Schwarz-Chur Gross AB2

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1 Einführung in die deutsche Linguistik II Arbeitsblatt 2 Aspekte der Wortsemantik "Wie geht's?" sagte ein Blinder zu einem Lahmen. "Wie Sie sehen", antwortete der Lahme. (Lichtenberg) Fragen zum Text: 1. Was sind semantische Felder und wie werden sie organisiert? 2. Was sind semantische Merkmale? Was sind ihre Eigenschaften? 3. Wie kann man erkennen, ob ein Merkmal ein Sem ist? 4. Woher kommt das Konzept von semantischen Merkmalen?? 1. Semantische Felder (aus: Schwarz / Chur 1996 S. 60-64, gekürzt) Die Bedeutungen von Wörtern sind im mentalen Lexikon nicht isoliert abgespeichert, sondern stehen in vielfältigen Relationen zu den Bedeutungen anderer Wörter. Viele Wörter unserer Sprache lassen sich aufgrund dieser Verbindungen bestimmten globalen semantischen Organisationseinheiten, den Wortfeldern (semantischen Feldern / Bedeutungsfeldern) zuordnen. Unser semantisches Gedächtnis ist in vielfältige Bedeutungsfelder gegliedert. Ein solches Feld umfasst eine Reihe von Wörtern, die sich inhaltlich ähnlich sind, d.h. gemeinsame semantische Merkmale besitzen und die einen gemeinsamen Referenzbereich haben. So bilden beispielsweise rot, blau, grün, gelb, schwarz, weiβ, rosa, lila usw. das Feld der Farbnamen, Kiwi, Traube, Nektarine usw. das Feld der Obstnamen, kochen, backen, braten, sieden usw. das Feld der Kochverben. Allgemein wird unter einem Wortfeld eine Menge von Wörtern verstanden, die zueinander in einer paradigmatischen Relation stehen. Alle Wörter gehören der gleichen Wortklasse an. Wortfelder stellen also lexikalische Paradigmen dar. In der klassischen Wortfeldtheorie ging man davon aus, dass ein Wortfeld wie ein Mosaik lückenlos zusammengesetzt ist und einen Bereich der Wirklichkeit sprachlich widerspiegelt. Man kann aber bei näherer Betrachtung schnell feststellen, dass Wortfelder nicht alle Aspekte eines Realitätsbereichs sprachlich abdecken und Lücken aufweisen. Sind im Langzeitgedächtnis (LZG) nur solche homogenen, nach Wortart geordneten Felder abgespeichert? Offensichtlich nicht, denn Assoziationsexperimente deuten daraufhin, dass auch semantisch ähnliche Wörter unterschiedlicher Wortarten eng miteinander verknüpft abgespeichert sind. So bilden Hund und bellen, Haar und blond, Auto und fahren enge Beziehungen, ebenso verhält es sich mit Nacht und dunkel, Gras und grün, Sonne und hell usw. Auch kann man sich an einigen Beispielen schnell klar machen, dass bestimmte semantische Wissensbereiche Wörter unterschiedlicher Kategorien umfassen (vgl. Weihnachten, Ferien, Vorlesung usw.). Diese komplexen Wissensstrukturen speichern Informationen über bestimmtes Lebens- bzw. Erfahrungsbereiche im LZG ab. 2. Semantische Merkmale (aus: Schwarz / Chur 1996 S. 37-42, gekürzt) Bei dem Versuch, Bedeutungen zu beschreiben, stößt man auf eine in der linguistischen Semantik weit verbreitete Hypothese: die Merkmalhypothese. Dieser Hypothese liegt die Vorstellung zugrunde, dass Bedeutungen keine ganzheitlichen, nicht weiter zu analysierenden Einheiten sind, sondern sich aus elementaren Inhaltselementen, den semantischen Merkmalen (auch: Seme oder Komponenten) zusammensetzen. Wir können die Bedeutung eines Wortes in eine Reihe von Teilbedeutungen zerlegen. Ein einfaches Bei- spiel: Die Bedeutung von Frau lässt sich aufteilen in (LEBENDIG, MENSCHLICH, WEIBLICH, ERWACHSEN). Bedeutungen wird damit eine innere Struktur zugesprochen, die als Merkmalbündel repräsentiert werden können. Die Kombination bestimmter Merkmale konstituiert also die Bedeutung eines Wortes. Semantische Merkmale haben distinktive Funktionen, d.h. sie grenzen Wortbedeutungen voneinander ab. Durch das Merkmal (LEBENDIG) wird die Bedeutung von Frau beispielsweise von Frauenstatue abgegrenzt.

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Einführung in die deutsche Linguistik II – Arbeitsblatt 2 – Aspekte der Wortsemantik

"Wie geht's?" sagte ein Blinder zu einem Lahmen. "Wie Sie sehen", antwortete der Lahme. (Lichtenberg)

Fragen zum Text:

1. Was sind semantische Felder und wie werden sie organisiert? 2. Was sind semantische Merkmale? Was sind ihre Eigenschaften? 3. Wie kann man erkennen, ob ein Merkmal ein Sem ist? 4. Woher kommt das Konzept von semantischen Merkmalen??

1. Semantische Felder (aus: Schwarz / Chur 1996 – S. 60-64, gekürzt)

Die Bedeutungen von Wörtern sind im mentalen Lexikon nicht isoliert abgespeichert, sondern stehen in

vielfältigen Relationen zu den Bedeutungen anderer Wörter. Viele Wörter unserer Sprache lassen sich

aufgrund dieser Verbindungen bestimmten globalen semantischen Organisationseinheiten, den

Wortfeldern (semantischen Feldern / Bedeutungsfeldern) zuordnen. Unser semantisches Gedächtnis ist

in vielfältige Bedeutungsfelder gegliedert. Ein solches Feld umfasst eine Reihe von Wörtern, die sich

inhaltlich ähnlich sind, d.h. gemeinsame semantische Merkmale besitzen und die einen gemeinsamen

Referenzbereich haben. So bilden beispielsweise rot, blau, grün, gelb, schwarz, weiβ, rosa, lila usw. das Feld der

Farbnamen, Kiwi, Traube, Nektarine usw. das Feld der Obstnamen, kochen, backen, braten, sieden usw. das

Feld der Kochverben.

Allgemein wird unter einem Wortfeld eine Menge von Wörtern verstanden, die zueinander in einer

paradigmatischen Relation stehen. Alle Wörter gehören der gleichen Wortklasse an. Wortfelder stellen

also lexikalische Paradigmen dar. In der klassischen Wortfeldtheorie ging man davon aus, dass ein Wortfeld

wie ein Mosaik lückenlos zusammengesetzt ist und einen Bereich der Wirklichkeit sprachlich widerspiegelt.

Man kann aber bei näherer Betrachtung schnell feststellen, dass Wortfelder nicht alle Aspekte eines

Realitätsbereichs sprachlich abdecken und Lücken aufweisen.

Sind im Langzeitgedächtnis (LZG) nur solche homogenen, nach Wortart geordneten Felder

abgespeichert? Offensichtlich nicht, denn Assoziationsexperimente deuten daraufhin, dass auch

semantisch ähnliche Wörter unterschiedlicher Wortarten eng miteinander verknüpft abgespeichert sind. So

bilden Hund und bellen, Haar und blond, Auto und fahren enge Beziehungen, ebenso verhält es sich mit

Nacht und dunkel, Gras und grün, Sonne und hell usw. Auch kann man sich an einigen Beispielen schnell

klar machen, dass bestimmte semantische Wissensbereiche Wörter unterschiedlicher Kategorien

umfassen (vgl. Weihnachten, Ferien, Vorlesung usw.). Diese komplexen Wissensstrukturen speichern

Informationen über bestimmtes Lebens- bzw. Erfahrungsbereiche im LZG ab.

2. Semantische Merkmale (aus: Schwarz / Chur 1996 – S. 37-42, gekürzt) Bei dem Versuch, Bedeutungen zu beschreiben, stößt man auf eine in der linguistischen Semantik weit

verbreitete Hypothese: die Merkmalhypothese. Dieser Hypothese liegt die Vorstellung zugrunde, dass

Bedeutungen keine ganzheitlichen, nicht weiter zu analysierenden Einheiten sind, sondern sich aus

elementaren Inhaltselementen, den semantischen Merkmalen (auch: Seme oder Komponenten)

zusammensetzen.

Wir können die Bedeutung eines Wortes in eine Reihe von Teilbedeutungen zerlegen. Ein einfaches Bei-

spiel: Die Bedeutung von Frau lässt sich aufteilen in (LEBENDIG, MENSCHLICH, WEIBLICH, ERWACHSEN).

Bedeutungen wird damit eine innere Struktur zugesprochen, die als Merkmalbündel repräsentiert werden

können. Die Kombination bestimmter Merkmale konstituiert also die Bedeutung eines Wortes.

Semantische Merkmale haben distinktive Funktionen, d.h. sie grenzen Wortbedeutungen voneinander ab.

Durch das Merkmal (LEBENDIG) wird die Bedeutung von Frau beispielsweise von Frauenstatue abgegrenzt.

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Durch das Merkmal (MENSCHLICH) wird die Bedeutung von Frau von der Bedeutung von Kuh abgegrenzt.

Durch das Merkmal (WEIBLICH) grenzt sich die Bedeutung von Frau von der Bedeutung von Mann ab, durch

das Merkmal (ERWACHSEN) von der Bedeutung von Mädchen. Aus der Gegenüberstellung von distinktiven

Bedeutungsmerkmalen gewinnt man semantische Oppositionen.

Das folgende Schema stellt eine allgemeine und grundlegende Einteilung (die auf Aristoteles zurückgeht) dar:

Alle Dinge

abstrakt konkret

+ belebt - belebt

+ menschlich - menschlich + Artefakt - Artefakt

+ weiblich - weiblich + weiblich - weiblich (Frau) (Mann) (Kuh) (Stier)

Wie aus dem Schema ersichtlich wird, ist die Einteilung eine Zweiteilung. Dementsprechend sind die

Merkmale binär konzipiert. Jede Bedeutung wird charakterisiert durch die An- bzw. Abwesenheit einer

bestimmten Anzahl von Merkmalen. Wir richten uns bei unseren Definitionen also nach

Ja/Nein-Entscheidungen. In diesem Sinn hat bereits Spinoza darauf hingewiesen, dass jede Bestimmung

eine Verneinung ist (omnis determinatio est negatio).

Die Merkmaltheorie trat zunächst mit dem Anspruch auf, mittels eines begrenzten Inventars von Merkmalen

den gesamten Wortschatz einer Sprache beschreiben zu können. Alle Bedeutungen sollten in

Merkmalbündel aufgegliedert werden. Dabei sollte die Zerlegung (auch: Dekomposition) notwendig und

hinreichend sein. Nehmen wir hierzu ein anderes Beispiel: Die Wortbedeutung von Stuhl Iässt sich

zerlegen in (ARTEFAKT, MÖBELSTÜCK, ZUM SITZEN, AUF FÜSSEN/BEINEN, FÜR 1 PERSON, MIT RÜCKENLEHNE,

OHNE ARMLEHNEN). Mit dieser Merkmalmenge sind genügend Angaben gegeben, die die Bedeutung von

Stuhl definieren und gleichzeitig eindeutig abgrenzen von anderen Bedeutungen: Von dem Möbelstück

Tisch oder Bett durch das Merkmal (ZUM SITZEN), vom Hocker durch das Merkmal (MIT RÜCKENLEHNE), vom

Sessel durch das Merkmal (OHNE ARMLEHNEN), vom Sofa durch das Merkmal (FÜR 1 PERSON).

Wie aber lassen sich aus der Menge an lexikalischen, also im Langzeitgedächtnis gespeicherten

Informationen diejenigen herausfiltern, denen man den Status semantischer Merkmale zusprechen kann?

In der semantischen Diskussion zu diesem Problem sind zwei Auswahlkriterien genannt worden:

Semantische Merkmale kommen einem Wort notwendig zu, und Merkmale sichern die

Unterscheidbarkeit von Wortbedeutungen.

Das Kriterium der Notwendigkeit meint, dass die semantischen Merkmale in jeder Situation, in der ich

das Wort benutze, gültig und präsent sind. Sie gelten ausnahmslos in allen Kontexten, da sie für die

Bedeutungsrepräsentation des Wortes konstitutiv sind. Semantische Merkmale stellen in diesem Sinn

invariante Eigenschaften dar. Diese Idee ist nicht erst in der Neuzeit entstanden, vielmehr findet sie sich

schon bei Aristoteles und seiner Unterscheidung zwischen Essenz und Akzidenz eines Objekts. Essenz

meint die Bestandteile, die das Ding in seiner Dinghaftigkeit, in seiner Wesenheit ausmachen, Akzidenz

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meint zufällige, nicht-wesentliche Eigenschaften, die möglicherweise zutreffen können. So ist der Mensch

als vernunftbegabtes, aufrechtgehendes Lebewesen definierbar. Ob dieses Lebewesen dann weiß, braun,

klein, groß usw. ist, ist irrelevant für die Bestimmung, ob ein Ding ein Mensch ist. Notwendig für die

Definition von Mensch sind nur die obengenannten Eigenschaften. Nur wenn eine Entität diese Merkmale

aufweist, kann ihr der Status Mensch zugesprochen werden. Die Merkmale sind also hinreichend zur

Klassifizierung. Mittels analytischer Aussagen lässt sich dies überprüfen:

(2) Eine Frau ist menschlich / weiblich / erwachsen. Den analytischen Charakter einer Aussage kann man mit der „aber-Probe“ überprüfen. (3) *X ist eine Frau, aber nicht menschlich / weiblich / erwachsen. Ergibt sich bei der aber-Probe ein krasser Widerspruch, gehört die Eigenschaft zu den semantischen Merkmalen. (4) X ist eine Frau, aber nicht hübsch / langhaarig / feminin. Hier ergibt sich bei der aber-Probe kein Widerspruch, da es sich um nicht-wesentliche Merkmale handelt. Wenn erwachsen im Sinne von reif gemeint ist, kann man aber natürlich durchaus sagen: (5) Maria ist eine Frau, aber sie ist nicht erwachsen. Die Merkmalzuschreibung verläuft dabei nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip. Entweder gehört ein Ding

zur Klasse x, oder es gehört nicht dazu. Ein Merkmal ist entweder da oder es ist nicht da. Merkmale sind

deshalb binär mit den Werten [+] und [–] angelegt. Demnach ließen sich alle Wortbedeutungen durch

das Fehlen bzw. das Vorhandensein von bestimmten Merkmalen eindeutig voneinander abgrenzen. Das ist

aber nicht immer der Fall. Wo ziehen wir die Grenze zwischen Sprach- und Weltwissen? Eine

zufriedenstellende, eindeutige Abgrenzung ist bisher noch nicht gelungen.

In der psychologisch orientierten Abbildungstheorie werden Merkmale als Abbildelemente von

Gegenständen und Beziehungen der Realität aufgefasst. Semantische Merkmale repräsentieren

demnach invariante Eigenschaften von Mitgliedern einer Objektklasse, stehen für perzeptuelle

Konstanten. Der mentalistische Auffassung zufolge sind semantische Merkmale als Grundkategorien

unserer Perzeption und Kognition definiert. Damit spricht man den Merkmalen eine universale

psychologische Realität zu. Die Merkmale spiegeln nicht direkt Objektseigenschaften der Wirklichkeit

wieder, sondern repräsentieren vielmehr Grunddispositionen der Denk- und Wahrnehmungsstruktur des

menschlichen Organismus. Man geht in einigen Modellen davon aus, dass es eine Menge von universellen

Merkmalen gibt, die die Bausteine jeder natürlichsprachigen Semantik darstellen.

Aufgaben (nach Gross 1990: 1106f. u. 111f.)

1. Welcher Begriff passt nicht in seine Reihe? Warum?

a) Schuhe - Pullover - Brille - Pyjama b) Stuhl - Regal - Spiegel - Aquarium c) quadratisch - zylindrisch - kreisförmig - elliptisch d) Moment - Minute - Stunde - Sekunde

2. Benennen und ergänzen Sie folgende Wortfelder:

a) Mantel - Kleid - Hut - Hemd - ... b) verschlingen - dinieren - fressen - ... c) fett - beleibt - korpulent - dick - ... d) Volksrepublik - Monarchie - Diktatur - ...

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3. Setzen Sie das jeweils passende der folgenden Wörter ein: fehlerhaft, missverständlich, versehentlich,

falsch, illusorisch

a) Er übersetzte "monkey" ____________________ mit "Mönch". b) Er übersetzte den Artikel teilweise ____________________. c) Sie sammelte ____________________ auch einige Giftpilze. d) Ihre Zukunftspläne waren total ____________________ . e) Zweideutige Worte sind oft ____________________.

Versuchen Sie auch, die Beziehungen zwischen den fünf Wörtern genauer zu erklären.

4. Differenzieren Sie das folgende Wortfeld "Gewässer" mit Hilfe von 2 Merkmalen (Kriterien) und (+) und

(-): See, Fluss, Teich, Bach. Wie können auch Strom und Ozean miteinbezogen werden?

5. Strukturieren Sie das Wortfeld "Fahrzeuge" mit 6 Merkmalen: Fahrrad, Flugzeug, Motorrad, Dampfer,

Bahn, Auto, Segelboot.

6. Differenzieren Sie das Wortfeld "Sportarten" mit möglichst wenig (3) semantischen Merkmalen: Fußball,

Tennis, Fechten, Wasserball, Rudern (8er), Turmspringen.

7. Das deutsche Wort Ente kann folgende Bedeutungen haben:

Ente1 – Vogel Ente3 - Frisur (von Männern) Ente2 – Auto (Citroën) Ente4 - Falschmeldung (Presse)

a) Stellen Sie zu jeder Bedeutung einen Stammbaum mit semantischen Merkmalen auf ( +/-

anim(iert), konkr(ekt), art(efakt), tech(nologisch) usw.);

b) Zeigen Sie, welche Bedeutungen in den folgenden Sätzen möglich sind, und warum:

(1) Die Ente sieht furchtbar aus ; (2) Die Ente prallte auf einen Mercedes.

Bibliografische Hinweise:

SCHWARZ, Monika / CHUR, Jeannette (1996) Semantik: Ein Arbeitsbuch. Tübingen: Narr.

GROSS, Harro (1990) Einführung in die germanistische Linguistik. München: iudicium.