REZEPTIVE MUSIKTHERAPIE ALS ASPEKT DER ......durch technisch bedingt Notfallalarme und Manipulation...

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REZEPTIVE MUSIKTHERAPIE ALS ASPEKT DER GANZHEITLICHEN INTENSIVPFLEGE Fachbereichsarbeit zur Erlangung des Diploms für den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege an der Schule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege am AKH Linz Beurteiler: Anneliese Schauer- Mühl akademisch geprüfte Lehrerin der Gesundheits- und Krankenpflege vorgelegt von Carmen Maria Asanger Linz, im Mai 2001

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REZEPTIVE MUSIKTHERAPIE ALS

ASPEKT DER GANZHEITLICHEN

INTENSIVPFLEGE

Fachbereichsarbeit

zur Erlangung des Diploms

für den gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege

an der

Schule für allgemeine Gesundheits- und Krankenpflege

am AKH Linz

Beurteiler:

Anneliese Schauer- Mühl

akademisch geprüfte Lehrerin der Gesundheits- und Krankenpflege

vorgelegt von

Carmen Maria Asanger

Linz, im Mai 2001

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Kurzzusammenfassung

Die vorliegende Fachbereichsarbeit beschäftigt sich mit dem gezielten Einsatz von

rezeptiver Musiktherapie bei Intensivpatienten. In einem ersten Schritt wird das

spezielle Umfeld einer Intensivstation aufgezeigt. Aus der Klärung des Begriffes

„Ganzheitlichkeit“ in der Pflege leiten sich allgemeine Interventionen im Bereich

der Kommunikation mit Schwerkranken ab. Von der Musik als Verständigungs-

mittel kommt es schließlich zur Darstellung musiktherapeutischer Grundbegriffe

und zur Beleuchtung diverser Intensivbereiche aus musiktherapeutischer Sicht.

Zudem werden Möglichkeiten der interdisziplinären Zusammenarbeit aufgezeigt,

sowie Grenzen und Irrwege der Musiktherapie im Bereich der Im Schlussteil

bringt die Autorin persönliche Erfahrungen mit der behandelten Thematik ein.

Abstract

The presented professional work gives insight to the well-aimed employment of

music therapy with intensive care patients. This analysis goes along with the idea

of the holistic nursing care. At first the special environment, the sick has to face at

an intensive care ward, is shown. After the purification of the term “holistic” in

context with nursing care, different communicative interventions, especially for

seriously ill persons are deduced. Subsequent to music as one way to communi-

cate there is taken a closer look to the basics of music therapy. Finally the differ-

ent intensive care wards are seen by the music therapeutic view. In addition ways

of interdisciplinary cooperation are shown as well as the possible bounds and

wrong tracks in the care with sounds. Last but not least the author tells about

personal experiences with the concrete subject.

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INHALTSVERZEICHNIS

0. VORWORT ....................................................................................................4

1. EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMSTELLUNG............... .......................5

2. DAS UMFELD DES PATIENTEN AUF DER INTENSIVSTATION .....6

2.1 Das Erleben der Umwelt aus der Sicht des Intensivpatienten................. 6

2.2 Der Faktor Angst und andere Einflüsse auf das Befinden des Kranken . 8

3. DER MENSCH IM MITTELPUNKT - EINE VISION VON

GANZHEITLICHER PFLEGE ........................................................................ 10

3.1 Ganzheitlichkeit am Krankenbett.......................................................... 10

3.2 Formen der Kommunikation mit Intensivpatienten .............................. 11

3.2.1 Das Gespräch mit dem Schwerkranken ........................................ 12

3.2.2 Kommunikation mit Menschen, die nicht sprechen können......... 13

3.2.3 Die Sprache der Musik.................................................................. 14

4. GRUNDLAGEN DER MUSIKTHERAPIE FÜR PFLEGENDE ...... .....18

4.1 Musiktherapie einst und jetzt ................................................................ 19

4.1.1 Rezeptive Musiktherapie............................................................... 21

4.1.2 Aktive Musiktherapie.................................................................... 23

4.2 Die Physiologie der Töne...................................................................... 25

4.2.1 Die Intervalle im Blickfeld der Musiktherapie............................. 26

4.2.2 Rhythmos und Tonos .................................................................... 29

4.2.3 Sympatiko- und Parasympatikotone Wirkungen von Musik ........ 30

5. DER EINSATZ VON MUSIK IM INTENSIVBEREICH........ ...............31

5.1 Musik kontra Stressoren beim Komatösen ........................................... 31

5.2 Musiktherapie in den diversen Intensivbereichen................................. 35

5.2.1 Musik in der Anästhesie................................................................ 35

5.2.2 Musik in der inneren Medizin....................................................... 36

5.2.3 Musik in Neurologie und Psychiatrie............................................ 37

5.2.4 Musik in der prä- und postnatalen Medizin .................................. 37

6. IRRWEGE IN DER PFLEGE MIT MUSIK BEIM

INTENSIVPATIENTEN.....................................................................................38

6.1 Die Grenzen der Musiktherapie ............................................................ 38

6.2 Musische Missverständnisse im Pflegealltag........................................ 39

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7. AUF DEM WEG ZUR GANZHEITLICHKEIT DURCH

INTERDISZIPLINÄRE ZUSAMMENARBEIT ................... .......................... 41

8. PERSÖNLICHE GEDANKEN ZUM EINSATZ VON

KLANGKÖRPERN ALS MOTOR FÜR HARMONISCHE

KÖRPERKLÄNGE ............................................................................................ 44

9. ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG............................................46

10. LITERATURVERZEICHNIS....................................................................47

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0. VORWORT

Musik begleitet mich seit den ersten Tagen meiner Kindheit. Schon im Mutterleib

lauschte ich - als Fötus einer Musikstudentin - den Klängen von Cello und Klavier

und den Harmonien von Händel bis Chopin. Nach Abschluss der Reifeprüfung an

einem musischen BORG habe ich in beruflicher Hinsicht zwar einen anderen Weg

eingeschlagen, die Musik bleibt aber mein bevorzugtes Hobby. Zwischen Pflege

und Musik eröffnen sich mir viele Parallelen. Beide erfordern Flexibilität und

Kreativität. Musik ohne Herz, und sei sie noch so präzise, ist keine gute Musik.

Gleiches gilt für die Pflege von Kranken.

Im Rahmen meiner Fachbereichsarbeit möchte ich zum Ausdruck bringen, dass

der Einsatz von Musik in der Pflege einen berechtigten Stellenwert hat. Dabei ist

es notwendig, Hintergründe zu erforschen, ein Basiswissen über musikalische

Wirkungsmechanismen zu erlangen und damit eine besondere Sensibilität für eine

gezielte Anwendung von Musik beim Kranken zu entwickeln. Meine besondere

Aufmerksamkeit gilt der Intensivstation, weil Schwerkranke in der Institution

Krankenhaus am wenigsten befähigt sind, über sich selbst zu bestimmen. Viel-

mehr ist ihr Alltag stark vom Handeln anderer abhängig. Musiktherapeuten unter-

stützen schon in vielen Kranken- und Heilanstalten auf professionelle Weise das

Ärzte- und Pflegeteam. Umgekehrt können Elemente der Musiktherapie auch vom

Pflegepersonal angewendet werden. Es soll unser gemeinsames Anliegen sein,

dass vom Kranken mehr bestehen bleibt als ein vegetierendes Es oder eine Hand-

voll medizinischer Diagnosen. Musik bietet ja nicht nur die Möglichkeit, den

Körper eines Menschen zu pflegen, sondern auch seine Seele.

Mein Dank gilt Frau Anneliese Schauer-Mühl, meiner betreuenden Lehrerin, die

mich ermutigt hat, „pflegerisches Neuland“ zu betreten und in diesem Sinne ein

doch gewagtes Themengebiet aufzugreifen. Danken möchte ich an dieser Stelle

auch meinen Eltern. Sie haben mich die Liebe zu einer Vielfalt von Klängen

gelehrt und damit das Fundament für diese Arbeit geschaffen.

Linz, im Mai 2001 Carmen Maria Asanger

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1. EINFÜHRUNG IN DIE PROBLEMSTELLUNG

Die heilende Wirkung von Musik auf den Menschen ist ein über Jahrtausende

hinweg wahrgenommenes Phänomen. Die Tore zu den unterschiedlichsten musi-

kalischen Traditionen sind vielfältig, ebenso wie deren Funktionen. Musik findet

ihren Niederschlag in der Anwendung magischer Kräfte, im Verkünden von

Heilslehren und Weltanschauungen. Sie dient als Brücke zu religiösen Ritualen,

unterhält das einfache wie auch das gebildete Volk, macht Gefühlsausdruck mög-

lich. Was jedoch noch viel zu sehr im Verborgenen liegt ist, dass die Wirkung von

Musik wohl auch wissenschaftlich begründbar und erforscht ist. Als Therapieform

erzielt Musik Erfolge sowohl auf der psychischen als auch auf der körperlichen

Ebene.

Wenngleich ein Bewusstsein für Musik als Pflege- und Heilmittel zunehmend

vorhanden ist, erwarten uns vor allem im Akutkrankenhaus immer noch Skepsis

und Vorurteile betreffend ihrer Relevanz. Vordergründig wird mit dem Maß

hygienischer Standards, medizinischer Anordnungen und optimaler Medikation

gemessen. Laut vor sich hin piepsende, schnaufende und surrende Maschinen

erzeugen für die Verantwortlichen das trügerische Bild höchster Pflegequalität.

Außer Acht bleiben da oft gleichwertige Faktoren wie der akustische Stress für

den Patienten oder die Beziehungspflege (vgl. Bolay, 1999, S.VII).

Der Forschungsschwerpunkt dieser Arbeit liegt im Ergründen, inwieweit Musik-

therapie praxisrelevant in den Pflegealltag einer Intensivstation einbezogen wer-

den kann. Es tut sich die Frage auf, welche Chancen die rezeptive Anwendungs-

form für eine ganzheitliche Pflege von Intensivpatienten bietet und worin mögli-

che Grenzen beziehungsweise Missverständnisse liegen könnten. Die Arbeit

basiert auf einer intensiven Literaturrecherche und eröffnet neben intensivpflege-

rischen Perspektiven Einsicht in das Basiswissen der Musiktherapie und in ihre

musiktheoretischen Hintergründe. Sie zeigt, wie Musiktherapie in den unter-

schiedlichen Intensivbereichen angewendet werden kann und berücksichtigt in der

notwendigen Zusammenarbeit von Medizinern, Pflegepersonal und Musikthera-

peuten auch interdisziplinäre Aspekte.

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2. DAS UMFELD DES PATIENTEN AUF DER

INTENSIVSTATION

Der Aufenthalt auf einer Intensivstation ist meist verbunden mit einer angsteinflö-

ßenden Situation (vgl. Schäffler et al., 1998, S.1340). Umgeben von genauer

Überwachung ist man trotz bester technischer Ausstattung verleitet, darüber nach-

zudenken, ob ein Intensivpatient noch menschliches Individuum ist oder aber eher

eine Maschine Mensch, die im individuellen Überlebenskampf sich selbst überlas-

sen bleibt.

Im nachstehenden Kapitel soll das unmittelbare Umfeld eines Intensivpatienten

dargestellt werden. Worin liegen die Unterschiede im Erleben der Umwelt zwi-

schen dem gesunden Menschen und einem Intensivpatienten? Welchen Stressoren

ist der Kranke ausgesetzt und wie nehmen diese Einfluss auf sein Befinden? Der

Angst mit all ihren Auswirkungen auf den Patienten wird ein hoher Stellenwert

eingeräumt. Auf diesem Grundgerüst aufbauend kann in den folgenden Beiträgen

genauer auf pflegerische und musiktherapeutische Interventionen eingegangen

werden.

2.1 Das Erleben der Umwelt aus der Sicht des Intensivpatienten

Die Pflege im Intensivbereich unterscheidet sich stark von jener auf einer Allge-

meinstation. Patienten sind zum überwiegenden Teil sediert, beatmet, häufig

inmobil und somit in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Vieles, wozu der

Gesunde selbst imstande ist, muss beim Intensivpatienten vom Pflegepersonal

übernommen werden (vgl. Kretz, Korn, Reichenberger, 1985, S.3). Vom Kranken

wird Anpassung gefordert, weniger aber Mitgestaltung. Es liegt dies auf der stark

technisch ausgerichteten Störungsdiagnostik und -behandlung begründet, bei der

der Experte für Behandlungsmaßnahmen und Gesundung verantwortlich ist. Im

Gegenzug dazu verstummt der Behandelte, was zur Folge hat, dass das Erleben

der Krankheit von der Gruppe der Helfer meist negativer eingeschätzt wird als

vom Betroffenen selbst. Da Krankheit als fremdbestimmte Störung angesehen

wird, erfolgen zunehmend Rückzug und Passivierung von Seiten des Patienten.

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In der Folge kommt es zu einem arztgerechten unlust- und schmerzbetonten Be-

schwerdeverhalten. Heek spricht von einer Kultur der An-Ästhesierung. Sie

reicht von der Gestaltung der Arzt-Visite, die unter weitgehendem Ausschluss des

Patienten erfolgt, bis hin zum Umgang mit Sterbenden, wo anstelle begleitender

Gespräche nicht selten ein Handlungsoptimismus suggerieren soll, dass alles

wieder gut wird (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.17–20).

Die unterschiedlichen Bewusstseinsstadien beim Intensivpatienten haben sehr

konträre Erlebniswelten der Betroffenen zur Folge. Wache Patienten vermissen

auf Intensivstationen trotz verstärkter Betreuung vielfach Information und Kom-

munikation. In Abhängigkeit von der Grunderkrankung ist davon auszugehen,

dass der Patient häufig an Schmerzen leidet. Die individuelle Mimik sowie vege-

tative Auffälligkeiten, Redseligkeit und hastiges Sprechen des Patienten können

unter anderem Aufschluss geben über seinen psychischen Zustand.

Für den Wiedererwachenden ist charakteristisch, dass er nur flüchtig kooperativ

und meist unruhig ist. Erst allmählich erlangt er geistige Klarheit und seinem

jeweiligen Zustand entsprechend ist es für ihn von Bedeutung, alle notwendigen

Informationen zu erhalten, um sich zurechtzufinden.

Unruhe und fehlende Kooperationsbereitschaft von Patienten im Delirium sind in

einer hochgradigen Desorientiertheit begründet. Hingegen ist es beim Bewusstlo-

sen nicht immer abzuschätzen, wie viel er noch oder schon wieder aufnimmt.

Bedingt durch traumatische Bewusstseinsstörungen, Sedation oder Durchgangs-

syndrome sind Patienten oft nicht ansprechbar (vgl. Kretz, Korn, Reichenberger,

1985, S.11-14). Erfolgt jedoch z.B. aufgrund einer schlechten Kreislaufsituation

eine nur schwache Sedierung, ist der Kranke begrenzt aufnahmefähig. Während es

durchaus gang und gäbe ist, dem Kranken verstärkt Auskünfte über anstehende

Pflegehandlungen zu erteilen, ist es umgekehrt auch für diesen bewusstseinsein-

geschränkten Patienten bedeutend, Gelegenheit zu bekommen sich selbst auszu-

drücken (vgl. Gestrich, 1998, S. 115). Es ist dies eine Aufforderung an uns Pfle-

gende, dem Kranken Raum zu geben und eine Chance, in der Kommunikation als

gleichwertiger Partner zu bestehen.

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2.2 Der Faktor Angst und andere Einflüsse auf das Befinden des Kranken

Für den Außenstehenden kommt die Intensivstation - ein Ort, der den Patienten

mit Drähten und Wirrwarr einsperrt – oft einer Stätte des Entsetzens gleich. Ma-

schinen erzeugen eine abschreckende Wirkung auf nicht aufgeklärte Angehörige

genauso wie auf Berufsanfänger. Umfassende Umfragen unter genesenen und

entlassenen Intensivpatienten zeigen jedoch gegenteilige Reaktionen der betroffe-

nen Patienten. Während viele über eine Erinnerungslücke während des Aufent-

halts auf der Intensivstation berichten, erzeugte bei wachen Patienten die Anwe-

senheit von Apparaten nicht selten ein Gefühl von Sicherheit, welches in der

weiteren Versorgung auf peripheren Stationen oft vermisst wurde.

Primär verantwortlich für ein Unbehagen beim wachen Intensivpatienten ist eine

Reihe anderer Faktoren. Der Angst vor der Schwere der Erkrankung, möglichen

bleibenden Behinderungen und Tod stehen Vereinsamung und Langeweile gegen-

über. Als Belastung wird zudem der fehlende Tag-Nacht-Rhythmus empfunden.

Eine Monotonie durch konstante rhythmische Monitorsignale, Überstimulation

durch technisch bedingt Notfallalarme und Manipulation an anderen Patienten

sind störend. Der wache Patient ist in der Regel auch ängstlich, wobei die fremde

Umgebung eine zusätzliche Belastung darstellt, doch wird er das oft nicht

zugeben, weil es ihm unangenehm ist (vgl. Kretz, Korn, Reichenberger, 1985,

S.11-14). Diese Angstfaktoren nehmen durchaus auch Einfluss auf das postkoma-

töse Erinnerungsvermögen, was auf intrapsychische Abwehrvorgänge beim Pati-

enten zurückzuführen ist. Ehemalige Intensivpatienten berichten, sie würden all

das Erlebete aus dem Gedächtnis verbannen. Sie fühlten sich, als versuchten sie

sich vor schrecklichen Gedanken zu schützen, denn sie fürchten sich davor zu

fühlen. Es wäre besser sich nicht daran zu erinnern, dass sie bewusstlos waren

(vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.26-27). Ein Interview welches im Nachhinein mit

einem bewusstseinsveränderten Patienten stattgefunden hat, schildert sehr ein-

drucksvoll dessen vermeintliches Befinden auf einem mittelalterlichen Schlacht-

feld.

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Es gibt Aufschluss über mögliche einengende Erlebniswelten in Bewusstlosigkeit

und wirft mitunter die Frage auf, ob der moderne Mensch tatsächlich noch ein

Bewusstsein hat für denjenigen, den er als bewusstlos bezeichnet (vgl. Zieg-

ler,1999, S.21).

„Er selbst habe das Gefühl gehabt, dass er sich tot stellen musste, um nicht von

umherparodierenden Rittern - gemeint waren die Behandelnden - getötet zu wer-

den. In seiner Verkennung der Situation deutete er die rote Blutdruckmanschette

über seinem Krankenbett als Feuerlöscher, das Hämofiltrationsgerät als Bombe,

die ständig zu explodieren drohte. Die laute und formelhafte Ansprache durch das

Personal wie: “Machen Sie Ihre Augen auf“, „Drücken Sie mir Ihre Hand“ erlebte

er als Versuche, sich seiner zu bemächtigen“ (Hannich, 1999, S.76).

Ärzte und Pflegepersonal sind vorwiegend ausgebildet, körperliche Defizite zu

beseitigen, doch ist ein Umdenken notwendig, das einen leibnahen, liebevollen

Handlungsdialog verlangt, der ganz im Gegensatz steht zum aktiv- kontrollieren-

den Umgang mit Eingetrübten und Komatösen (vgl. Hannich, 1999, S.80). Neben

der naturwissenschaftlichen Grundlegung ist auch der Blick auf geisteswissen-

schaftliche Aspekte bedeutsam. Nur so kann es gelingen, dass sich Pflege bezie-

hungsweise Medizin nicht auf eine einseitige Sichtweise beschränken, denn dies

würde eine Verarmung und Verkümmerung des umfassenderen Auftrags einer

patientenorientierten Heilkunde bedeuten. Wir stehen in einem Zeitalter, in dem

die Medizin von zwei sehr gegensätzlichen Strömungen beherrscht wird. Einer-

seits werden immer kompliziertere Techniken und Apparaturen von immer weni-

ger Spezialisten beherrscht. Georg Hörmann überzeichnet diese Tatsache mit der

Behauptung, dass diese Experten von ihrem Spezialgebiet zwar immer mehr

verstehen, jedoch vom Menschen immer weniger. Doch gibt es augenscheinlich

auch viele gegenläufige Tendenzen. Man will sich bewusst nicht mehr von der

Technik erdrücken lassen und befasst sich wieder zunehmend mit dem Tiefgrün-

digen am Menschen (vgl. Hörmann,1988,S.8-9).

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3. DER MENSCH IM MITTELPUNKT - EINE VISION VON

GANZHEITLICHER PFLEGE

Ein Intensivpatient ist, wie im Vorfeld konkretisiert wurde, einer Reihe von nega-

tiven Umwelteinflüssen ausgesetzt. Unnatürliche Lichtverhältnisse, eine andau-

ernde Geräuschkulisse, ständige Überwachung und Anschluss an Monitore brin-

gen ihn mitunter in Bedrängnis und können Frustration auslösen. Die folgenden

Zeilen mögen, im Hinblick auf ganzheitliches Pflegen, Aufschluss geben über die

Möglichkeit, durch Kommunikation Stressauslösern entgegenzuwirken. Was

bedeutet der Begriff ‚Ganzheitliche Pflege’ generell, welche Arten der Gesprächs-

führung bieten sich in ihrem Sinne innerhalb der Intensivpflege an und welche

Rolle kann dabei Musik einnehmen?

3.1 Ganzheitlichkeit am Krankenbett

Bereits um 400 vor Christus beschreibt der griechische Arzt Hippokrates die

Krankheit als ein nicht lokal begrenztes Geschehen. Da der ganze Mensch krank

ist, muss, so Hippokrates, auch in der Behandlung auf den ganzen Menschen

Rücksicht genommen werden.

Heute kommt dieser frühen Erkenntnis ein gesamter Teilbereich der Wissenschaft

zu. Innerhalb der Psychosomatik werden die Wechselwirkungen von Psyche und

Körper gründlicher betrachtet. Insbesondere analysiert man körperliche Erkran-

kungen, die ursächlich psychisch bedingt sind. Doch können umgekehrt auch

psychische Störungen aufgrund von körperlichen Erkrankungen auftreten (vgl.

Schäffler et al., 1998, S.5). Die World Health Organisation veranschaulicht dieses

ganzheitliche Menschenbild mit folgender Definition:

„Gesundheit ist der Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen

Wohlbefindens, und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ (Van

Deest, 1997, S.11-12).

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Für die Pflege ergeben sich daraus zwei wesentliche Konsequenzen. Einerseits ist

beim Erfassen der Pflegebedürftigkeit eines Kranken auf Störungen oder Defizite

auf allen Ebenen zu achten. In der Planung und Ausführung müssen im Gegenzug

auch alle Ansatzpunkte ausgeschöpft werden (vgl. Schäffler et al., 1998, S.5).

Krankheit darf nicht nur aufgehalten oder repariert werden, sondern der Blick ist

auch auf zahlreiche moderne Risiken der Zivilisation zu richten (vgl. Van Deest,

1997, S.10). Dies räumt der Prävention einen ebenso hohen Stellenwert ein wie

der Behandlung von bestehenden Erkrankungen. Nur durch eine gezielte Gesund-

heitsförderung und durch ein Erhalten der bestehenden Ressourcen, kann neben

der körperlichen Gesundheit auch ein psychisches und soziales Wohlbefinden

gewährleistet werden. Vor allem auf der Intensivstation wird den Pflegenden, als

wichtigstes Bindeglied zu anderen Berufsgruppen, diese nicht einfache Aufgabe

zuteil, Bedürfnisse des Patienten zu erspüren und dennoch Distanz zum Gesche-

hen zu halten, um ihrer eigenen Emotionen willen (vgl. Kagerer, 1996, S.17).

3.2 Formen der Kommunikation mit Intensivpatienten

Im Hinblick auf das Einbeziehen von Körper, Psyche und Geist ist der Kommuni-

kation innerhalb der ‚Ganzheitlichen Pflege’ ein erheblicher Stellenwert einzu-

räumen. Gestrich sieht in dem Buch ‚Gespräche mit Schwerkranken’ gerade darin

eine attraktive Aufgabe der Krankenpflege:

„Das unbedingt Reizvolle an der Krankenpflege ist, dass sie sich nicht auf einzel-

ne Fertigkeiten und Handreichungen reduzieren lässt, und auch dann noch nicht

richtig definiert wird, wenn man sagt, sie sei eine Tätigkeit der Hände, verbunden

mit menschlicher Anrede. Vielmehr ist Krankenpflege erst dann richtig beschrie-

ben, wenn man sie umfassend sieht: als helfende, heilende Zuwendung eines

ganzen Menschen zu einem ganzen Menschen“ (Gestrich, 1998, S.12).

Es ist vom Ausmaß der Schädigung abhängig, wie weit das Gehirn des Patienten

beeinträchtigt ist und nur aus dem individuell vorliegenden Zustand lässt sich ein

richtiges Handeln in der kommunikativen Betreuung folgern (vgl. Gestrich, 1998,

S.109).

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Grundsätzlich ist der Mensch umweltoffen und informationsfreudig. Werden ihm

Kommunikation und Anerkennung verwehrt, erfolgt ein emotionales Verhungern

bis hin zum Tod. Vielfach kommt Kommunikation mit Schwerkranken allerdings

gar nicht erst zustande. Dies liegt zuallererst begründet in Ängsten vor dem Unbe-

kannten und dem Leblosen (vgl. Ziegler, 1999, S.24-28).

3.2.1 Das Gespräch mit dem Schwerkranken

Mit dem Intensivpatienten, welcher aus dem sozialen Netz gerissen und seiner

körperlichen Integrität beraubt in einer ihm fremden Umgebung isoliert ist, gestal-

tet sich ein zufriedenstellendes Kommunizieren äußerst schwierig. Es ist selbst für

Gesunde immer wieder problematisch, sich gegenseitig mitzuteilen, einander

zuzuhören und zu verstehen. Das verbale Kommunizieren bedingt, dass die Fä-

higkeit zu sprechen und zu verstehen vorhanden ist. Daneben ist auch die Bereit-

schaft zur Kommunikation notwendig. Diese sogenannte soziale Kompetenz kann

beim Intensivpatienten durch ein Gefühl der Einschränkung aufgrund von Beat-

mung, Intubation oder Tracheotomie gestört sein. Durch gezieltes Nachfragen von

Seiten der Pflegekraft, wobei der Patient mit Ja oder Nein antworten kann, lassen

Verständnisprobleme abklären (vgl. Kagerer, 1996, S.17-21).

Für das Begleiten in schwerer Krankheit ist es hilfreich sich vor Augen zu halten,

dass Menschenfürsorge im Krankenhaus bedeutet, jemanden auch in seinen Ge-

fühlen zu begleiten. Hingegen soll das weitverbreitete Missverständnis, ihn aus

seinen Gefühlen erretten zu müssen, gänzlich ausgeräumt werden (vgl. Gestrich,

1998, S.32-33). Vorraussetzung für ein gutes Gespräch ist überdies, mit all seinen

Sinnen bei der Sache zu sein, dabei sich selbst anzunehmen, Sensibilität wahrzu-

nehmen, die richtige Körpersprache zu vermitteln, sich in die Stimmungslage des

anderen einzufühlen, Grenzen zu ziehen und bei alledem echt zu sein. Der Grund-

satz, dass jedes Gespräch Zeit braucht, schließt das Aufbringen der nötigen Ge-

duld mit ein.

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Neben dem aktiven Zuhören, was meint, seinen Gesprächspartner durch Fragen,

Zustimmung und Wiederholung des Gesagten in seinen Aussagen zu verstehen,

sind Schweigen und Stille wichtige Grundpfeiler der Gesprächskultur (vgl.

Specht-Tomann, Tropper, 2000, S.91-99).

Was aber geschieht, wenn sich Menschen verbal selbst nicht verständigen kön-

nen? Jeder von uns möchte ansprechen und angesprochen werden. Ich können wir

nur durch das Wort sein, welches uns beim Namen ruft, und ‚Du’ werden wir

dadurch, dass ein anderer, zu dem auch wir wieder ‚Du’ sagen können, uns wahr-

nimmt.

Wenn Menschen durch Krankheiten in ihren Sprachfähigkeiten beeinträchtigt

sind, werden sie gleichzeitig aus dem Lebenszusammenhang mit ihrer Umwelt

gerissen. Es ist unermesslich, welche Bedeutung der Sprache zukommt und wel-

che Tragweite es hat, diese zu verlieren, wenn man bedenkt, wie viel Zeit wir

täglich im Gespräch auf sozialer oder beruflicher Ebene verbringen, wie oft wir

das Gespräch suchen, ein dringendes Verlangen danach haben (vgl. Gestrich,

1998, S.106).

3.2.2 Kommunikation mit Menschen, die nicht sprechen können

Die Aussage, dass, wer seine Sprache verliert, gleichfalls seine Umgebung ver-

liert, wem seine Umgebung verloren geht, auch sich selbst verliert, eröffnet uns,

dass es wohl eine elementare Komponente der Pflege darstellt, Kontakte zu

sprachgestörten Menschen herzustellen. Während bekannte Vorschriften wie das

Erklären von Pflegehandlungen bei nicht sprechenden Patienten oder das Achten

auf die richtigen Worte beim Komapatienten, der mitunter gut zuhören kann,

keine besondere Mühe machen, weil man nicht überprüfen kann, ob die Worte

tatsächlich ankommen, erfordert es äußerste Phantasie, Kreativität, Geduld und

Liebe, sich um eine wechselseitige Verständigung mit ihnen zu bemühen (vgl.

Gestrich, 1998, S.106-109). Es ist von enormer Bedeutung, sich vor Augen zu

halten, dass auch Bewusstlosigkeit nicht gleichzusetzen ist mit Erlebnislosigkeit.

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Über dieses Missverständnis kommt es nämlich zu einer gravierenden Fehlein-

schätzung, welche das Zustandekommen einer regen Kommunikation weitgehend

ausschließt (vgl. Gustorff, Hannich, 2000,S.125).

Das im herkömmlichen Sinne verstandene Gespräch, welches den Austausch von

Gesprochenem meint und begleitet wird von einer Bandbreite nonverbaler Kom-

ponenten, ist nur eine Handhabe, den Wahrnehmungsbeeinträchtigten anzureden

(vgl. Specht-Tomann, Tropper, 2000, S.100).

Eine Reihe nonverbaler Kommunikationsformen, nicht nur die rein unterstützen-

den, bieten sich an, wenn der Patient nicht ansprechbar oder komatös ist oder aber

der Patient wach, allerdings nicht in der Lage ist, seine Sprechwerkzeuge ange-

messen einzusetzen (vgl. Kagerer, 1996, S.19). Neben dem taktilen Kontakt von

der einfachen Berührung über Streicheln, Drücken bis hin zum Umarmen ist die

Gestik eine der wesentlichen nonverbalen Ausdrucksformen (vgl. Kagerer, 1996,

S.19-20). Die Körperhaltung jedes Menschen spricht ihre eigene Sprache.

Manchmal mag sie Wohlwollen und Geborgenheit vermitteln, sie erlaubt aber

auch den Ausdruck von Distanz oder Reserviertheit. Augen können von Zunei-

gung, Verehrung, Zorn und einer Palette anderer Gefühle erzählen. Den sprechen-

den Händen gelingt es, oft verbal schwer zu beschreibende Gegenstände deutlich

zu machen (vgl. Specht-Tomann, Tropper, 2000, S.100). Versuche, durch eine

verstärkte Mimik und Gestik, durch Zeichensprache und die Konzentration auf

das Wesentliche, Reaktionen vom Gegenüber zu erhalten, schlagen häufig fehl,

lassen uns müde werden auf weitere Signale zu warten (vgl. Gestich, 1998,

S.108). Der taktile Kontakt ermöglicht vor allem beim komatösen Patienten den

Aufbau einer dennoch intensiven Begegnung. Das Angebot vertrauter Düfte kann

den Geruchssinn positiv stimulieren, ebenso ist das Wahrnehmen akustisch be-

kannter Reize wie das Hören vertrauter Stimmen von zentraler Bedeutung (vgl.

Kagerer, 1996, S.20).

3.2.3 Die Sprache der Musik

Solange jemand lebt, ist er mit Eindrücken und Bewegungen seiner Umgebung

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verbunden. Als leblos und damit bewusstlos im engeren Sinn kann man ihn letzt-

endlich erst dann betrachten, wenn er gestorben ist (vgl. Ziegler, 1999, S.32).

Beim Menschen ist das Gehör der am frühesten entwickelte und daher der ent-

scheidendste Fernsinn. Zuerst erwacht das Gehör aus der Narkose, erst dann das

Auge, das bis zuletzt von Wahrnehmungen ausgeschlossen bleibt. Das Ohr nimmt

Signale aus allen Richtungen des Raumes auf, was etwa beim optischen Sinn

aufgrund des eingeschränkten Blickfeldes nicht möglich ist (vgl. Ziegler, 1999,

S.37).

Somit erscheint es naheliegend, über akustische Reize Zugang zum Patienten zu

suchen. Musik ermöglicht dabei über das Gehör eine besondere Art der Kommu-

nikation. Eine interessante Bemerkung am Rande: Während Sprache vom rechten

Ohr besser aufgenommen wird als vom linken, ist dies bei der Musik genau um-

gekehrt der Fall (vgl. David, 1988, S.57). Physikalisch gesehen sind Sprache und

Musik gleichermaßen akustische Signale. Während der menschliche Stimmappa-

rat Timbre, Tonhöhe sowie Stimmlage unabhängig voneinander und stufenlos

variieren kann, gilt dies nicht für ein Musikinstrument. Sprache vermittelt in erster

Linie Information, gegebenenfalls wird diese im emotionalen Ausdruck musika-

lisch moduliert. Musik hingegen besitzt in der Hauptsache einen Affektcharakter,

welcher mitunter durch sprachliche Information, also Gesang, moduliert werden

kann. Musik ist somit wohl der intensivste emotionale Ausdruck, den sich der

Mensch in seiner Kultur geschaffen hat, und gleichzeitig eine Voraussetzung für

humane Existenz. Es ist keine einzige Kultur bekannt, die ohne ständiges Produ-

zieren und Konsumieren von Musik lebt (vgl. Spintge, Droh, 1992, S.12-14).

Dass Musik die Hirnpotentiale weitaus stärker anregen kann als das gesprochene

Wort, ist eine bewiesene Tatsache (vgl. Van Deest, 1997, S.10). Dementsprechend

wurde die Musik als Sprachmittlerin im Laufe der Menschheitsgeschichte des

öfteren verdient gewürdigt.

Claude Debussy meinte etwa, sie beginne dort, wo das Wort unfähig ist, sich

auszudrücken. Nach Hans- Jürgen Hannich stellt die Musik eine universale, um-

fassende und präverbale Form der Sprache dar, die jenseits von Worten Menschen

erreichen kann (vgl. Hannich, 1999, S.78). Außerdem, so Wolfgang Strobel, ist

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die Musik wie die Sprache ein ubiquitäres, also ein überall verbreitetes Phänomen

der menschlichen Kommunikation (vgl. Witzany, Schörkmayr, 1992, S.52)

Diese subjektiven Aussagen werden von Forschern der Neurophysiologie konse-

quent bestätigt. Musiker wie Nichtmusiker sind gleichermaßen zum Schluss ge-

kommen, dass das Ohr Tor zur Welt ist. Musik berührt im wahrsten Sinne des

Wortes unvergleichlich früher als jeder andere Reiz. Soll mit Berührungen eine

ebenso intensive Reaktion ausgelöst werden, wie mit akustisch-musikalischen

Reizen, ist eine zehnmillionenmal höhere Reiz-Energie-Menge notwendig.

Eine Begründung dafür geht bis in die Zeit der Jäger und Sammler zurück. Wollte

man überleben, musste das Ohr auch im Schlafzustand, als Warnsinn vor lebens-

bedrohenden Wildtieren, funktionieren. (vgl. Decker-Voigt, 2000, S.40-41)

Zugleich ist der Hörsinn eng mit unserer Gefühlswelt verbunden, was ursächlich

an der direkten Verbindung der Ohren mit dem limbischen System, einer Art

Gefühlszentrum unseres Körpers, liegt. (vgl. Van Deest, 1997, S.22).

Alfred Tomatis, ein französischer Hals-Nasen-Ohren-Arzt und Musiktherapeut,

lieferte Ende der 40er Jahre interessante Zusammenhänge zwischen Gehör und

Verständigung. Seinen Forschungen zufolge drückt sich die gesamte Kommunika-

tion in der Hörfähigkeit aus. Als Sohn eines Opernsängers waren viele seiner

Patienten Musiker mit Stimmproblemen. Nach zahlreichen Frequenzanalysen von

Gehör und Stimme kam er zur Erkenntnis, dass schlecht gehörte Frequenzen auch

in der Stimme vermindert enthalten waren. Durch Verstärkung der schlecht gehör-

ten Frequenzen ließ er die Sänger ihre korrigierte Stimme hören, was zu einem

sofortigen Ausgleich des Frequenzverlustes führte. Stimmprobleme wurden daher

als eigentliche Hörprobleme identifiziert.

Im Verlauf seiner Studien erkannte Tomatis zudem eine enge Beziehung zwischen

psychischer Verfassung seiner Klienten und ihrer Hörkurve und er stellte die

Hypothese auf, dass Grundzüge der individuell unterschiedlichen Hörkurven in

pränataler Zeit gelegt werden. Nach der allgemein anerkannten wissenschaftlichen

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Auffassung kann man ab viereinhalb Monaten hören. Tomatis hingegen ist auf-

grund seiner Versuche davon überzeugt, dass auditive Signale schon im ersten

Monat in Form eines zellulären Gedächtnisses wahrgenommen und gespeichert

werden. Da das äußere Ohr und Mittelohr aber voller Fruchtwasser sind, hört der

Fetus in erster Linie über Skelettvibrationen. Tiefe Frequenzen wie Herzschlag,

Darmbewegungen, Blutstrom in der Aorta, Atemfluss etc. werden, obwohl sie

sehr laut sind, kaum weitergeleitet (vgl. Beckendorf, 1999, S.43-55). Hingegen

wird die Stimme der Mutter, die über die Wirbelsäule in den Bauchraum und das

Becken weitergleitet wird, durch die halbkugelige Form des weiblichen Beckens

in den hohen Frequenzen noch zweieinhalbfach verstärkt.

Gerade in den letzten Monaten einer Schwangerschaft ist durch die Verankerung

des kindlichen Schädels im Becken eine intensive Kommunikation zwischen

Mutter und Kind möglich. Die tiefen Frequenzen werden überwiegend im Vesti-

bulum wahrgenommen, das mit allen quergestreiften Muskeln im Körper verbun-

den ist und für das Halten des Gleichgewichtes erforderlich ist. Die Haarzellen im

Vestibulum werden sowohl bei Körperbewegungen als auch durch die rhythmi-

sche Einwirkung tiefer Frequenzen erregt. Daher erfolgt über tiefe Frequenzen

gleichzeitig die Erinnerung an Bewegung und somit eine Stimulation des motori-

schen Systems über das Gehör. Je höher die Töne, umso mehr Haarzellen werden

erregt. Folglich findet eine wesentlich stärkere Stimulation des Gehirns statt. So

wirken Frequenzen im Bereich von 16 bis 100 Hertz einschläfernd auf die Psyche,

jedoch stimulierend auf die Motorik. Zwischen 1000 und 3000 Hertz erfolgt eine

Stimulation der Sprache, 3000 bis 8000 Hertz wirken belebend und vitalisierend.

In einem Frequenzbereich über 8000 Hertz kommt es zu regressiven Tendenzen,

zum Einnehmen von Embryonalstellungen, mitunter sogar zu vorgeburtlichen

Wahrnehmungen (vgl. Beckendorf, 1999, S.43-55).

Hierzu folgende Ergänzung aus der allgemeinen Musiklehre: Die Tonhöhe ist

abhängig von der Anzahl der Schwingungen, je größer die Zahl der Schwingun-

gen, umso höher auch der Ton. Der tiefste wahrnehmbare Ton hat etwa 16, der

höchste um 20 000 Schwingungen je Sekunde. Diese werden in Hertz, benannt

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nach Heinrich Rudolf Hertz, einem Physiker im 19. Jahrhundert, gemessen. Für

Musik kommt nur der Tonbereich von ungefähr 30 bis 4000 Hertz in Frage (vgl.

Bloch, 1973, S.4).

Da die Musik von Wolfgang Amadeus Mozart mit ihrem inneren Rhythmus, er

entspricht ca. 0.5 Sekunden, dem Herzschlag eines Säuglings von 120 pro Minute

am nächsten kommt, erinnert er uns stärker als jeder andere Komponist an diese

frühe Zeit. Nach jahrelanger Forschungsarbeit beschrieb Alfred Tomatis diesen

sogenannten Mozarteffekt (vgl. Beckendorf, 1999, S.58). Die Sprache Mozarts in

seiner Musik übt einen befreienden, anregenden Einfluss aus. Sie bewirkt für den

Zuhörer stets eine verbesserte räumliche Wahrnehmung und verhilft, unabhängig

vom Geschmack des Hörenden, zu einem klaren Selbstausdruck. Vielleicht spricht

in Mozarts Musik die Aura des ewigen Kindes zu uns, denn seine Talente offen-

barten sich in sehr jungen Jahren. Auch in seiner pränatalen Zeit war er von Musik

umgeben, durch das Violinspiel seines Vaters sowie die Lieder und Serenaden

seiner Mutter (vgl. Campbell, 1998, S.42-44).

4. GRUNDLAGEN DER MUSIKTHERAPIE FÜR PFLEGENDE

Der Einsatz von Musik als angewandte Therapieform erfreut sich am Beginn des

3. Jahrtausends einer bunten Vielfalt. Einen Überblick über ihre verschiedenen

Anwendungen zu schaffen, ist - wenngleich nahezu unmöglich - die Absicht des

folgenden Kapitels. Dann erfolgt eine Präzision der genannten Überlegungen im

Hinblick auf die Intensivstation und die dortigen Möglichkeiten. Es soll beantwor-

tet werden, welche wesentlichen Formen von Musiktherapie am Markt vorhanden

sind und wo die allgemeinen Wirkungsfelder von Musik liegen. Das vordergrün-

dige Anliegen ist es, essentielle Grundlagen zum Verständnis der Musiktherapie

für Pflegende herauszufiltern. Dabei ist es hilfreich, auch einige wichtige musik-

theoretische Grundlagen zu erklären.

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4.1 Musiktherapie einst und jetzt

Die ältesten Zeugnisse über den therapeutischen Einsatz von Musik gehen bis ins

4. Jahrtausend vor Christus zurück und liegen in Ägypten. Damals war medizini-

sche Behandlung eng verbunden mit religiösen Riten, wobei den Priesterärzten

heilende Musik unter anderem zur Bannung böser Geister diente (vgl. Spintge,

Droh, 1992, S.2-4). Neben unzähligen historischen Schriften zeugt das Alte Tes-

tament von Gesundungen, welche der Musik zugeschrieben werden. Die Ge-

schichte des Saul erzählt, er sei durch Davids Spiel auf der Harfe von Depressio-

nen befreit worden.

„Wenn nun der Geist Gottes über Saul kam, so nahm David seine Harfe und

spielte mit seiner Hand; so erquickte sich Saul, und es ward besser mit ihm, und

der böse Geist wich von ihm“ (1. Samuel 16,23).

Auch in den Heilungszeremonien aller sogenannten primitiven Völker, etwa jener

von Papua-Neuguinea, dem Amazonasgebiet oder den afrikanischen Buschmän-

nern und den australischen Aborigines, spielt Musik eine entscheidende Rolle

(vgl. Spintge, Droh, 1992, S.2-4).

Die heute praktizierte moderne Musiktherapie ist nichts anderes als eine Rückbe-

sinnung und Wiederbelebung dieser alten Erfahrungen, welche bei uns zum Teil

in Vergessenheit geraten sind. Verbliebene Naturvölker ermöglichen uns, scha-

manische Praktiken zu studieren und diese in adaptierter Form zu übernehmen

(vgl. Schroeder, 1995, S.19). Als Zielgruppe ihrer Anwendung umfasst die Mu-

siktherapie der „zivilisierten“ Welt praktisch alle Menschen, die psychische

und/oder physische Probleme haben und stellt einen Teilbereich der Psychothera-

pie dar (vgl. Witzany, 1992, S.53). Sie ist somit eine eigenständige Wissen-

schaftsdisziplin. Innerhalb der Musiktherapie kommt es - wie bereits der Name

aussagt - zum Einsatz von Musik, doch handelt es sich hierbei nicht um die not-

wendige, alltägliche Musik, wie sie etwa beim Abtrocknen in der Küche, auf einer

langen Autofahrt, im Kaufhaus oder Restaurant kaum mehr wegzudenken ist.

Vielmehr gelangt in der Musiktherapie eine notwendende Musik in den Vorder-

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grund, was wiederum eine entsprechende Ausbildung verlangt (vgl. Decker-

Voigt, 2000, S.33-36).

Der Begriff Musiktherapeut tauchte erstmals um die Wende vom 19. zum 20

Jahrhundert in London auf. Unterstützt von den zeitgenössischen Reformern,

darunter Florence Nightingale, gab es Bestrebungen, auch den Krankenhäusern

der Provinzstädte Musikgruppen zur Verfügung zu stellen. Die medizinische

Fachpresse wie etwa Lancet und British Medical Journal berichtete über offen-

sichtliche Erfolge und regte gemeinsam mit Ärzten zum verstärkten Einsatz von

Musiktherapie an. Ähnliche Bewegungen sind Anfang des 20. Jahrhunderts aus

den USA bekannt, doch sind sie ebenso wie jene in England gescheitert, unter

dem Druck von medizinischer wie auch musikalischer Seite und letztendlich an

dem Mangel an finanziellen Möglichkeiten. Der hohe Anteil von Veteranen des 2.

Weltkrieges in den Krankenhäusern nahm einen nachhaltigen Einfluss auf die

weitere Entwicklung. Musiker wurden als Teammitglieder in Krankenhäusern

eingestellt und waren nunmehr herausgefordert, ihre Arbeit zu verifizieren und die

Ergebnisse musikalischer Interventionen bei spezifischen Indikationen zu untersu-

chen, wenngleich dies aufgrund der mangelnden psychologischen und medizini-

schen Kenntnisse schwierig war (vgl. Bunt, 1998, S.13-15).

Nach dem derzeitigen Entwicklungsstand gibt es eine Reihe von Schulen und

Vertretern der Musiktherapie. Alle in einen textlichen Rahmen zu bringen wäre

ein Ding der Unmöglichkeit, ist es doch grundsätzlich schon schwierig, Musik in

Worte zu fassen. Eines haben aber alle Teilbereiche der Musiktherapie gemein-

sam: Entgegen dem primär kurativ ausgerichteten Interventionssystem mit seiner

stark technisch apparativen Struktur gehen sie davon aus, dass Gesundheit mehr

mit einer umfassenden Lebenskompetenz zu tun hat als mit einer Restgröße

Krankheit (vgl. Van Deest, 1997, S. 12-13). Musiktherapie räumt der Prophylaxe

einen ebenso hohen Stellenwert ein wie der Therapie (vgl. Witzany, Schörkmayr,

1992, S. 48). Ihre Fundamente gehen vollständig einher mit dem Hintergrund der

ganzheitlichen Pflege und lassen sich folglich mit den Ansätzen der ganzheitli-

chen pflegerischen Sichtweise des Menschen gut in Kombination bringen.

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4.1.1 Rezeptive Musiktherapie

Die Pioniere der Musiktherapie in Deutschland um 1945 hörten gemeinsam mit

ihren Patienten Musik, welche sie entweder selbst auf Instrumenten vorspielten

oder aber durch Tonträger übermittelten. Im Anschluss daran wurden Erlebnisse,

Erinnerungen, Gefühle beziehungsweise Bilder, die im Zusammenhang mit dem

Gehörten aufgetaucht sind, besprochen. Jene rezeptive Form musiktherapeutischer

Arbeit ging lange Zeit aus von musikausübenden Ärzten, Schwestern und Pfle-

gern und wird zum vordergründigen Inhalt der präsenten Fachbereichsarbeit (vgl.

Schroeder, 1995, S. 32). Das Hören von Musik ist also Bestandteil des therapeuti-

schen Vorgehens bei der rezeptiven Musiktherapie, wobei sowohl einzel- als auch

gruppenmusiktherapeutische Methoden Anwendung finden. Die dem Patienten zu

Gehör gebrachte Musik soll körperliche oder psychische Prozesse in Gang setzen,

die zur Heilung bzw. Linderung von Krankheiten und Beschwerden führen. Dabei

gibt es Unterschiede im theoretischen Hintergrund, in den Methoden und im

Setting. Der folgende Abschnitt handelt im Detail darüber. (vgl. Frank-

Bleckwedel, 1996, S.327).

Bei der ‚Rezeptiven Musiktherapie’ als Psychotherapie ist die Triade Patient –

Therapeut - Musik entscheidend. Die Schrittfolge der therapeutischen Beziehung

orientiert sich ausschließlich an der Befindlichkeit des Patienten (vgl. Frank-

Bleckwedel, 1996, S.327-328). Therapeutische Handlungsweisen sind darauf

ausgerichtet, eine bestimmte Erlebnis- und Verhaltensbeeinflussung zu erreichen.

Das darf aber nicht mit suggestiv beabsichtigten Musikwirkungen verwechselt

werden, wie sie z.B. bei operativen Eingriffen eingesetzt werden.

Innerhalb der dynamisch orientierten rezeptiven Gruppenmusiktherapie wird die

Auswahl der Musik durch einzelne Gruppenmitglieder oder durch Gruppenbe-

schluss getroffen, was schließlich den Ausgangspunkt für verbale und nonverbale

Interaktionen innerhalb der Gruppe darstellt (vgl. Schwabe, 1996, S. 213-216).

Die reaktive Gruppenmusiktherapie (RGM) zielt darauf ab, affektiv-dynamische

Reaktionen auszulösen, welche durch die Rezeption emotional stimulierender

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Musik erzielt werden (vgl. Schwabe, 1996, S. 213-216).

Kommunikative Einzelmusiktherapie (KEMT) meint die Entwicklung einer ver-

trauensvollen Psychotherapeut-Patient-Beziehung, wobei Musik Brücke zum

gegenseitigen Vertrauen sein kann. Es ist dies nicht unbedingt Repertoire des

Musiktherapeuten, sondern betrifft vielmehr Ärzte und Psychotherapeuten. Neben

der KEMT ist auch die Reaktive Einzelmusiktherapie eingebettet in die psycho-

therapeutische Einzelgesprächsführung. Die Mobilisierung und Auslösung kurz-

zeitiger affektiver Reaktiven auf der Basis des Vorhandenseins angestauter, un-

bewältigter affektiver Spannungen beim Patienten steht dabei im Vordergrund

(vgl. Schwabe,1996, S. 213-216).

Die Regulative Musiktherapie (RMT) stellt den in der psychotherapeutischen

Praxis am weitesten verbreiteten und international bekanntesten Bereich der re-

zeptiven Methode dar, welche sich mittlerweile immer mehr hin zu einer tiefen-

psychologisch ausgerichteten Konzeption entwickelt hat (vgl. Schwabe, 1996 S.

317).

Eine modifizierte Methode der Regulativen Musiktherapie ist das Regulative

Entspannungstraining mit Musik. Dabei handelt es sich um ein psychologisches

Verhaltenstraining, mit dem Ziel der psychophysischen Selbstregulierung von

inneren Spannungszuständen sowie der Aktivierung von Kreativität und Lebens-

lust. Dies bietet sich an bei psychisch besonders belasteten Personen mit der

Motivation, über regelmäßiges Training eine Besserung der Befindlichkeit zu

erreichen (vgl. Schwabe, 1996, S.215).

Die ungerichtete Rezeptive Musiktherapie (UREM) besteht aus regelmäßigen

Musiksendungen von 20 bis 30 Minuten, welche zentral in die Patientenzimmer

übertragen werden, mit dem Aufruf, sich auf Erlebniserweiterung einzulassen,

sich zu überlassen und auf Persönliches, auf aktuelle Ereignisse des Therapietages

zu besinnen. Diese Form ermöglicht dem Patienten, mit bestimmten Erlebnisent-

wicklungen zeitweise mit sich allein zu sein. Von Bedeutung ist daher, dass neben

der individuellen Kontaktnahme des Patienten mit der Musik eine interpersonelle

Begegnung zwischen Patient und Therapeuten stattfindet. Eingesetzt wird die

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UREM in psychotherapeutischen Kliniken ebenso wie in Suchtkliniken und Stati-

onen der Inneren Medizin mit psychosomatisch-psychotherapeutischer Ausrich-

tung (vgl. Schwabe, 1996, S.216).

Im Gegensatz zur UREM werden bei der ‚Musikgeleiteten Imagination’ die ent-

stehenden Gefühle, Bilder, Körperempfindungen, Erinnerungen und dergleichen

während des Zuhörens an den Therapeuten mitgeteilt. Musik fungiert dabei als

projektives Medium (vgl. Frank-Bleckwedel,1996, S.328).

Musikmachen in Verbindung mit Tanzen, Malen und anderen künstlerischen

Tätigkeiten ist ein neuer Aspekt in der Musiktherapie geworden. Im Bereich der

Anästhesie und Schmerztherapie ist auch die funktionelle Musiktherapie von

Bedeutung. Wie bereits der Name sagt, steht nicht Beziehungsarbeit sondern die

Funktion der Musik im Mittelpunkt. Im Handel erhältliche Do-it-yourself- Ange-

bote sind davon weitgehend auszuschließen.

Obwohl etwa Offerte zur Raucherentwöhnung oder Entspannung durchaus thera-

peutische Effekte haben und sozusagen zur Bereicherung der „Hausapotheke“

werden können, fallen diese nicht unter die Kategorie „Musiktherapie“ (vgl.

Frank-Bleckwedel, 1996, S.328-329).

Unter dem Stichwort Klangtherapie wird der Einsatz spezieller Instrumente wie

Gongs, verschiedener Trommeln, Klangschalen oder des Monochords zum Her-

beiführen tranceähnlicher Zustände beleuchtet. Es sind dies spirituelle Richtungen

der Musiktherapie, welche sich das Wissen außerwestlicher Heilkunde nutzbar

machen und in den letzten Jahren auch in Europa mehr und mehr an Bedeutung

gewinnen (vgl. Frank-Bleckwedel, 1996, S.328-239).

4.1.2 Aktive Musiktherapie

Empirische Forschungsarbeiten lassen die Wirkung von Musik heute nicht mehr

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anzweifeln. Gerade im angloamerikanischen Raum werden intensive Forschungen

betrieben, was den Einsatz von Musik im klinisch-therapeutischen Zusammen-

hang betrifft. Die Wirkungsweisen der Musik sind mittlerweile weit über den

biologisch-physiologischen Bereich geprüft und nachgewiesen (vgl. Van Deest,

1997, S.8).

Im deutschsprachigen Raum ist in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg immer

mehr die aktive musikalische Betätigung des Patienten im Rahmen der Musikthe-

rapie in den Vordergrund gerückt (vgl. Gembris, 1997, S.119-127). Dabei hört der

Patient ebenso auf die Töne wie bei der rezeptiven Form der Musiktherapie, doch

gehen diese aus seinem eigenen Musizieren, aus dem des Therapeuten oder aber

aus dem Spiel anderer Patienten hervor. Der Therapeut wiederum hört auf das

Spiel des Patienten und kann so über ihn Wesentliches in Erfahrung bringen (vgl.

Van Deest, 1997, S.97). Witzany und Schörkmayr kommen im Aufzeigen von

aktuellen Tendenzen zu folgender Klärung des Begriffes Musik in der Musikthe-

rapie:

„Bei der Definition, was in der Musiktherapie dem Begriff „Musik“ zukommt,

müssen wir also annehmen, dass es sich nicht unbedingt um Musik handelt, son-

dern um akustische Äußerungen, die von psychotherapeutisch kompetenten Mu-

siktherapeuten interpretiert werden“ (Witzany, Schörkmayr,1993, S.52).

Weiters gibt die Literatur von Witzany und Schörkmayr Aufschluss über die ganz

speziellen Kompetenzen, welche einem Musiktherapeuten abverlangt werden:

„Ein Musiktherapeut muss meines Erachtens in dem Sinne ein „Künstler“ sein,

dass er echt und authentisch spielt, ohne „privat“ zu werden. Ich spreche hier vom

Künstler (der sein Handwerk beherrscht) statt vom Musiker, um damit anzudeu-

ten, dass sowohl Therapeuten als auch Musiker nur dann überzeugend sind, wenn

sie in diesem Sinne Künstler sind. (...) Nach unserer Auffassung muss der Musik-

therapeut zwar ein guter Musiker sein, aber nicht unbedingt Pianist“ (Frohne-

Hagemann, S. 304, zitiert nach: Witzany, Schörkmayr,1993, S.52).

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Es steht also nicht das perfekte Spiel sondern vielmehr das harmonierende Zu-

sammenspiel von Therapeuten und Patient im Vordergrund. Nicht das Medium

Instrument oder der Klang ist entscheidend, sondern die therapeutische Beziehung

(vgl. Witzany, Schörkmayr, 1993, S.52). Improvisation ist das Alpha und Omega

der aktiven Musiktherapie, in der Gruppe genauso wie einzeln. Dabei werden u.a.

Tagtraum-Bilder der Patienten eingebunden. Es kann sich aber durchaus auch um

Musik handeln, die an Noten gebunden ist. Dem Spielen folgt schließlich eine

Gesprächsphase. Sie dient dem Austausch zwischen Patient und Therapeut und

kann möglicher Inhalt für die nächste Improvisation werden (vgl. Decker- Voigt,

Knill, Weymann, 1996, S.5). Auch die Wahl der Instrumente ist ein wichtiges

Kriterium im Therapieverlauf und Gegenstand des therapeutischen Gesprächs. Ein

Wechsel des Instruments ist dabei nicht selten, denn die Entscheidung für ein

bestimmtes Instrument sowie der Umgang damit mag Aufschluss geben über die

Haltung zum eigenen Körper.

Beide Therapieformen - aktiv wie passiv - schließen die Begleitung des Patienten

mit ein, wobei versucht wird, ihn dort abzuholen, wo er im Augenblick emotional

steht.

Therapie bedeutet aus der Schulmedizin übernommen und auf die Psychotherapie

angewandt die Behandlung von Krankheiten mit dem Ziel der Heilung oder zu-

mindest der Besserung beziehungsweise Linderung von Beschwerden (vgl.

Schroeder 1995, S.24-26).

4.2 Die Physiologie der Töne

Sämtliche Behandlungsziele, -methoden und –verfahren in der Musiktherapie

haben die Nutzung des gleichen Materials gemeinsam (vgl. Van Deest, 1997,

S.16). Die Elemente Rhythmus, Melodik, Harmonie und Lautstärke sind Grund-

pfeiler im Zusammenhang mit der musikalische Wirkung auf den Menschen (vgl.

Decker-Voigt, 2000, S.55).

Trotz einer Anzahl von sehr unterschiedlichen Kulturen lassen sich in allen Teilen

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der Welt bestimmte Vorlieben für gewisse Richtungen der westlichen Musikkul-

tur feststellen. Während Bach, Mozart, Beethoven oder Schubert auch im asiati-

schen Raum erfolgreich sind, wirken beispielsweise arabische Gesänge für den

Europäer monoton und unverständlich. Die Musik der Beatles oder Rolling Sto-

nes, die auf den gleichen Harmonien der europäischen Klassik basiert, zählt zu

den Verkaufsschlagern auf allen vier Kontinenten. Worin liegen nun die Gründe

für das allgemeine Verständnis der westlichen Musikkultur? Ist die europäische

Tonalität mit ihren Dreiklängen und Kadenzen, mit Dur und Moll tatsächlich eine

für alle Menschen verständliche Sprache oder lässt sich die Dominanz dieser Art

und Weise des Musizierens mit einer abendländischen Überheblichkeit erklären?1

4.2.1 Die Intervalle im Blickfeld der Musiktherapie

Nicht alles, was an unser Ohr kommt, „klingt“. Bei Geräuschen vermeidet man

das Wort Klingen und spricht statt dessen von Knarren, Brausen, Dröhnen, Klir-

ren oder aber man setzt die Tätigkeit, die das Geräusch hervorbringt, ein, als

Beschreibung des Eindruckes wie etwa Hämmern, Stampfen oder Kratzen. Nur im

Bereich der Musik spricht man auch vom Klang.

Den Unterschied zwischen Tönen und Geräuschen erklärt uns die Physik durch

regelmäßige und unregelmäßige Schwingungsformen. Reine Töne kommen in der

Natur nur selten vor, wirken sie doch grau und fahl.

Im Vergleich dazu erscheint das farbenreiche Klangbild von Instrumenten eines

Sinfonieorchesters wie ein Bild der Lebensfreude. Zwischen den Tönen und Ge-

räuschen stehen die Klänge, welche sich aus einander überlagernden Tonschwin-

gungen zusammensetzen. Die Grenze zwischen Geräusch und Klang lässt sich in

1 vgl. Zeitschrift, GEO-WISSEN, Sept. 1997

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der Praxis schwer feststellen, denn jeder in der Natur vorkommende Klang, auch

von Instrumenten hervorgebracht, besitzt Geräuschanteile.

Eine Reihe von Musikforschern und Dirigenten, darunter auch Leonard Bernstein,

sah damit auch einen naturwissenschaftlich belegbaren Grund für den Siegeszug

der Klassik. Die Obertonreihe als eines unserer wichtigsten Grundgesetzte vermag

es, Musik in emotional sehr leicht zugänglicher Weise näher zu bringen.

Schon der griechische Philosoph und Mathematiker Phythagoras erkannte diese

ganzzahligen Teilungsverhältnisse. Anhand eines Versuches am Monochord,

einem kastenförmigen Resonanzkörper, über den er eine Saite spannte, entwickel-

te er die bis zur heutigen Zeit geltende Obertonreihe. Erklingt auf einer Saite das

C, so teilt sich die Saitenschwingung nach festen physikalischen Regeln in gleiche

Abschnitte. Dabei entstehen gleichzeitig neue Töne, immer leiser und immer

höher, die die meisten Menschen zwar nicht bewusst heraushören können, jedoch

als Klangfarbe wahrnehmen. So setzt sich die Obertonreihe aus jenen Tönen

zusammen, die mit einem Grundton mitschwingen.

Auch die Klangfarbe der menschlichen Stimme und der traditionellen Musikin-

strumente ist abhängig von Anzahl, Auswahl und Lautstärke der Obertöne, welche

einen beachtlichen Einfluss auf unsere Sympathie bestimmten Klängen gegenüber

nehmen. Die Obertöne machen den erzeugten Schall klanglich reicher, die Fre-

quenzen der einzelnen Obertöne sind ganzzahlige Vielfache des Grundtones und

geben dem entstehenden Klang seinen besonderen Charakter, seine Klangfarbe.

Stark grundtonhaltige Klänge werden als weich und angenehm empfunden. Klän-

ge, bei denen der erste Oberton überwiegt, wirken ordinär.

Dominieren sehr hohe Frequenzen, so entsteht je nach Anteil des Grundtones ein

tragfähig bis scharfer Eindruck. Aus der Erkenntnis über das Vorhandensein der

Obertöne ergaben sich zudem die Intervallabstände unserer abendländischen

Musikkultur: Prim, Sekund, Terz, Quart, Quint, Sext, Septime, Oktave. Denn

unterteilt man die Saite am Monochord mit einem Steg genau in der Mitte und

zupft die halbierte Saite an, so ergibt sich genau die Oktav. Das Zahlenverhältnis

1:2 klingt also als Oktav. Wird nun die Saite dreigeteilt und in der gedrittelten

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Saite angezupft, so erklingt die Quinte. Das Verhältnis ist 2:3.

Die Intervalle sind, als Bausteine für Tonfolge und Melodiebildung, Bestandteile

der Harmonie. Doch sind sie nicht bloßer Abstand zwischen zwei Tönen sondern

gleichzeitig ein musikalisch bedeutendes Kraftelement (vgl. Ruland, 1990, S. 78).

Absteigende Melodien beispielsweise vermitteln eher das Gefühl der Trauer,

anders die aufsteigenden. Melodien, die weder eindeutig auf- noch abwärts ge-

richtet sind, haben hingegen einen eher erzählenden Charakter aufzuweisen (vgl.

Van Deest,1997, S. 142).

Die Quint vermag es, einen Patienten aufatmen zu lassen und ihn aus seiner stark

krankheitsbedingten Eigenwahrnehmung herauszulösen, ihm Vertrauen zu geben

für die helfende Umwelt. Während die steigende Quint als Empfindung des stau-

nenden sich Öffnens das Einatmen betrifft, bedeutet die fallende Quint eine Emp-

findung des befriedigten Zu-sich-Kommens im Ausatmen, ein erlösendes Ant-

wort-Empfangen und Boden-Finden. Das Quinterlebnis entspricht dem Bewusst-

seinszustand des Kindes, das mit seiner Umwelt vertrauensvoll verbunden ist und

erst allmählich eine eigene Innenwelt aufbaut.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass Magersüchtige eine Vorliebe

für genau diesen musikalischen Ausdruck haben. Aus musiktherapeutischer Sicht

gilt es, den Kranken abzuholen und in die innerliche Quart- und Terzsphäre zu

leiten. Diese drücken Lebendigkeit und Lebensfreude aus. Bei Asthma oder Ma-

gengeschwüren hingegen eignet es sich, das Quinterlebnis zu intensivieren. Es

sind dies Krankheiten, bei denen sensitives Seelisches zu stark ins Vegetative

hinein oder besser hinunter wirkt. Hierbei gelingt es der Quint, das tief ins Innere

Verknotete aufzulösen (vgl. Ruland, 1990, S.78-79).

Durch das Zusammenwirken verschiedener Töne, etwa durch Akkorde oder Har-

monien, entsteht ein Klang. Dabei sind Harmonien Zusammenklänge, die als

wohltuend und passend empfunden werden, im Gegensatz zu den Disharmonien,

den weniger schönen Klängen (vgl. Van Deest, 1007, S.97-98). Da die traditionel-

le Musik zumeist bestimmte Akkordverbindungen benutzt, hat sich allerdings

unser Ohr schon so weit daran gewöhnt, dass uns nur mehr die Fehler ins Be-

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wusstsein gerufen werden. Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich neben der

Melodie vorwiegend auf den Rhythmus (vgl. Altmann, Reiter, Würzl, 1980,

S.76).

4.2.2 Rhythmos und Tonos

Rhythmen hatten von Anbeginn der Menschheit eine besondere Bedeutung. Be-

stimmt durch die Abfolge von Tag und Nacht, Neu- und Vollmond, der Wieder-

kehr der Jahreszeiten sowie des weiblichen Zyklus ist anzunehmen, dass das

frühmenschliche Zeitbewusstsein zyklisch-rhythmisch gestaltet war (vgl. Spintge,

Droh, 1992, S.3). In der Musik ist das Gegenspiel von Rhythmos und Tonos, von

Strömen und Halten ebenso bedeutend.

Das tonosartige an Musik fordert uns etwa auf zum Hinlauschen, dagegen trägt

uns stark rhythmische Musik, nimmt uns mit, sie lässt uns unwillkürlich wippen,

wir wollen dazu tanzen und fühlen uns bewegungsmäßig angesprochen.

Je nachdem, wie stark der Rhythmus im musikalischen Erleben zu spüren ist, fühlt

man sich springlebendig (vivo, vivace), frisch und munter (allegro) oder müde

und schwer (grave), möglicherweise zu Tode ermattet (morendo). Dieses unter-

schiedliche Strömungs- und Lebensgefühl hängt zum einen vom musikalischen

Tempo, zum anderen vom Verhältnis des gewählten Tempos zum Herzschlag ab.

Alles, was unter einer normalen Pulsfrequenz liegt, wird als ruhig, gesetzt, behä-

big bis müde empfunden, darüber als anregend bis fieberhaft hetzend. Leise, nur

obenhin angetupfte Klänge in hohen Tonlagen erzeugen mehr Tonos- Lichtgefühl.

Musik in legato und forte mit tiefen Komponenten und dunkler Klangfarbe belebt

ein Rhythmos-, Lebens- und Kraftgefühl (vgl. Ruland, 1990, S.56-67).

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4.2.3 Sympatiko- und Parasympatikotone Wirkungen von Musik

Die Unterscheidung zwischen ergotroper und trophotroper Musik spinnt den

Gedanken von Rhythmos und Tonos ein Stück weiter und ist wichtig im Hinblick

auf vegetative Veränderungen, welche durch den Einsatz von Musik beim Kran-

ken ausgelöst werden können.

Merkmale ergotroper, übersetzt leistungssteigernder Musik sind neben harten

Rhythmen, die sich im Verlauf des Stücks beschleunigen und vorwiegend in Dur

stehen, Dissonanzen und höhere Dezibelstärken. Starke akzentuierte Rhythmus-

gestaltung und Stakkato-Charakter sind ebenso Kennzeichen ergotroper Musik.

Sie führen zu einer Erhöhung des Blutdrucks, zu Beschleunigung von Atemfre-

quenz und Puls. Es kommt außerdem zu vermehrtem Auftreten rhythmischer

Kontraktionen der Skelettmuskulatur. Die Pupillen erweitern sich, ein erhöhter

Hautwiderstand ist bemerkbar. Demgegenüber bewirkt die trophotrope Musik als

schwebende, vorwiegend in Moll stehende Musik mit geringen Dezibelstärken

und deutlich vorherrschenden Konsonanzen ein Herabsetzen der Vitalparameter,

Entspannung der Skelettmuskulatur, Pupillenverengung, geringeren Hautwider-

stand sowie möglicherweise Beruhigung und Somnolenz.

Während ergotrope Musik sympathikoton beeinflusst, stimuliert trophotrope

Musik den Nervus Vagus und wirkt damit parasymphatisch. Wenn wir auch emo-

tional gegen eine bestimmte Musik sind, auf der vegetativen Ebene reagieren wir

mit ihr (vgl. Decker- Voigt, 2000, S.55-80).

Dieser Ausflug in die grenzenlose Welt der musikalischen Wirkungsmechanis-

men verdeutlicht, dass es für den Musiktherapeuten ein umfassendes Studium

erfordert, um die differenzierten Erlebnisqualitäten zu erforschen. Wenn Musik in

den Pflegealltag einfließt, ist es daher notwendig, ein Empfinden für die Tragwei-

te der musikalischen Wirkungen zu entwickeln.

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5. DER EINSATZ VON MUSIK IM INTENSIVBEREICH

Gerade im Intensivbereich, an einem vielfach als trostlos empfundenen Ort, ge-

lingt es der Musik immer wieder, Licht in den finsteren Alltag zu bringen. Erfah-

rungen, dass Patienten die tage- oder sogar wochenlang keinerlei Lebenszeichen

äußerten, die Augen öffneten, die Hand drückten oder sogar lächelten, spornen an

zur Pflege mit Klängen (vgl. Van Deest, 1997, S.10).

Das folgende Kapitel geht im Konkreten der Frage nach, welche Erfolge Musik-

therapie beim kranken Menschen im Intensivbereich bisher aufzuweisen hatte und

welche wissenschaftlichen Belege dafür vorhanden sind. Kann durch den geziel-

ten Einsatz von Musik eine positive Stimulation des Patienten erreicht werden und

ist dies nur einer bestimmten, dafür geeigneten Zielgruppe vorbehalten? Außer-

dem soll ermittelt werden, welche Krankheitsbilder im Besonderen für den Ein-

satz von Musik geeignet sind.

5.1 Musik kontra Stressoren beim Komatösen

Die Inhalte der durch Musik hervorgerufenen emotionalen Reaktionen beim Be-

wusstlosen sind nicht messbar. Doch geben quantitative Aussagen in Form von

vegetativen Reaktionen aufschlussreiche Auskünfte, die im Zusammenhang mit

der Anwendung von Musik als Intervention gegen Stressoren sehr zielführend

sind. Die Grundlagen der Musiktherorie im Hinblick auf die therapeutische Wir-

kung wurden im Kapitel zur Physiologie der Töne ausführlich behandelt. Nun

aber stellt sich die Frage der Umsetzung:

Einen wehrlosen Menschen mit Kopfhörern zu beschallen, ist wenig einfühlsam,

ja beinahe brutal (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.131). Selbst die weitverbreitete

Meinung, laufende Radio und Kassettenrekorder ermöglichten ein entspannteres

Arbeiten, ist eine Irrtum. Abgesehen davon, dass Fehler entstehen können, ist es

oft schwierig, sich auf einen Sender zu einigen. Außerdem hört man unwillkürlich

auf Geräusche, die nebenbei erzeugt werden.

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Wenn man sich wirklich mit seinen Patienten verbindet, gehören auch die Gedan-

ken dazu, genauso wenn man Medikamente richtet oder Spritzen aufzieht (vgl.

Gustorff, Hannich, 2000, S. 135).

Natürlich gibt es dennoch Situationen, in denen Musikhören, trotz aller Vorbehal-

te, sinnvoll und angezeigt erscheint, doch muss es sich um sorgfältig gestaltete

Einzelsituationen handeln. Vor dem Hintergrund, für Angehörige ein Begeg-

nungsfeld zu schaffen, ist etwa das Einsetzen von Lieblingsmusik, besonders bei

einstmaligen Musikliebhabern, durchaus zu unterstützen. Zu beachten sind dabei

mögliche traumatische Erlebnisse. Das Spielen der bevorzugten Literatur kann aus

der Sicht des Patienten negativ besetzt sein, wird diese in Verbindung mit einem

Unfallgeschehen gebracht, welches den bestehenden Krankheitszustand ausgelöst

hat (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.140).

Die Wahl des richtigen Materials, was zum einen in der Arbeit mit komatösen und

bewusstseinseingeschränkten Patienten nicht immer leicht ist, zum anderen die

Kenntnis der verschiedenen Epochen und Stilrichtungen voraussetzt, ist sehr

entscheidend (vgl. Schroeder, 1995, S.34). Je nach Art der Musik bewirkt diese

eine mehr oder weniger starke Regression. Musik, die starke kulturelle Bezüge

herstellt oder literarische Verbindungen durch den Text schafft, hält die Regressi-

on unter Kontrolle. Je weniger Bezugspunkte an Rhythmus, musikalischer Kon-

struktion oder an Instrumenten bestehen, umso größer ist die Gefahr, dass sie als

beängstigend oder bedrohlich empfunden wird. Sind viele Anhaltspunkte, vor

allem in Metrum und Harmonien vorhanden, kann sich das Gefühl einer affekti-

ven und körperlichen Geborgenheit einstellen, wie etwa bei Werken von Bach,

Vivaldi, Mozart aber auch bei jeder volkstümlichen Musik, bei Volks- und Wie-

genliedern (vgl. Lecourt, 1979, S.117-119).

Bei der Vorbereitung des Raumes zur Konfrontation des Patienten mit Musik, ist

auf eine Optimierung des akustischen Umfeldes zu achten. Es sollte gewährleistet

sein, dass keine Alarme durch leere Infusionsflaschen auftreten. Die Therapie darf

nicht durch Visiten, Untersuchungen oder Lagerungen unterbrochen werden.

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Dass sich der Patient in einer möglichen Schlafphase befindet, ist im Vorhinein

auszuschließen. Nach sorgfältiger Auswahl der Musik berührt man den Patienten

und klärt ihn darüber auf, dass man mit ihm gemeinsam Musikhören möchte. Die

Betonung liegt dabei auf gemeinsam und schließt ein, dass ein Wiedergabegerät

mit externen Aktivboxen in der Nähe des Patienten steht oder aber die Kopfhörer

im Abstand von etwa 20 cm seitlich des Kopfes liegen. Der Patient hat das Recht,

zu wissen, was er hört, und er sollte erfahren, dass es nur ein Stück sein wird. Er

wird im Vorhinein darüber informiert, dass dieses abgebrochen wird, wenn man

merkt dass es ihm nicht gefällt (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.142). Die Laut-

stärke ist leise zu wählen, um den erwünschten Effekt zu erreichen. Die arbeitende

und sich dabei bewegende Pflegekraft stuft Musik oft als sehr leise ein, für den

Patienten mag sie hingegen laut wirken (vgl. Keller, 1999, S.89).

Bei weitem besser bewährt als das gemeinsame Hören von Musik hat sich bei

Komatösen die Methode des Singens im Atemrhythmus. Engagierte Angehörige

sowie geübte Mitarbeiter im Pflegeteam können sich diese Form der Begegnung

durchaus zutrauen, sofern der Patient in der Lage ist, die Frequenz der Atmung

selbst zu beeinflussen beziehungsweise keine pathologischen oder extrem schnel-

len Atemmuster vorhanden sind. Voraussetzung ist außerdem, dass der Patient

vegetativ stabil ist und keine Hirndrucksteigerung zu erwarten ist. In diesem Fall

ist die Behandlung einem Musiktherapeuten zu überlassen (vgl. Gustorff, Han-

nich, 2000, S.144-145).

Der Patient ist so zu lagern, dass, wenn Rückenlage nicht möglich ist, in Seitenla-

ge wenigstens ein Ohr frei bleibt. Der Singende platziert sich so, dass er bestmög-

lich zum Gesicht und Brustkorb des Patienten sehen kann. Er berührt ihn, stellt

sich vor und erklärt in größtmöglicher Ruhe, was ihn erwartet. Dann erfolgt zu-

nächst ein genaues Hinhören, Hinschauen und Offenwerden für die Äußerungen,

die das Gegenüber entgegenzubringen hat. All das in Erfahrung Gebrachte kann

schließlich in den musikalischen Dialog aufgenommen werden. Dabei eignet sich

der Atemrhythmus des Patienten am besten. Es kann sehr genau wahrgenommen

werden, ob dieser flach, flüchtig, ängstlich, kräftig, ruhig oder hastig ist. (vgl.

Gustorff, Hannich, 2000, S.144-145).

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Der Patient kann diesen Rhythmus auch selbst beeinflussen, sogar der Beatmete

ist in der Lage, seinem zentralen Rhythmus Individualität zu verleihen. Als Sänger

versuche ich mich auf den Atemrhythmus des Patienten einzustimmen, ich nehme

ihn auf und atme mit dem Patienten, letztlich singe ich in seinem Rhythmus. Die

gesangliche Improvisation richtet sich vollkommen nach den Möglichkeiten des

Patienten, sie entwickelt sich gemeinsam mit ihm. Dabei wird leise gesummt,

ohne Worte. Auch Musikinstrumente haben sich in diesem Zusammenhang als

eher störend erwiesen. Die eigene Stimme, als das persönlichste und flexibelste

Instrument, scheint am besten dafür geeignet zu sein, sich auf den Patienten ein-

zustellen . Es ermöglicht den direktesten Kontakt von Mensch zu Mensch und bei

jedem komatösen Patienten entsteht eine ganz persönliche Musik. (vgl. Gustorff,

Hannich, 2000, S.144-145).

Die Improvisation muss erinnerbar sein, damit sie gegebenenfalls in Teilen wie-

derholt werden kann. Tonart- und Stil richten sich ganz nach dem Charakter der

Atmung des Patienten und nach dem Gesamteindruck. Die musikalische Begeg-

nung wird nach 6- 10 Minuten beendet, nicht zuletzt deshalb, weil die nötige

Konzentration vom Ausführenden nicht länger gewährleistet ist. Die Lösung vom

Patienten kann schwierig sein, daher wäre es ideal, wenn eine andere Person die

Aufgabe des Ablösenden übernimmt (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.62-70).

Eine Patientin berichtet über ihr Erleben dieser Therapie:

„ ... ein wunderbares Ereignis, mehr als schön, ein intensives, tiefes Erlebnis. Der

Gesang der Musiktherapeutin traf mich im Herzen und ist darin geblieben. Ich

erlebte, aus der Dunkelheit eines Tunnels ins Helle zu kommen. Mit dem Gesang

kam das Licht. In diesem Moment fiel die Entscheidung zum Leben“ (Gustorff,

Hannich, 2000, S. 67-68).

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5.2 Musiktherapie in den diversen Intensivbereichen

Die Intensivpflege verlangt es, sich eingehend mit den Besonderheiten die den

komatösen Patienten betreffen, auseinanderzusetzen. Doch begegnen wir im

Rahmen der Intensivmedizin einer Reihe von Krankheitsbildern, bei denen der

Patient durchaus wach ist. Der Einsatz von Musik ist nunmehr aus einer völlig

neunen Perspektive zu sehen. Neben der Darstellung verschiedener Fachgebiete

im musiktherapeutischen Blickpunkt wird im Weiteren verstärkt auf musikalische

Wirkungen beim wachen Patienten eingegangen. Es ist festzuhalten, dass kein

einziger Hinweis auf eventuelle negative Effekte bei Beachtung der jeweiligen

Indikationen und Kontraindikationen vorhanden ist. Nur die Epilepsie wird als

mögliche Kontraindikation für Musik beschrieben (vgl. Spintge, Droh, 1992, S.

40).

5.2.1 Musik in der Anästhesie

In den operativ tätigen Fachgebieten Chirurgie, Orthopädie und Urologie sowie in

der fachübergreifenden Anästhesiologie liegt eine Vielzahl von Erfahrungen mit

dem Einsatz anxiolytischer Musik vor. Spintge definiert die anxiolytische, über-

setzt entspannende Musik, als die vom Patienten subjektiv erlebte und/oder die

vom Beobachter objektiv feststellbare Abwesenheit von Angst, gemessen an den

drei Verhaltensebenen der Emotion Angst: der kognitiv-verbalen, der physiologi-

schen und der psychomotorischen Ebene. Wie in Kapitel 4 erwähnt, handelt es

sich hierbei um suggestiv beabsichtigte Musikwirkungen. Eine sogenannte Hör-

apotheke anzulegen, ist hier durchaus sinnvoll. Während beim Komatösen Rück-

zug vermieden werden soll, steht jetzt die „passivierende“ Wirkung der Musik im

Vordergrund. Instrumentalmusik ist dabei der Vokalmusik stets vorzuziehen. Das

gesungene Wort weckt analysierende Aufmerksamkeit und regt zur Konzentration

an, entgegen dem in der Anästhesie erwünschten Effekt.

Spintge berichtet von klinisch kontrollierten und randomisierten Studien, die der

Musik außerordentliche Erfolge zuweisen.

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Der Einsatz von frei wählbaren Musikprogrammen wurde vom überwiegenden

Anteil der Patienten als psychophysiologische Anästhesie- und Operationsvorbe-

reitung während der präoperativen Wartezeit und der Narkoseeinleitung als psy-

chische Stütze empfunden. Die Prämedikation von Triflupromazin (Psyquil) und

Thalamonal konnte damit um 50 Prozent gesenkt werden, dabei wurde der Status

des Patienten vor, während und nach der Anästhesie nicht beeinflusst.

Der Prä- intra- und postoperative Bedarf an Anästhetika, Relaxantien und Analge-

tika blieb im Vergleich zur normalen Prämedikation unverändert (vgl. Spintge,

1988, S. 160-164). Dem anxiolytischen Effekt der Musik bedient man sich in

allen Bereichen der Schmerztherapie (vgl. Spintge, Droh, 1992, S. 72).

5.2.2 Musik in der inneren Medizin

Die Belastung, die durch extremen psychophysischen Stress für den Patienten

entsteht, kann laut Aussage der Kranken am ehesten durch menschliche Betreuung

aufgefangen werden. Eine individuelle psychische Betreuung ist aber nur in selte-

nen Fällen möglich. Klapp setzte daher bei Herzinfarktpatienten einer Intensivsta-

tion entspannende Musik ein. Nachdem die Befragten der Sache zunächst eher

ablehnend gegenüberstanden, äußerten sie sich hinterher nahezu einhellig positiv

(vgl. Spintge, Droh, 1992, S.71). Cathie E. Guzetta, Krankenschwester und Präsi-

dentin der Holistic Nursing Consultans in Dallas, hat umfassende Studien an drei

Krankenhäusern in Washington D.C. durchgeführt. Dabei wurde durch gezielte

Entspannungs- und Musiktherapie die durchschnittliche Herzfrequenz der Herz-

kranken von 100 auf 80 Schläge pro Minute gesenkt, der systolische Blutdruck

konnte von 150 auf 130 mm/Hg herabgesetzt werden. Koronare Komplikationen

und Angstzustände wurden gemindert, die peripheren Temperaturen von 22,2

Grad C auf 34, 4 Grad C gehoben, ein Zeichen, dass die Patienten entspannter

waren (vgl. Campbell, 1998, S. 304-306).

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5.2.3 Musik in Neurologie und Psychiatrie

Erfahrungen mit Hirngeschädigten bestätigen, dass diese zur Zeit der Rehabilitati-

on extrem empfindliche Hörer sind. Dadurch, dass sie aufmerksamer und genauer

hören, hören sie tiefer und sind leicht verletzbar. Musikstücke aus dem klassi-

schen Bereich, welche von uns unter den Bedingungen der Alltagswahrnehmung

als angenehm oder nicht weiter aufregend erlebt werden, können daher extreme

Reaktionen herbeiführen. Gefühle bis hin zur Lebensbedrohung werden beschrie-

ben. Somit ist bei instabileren Patienten mit Musik aus der Konserve Vorsicht

geboten (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.140). Im Gemeinschafskrankenhaus

Herdecke hat sich hierbei das Singen im Atemrhythmus bewährt. Begonnen wur-

de mit Menschen, die aufgrund von Hirninfarkten oder Hirnblutungen, nach

Schädelhirntrauma oder nach Reanimation bewusstlos waren. Einige dieser Pati-

enten wünschten auch im wachen Zustand, vor allem, wenn sie noch beatmet

wurden, weitere musiktherapeutische Betreuung. Bei Alkoholikern im Delirium

wurde die Erfahrung gemacht, dass die Musiktherapie in der beschriebenen Form

eher verwirrte, als dass sie hilfreich war (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S. 69).

5.2.4 Musik in der prä- und postnatalen Medizin

Den Erkenntnissen Tomatis zufolge ist das ungeborene Kind vielen sensorischen

Einflüssen ausgesetzt. Während der gesamten fetalen Zeit erlebt das Kind den

Rhythmus des Herzschlages der Mutter. Demzufolge erzeugen Rhythmen die das

Neugeborene daran erinnern, eine beruhigende Wirkung (vgl. Van Deest, 1997,

S.90). Tomatis betont außerdem, dass die ‚stimmliche Ernährung’ für die Ent-

wicklung eines kleinen Menschen ebenso notwendig ist wie die Milchflasche (vgl.

Tomatis, 2000, S.217). Das Kind soll mit dem schon vor der Geburt vertrauten

Klang aufwachsen, indem die Mutter einen Text auf Tonband spricht, der mehr-

mals täglich vorgespielt wird. Bis zur 35./36. Lebenswoche sind die Gehörknö-

chelchen ins Gewebe eingebettet, die Mutterstimme ist daher über Knochenleis-

tung zu übertragen (vgl. Van Deest, 1997, S. 93-94).

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6. IRRWEGE IN DER PFLEGE MIT MUSIK BEIM

INTENSIVPATIENTEN

In der Anwendung von Musiktherapie ist es sehr entscheidend, sich vor Augen zu

halten, dass Musik zwar heilen kann, sie läuft aber auch Gefahr, überschätzt zu

werden. Sie kann schaden und damit zu Krankheit, Wahnsinn und auch zum Tod

führen (vgl. Decker-Voigt, 2000, S. 74). Es ist heute eine bewiesene Tatsache,

dass schnelle Musik auch den Pulsschlag beschleunigt und dass durch Musik

Blutdruck-, Herzrhythmus- und damit auch EKG-Veränderungen hervorgerufen

werden können. Verschiedene Musikrichtungen, darunter Heavy Metal und Tech-

no vermögen es, tranceartige Zustände hervorzurufen und sie können im Rhyth-

mus gegen den Hertzschlag auch den Tod herbeiführen. Die folgenden Zeilen

gehen der Frage nach, welche Kontraindikationen, Grenzen und Irrwege sich in

der Arbeit mit Musik im Krankenhaus ergeben können.

6.1 Die Grenzen der Musiktherapie

Musiktherapie heißt auch, die Grenzen der musikalischen Chemie zu kennen (vgl.

Hegi, 1998, S. 19). Musik ist kein Wundermittel, sondern sie ist lediglich ein

Medium der Verständigung und des Austauschs. Manchmal erreicht sie uns und

unsere Gefühle oder Stimmungen, ein andermal wieder gelingt es ihr nicht (vgl.

Van Deest, 1997, S. 18). Musikalische Erlebnisse mit Hilfe der Sprache zu be-

schreiben, ist ein mühsames Unterfangen und es wird in jedem Falle unvollständig

bleiben. Wahrscheinlich liegt in genau dieser Offenheit die besondere Faszination,

welche Musik ausmacht. Fest steht: Jeder Mensch kann in der Musik nur das

fühlen, wozu er selbst imstande ist. Jeder Mensch erlebt seine eigene Trauer und

seine eigene Fröhlichkeit. Natürlich geben bestimmte Musikstücke bzw. Musiksti-

le unterschiedliche Tendenzen vor. Doch kann zum Beispiel fröhliche Musik

einen traurigen Menschen aufheitern, einen anderen kann sie aber gerade aufgrund

ihres heiteren Charakters zum Weinen bringen (vgl. Van Deest, 1997, S. 19).

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Demnach kann Musik nicht verordnet werden wie ein Medikament, das eine, für

alle Menschen zu jeder Zeit gleiche Wirkung hat. Darin liegt die Stärke der Mu-

sik, dass sie jeder im Prozess des Wahrnehmens, des Hörens neu erschafft, jeder

auf seine Weise und in Abhängigkeit von der aktuellen Befindlichkeit, dem Ge-

schmack und der Hörsituation (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S. 131).

6.2 Musische Missverständnisse im Pflegealltag

Immer wieder findet man in der Literatur die Unterscheidung zwischen passiver

und aktiver Musiktherapie. Gerade die Bezeichnung „passiv“ führt allerdings

möglicherweise zu einer gravierenden Fehleinschätzung. Es ist richtiger von

rezeptiver Musiktherapie zu sprechen, denn obwohl der Patient nicht am Musizie-

ren beteiligt ist, ist es dennoch ein weitreichend aktiver Prozess, der die auditive

Wahrnehmung, rationale und vor allem emotionale Verarbeitung bis zu vegetati-

ven Reaktionen umfasst (vgl. Burkhardt, 1988, S. 129). Musik wird mit den Oh-

ren gehört, jedoch mit dem ganzen Körper gefühlt. Der Patient ist also nur äußer-

lich ruhig, das Zuhören selbst ist ein sehr aktiver Prozess. Er wird begleitet von

biologischen und seelischen Vorgängen, was eine genaue Beobachtung des Pati-

enten erfordert. Puls, Blutdruck und Atmung verändern sich, Hautreaktionen sind

eine mögliche Antwort auf das durch die Musik Erlebte. Freude, Schmerz, Angst

sowie Trauer oder Langeweile können verstärkt wahrgenommen werden (vgl.

Schroeder,1995, S.41).

Musiktherapie ist nicht gleich Berieselung. Eine Komastimulation im Sinne von je

mehr desto besser birgt sogar große Gefahren für den Kranken, denn es drängt ihn

in die anfangs beschriebene Rolle eines Wesens, von dem erwartet wird, auf

unsinnige, pauschale Reize wie ein Automat zu reagieren. Verängstigung, Rück-

zug und Verwirrung sind dann Ergebnis der ursprünglich erwünschten vertrauens-

vollen Hinwendung eines Menschen zu einem Menschen (vgl. Gustorff, Hannich,

2000, S.127). Bei sedierten Patienten ist Musikhören kontraindiziert. Sie sind aus

guten Gründen medikamentös ruhiggestellt und sollten nicht durch Musik ein

konträres Signal erhalten (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.141).

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Es sei erwähnt, dass Schmerzprovokationen bei somnolenten oder bewusstlos

erscheinenden Patienten kontraproduktiv ist. Welche Mutter käme auf die Idee,

ihr schlafendes Kind zu schlagen? Vielmehr wird sie die Phase des Erwachens

langsam herbeiführen um nicht einem geschockten, schreienden Kind ins Auge

sehen zu müssen (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.127).

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7. AUF DEM WEG ZUR GANZHEITLICHKEIT DURCH

INTERDISZIPLINÄRE ZUSAMMENARBEIT

Das Wohlergehen des Patienten ist ein wichtiges Ziel im täglichen Krankenhaus-

betrieb. Um dies zu ermöglichen, bedarf es der Zusammenarbeit mehrerer Profes-

sionen. Welche berufsübergreifenden Erfordernisse aber birgt die Vision

,Ganzheitliche Pflege’ tatsächlich und wie kann interdisziplinäre Kooperation

bezogen auf die Arbeit mit Musik in der Intensivpflege stattfinden?

Das Bundesgesetz über Gesundheits- und Krankenpflegeberufe von 1997 unter-

scheidet für den gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege drei

wesentliche Aufgabenbereiche. Dazu gehören eigenverantwortliche, mitverant-

wortliche und interdisziplinäre Aufgaben, wobei der interdisziplinäre Tätigkeits-

bereich jene Tätigkeiten aufgreift, die sowohl die Gesundheits- und Krankenpfle-

ge als auch andere Berufe im Gesundheitswesen betreffen. Die Angehörigen des

gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege haben dabei Vorschlags-

sowie Mitentscheidungsrecht und sie tragen die Durchführungsverantwortung für

alle von ihnen in diesen Bereichen gesetzten pflegerischen Maßnahmen. 2

Viele Erfahrungen der letzen Jahre zeigen, dass die Mitarbeit von Musiktherapeu-

ten im Intensivbereich zunehmend als Bereicherung und Entlastung empfunden

wird, gerade im Bezug auf die Betreuung komatöser Patienten. Eine Unterstüt-

zung von medizinischen Seite ist in diesem Fall Voraussetzung. Die Nachfrage

nach Seminaren zum Thema Musiktherapie sowie nach Beratung auf diesem

Sektor ist enorm. Dem Wunsch von Stationsmitarbeitern, eine Therapie mitzuer-

leben sollte man als Musiktherapeut entsprechen. Umgekehrt braucht dieser Hilfe-

stellungen vom Pflegepersonal. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit ist im

Intensivbereich stark gefordert, auch was das Einbeziehen von Musik anlangt.

Eine Erläuterung der Hygienevorschriften, z.B. über die Notwendigkeit von Mas-

ken, Kittel, Handschuhen oder aber den Verzicht darauf, ist für den Musikthera-

peuten sehr hilfreich.

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Das Erhalten zusätzlicher Eckdaten aus Anamnese und Biographie des Patienten

ebenso wie Angaben zum Hörvermögen sind Grundlage für den Start einer Thera-

pieeinheit. Ein Austausch, ähnlich einer pflegerischen Dienstübergabe, über die

Befindlichkeit des Patienten, seine Bewusstseinslage oder Äußerungen seinerseits

werden notwendig sein. Das Wissen über die Veränderung der Beatmungsart, der

Sedierung ist auch für den Therapeuten essentiell genauso wie der Umgang mit

Angehörigen (vgl. Gustorff, Hannich, 2000, S.146-147). Dagmar Gustorff, Mu-

siktherapeutin im Intensivbereich, berichtet, dass Teambesprechungen und Über-

gaben zunächst eine große Herausforderung bedeuteten, v.a. was das Vereinen der

unterschiedlichen Sprachstile und Wahrnehmungsschwerpunkte von Intensivme-

dizin und Musiktherapie betrifft. Doch erwähnt sie auch die gegenseitige Berei-

cherung, die sich dann einstellte, wenn ein Austausch gelingen konnte, was sich

positiv auf die Entwicklung der Patienten auswirkte (vgl. Gustorff, Hannich,

2000, S.70).

Dass ein Musiktherapeut in der Intensivmedizin präsent ist, bedeutet einen Ideal-

fall, eher aber die Seltenheit. Ein Bericht von Helmut Schillo, einem Stationspfle-

ger im neurologischen Intensivbereich in Deutschland, schildert eindrucksvoll,

wie sein Pflegepersonal mit Musik arbeitet. Und er fordert uns heraus, mutig zu

sein:

„Wir sind in den allermeisten Fällen auf den Einsatz von Musikkonserven ange-

wiesen. In den allermeisten Fällen heißt das, auch wir haben durchaus die Mög-

lichkeit, mit Musik in direkten Kontakt mit den Patienten zu treten. Es mag Ihnen

vielleicht seltsam erscheinen, aber was hindert Sie denn daran - außer den ver-

wunderten Blicken Ihrer Kollegen - einem Patienten etwas vorzusingen? Oder

animieren Sie die Angehörigen, beim Kranken zu singen. In unser aller Vorstel-

lung ist das Singen mit Kindern, etwa vor dem Schlafengehen, völlig normal.

Warum sollte es nicht auch mit Patienten, die in ihrer geistigen Fähigkeit auf diese

Stufe zurückgeworfen wurden, gehen und ihnen gut tun? [...] Und wenn wir selbst

in diesen Minuten zur Besinnung kommen und uns der Hektik der Intensivstation

etwas entziehen, wäre das nicht das schlechteste Ergebnis.“3

3 vgl. http:/www. Pflegenet.com/praxis/konzepte/musik.html

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Nach einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der behandelten Thematik sei

diesem Zitat folgende Anmerkung seitens der Autorin hinzuzufügen: Aus dem

Bericht von Helmut Schillo geht hervor, dass eine Vertiefung mit fundierter Lite-

ratur zum Einsatz von Musik beim Patienten stattgefunden hat, das sichtbare

Engagement ist erfreulich.

Die Musiktherapie des 21. Jahrhunderts umfasst jedoch eine eigene Wissen-

schaftsdisziplin. Dies heißt auch, dass es nicht mehr die singenden Ärzte und

Schwestern sein sollten, die versuchsweise dem Patienten Gutes tun wollen.

Besonders im Bereich der Esoterik tauchen vermehrt Offerte auf, die als Musik-

therapie verkauft werden, es sei dahingestellt, inwieweit dabei wirtschaftliche

Faktoren vordergründig sind. Fest steht, dass es für den Laien in der Beurteilung

von Angeboten durchaus schwierig werden kann, die Qualität richtig einzustufen.

Ebenso wie Ergo- und Physiotherapeuten einstmalige Aufgaben der Pflege über-

nommen und ausgeweitet haben, steht die Arbeit mit Musik am Patienten in erster

Linie jenen zu, die diese auch professionell ausführen können. Pflegende vermö-

gen dem Patienten durch unterstützende Gespräche und Zuwendung in der psy-

chologischen Betreuung eine enorme Kraftquelle sein, doch eine notwendige

Psychotherapie ersetzen sie nicht. Ähnliches gilt für die Musiktherapie mit Inten-

sivpatienten.

Eine der herausforderndsten, um nicht zu sagen schwierigsten Kompetenzen in

der Krankenpflege kann es sein, wachsam zu werden. Pflegequalität hat nicht nur

mit Handlungen sondern auch mit Management zu tun. Unsere Aufgabe ist es, den

Patienten ins Zentrum zu rücken, uns für ihn einzusetzen und in diesem Sinne

Berufsgruppen zusammenzuführen. Damit wir dem Kranken die bestmögliche

Behandlung gewähren können, ist es erforderlich, informiert zu sein- in vielen

Bereichen. Dies bedeutet wiederum, dass es deutlich wertvoller sein kann, Über-

blick zu bewahren und bescheid zu wissen auf allen Ebenen, als selbst Hand

anzulegen.

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8. PERSÖNLICHE GEDANKEN ZUM EINSATZ VON

KLANGKÖRPERN ALS MOTOR FÜR HARMONISCHE

KÖRPERKLÄNGE

Ich denke zurück an den 26. Juni 2000. Es ist jener Tag der in meinem Herzen das

Fundament gelegt hat für das nun vollendete Werk. Vor mir zeichnet sich das Bild

einer Diplomfeier im Festsaal des Neuen Rathauses in Linz. Im Mittelpunkt stan-

den dabei dreizehn Klangkörper, darunter ein Klavier, eine Querflöte und elf

Mitglieder unseres Schülerchores. Meine Aufgabe war es, den Rahmen für eine

gelungene Diplomverleihung zu schaffen und damit die Absolventinnen und

Absolventen des Jahrganges 1997/2000 würdig vom Schülerdasein zu verab-

schieden. Die laufenden Probenarbeiten waren, getrieben von der Hektik des

Schulalltags und der doch großen Anspannung, die ein Auftritt vor mehreren

hundert Zuhörern mit sich bringt, manchmal alles andere als harmonisch. Umso

schöner sind aber meine Erinnerungen an die Reaktionen der Festgäste auf unsere

Darbietungen. Die Aussage einer Lehrerin, sie hätte beim Erklingen unserer Lie-

der ein unheimliches Kribbeln verspürt und das Kompliment unseres medizini-

schen Schulleiters vor der versammelten Festgemeinschaft, er habe selten zuvor

einen derartig feierlichen Abschluss erlebt, bleiben mir als dankende Anerken-

nung bestimmt noch lange im Kopf. Besonders berührt haben mich auch die

zahlreichen Lobeshymnen von Seiten der Diplomandinnen und Diplomanden.

Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Klänge die Aufmerksamkeit des Menschen

wecken können und wie es Musik vermag, Gefühle in uns wachzurufen. Es

kommt bestimmt nicht von ungefähr, dass für viele Kinder der erste Weg beim

Eintritt in unser Haus zum Klavier führt oder dass eine bettlägerige Frau und

ehemalige Musikerin im Seniorenheim beim Hören von Mozart und Chopin ein

deutliches Schmunzeln über die Lippen bringt.

Meine Erfahrungen mit Klangtherapie an mir selbst reichen von der frühen Kind-

heit bis in die Gegenwart. Jegliche Form von Musik, aktiv wie auch passiv, dient

mir als Ausgleich zu Schule und Arbeit.

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Wenn ich in den ersten Lebensjahren zu Mozarts Zauberflöte reflektorisch einge-

schlummert bin, so behalte ich heute kurz vor Prüfungen durch das Summen von

Liedern klaren Kopf.

Die Erkenntnis, dass weniger oft mehr sein kann, ist für mich ein sehr elementare.

Der Blick in die lachenden Gesichter der onkologischen Patienten unseres Kran-

kenhauses, kurz vor Weihnachten, wird mir unvergessen bleiben. Aus dem Hilfe-

ruf der Stationsschwester, einige Schülerinnen mögen für den alljährlich auftre-

tenden Chor kurzfristig einspringen, wurde schließlich ein gemeinsames Musizie-

ren mit Patienten und Personal. Der Advent ist eine emotional hochbesetzte Zeit,

besonders für Sterbende. Schön, dass im Dezember 2000 anstatt mancher Träne

ein Stück Freude und ein Funken Hoffnung entsprungen sind.

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9. ZUSAMMENFASSENDE DARSTELLUNG

Die nun abgeschlossene Forschungsarbeit bietet nur ein Hineinschnuppern in die

bearbeitete Thematik. Ebenso wie Musik in ihrer Vielfalt keine Grenzen kennt, so

besitzen auch die Menschen an denen wir handeln verschiedenste Persönlichkei-

ten, jede mit ihren individuellen Bedürfnissen und Wünschen. Den Patienten der

Onkologie habe ich eine einschneidende Erfahrung in meinem persönlichen Erle-

ben mit Musik zu verdanken. Was theoretisch bekannt und rational nachvollzieh-

bar ist, durfte ich nunmehr hautnah spüren. Ihnen gilt damit auch das Schlusswort,

denn sie haben mir beigebracht was es bedeutet, Musik in der rauen Wirklichkeit

als heilsam zu empfinden. Jenes spontan gelungene Weihnachtsfest inmitten von

Schwerkranken soll uns lehren, Musik kennt keine starren Strukturen wie wir sie

im Krankenhaus häufig gewohnt sind. Während Medizin und Administration

strenge Genauigkeit und rationelles Handeln fordern, verlangt der Umgang mit

Musik in erster Linie Kreativität, Mut und Offenheit. Es lassen sich weder Stan-

dards noch vorgefertigte Diagnosen erstellen, die uns das Pflegen mit Klängen

erleichtern. Die Pflege des neuen Jahrtausends ist aber eine immerzu emanzipier-

tere, im Aufbruch stehende Profession. Durch den zunehmenden Wissenschafts-

charakter, hin zu akademischen, eigenständigen Pfaden verdient das Einbinden

von Musik in den ganzheitlichen Pflegealltag mehr als nur einen Gedanken. Die

zentrale Aufgabe der Pflegenden liegt darin, Offenheit zu schaffen für neue Wege

und jenen Raum zu lassen, die den Patienten auf professionelle Art und Weise mit

Klängen unterstützen können. Dies ist meines Erachtens auch die Quintessenz zur

anfangs gestellten Leitfrage, welche detailliert beantwortet werden konnte. In

diesem Sinne möchte ich mit den Worten von Florence Nightingale schließen, die

als eine der ersten Befürworterinnen der Musiktherapie, meinte:

„Krankenpflege ist eine Kunst und fordert - wenn sie zur Kunst werden soll - eine

ebenso große Hingabe, eine ebenso ernste Vorbereitung wie das Werk eines Ma-

lers oder Bildhauers, denn was bedeutet die Arbeit an toter Leinwand oder kaltem

Marmor im Vergleich zu der am lebendigen Körper, dem Tempel für den Geist

Gottes? Krankenpflege ist eine der schönsten Künste, fast hätte ich gesagt, die

schönste aller Künste.“ (zitiert nach: Gestrich, 1991, S. 13)

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10. LITERATURVERZEICHNIS

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