Rezension: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der...

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Rezensionen Ɛhnlich kɆnnte man das Dictionnaire in Bezie- hung setzen zu dem ungemein reichhaltigen Ange- bot meist außeruniversitȨrer Lehrformen der Che- mie, die zur Zeit großes Interesse erfȨhrt (John Perkins, Creating Chemistry in Provincial France before the Revolution: The Examples of Nancy and Metz, Ambix 50 (2003), 145–181 und 51 (2004), 43–75; Bernadette Bensaude-Vincent, Christine Lehman, Public Lectures of Chemistry in Mid-Eighteenth-Century France, in: Lawrence M. Principe (Ed.), New Narratives in Eighteenth- Century Chemistry , Dordrecht 2007, 77–96). In beiden FȨllen kȨme man von der Logik dieses komplizierten Textes zu seinem tatsȨchlichen Ge- brauch. Denn dass die „eigentliche Funktion“ (S. 91) des Dictionnaire die eines „Nachschlagewer- kes“ (S. 91) ist, sollte nicht vorschnell vorausge- setzt werden. Doch dies wȨren offensichtlich weit ɒber eine Dissertation hinausgehende Forschungs- projekte, deren Notwendigkeit gerade durch Schmiederers bis ins Detail gehende Analyse aller Ausgaben von Macquers Dictionnaire schonungs- los deutlich wird. Jan Frercks (Flensburg) Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 379–389 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 383 DOI: 10.1002/bewi.200901435 Annette Meyer, Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufkla ¨rung. (Hallesche BeitrȨge zur EuropȨischen AufklȨrung; 36), Tɒbingen: Max Niemeyer 2008. VIII, 335 S., e 89,95. ISBN-13: 978-3-484-81036-5. Annette Meyers Dissertation mɆchte unser Bild vom schottisch-deutschen Wissenstransfer vervoll- stȨndigen und dadurch die AktualitȨt des aufklȨre- rischen historischen Denkens hervorheben, das im 19. Jahrhundert infolge von Nationalismen und einer Verfachlichung der Disziplinen eine verzerr- te, aber bis heute andauernde RezeptionsidentitȨt annahm. Beide Ziele werden durch die Festlegung der epistemologischen, methodischen und kultur- ellen PrȨmissen von zwei miteinander verbunde- nen Formen des Wissens vom Menschen (der schottischen ,natural history of Mankind‘ und der deutschen ,Menschheitsgeschichte‘) verfolgt. Grundlegend fɒr die Anlage der Arbeit ist dabei der Versuch, die Ergebnisse der bisherigen For- schung insofern auszugleichen als hier epistemolo- gische Motive an die Stelle von politischen und Ȩs- thetischen treten und anstatt der bekannten deut- schen Klassiker (Lessing, Herder, Kant) Figuren der damaligen intellektuellen Szene, zumal der Po- pularphilosophie (u. a. FlɆgel, Jenisch, Beck, Kraus, Irwing, aber auch Tetens, Forster, Meiners, Carus) behandelt werden. Der erste Teil hinterfragt in vergleichender Pers- pektive und im Hinblick auf die intellektuelle Krise des 17. und 18. Jahrhunderts die UniversitȨtssys- teme bzw. die von den Nationalsprachen vermittel- te Idee von Wissenschaft als die institutionelle bzw. konzeptionelle Entstehungsbedingung des neuen Wissens vom Menschen. Die UniversitȨt spielt da- bei eine „entscheidende“ (S. 74), keineswegs bloß „passiv-reaktive“ (S. 89) Rolle, indem sie die inno- vativsten, aber außerhalb ihrer HɆrsȨle entworfe- nen Ideen durchsetzt, sich der Demokratisierung des Wissens und den praxisorientierten Kenntnis- sen Ɇffnet und sich dementsprechend selbst refor- miert. Diese aus der UnzulȨnglichkeit der alten Scholastik entstandene Tendenz spiegelt sich auch in den Wissenschaftsauffassungen der einschlȨgi- gen Lexikon- und EnzyklopȨdieartikel, wobei ,science‘ die empirische Seite der Erkenntnis bzw. ,Wissenschaften‘ die Erweiterung der FȨcher spezi- ell betont (S. 25–43, S. 45–46). Parallel dazu wird eine Wissenschaft vom Men- schen entworfen, die ihren ersten Anstoß von Da- vid Humes Erkenntnistheorie und experimenteller Neubegrɒndung der Moral erhȨlt, aber ihre weite- re Umsetzung in eine Naturgeschichte der Menschheit erst von Adam Smith initiiert wird (S. 99–105). Die antischolastische PrȨmisse und Me- thodik sowie die verschiedenen Formulierungen der schottischen Schule bilden das Thema des zweiten Teils. Den Rahmen des neuen Wissens vom Menschen bietet der Ƞbergang von der Wahr- heit zur Wahrscheinlichkeit als Wechsel von einem kategorial-deduktiven zu einem hypothetisch-de- duktiven System (S. 45, dazu noch S. 190). Das Axiom der UniformitȨt der menschlichen Natur (S. 107–113) und die in Abgrenzung von Rousseau als Prinzip derselben konstanten Natur umgedeu- tete PerfektibilitȨtsthese (S. 124) bilden die histo- risch-anthropologische Grundlage dieses Wissens. Analogieschlɒsse, vergleichendes Verfahren und Verknɒpfung von Ursache und Wirkung machen dessen Methode aus (S. 140–155). Der dritte und letzte Teil geht den Rezeptions- wegen, -umstȨnden und -wirkungen des schotti- schen Ansatzes in Deutschland nach. Die Autorin

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Page 1: Rezension: Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vom Menschen in der schottischen und deutschen Aufklärung von Annette Meyer

Rezensionen

�hnlich k�nnte man das Dictionnaire in Bezie-hung setzen zu dem ungemein reichhaltigen Ange-bot meist außeruniversit�rer Lehrformen der Che-mie, die zur Zeit großes Interesse erf�hrt (JohnPerkins, Creating Chemistry in Provincial Francebefore the Revolution: The Examples of Nancyand Metz, Ambix 50 (2003), 145–181 und 51(2004), 43–75; Bernadette Bensaude-Vincent,Christine Lehman, Public Lectures of Chemistryin Mid-Eighteenth-Century France, in: LawrenceM. Principe (Ed.), New Narratives in Eighteenth-Century Chemistry, Dordrecht 2007, 77–96).

In beiden F�llen k�me man von der Logik dieseskomplizierten Textes zu seinem tats�chlichen Ge-brauch. Denn dass die „eigentliche Funktion“ (S.91) des Dictionnaire die eines „Nachschlagewer-kes“ (S. 91) ist, sollte nicht vorschnell vorausge-setzt werden. Doch dies w�ren offensichtlich weit�ber eine Dissertation hinausgehende Forschungs-projekte, deren Notwendigkeit gerade durchSchmiederers bis ins Detail gehende Analyse allerAusgaben von Macquers Dictionnaire schonungs-los deutlich wird.

Jan Frercks (Flensburg)

Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 379–389 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 383

DOI: 10.1002/bewi.200901435

Annette Meyer, Von der Wahrheit zur Wahrscheinlichkeit. Die Wissenschaft vomMenschen in der schottischen und deutschen Aufklarung. (Hallesche Beitr�ge zurEurop�ischen Aufkl�rung; 36), T�bingen: Max Niemeyer 2008. VIII, 335 S.,e 89,95. ISBN-13: 978-3-484-81036-5.

Annette Meyers Dissertation m�chte unser Bildvom schottisch-deutschen Wissenstransfer vervoll-st�ndigen und dadurch die Aktualit�t des aufkl�re-rischen historischen Denkens hervorheben, das im19. Jahrhundert infolge von Nationalismen undeiner Verfachlichung der Disziplinen eine verzerr-te, aber bis heute andauernde Rezeptionsidentit�tannahm. Beide Ziele werden durch die Festlegungder epistemologischen, methodischen und kultur-ellen Pr�missen von zwei miteinander verbunde-nen Formen des Wissens vom Menschen (derschottischen ,natural history of Mankind‘ und derdeutschen ,Menschheitsgeschichte‘) verfolgt.Grundlegend f�r die Anlage der Arbeit ist dabeider Versuch, die Ergebnisse der bisherigen For-schung insofern auszugleichen als hier epistemolo-gische Motive an die Stelle von politischen und �s-thetischen treten und anstatt der bekannten deut-schen Klassiker (Lessing, Herder, Kant) Figurender damaligen intellektuellen Szene, zumal der Po-pularphilosophie (u. a. Fl�gel, Jenisch, Beck,Kraus, Irwing, aber auch Tetens, Forster, Meiners,Carus) behandelt werden.

Der erste Teil hinterfragt in vergleichender Pers-pektive und im Hinblick auf die intellektuelle Krisedes 17. und 18. Jahrhunderts die Universit�tssys-teme bzw. die von den Nationalsprachen vermittel-te Idee von Wissenschaft als die institutionelle bzw.konzeptionelle Entstehungsbedingung des neuenWissens vom Menschen. Die Universit�t spielt da-bei eine „entscheidende“ (S. 74), keineswegs bloß„passiv-reaktive“ (S. 89) Rolle, indem sie die inno-vativsten, aber außerhalb ihrer H�rs�le entworfe-nen Ideen durchsetzt, sich der Demokratisierung

des Wissens und den praxisorientierten Kenntnis-sen �ffnet und sich dementsprechend selbst refor-miert. Diese aus der Unzul�nglichkeit der altenScholastik entstandene Tendenz spiegelt sich auchin den Wissenschaftsauffassungen der einschl�gi-gen Lexikon- und Enzyklop�dieartikel, wobei,science‘ die empirische Seite der Erkenntnis bzw.,Wissenschaften‘ die Erweiterung der F�cher spezi-ell betont (S. 25–43, S. 45–46).

Parallel dazu wird eine Wissenschaft vom Men-schen entworfen, die ihren ersten Anstoß von Da-vid Humes Erkenntnistheorie und experimentellerNeubegr�ndung der Moral erh�lt, aber ihre weite-re Umsetzung in eine Naturgeschichte derMenschheit erst von Adam Smith initiiert wird (S.99–105). Die antischolastische Pr�misse und Me-thodik sowie die verschiedenen Formulierungender schottischen Schule bilden das Thema deszweiten Teils. Den Rahmen des neuen Wissensvom Menschen bietet der �bergang von der Wahr-heit zur Wahrscheinlichkeit als Wechsel von einemkategorial-deduktiven zu einem hypothetisch-de-duktiven System (S. 45, dazu noch S. 190). DasAxiom der Uniformit�t der menschlichen Natur(S. 107–113) und die in Abgrenzung von Rousseauals Prinzip derselben konstanten Natur umgedeu-tete Perfektibilit�tsthese (S. 124) bilden die histo-risch-anthropologische Grundlage dieses Wissens.Analogieschl�sse, vergleichendes Verfahren undVerkn�pfung von Ursache und Wirkung machendessen Methode aus (S. 140–155).

Der dritte und letzte Teil geht den Rezeptions-wegen, -umst�nden und -wirkungen des schotti-schen Ansatzes in Deutschland nach. Die Autorin

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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 32 (2009): Rezensionen

konzentriert sich u. a. auf die Publizistik, zumaldie rege �bersetzungst�tigkeit (S. 211–220), durchwelche die Zensur leichter zu umgehen war (zurVerabschiedung von Theologie und heiliger Ge-schichte siehe S. 155–168); die positiv wirkendeAnglophilie ab der Mitte des 18. Jahrhunderts (S.201–206) sowie den verh�ngnisvoll negativ einwir-kenden sp�teren Erfolg der transzendentalen Phi-losophie (S. 207–210). Ihr Hauptinteresse gilt aberdem durchdringenden „Schottische[n] Impuls[e]“(S. 201) auf die vielf�ltigen menschheitsgeschichtli-chen Leistungen der Popularphilosophie. Dennerst unter diesem Blickwinkel zeige diese ihr eige-nes, positives Profil, und zwar als einen zwischenRationalismus und Empirismus vermittelnden an-timetaphysischen, praxis- und publikumsorientier-ten „dritten Weg“ der deutschen Sp�taufkl�rung,f�r welchen – genauso wie f�r die schottischeSchule – die beiden, allerdings nicht klar voneinan-der differenzierten Bestimmungen ,pragmatischeGeschichte‘ und ,historische Anthropologie‘ (hierohne expliziten R�ckgriff auf Christoph Wulf)geltend gemacht werden. Damit h�ngt auch dieUnterscheidung dieser Denkrichtung von bloßenWiederaufnahmen des Historia-Magistra-Vitae-Modells sowie von „Entw�rfen zur entstehendenGeschichtsphilosophie“ (S. 199) zusammen.

Leider wurde der zwar fl�ssig und gut geschrie-bene Text insbesondere in den Fußnoten nur un-zureichend lektoriert. So wurde u.a. Kants An-thropologie zweimal als ein 1798 postum erschie-nenes Werk zitiert (S. 257 und 279). Und auch dieEdition der seit 2006 vorliegenden Manuscript Es-says Fergusons (London 2006), die die Autorin2005 vor ihrem Erscheinen einsehen konnte, wird

noch als „auf dem Weg“ (S. 105, Anm. 56) stehenderw�hnt und bei der �berarbeitung der Disserta-tion nicht ber�cksichtigt. Zu bem�ngeln bleibt fer-ner, dass die Autoren der verwendeten Sekund�rli-teratur nicht im Personenregister verzeichnet wer-den.

Insgesamt dienen die zahlreichen Text- undKontextanalysen mit ihrer originellen Perspektivezur vertiefenden Kenntnisnahme der These, dasserst eine Verflechtung von sozialen, materiellen,kulturellen, epistemologischen, philosophischen,mittelbar und unmittelbar auf die neue Wissen-schaft zur�ckzuf�hrenden Ph�nomenen die Ent-stehung des neuen historisch-anthropologischenDenkens erm�glichte. �berzeugend ist A. Meyervor allem in der souver�nen kritischen �bersichtdes Forschungsstandes, in der stringenten, die un-terschiedlichen historiographischen Modelle von-einander abgrenzenden Systematisierung der Er-gebnisse sowie in der Konsequenz bei der Durch-f�hrung ihres Anliegens. Es bleibt offen, inwieweitdiese Perspektivierung des deutsch-schottischenWissenstransfers auf unser Verst�ndnis vonSchl�sselfiguren wie Lessing und Herder positivzur�ckwirken kann und inwieweit die tats�chlichepopularphilosophische Anwendung der schotti-schen Methode jenseits ihrer programmatischenAussage tragf�hig war (man denke nur an Meiners’umstrittene Vorgehensweise oder an Homes undMeiners’ auch epistemologisch problematischerassistische Ans�tze). Aber ein gutes Buch erkenntman ja vielleicht nicht nur an dem Ansatz, den esverfolgt, sondern auch an den neuen Fragen, die esanregt.

Mario Marino (Jena)

384 i 2009 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 32 (2009) 379–389

DOI: 10.1002/bewi.200901434

Stefan Schweizer, Anthropologie der Romantik. Korper, Seele und Geist. Anthropo-logische Gottes-, Welt- und Menschenbilder der wissenschaftlichen Romantik.Paderborn, M�nchen, Wien, Z�rich: Ferdinand Sch�ningh 2008. 788 S., e 99,00.ISBN-13: 978-3-506-76509-3.

Das „Selbstbildnis mit aufgest�tztem Arm“ Cas-par David Friedrichs (aus dem Jahre 1802), das dasCover der knapp 800 Seiten umfassenden Mono-graphie von Stefan Schweizer beherrscht, gibt be-reits an, worum es dem Autor bei seiner Untersu-chung geht und ordnet sich in die von RaymondKlibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl analy-sierte europ�ische Melancholia-Tradition ein. Waser leisten will, ist eine theoretische Untersuchung�ber anthropologische Texte der Periode zwischen1780 und 1840 mit dem Ziel, „bestimmte semanti-

sche Entwicklungslinien zutage zu f�rdern, welcheAufschl�sse �ber semantisch-kulturelle Verfasst-heiten des Gebietes des Deutschen Bundes geben“(S. 717) und damit Grundlagenforschung zu be-treiben f�r die Literaturwissenschaft. Er ordnetsich damit jener Gruppe von Forschern zu, die inden letzten 10 bis 15 Jahren das besondere Wech-selspiel von Kunstproduktion und Wissenschaft inden Blick genommen haben. Hatten bisher vor al-lem Einzeluntersuchungen zur Anthropologievorgeherrscht, geht es dem Autor um die Hetero-