags so lang?• Der heutige Vortrag gibt einen kleinen Einblick in dieses
Programm• anhand dreier Themenbereiche, die unterschiedlich stark durch
segmentelle und suprasegmentelle Phänomene geprägt sind
segmentell suprasegmentell
Assimilation
Reduktion schwacherFormen
Emphase
Assimilation
kann
dasschaffen
bis
Samstag
sch m
zurück(velar) //
zurück(postalveolar) //
mit Lippen(bilabial)
• Assimilation: phonologischer Prozess, bei dem ein Element (Phonem bzw. ein Lautmerkmal) gegen ein benachbartes Element ausgetauscht wird.
– Im Deutschen finden wir z.B. eine zeitlich nach hinten gerichtete (regressive) Assimilation des Artikulationsortes
• Assimilation ist ein Unterphänomen der Reduktion, die sich auf die Aussprache von Wörtern relativ zu kanonischen Zitierformen bezieht.
Man
N
Assimilation• Assimilation gibt es auch in anderen Sprachen
Englisch verhält sich bzgl. des Artikulationsortes ähnlich wie das Deutsche
Im Französischen hingegen soll keine vergleichbare Assimilation stattfinden.
• Ansatzpunkt der akustischen Untersuchung von Niebuhr et al. (2008)
• Ausgehend von Beobachtungen in spontansprachlichen Korpora
zurück(velar)
zurück(postalveolar, //)
„Have you seen Barbara‘s shoes ?“m sh
Assimilation• Zum Französischen: der CID (= „Corpus of Interaction Data“) von
Bertrand et al. (2007)– 8 ein-stündige, überlappende Dialoge zu frei gewählten Themen von
befreundeten Gesprächspartnern
Assimilation• Beobachtungen aus dem CID
wie in „schaffen bis“ und „seen Barbara‘s“
wie in „das schaffen“ und „Barbara‘s shoes“
Aber auch: „...l‘avantage c‘est...“„je passe chez lui...“
„...une bonne expérience...“
nm
s
s
(„...eine gute Erfahrung“)
(„ich komm‘ bei ihm vorbei...“) („...der Vorteil ist“)
Assimilation• Ausgehend von diesen spontansprachlichen Beobachtungen:
– Systematische akustische Analyse mittels gezielt erhobener, kontrolliert zusammengestellter lesesprachlicher Daten
– Im Fokus: Verbindungen aus Sibilanten (z.B. /s/, //)
Aber: Die vorgegebenen Monologtexte wurden in kommunika-tivem Rahmen produziert unterstützt spontansprachliches Verhalten der Versuchspersonen
– Monologe trainiert– gegenüber befreundetem Ansprechpartner realisiert– im Kontrast zu langsamer, überartikulierter Laborsprache produziert,
mit expliziter Instruktion, umgangssprachlich zu klingen.
Assimilation• Ergebnisse:
– Klare Evidenz für Assimilation d. Artikulationsortes im Französischen– Anders als im Deutschen und Englischen regressiv und progressiv – Zielqualität: Postalveolar []
Aber: Die assimilierten Sibilantenverbindungen können sich von tatsächlichen // Verbindungen unterscheiden.
Die Assimilation ist nicht immer vollständig.
C‘est une classe chargeé Tu te couches sous l‘drap
s
s
(„Das ist eine volle Klasse“)
(„Du schläfst unter der Decke“)
Assimilation
• Die Befunde decken sich mit den Beobachtungen aus dem CID
[ss][]
/s/ assimiliert
Perspektive für Korpusanalysen• Die Forschungsarbeit ist ein gutes Beispiel für Erkenntnisgewinn
durch die Arbeit mit gesprochenen Korpora.• Spiralförmige Progression:
Spontansprache:Großes Spektrum an Phä-
nomen bei geringer Kontrollevon Einflussfaktoren
Beobachtungund
Hypothese
Gezielt erhobeneLesesprache
mit konstanten und variablen(exp.) Faktoren
Akustische Analyseund deren (statistische)
Auswertung und Interpreration, Gefahr von Artefakten
Überprüfun
gdurch
Rüc
kbe
zug
Val
iditä
t
Forc. spont. Verhaltens
d. inform., komm. Rahmen
Starke Reduktionen in schwachen Formen• Die teilweise Assimilation aus Niebuhr et al. (2008) zeigt auch:
Assimilation ist nicht einfach Austausch von Phonemen oder phonologischen Merkmalen
• Dieses rein segmentelle Konzept wird noch deutlicher durch extreme Reduktionen infrage gestellt, vgl. ‘Schwache Formen’ (weak forms), z.B. Pronomen, Hilfsverben, Artikel, Adverbien.
• Beispiel aus dem Kiel Corpus of Spontaneous Speech, behandelt in Niebuhr (2008):
Das ist eigentlich eine gute SacheDas ist eigentlich ‘ne gute Sache
??
Suprasegmentelle Nasalierungdes Diphthongs ersetztNasalsegment (/n/)
Lokale Dehnung und extremere Artikulation des vorderen Zielpunktes[] im Diphthong ersetzt global vordere Artikulation in „gentlich“
Starke Reduktionen in schwachen Formen• Auch das holländische Pendant zum deutschen “eigentlich”,
“eigenlijk”, kann in spontaner Sprache stark reduziert werden.– anderer Ausgangspunkt als im Deutschen []– anderer Endpunkt der starken Reduktion []
Das ist eigentlich eine gute IdeeDas ist eigentlich eine gute Sache
Suprasegmentelle Nasalierungdes Diphthongs ersetztNasalsegment (/n/)
Lokale Dehnung und extremere Artikulation des vorderen Zielpunktes[] im Diphthong ersetzt global vordere Artikulation in „gentlich“
Keine Nasalierung, weilkein Nasal reduziert wurde
Folgende, reduzierte Lautsequenz = global hintere Artikulation; wiedergegebenin Unterdrückung des vorderen Zielpunktes und Absenkung des Diphthongs
eigenlijkZe vonden het wel nou ja als je dat eerder afgesproken hebt
Starke Reduktionen in schwachen Formen• Gründe für derart extreme Reduktionen:
– gut erforscht und sprachübergreifend• Ökonomie: Spare so viel Energie wie möglich, ohne unverständlich zu
werden (allg.-biologisches Prinzip)• Auftretenshäufigkeit, geringer semantischer Beitrag schwacher Formen
– kaum berücksichtigt und sprachspezifisch• Erzeugung von Rhythmizität (Deutsch, Englisch, nicht Französisch)• Reduktion hat attitudinale Bedeutung
Das ist eigentlich eine gute Ideeeine gute Sache
Suprasegmentelle Nasalierungdes Diphthongs ersetztNasalsegment (/n/)
Lokale Dehnung und extremere Artikulation des vorderen Zielpunktes[] im Diphthong ersetzt global vordere Artikulation in „gentlich ei“
Gumo Gupm mog Guten mooog
Das ist eigentlich
Emphase• Akustisch-funktionale Analysen zum Deutschen• auf Basis der zuvor dargestellten Erkenntnisspirale aus
spontansprachlichen und lesesprachlichen Korpora durchgeführt 2 Emphasekategorien (Niebuhr 2007)
Positive Verstärkung negative Verstärkung„still“
Emphase
Positive Verstärkung negative Verstärkung„still“
[ ]
[]
[][] [ ]
[]
[][]
- Langer Akzentvokal, kurzer Onset - Kurzer Akzentvokal, langer Onset- breiter, hoch steigender Tonhöhengipfel - schneller, tiefer Tonhöhenfall- behauchte Stimme - raue, unregelmäßige Stimme
Emphase• Anders als bei der Assimilation vergleichbare Ausprägung über
Sprachen hinweg. – Deutsch:– Englisch:– Italienisch:
Weniger arbiträre, mehr biologisch-indexikalische Kodierungsgrundlage
• Ähnliches gilt für die Emotion, den nächsten Schritt in Richtung suprasegmentell
• Es gibt Anzeichen dafür, dass die positive und negative Emphase auch Auftreten und Stärke von Assimilationen beeinflusst.
– “Guten morgen” und “Gupm morgen”
„it stinks“
„puzza“
„...still“
Zusammengefasst:• Wie untersuche, analysiere und erkläre ich
gesprochene Sprache?– Durch ein Aufeinanderbeziehen von lese- und spontansprachlichen
Daten– Durch ein Aufeinanderbeziehen von segmentellen und
suprasegmentellen Phänomenen– Mit stetigem Blick auf die kommunikative Relevanz/Bedeutung der
Phänomene– Unter Zuhilfenahme phonologischer Konzepte und Konstrukte, bei
gleicherzeitiger Kenntnis von deren Grenzen auf phonetischer und kognitiver Ebene
– Mit der Einordnung der Phänomene in einen linguistischen, sprachübergreifenden Rahmen
ASSIMILATIONNiebuhr, O., Lancia, L., Meunier, Ch. (2008) On place assimilation in French sibilant sequences. Proc. of the 8th ISSP, Strasbourg, France.
Bertrand, R., Blache, Ph., Espesser, R. (2007). CID: Corpus of Interaction Data. TIPA 25, 25-55.
Siehe auch:Kohler, K.J. (1995). Einführung in die Phonetik des Deutschen. Berlin: Erich Schmidt
REDUKTIONNiebuhr, O. (2008) Phonetic Detail in the Identification of Highly Reduced utterances. First Nijmegen Speech ReductionWorkshop am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik, Nijmegen, Holland.
Siehe auch:Ernestus, M. (2000). Voice assimilation and segmental reduction in Dutch. PhD dissertation,University of Utrecht, The Netherlands.
Lindblom, B. (1990). Explaining phonetic variation: A sketch of the H&H theory. In W. Hardcastle & A. Marchal (Hrsg.), Speech production and speech modelling (pp. 403-439). Dordrecht: Kluwer.
Wesener, T. (2001). Some non-sequential phenomena in German function words. Journal ofthe International Phonetic Association 31, 17-27.
EMPHASENiebuhr, O. (2007). Audio examples of emphasis categories in German. www.ipds.unikiel.de/on/Emph07.html
Siehe auch:Armstrong, L.E. & Ward, I.C. (1926). A Handbook of English Intonation. Cambridge: Heffer.
Coustenoble, H.N. & Armstrong, L.E. (1934). Studies in French Intonation. Cambridge: Heffer.