Programm 2/2020 - DLA Marbach · 2020. 8. 24. · Agboluaje, Penda Diouf, Jennifer Nansubuga...

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Programm 2/2020 Was ist Literatur ?

Transcript of Programm 2/2020 - DLA Marbach · 2020. 8. 24. · Agboluaje, Penda Diouf, Jennifer Nansubuga...

  • Programm 2/2020

    Was ist

    Literatur

    ?

  • Was ist Literatur? Zum

    Beispiel: ein Wortspiel,

    das himmlische Mächte

    provoziert.

    Peter Rühmkorf, aus

    dessen Nachlass diese

    Lakritzdose stammt, hat

    mit der Mehrdeutigkeit

    eines von ihm erfundenen

    Kürzels gespielt – TABU:

    wie das Tagebuch, das

    er schrieb, aber eben

    auch wie das Adjektiv und

    Substantiv, mit dem wir

    etwas bezeichnen, das

    aus gesellschaftlichen

    Gründen verboten ist.

    Das Wort kommt aus dem

    polynesischen Sprachraum.

    Unaussprechliche,

    heilige, unberührbare

    Dinge – so die ursprüng-

    lich religiöse Vor-

    stellung – müssen streng

    gemieden werden, da

    sie gefährliche Kräfte

    besitzen. In ihnen wohnen

    Götter. Rühmkorf per-

    sonifizierte seine Auswahl

    aus den über 15.000 in

    Marbach archivierten

    Seiten TABU-Text, indem

    er ihr ein Zitat von Walt

    Whitman voranstellte:

    „Camerado, dies ist kein

    Buch. Wer dies berührt,

    berührt einen Mann.“

  • Editorial

    Fallen Körper und Seele des

    Menschen auseinander, entstehen

    monströse Charaktere, meinte

    Schiller. Als angehender Arzt

    befasste er sich vor allem mit

    psychosomatischen Krankheiten,

    u.a. mit Melancholie. Seine Be-

    obachtungen vereinte er in seiner

    Dissertation Versuch über den Zusammenhang der tierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780).

    Gegenwärtig bereitet uns unsere

    Natur Schwierigkeiten. Aufgrund

    der Covid-19-Pandemie müssen

    wir unser kulturelles Miteinander

    einschränken und uns in einer Weise

    verhalten, wie sie für Menschen

    untypisch, um nicht zu sagen: un-

    natürlich ist. Doch aus der Einsicht

    in das Notwendige halten wir uns

    daran und versuchen zugleich, das

    Miteinander auf Abstand zu pflegen.

    Die vergleichsweise abstrakte

    und reduzierte Form der Literatur

    erweist sich dabei als Vorteil.

    Als Sprachkunst lässt sich Literatur

    allein oder in einer kleinen Gruppe

    lesen – laut oder leise, mit oder

    ohne spielerische Elemente, je nach

    Bedarf. Solches Lesen, Erzählen

    oder Spielen in Seuchenzeiten hat

    Tradition, man denke an Boccaccios Decamerone. Im 14. Jahrhundert flüchteten sieben Frauen und drei

    Männer vor der Pest in die Berge um

    Florenz. Sie berichten erschreckend

    realistisch von der Pest. Mit ihren

    Geschichten eröffnen sie mögliche

    Welten, die sich weit über das

    Erlebte hinaus spannen und auf

    eine hoffentlich glücklichere und

    gesundere Zukunft verweisen.

    Um solche Möglichkeitshorizonte

    eröffnen und überhaupt weiterhin

    arbeiten zu können, hat das Deutsche

    Literaturarchiv in den vergangenen

    Monaten einen großen Schritt ins

    Digitale gewagt. Wir arbeiten online

    miteinander, treiben die Digitali-

    sierung unserer Bestände und

    die digitale Arbeit damit voran.

    Lesungen, Führungen, Gespräche

    und Diskussionen finden, solange

    die Kontaktbeschränkungen gelten,

    hauptsächlich digital in unseren

    Social-Media-Kanälen und in

    unserem neuen Blog statt. Unter

    #closedbutopen präsentiert das

    Museumsteam virtuelle Rundgänge

    durch die Ausstellungen und

    vieles mehr. Seit Ende Mai sind

    die Museen wieder zugänglich, und

    Nutzer*innen können nach Voran-

    meldung wieder im Archiv arbeiten.

    Wir hoffen, dass wir der sinnlichen

    und unmittelbaren Seite der Literatur

    bald wieder mehr Geltung verschaffen

    und auch Sie von Angesicht zu

    Angesicht treffen können, ohne die

    Vorzüge des Digitalen aufzugeben.

    Denn auch die Literatur hat einen –

    oder vielmehr: viele Körper, ohne

    die sie ihrerseits eine seelenlose

    Kunst wäre.

    Sandra Richter

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  • 8494 88

    7224 22

    Inhalt

    Narrating Africa step by step

    Lesen! Deep, skim, distant, close, micro, macro, wide, scalable, slow, fast?

    #LiteraturBewegt Lesen lernen / Hannelore Schlaffer

    ratzepatz. Rühmkorfs Nachlasspoesie

    Schiller lesen

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    Ausstellungen

    Themen und Dialoge

    Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie

    Laß leuchten! Peter Rühmkorf – selbstredend und selbstreimend

    Schiller, Hölderlin, Kerner, Mörike

    Die Seele

    Celans späte Sterne

    Wie erzählen wir heute von Afrika? Welche Geschichten und Mythen betreffen uns heute?

    Von Winnetou zu Mohn und Gedächtnis / Farhad Showghi

    SateLIT 1: Planet Motzstraße. Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin

    Hölderlin lesen. Laut und draußen / Nico Bleutge

    Rühmkorfs letzter Brief

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  • Ausstellungen

    Hölderlins zehn häufigste Substantive

  • Wechselausstellung im Literaturmuseum der Moderne bis 1. August 2021

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  • Was verändert sich, wenn wir es

    im Raum lesen? Welche Hölderlin-

    Erfahrungen sind in Archiv und

    Bibliothek überliefert und welcher Text

    und was daran ‚wirkte‘ jeweils wie?

    Auf dem Hölderlin-Leser Paul Celan,

    dessen umfangreicher Nachlass

    sich im Deutschen Literaturarchiv

    befindet, liegt dabei ein besonderer

    Schwerpunkt: Er wäre im Jahr 2020

    100 Jahre alt geworden, zugleich

    jährt sich sein Todestag zum 50. Mal.

    „Hölderlin ist eine dem Deutschen

    verwandte Sprache“, schrieb Oskar

    Pastior 1995. Mit über 150 Objekten

    und Stationen zieht sich die Aus-

    stellung Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie durch beinahe alle Räume des Literaturmuseums

    der Moderne, um die unterschied-

    lichen Dimensionen dieser Sprache

    auszuloten. Im Mittelpunkt stehen

    Hölderlins Gedichte und ihre

    Wirkungen aus unterschiedlichen

    Perspektiven: Was geschieht

    beim Lesen eines Hölderlin-Gedichts

    mit uns? Wie wirkt ein Hölderlin-

    Gedicht, wenn wir es in der Hand-

    schrift lesen?

    Gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung. Die Stationen zur Lese-forschung werten wir zusammen mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien und dem Institut für Psychologie der Universität Tübingen aus.

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  • Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie. Impressionen von der Eröffnung am 23. Mai mit Staats-sekretärin Petra Olschowski.

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  • Schiller,

    Hölderlin, Kerner, Mörike

    Eine Interimsausstellung im Literaturmuseum der Moderne bis Winter 2022

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  • Für das Schiller-Nationalmuseum

    erarbeiten wir zur Zeit ein neues

    Ausstellungskonzept. Daher sind

    vier Schriftsteller – Schwaben von

    Geburt und Autoren von Weltrang –

    vorläufig ins Literaturmuseum der

    Moderne umgezogen. Wir haben

    Dinge eingepackt, die ihre poetisch

    besonderen Seiten zeigen: Friedrich

    Schillers unterschiedliche Spiele,

    Justinus Kerners Tintenklecksbilder

    und die eigenwilligen Aufschreibe-

    systeme von Friedrich Hölderlin und

    Eduard Mörike. Alle vier Schrift-

    steller stammen aus der Umgebung

    des Museums: Schiller wurde 1759 in

    Marbach geboren, Hölderlin 1770

    in Lauffen, Kerner 1786 und Mörike

    1804 in Ludwigsburg.

    Ein zweiter Raum mit Scheren-

    schnitten von Luise Duttenhofer und

    wechselnden Leselaborstationen

    ergänzt diese Interimsausstellung.Blick auf Schiller, der vorüber-gehend ins Literatur-museum der Moderne umgezogen ist.

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  • Exponat-tableaus sowie Bild- und Ton-platten zu Schiller, Hölderlin, Mörike und Kerner im Literatur-museum der Moderne.

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  • Die Seele

    Die Dauerausstellung zum

    20. Jahrhundert im

    Literaturmuseum der Moderne

    Die über 280 Exponate, die wir aus

    den mehr als 1.400 Schriftsteller- und

    Gelehrtennachlässen mit rund

    50 Millionen Einzelblättern, Büchern

    und Gegenständen des Deutschen

    Literaturarchivs ausgewählt

    haben, zeigen eine besondere

    Literaturgeschichte des Schreibens

    und Lesens. Von 1899 bis 2001,

    von Hermann Hesse zu W.G. Sebald,

    unter anderem mit Exponaten von

    Rilke, Kafka, Benn, Döblin, Walter

    Benjamin, Joseph Roth, Stefan

    Zweig, Else Lasker-Schüler, Mascha

    Kaléko, Hannah Arendt, Hilde

    Domin, Siegfried Lenz, Sarah Kirsch,

    Martin Walser, Thomas Bernhard

    und Hans Magnus Enzensberger.

    Für Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie haben wir mit Objekt-karten und Originalen in der Dauer- ausstellung im Literatur-museum der Moderne ein ganzes Ausstel-lungskapitel verortet: „Zitieren. Hölderlin mit anderen lesen“.

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  • Narrating Africa step by step

    Eine Open-Space-Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne

    bis 1. August 2021

  • Screens-hots aus den #closedbut-open-Videos zu Narrating Africa.

    Wie erzählen wir von Afrika: von

    einem Kontinent und seiner Vielfalt?

    Welche Bilder und Stereotype,

    welche kolonialen und nationalen

    Ideologien bestimmen die Literatur

    über Afrika und werden von ihr

    geprägt, verbreitet oder zerlegt?

    In einer Open-Space-Ausstellung

    diskutieren wir das mit Texten,

    Archivfunden, Lecture Performances

    und Gesprächen u.a. mit Partnern

    aus Namibia und zahlreichen Schrift-

    stellerinnen und Schriftstellern

    aus Afrika. Da wir das für den Juni

    zusammen mit Annette Bühler-

    Dietrich (Universität Stuttgart) und

    der University of Namibia geplante

    Autorenfestival in den Mai 2021

    verschieben mussten, werden wir die

    Ausstellung vorerst auf digitalen

    Wegen ergänzen, umschreiben und

    neu fügen.

    Gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg.

    Videoeinblicke und -beiträge zur Ausstellung, u.a. von Oladipo Agboluaje, Penda Diouf, Jennifer Nansubuga Makumbi, Ildevert Méda, Rémy Ngamije, Sami Tschak und Sylvia Schlettwein finden Sie auf dem YouTube-Kanal der Literaturmuseen Marbach.

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  • SateLIT 1: Planet Motzstraße. Else Lasker-Schülers Lebenszeichen aus Berlin

    Eine Ausstellungsreihe der Stiftung

    Brandenburger Tor und des Deutschen

    Literaturarchivs Marbach, von Mitte Oktober

    an im Literaturmuseum der Moderne

    SateLIT konfrontiert das Publikum

    anhand eines überraschenden

    literarischen Kerns mit anderen

    Sichtweisen und letztlich mit sich

    selbst. Denn Literatur verändert unser

    Leben: Sie schult den Umgang mit

    Mehrdeutigkeit, Mehrsprachigkeit, mit

    historischem Zufall und dem Wechsel

    von Rollen. Literatur vervielfältigt

    die Perspektiven. Ausgehend von

    Marbacher Fundstücken erkunden wir,

    wie sich diese Wirkmächtigkeit der

    Literatur vermitteln lässt und welche

    Rolle Literaturarchive dabei spielen.

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  • Gegenstand des ersten SateLIT sind

    die 64 erhaltenen, bislang unver-

    öffentlichten Briefe und Postkarten,

    die Else Lasker-Schüler von 1905

    bis 1931 an den Literaturkritiker,

    Übersetzer und Mäzen Nicolaas

    Johannes Beversen meist aus

    dem „Hôtel“ Koschel in der Berliner

    Motzstraße, dem heutigen Hotel

    Sachsenhof, geschrieben hat.

    In der anderthalb Kilometer langen

    Motzstraße haben Vladimir Nabokov

    gelebt, Rudolf Steiner, Billy Wilder

    und Erich Kästner. Alfred Döblin traf

    hier Ernst Bloch, Bertolt Brecht und

    Johannes R. Becher. Oskar Kokoschka

    war der Hotelmitbewohner von Else

    Lasker-Schüler. Die Korrespondenz

    mit Beversen konnte in diesem

    Januar mit Hilfe der Kulturstiftung

    der Länder erworben werden.

    In der Stiftung BrandenburgerTor

    wird die erste, mit Shermin Langhoff

    und Judith Kuckart entwickelte und

    vom Hauptstadtkulturfonds geförderte

    Ausgabe von SateLIT vom 25. August

    bis zum 7. Oktober gezeigt werden,

    im Anschluss geht sie ins Literatur-

    museum der Moderne (18. Oktober

    2020 bis 10. Januar 2021). Mehr:

    www.stiftungbrandenburgertor.de

    Auf der Online-Platform Poetic Textures – Else Lasker-Schüler Archives, einer Initiative des Deutschen Literaturarchivs mit

    der National Library of Israel

    (NLI) in Jerusalem, werden virtuell

    und exemplarisch Objekte aus

    beiden Institutionen miteinander

    verbunden, die im Zuge des Exils

    Lasker-Schülers zerstreut überliefert

    wurden: Besucher*innen können so

    in einzigartigen Materialien recher-

    chieren und die Sammlungen zweier

    Länder und Sammelorte gemeinsam

    und in ihren Verbindungen kennen-

    lernen. Gedichtmanuskripte, Briefe,

    Zeichnungen und Collagen sowie

    Kommentare von ausgewiesenen Else

    Lasker-Schüler-Expert*innen sowie

    ein Gespräch von Sandra Richter,

    Stefan Litt und Anna Kinder in

    Kooperation mit dem Projekt Bridge to Europe an der NLI finden Sie hier: www.laskerschuelerarchives.org.

    Postkarte von Else Lasker- Schüler an Nicolaas Johannes Beversen mit„Profil-marke“. Den Umschlag auf der vorhergehen-den Seite mit einem Bild statt einer Absender-angabe schickte sie 1913 an Franz Marc.

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  • Laß leuchten! Peter Rühmkorf – selbstredend und selbstreimend

    Eine Wechselausstellung der

    Arno Schmidt Stiftung

    im Schiller-Nationalmuseum,

    voraussichtlich vom

    25. Oktober 2020 bis

    1. August 2021

    Vorher- gehende Seite: Peter Rühmkorf.

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  • Der vielfach preisgekrönte Lyriker

    Peter Rühmkorf (1929 – 2008) war

    lange Jahre in Hamburg an der Elbe

    zu Hause, doch seine Manuskripte

    ‚wohnen‘ bereits seit 1981 als

    sogenannter Vorlass im Deutschen

    Literaturarchiv Marbach, wo nun

    die Arno Schmidt Stiftung

    Rühmkorfs Leben und Werk mit

    einer umfangreichen Ausstellung

    präsentiert.

    Rühmkorf publizierte seine Gedichte

    nicht nur in Büchern, sondern

    entdeckte neue Orte für die Lyrik.

    Gemeinsam mit befreundeten

    Musikern trug er sie auch als ‚Jazz

    und Lyrik‘ in Kellerclubs, Kirchen

    und auf öffentlichen Plätzen vor.

    Er sammelte Kinder- und Spottverse,

    studierte und rezensierte Kollegen,

    bewunderte Dichter vergangener

    Jahrhunderte, schrieb Theaterstücke

    und erreichte mit seinem Erinnerungs-

    buch Die Jahre die Ihr kennt ein großes Publikum. Rühmkorf arbeitete als

    Redakteur der Zeitschrift konkret, als Lektor des Rowohlt Verlags und

    engagierte sich in der Studenten-

    und Friedensbewegung.

    Die Ausstellung zeigt Rühmkorfs

    Werk und sein Leben als Künstler

    und streitbarer Intellektueller in

    allen Facetten. Zentrales Element

    der Ausstellung ist der ‚Raum der

    Gedichte‘, in dem zehn Gedichte

    Rühmkorfs in Großprojektionen

    inszeniert werden. Eine Auswahl

    weitgehend unbekannter Film-

    aufnahmen seiner Jazz-und-Lyrik-

    Programme aus mehreren

    Jahrzehnten ergänzt die Gedicht-

    projektionen. Themenstationen

    widmen sich wichtigen Aspekten

    in Schaffen und Leben des Dichters,

    stellen einzelne Werkphasen vor

    und erläutern sein poetisches

    Konzept. Eine fünfzig Quadratmeter

    große Wandinstallation verdeut-

    licht am Beispiel des Gedichts

    Selbst lll/88 Rühmkorfs aufwändigen Arbeitsprozess.

    Zusammen mit Hölderlin, Celan und die Sprachen der Poesie verwandelt die Ausstellung die Marbacher Literatur-

    museen in einen Ort, an dem die

    kleine literarische Form des Gedichts

    die Hauptrolle spielt und Besucher

    auf Poesie in unterschiedlichsten

    Erscheinungsweisen treffen – gereimt

    und gezählt, bewegt und still,

    laut und zart, dunkel und leuchtend.

    Geplant ist, dass der Literatur-

    wissenschaftler, Essayist und Mäzen

    Jan Philipp Reemtsma und der Lyriker

    Nico Bleutge zur Eröffnung sprechen.

    Da wir zum Zeitpunkt der Drucklegung

    dieses Programmhefts noch keine

    sicheren Angaben zur Durchführung

    von Veranstaltungen in diesem

    Herbst machen können, achten Sie

    bitte auf die Informationen auf unserer

    Homepage und in der Presse.

    Eines von Rühmkorfs Selbst-porträts im Manuskript von Selbst III/88.

    36_37

  • Themen und Dialoge

    Celans zehn häufigste Substantive im Band Lichtzwang

  • Hölderlin lesen. Laut und draußen

    „Wer bloß an meiner Pflanze riecht,

    der kennt sie nicht, und wer sie

    pflückt, bloß, um daran zu lernen,

    kennt sie auch nicht“, schreibt

    Hölderlin im Vorwort seines Romans

    Hyperion. Wir wollten daher im Rahmen des Literatursommers 2020

    im Mai und Juni Hölderlin gemeinsam

    laut lesen, blind hören oder taub

    sehen und mit seinen Texten Räume

    abstecken und erfahren. Stattdessen

    haben wir alle eingeladenen Künstler

    um Video-Beiträge gebeten. Nico

    Bleutge haben wir darüber hinaus

    eine Reihe von Fragen geschickt. Haben Sie ein Lieblingsgedicht von

    Hölderlin?

    An die Parzen mag ich sehr, Hölderlin-Evergreen, ein Gedicht ohne

    Pflanzen, dafür mit Odenform, Göttern

    und der Vorstellung vom Gedicht

    als dem „Heil’gen“. Aber auch späte,

    längere, verzweigtere Gedichte

    wie In lieblicher Bläue lese ich immer wieder gerne (nicht nur wegen der

    Rosen darin), schöne Variationen:

    „Im Winde aber oben stille krähet die

    Fahne“.

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  • Das lyrische Ich, so haben Sie es

    einmal gesagt, sei in Ihren Gedichten

    kein Ich, das sichtbar nach draußen

    tritt, sondern eine Wahrnehmungs-

    instanz, „die nur als ein Häutchen

    auf die Sprache aufgesetzt ist“.

    Auch in den Gedichten, die Hölderlin

    im Tübinger Turm schrieb, taucht

    das Wort ‚Ich‘ nicht mehr auf. Wie

    verändert dieses ichlose lyrische

    Sprechen die Poesie?

    Bei mir hat sich das aus dem

    Schreibvollzug heraus entwickelt:

    In den intensiven Schreibmomenten

    (die leider die seltensten sind)

    lässt sich gar kein zentrierendes Ich

    mehr ausmachen. Eher ist es

    eine Art von Selbstvergessenheit,

    als würde man in der Sprache

    und in den Vorstellungen aufgehen.

    Und doch kann man reflektierend

    immer wieder auf das Geschriebene

    zugreifen.

    Gleichzeitig ist mir damals aufge-

    fallen, dass die Ich-Perspektive –

    das scheinbar Subjektivste – durch

    den Akt und Gestus des Setzens

    das Ich plötzlich sehr groß werden

    lassen kann. Es hat dann den

    Anschein des Maßgeblichen und

    einen viel stärkeren Autoritäts-,

    Geltungs- und Herrschaftsanspruch

    als jede ‚objektiv‘ auftretende,

    ‚versachlichte‘ Redeweise. So hat

    sich ein Schreiben ohne Ich ergeben,

    im Sinne einer Offenheit, eines

    Freiseins für die Phänomene: etwas

    sehen, hören, betrachten können.

    Erst Leserstimmen zu meinen

    Gedichten haben mich auf das zurück-

    gefahrene Ich in meinen Texten

    aufmerksam werden lassen, das bei

    mir anfangs nie ‚Methode‘ war.

    Je länger ich schreibe, desto mehr

    wird mir die Dialektik auch dieser

    Bewegung klar. So wie ich die

    Erfahrung gemacht habe, dass der

    Versuch, etwas ganz genau und

    detailreich zu fassen, in sein Gegen-

    teil umschlagen kann – also der Baum

    vor lauter Verästelungen nicht mehr

    in den Blick kommt –, so hat mir auch

    der Versuch, das Ich zurückzunehmen,

    gezeigt, wie man plötzlich auf das

    Ich und vor allem: auf die Sprache

    und ihr Eigenleben zurückgeworfen

    werden kann. Von daher arbeite ich

    inzwischen immer öfter ganz bewusst

    mit dem ,Ich‘, es ist eine Möglichkeit

    der Perspektive, also vereinfacht:

    Wer schaut im Gedicht (Sprecher

    wie Leser) von wo nach wo?

    Ich verstehe es als Sprechhülse,

    durch die ich ganz verschiedene

    Stimmen ins Gedicht schleusen

    kann, ohne dass sie dann noch klar

    unterscheidbar wären – bewusst

    gesetzte Mehr- und Vielstimmigkeiten

    bzw. Überlagerungen im Gedicht.

    „Wer ist das Ich im Gedicht? Jedes

    Ich, das es spricht“, lautet eine These

    von Heinz Schlaffer, „Ich kann jeder

    sagen“ ein Adorno-Satz. In Hölderlins

    späten Gedichten fehlt das Wort ‚ich‘.

    Ist dieses Schreiben ohne Ich ein

    Kniff, dem Leser das Gedicht zu ent-

    ziehen, es ganz zur Sprache, zum

    Zeichen- und Klangkörper zu machen?

    In Hölderlins spätesten Gedichten

    (den Jahreszeitengedichten) ist

    „der Mensch“, „die Menschheit“ oder

    ein „Wir“ an die Stelle des „Ich“

    getreten. Es entsteht ein entpersön-

    lichtes, manchmal weisheits-

    buchartiges Sprechen. Zugleich

    scheint mir gerade so eine bestimmte

    Charakteristik – gleichsam die

    Signatur einer geistigen Verfasstheit

    – umso deutlicher spürbar zu werden.

    Deutlicher vielleicht als durch ein

    Ich-Sagen.

    Wie und wo und auch wann lesen

    Sie selbst Hölderlin?

    Ganz ehrlich? Zu Gelegenheiten

    wie dieser. Wenn ich also eingeladen

    werde, mich mit Hölderlin zu

    beschäftigen. Es gab bis jetzt fast

    immer einen Impuls von außen,

    sei es im Studium, sei es im eigenen

    Schreiben. Wenn dieser Impuls

    aber einmal da ist, ist es eine umso

    intensivere Beschäftigung, manchmal

    fast rauschhaft, wie ein Sich-Hinein-

    stürzen und zugleich Angesaugt-

    werden, bei – paradoxerweise –

    aufmerksamer kritischer Distanz.

    Bei Trakl zum Beispiel oder Lasker-

    Schüler geht es mir ähnlich.

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  • Screenshots aus Nico Bleutges Video-Clip, in dem er über Hölderlins Natur-vorstellung spricht.

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  • Was machen Hölderlins Gedichte mit

    Ihnen – und was Sie mit diesen?

    Sie versetzen mich in eine, wörtlich,

    Hoch-Stimmung. Die sehr intensiv ist,

    mich die Welt tatsächlich für den

    Moment anders erleben lässt, in

    der ich mich aber auch nur für eine

    begrenzte Zeit bewegen möchte.

    Sie bringen mich dazu, mir einzelne

    Formulierungen und gedanklich-

    rhythmische Bögen immer wieder

    sehr genau anzusehen. Sie fordern

    dauernde Aufmerksamkeit für die

    Umstellungen im Satzbau (als würde

    man laufen und dabei immer auf

    den Rhythmus seiner Schritte hinge-

    wiesen – und zugleich über diese

    Struktur nachdenken).

    Dabei gelingt es mir nicht immer,

    die Wirkungs- und Rezeptionsge-

    schichte dieses Tones auszuschalten,

    das ganze „weltanschauliche

    Gegrabsche“, wie es Karl-Heinz Ott

    jüngst genannt hat. Dafür haben

    Hölderlins Gedichte in den verschie-

    denen Zeiträumen einfach zu

    viele Beulen abbekommen. Und,

    etwas persönlicher: In einem

    Hölderlin-Gedicht heißt es über die

    Götter „Groß ist ihr Maß, doch

    es mißt gern mit der Spanne der

    Mensch.“ Hölderlin versucht es immer

    Noch einmal zum Lesen: Hölderlin ist

    ein Wanderer, später ein Spazier-

    gänger - haben Sie seine Texte schon

    einmal draußen gelesen?

    Nein, aber wenn ich ihn am Schreib-

    tisch lese, setzt die umgekehrte Be-

    wegung ein: Ich fange an zu wandern,

    ganz körperlich, die wechselnden

    Rhythmen versetzen mich in

    Spannung, der Körper reagiert ganz

    eigen auf die Gedichte, und ich

    gehe in dieser Sprache durch eine

    Landschaft, folge unterschiedlichen

    Tonhöhen, Bildern, einem Denken

    und ganzkörperlichen Wahrnehmen in

    einem.

    Schiebt sich Hölderlins Stimme ab

    und zu zwischen die Natur und Ihre

    Wahrnehmung von ihr? „Hinunter

    sinket der Wald“ ...

    Das Dazwischenschieben findet

    eher auf einer anderen Ebene statt.

    In den Phasen, in denen ich Hölderlin

    lese, nehme ich seine Bilder und

    seinen Rhythmus mit in andere Texte.

    D. h., wenn ich sie lese, vergleiche

    ich unwillkürlich den Satzbau mit

    Hölderlins Satzbau, seine Art, Bilder

    anzulegen oder größere Denkbögen

    in die Gedichte einzuziehen, mit den

    Bewegungen in diesen Gedichten.

    Auch so entsteht dann beim Lesen

    eine andere Art von Aufmerksamkeit.

    selbst mit dem großen Maß. Das

    ist sein Anspruch, den ich ganz und

    gar verstehen kann. Aber das Große,

    glaube ich, kann auf Dauer nicht

    wirken, wenn es immerzu absolut

    gesetzt wird, wenn es ohne Kontrast

    und in diesem Sinne ungebrochen

    bleibt. Ab und an würde ich mir in

    den Gedichten auch etwas mit der

    Spanne Gemessenes wünschen oder

    jedenfalls den „Kindersinn“, von

    dem Hölderlin in einem anderen

    Gedicht spricht.

    Sie haben in Tübingen studiert

    und schon vorher, mit 15, Gedichte

    geschrieben. War Tübingen als

    Studienort auch eine poetische Wahl,

    eine Annäherung an Hölderlin,

    oder Zufall?

    Tübingen hatte ich mir wegen Walter

    Jens und der Rhetorik ausgesucht,

    ohne zu wissen, daß Jens 1993 schon

    gar nicht mehr unterrichtete. Aber es

    gab vorher, während des Zivildienstes,

    einige Wochen, in denen ich den Hyperion gelesen (und kaum etwas verstanden) habe. Vielleicht war das

    der Impuls, gleich in meinem ersten

    Semester im Tübinger Brechtbau

    ein Hölderlin-Seminar zu besuchen.

    Das war sehr kompakt, wie ein

    Hölderlin-Brühwürfel. Damals haben

    mich vor allem seine theoretischen

    Schriften begeistert, meine erste

    Seminararbeit war über Urteil und Sein und den Wechsel der Töne.

    Geistert Hölderlins Stimme durch Ihre

    eigenen Texte – so wie man in seinen

    die von Schiller aufstöbern kann?

    Nein, jedenfalls nicht als etwas im

    Schreiben bewusst Gesetztes oder

    als etwas, das mir bei entsprechend

    fokussierter Selbstlektüre auffallen

    würde. Aber vielleicht kommt das

    noch.

    46_47

  • Blumen lässt Hölderlin 78-mal blühen

    – in Blumengängen, auf einem

    Blumenhügel und einem Blumenfeld.

    Blüten leuchten 47-mal, viermal

    erscheinen Knospen. Präziser wird

    Hölderlin bei diesen blühenden

    Blumen und Kräutern: Krokus und

    Thymian, Mohn, Hyazinthe, Tulpe,

    Sauerklee, Kleeblatt und Ampfer

    (je 1), Disteln und Maienblumen bzw.

    Maienblümchen (je 5), Lilien (7) und

    Rosen (37). Nektar wird aus diesen

    Blumen fünfmal gewonnen, Honig

    dreimal. Sechsmal duftet etwas,

    16-mal ist es duftend, einmal sogar

    düftereichst. Zehnmal ist vom Duft,

    von Düften und Gedüft die Rede,

    einmal von den Paradiesdüften.

    Nelken und Veilchen wachsen an zwei

    Gedicht-Stellen: „Zwar gehn die

    Treppen unter den Reben hoch /

    Herunter, wo der Obstbaum blühend

    darüber steht / Und Duft an wilden

    Hecken weilet, / Wo die verborgenen

    Veilchen sprossen“ und „Im Veilchen-

    tal, vom dämmernden Hain umbraust, /

    Entschlummert er“. Als Viole taucht

    das Veilchen noch einmal zusammen

    mit Hyazinthe, Tulpe und Nelke auf:

    „Die klaren Gänge, niedres Gesträuch

    und Sand, / Auf dem wir traten,

    machten erfreulicher, / Und lieblicher

    die Hyazinthe / Oder die Tulpe, Viole,

    Nelke.“ Ein weiteres Mal kombiniert

    Hölderlin die Nelke ungewöhnlich:

    „Da füttert ich mein Hühnchen, da

    pflanzt ich Kohl / Und Nelken“. – Wie

    würden Sie die Wahrnehmungsinstanz

    beschreiben, die hinter dieser Natur

    steht?

    Von Wahrnehmung allein würde ich

    bei Hölderlin tatsächlich nicht reden.

    Nicht nur, weil Anschaulichkeit,

    des Schönen geht, und dem Sprecher

    „blühn“ die Wangen, wenn er der

    Natur begegnet.)

    37-mal blühen, glühen, stechen,

    kränzen, umwehen bei Hölderlin

    Rosen: wild und still, herrlich und

    jung, süß und dornig, als Frühlings-

    rosen, Moosrosen, Rosenstrauch,

    Rosenhecke und Rosenpfad. Zweimal

    färben sie als Wangenrose das

    Gesicht, zweimal tauchen sie die Welt

    in mildes bzw. holdes Rosenlicht.

    Zehnmal gibt es Dornen, sie bilden

    Dornengänge, Dornenpfade, eine

    Dornenbahn und ein Dornenbett.

    – Die Rose ist sicher die in Gedichten

    am häufigsten genannte, abge-

    nutzteste Blume. Gertrude Stein

    spielt 1913 mit der Doppeldeutigkeit

    von Frauen- und Blumennamen:

    „Rose is a rose ...“ Wie haben Sie, wie

    würden Sie mit Ihrem „Handschuh

    aus Sprache“ (so Hans Jürgen

    Balmes in seiner Laudatio, als Sie

    2017 mit dem Kranichsteiner

    Literaturpreis ausgezeichnet worden

    sind) eine Rose anfassen?

    An die Rose habe ich mich bis jetzt

    noch nicht gewagt. Es ist, Sie sagen

    es, ein poetisch sehr oft verwendetes

    Wort, darin der ,Seele‘ verwandt

    oder dem ,Herz‘. Wie ein Versuch

    aussehen könnte? Da würde ich nun

    meinerseits mit einer kleinen Liste

    antworten, Formen, an die ich

    vielleicht anschließen würde: „eine

    rose ist natürlich: rosen“ (Thomas

    Kling), „ein blütenfleisch aus rosen-

    silicon“ (auch Kling), „Frau Anna

    Rothe aus Altenburg / das sächsische

    Blumenmedium / holt Rosen,

    Scharlachtulpen“ (Marcel Beyer),

    behaupte ich, nicht unbedingt zu

    seinen Stärken zählt. Es ist bei ihm

    eigentlich immer ein Sprechen, also

    etwas reflektierend und ,geistig‘

    Umfasstes, immer schon mit einem

    (zwar nicht ausgestellten, aber

    doch spürbaren) Wissen um die

    ,Sprachigkeit‘ des ganzen Vorgangs.

    ,Instanz‘ klingt mir auch zu zentrie-

    rend, zu sehr nach Autoritäts-

    und Machtanspruch. Für mich ist

    es bei Hölderlin eher ein Anbieten

    oder sehenlassendes Zusammen-

    bringen der Momente.

    Ich würde einfach vom ,Sprecher‘ oder

    vom ,Sprechen‘ des Gedichts reden.

    Und Hölderlins Sprecher, scheint mir,

    ist einer, der nicht nur gerne spricht

    bzw. singt, sondern sich auch gerne

    selbst beobachtet, sich ins Verhältnis

    zu sich setzt. Er besingt sich selbst,

    als „Jüngling“ oder „(blinder)

    Sänger“. Er lässt sich von seiner

    eigenen Rede „antreiben“, „noch

    andres zu suchen“. Und er entdeckt

    immer wieder eigentümliche

    Korrespondenzen zwischen innen und

    außen, zwischen der Euphorie des

    Inneren und dem Strahlen der Natur:

    „es leuchteten / Die Blumen, wie die

    eigenen Augen, mir“.

    Etwas gedreht: Das „Blühen“, das

    so oft erwähnt wird, kommt mir wie

    das Pendant der Natur zur Euphorie

    und zur Emphase des Sprechers

    vor. Oder, noch einmal anders:

    Die „blühende“ Natur ist die ihrer-

    seits euphorisierte Natur, die der

    euphorischen Gestimmtheit des

    Sprechers wie von selbst entgegen-

    kommt, entgegenstrebt. („Blühen“,

    fällt mir auf, ist auch das bevorzugte

    Verb, wenn es um das Erscheinen

    „Mülltonnenstellplatz oder Kompakt-

    hecke oder Miniterrassen-Anlage,

    Geißblattlaube, Rosenhag“ (Barbara

    Köhler), „Die letzte Novemberrose

    baumelt überm Ascheneimer“

    (Jürgen Becker), „übern jordan der

    rotkohl / der rosen!“ (nochmal Kling),

    „Scourge them with roses only“

    (Elizabeth Bishop), „im Zenit Rosen

    Mimosen“ (Ilma Rakusa), „und die

    bodenlosen rosen / haben sich in

    mooren versteckt“ (Inger Christensen

    in alphabet – Rosen dürften dort eigentlich nicht vorkommen, denn das

    Buch endet beim Buchstaben „n“).

    Nachtrag. Selbstkorrektur: Es gibt

    doch Rosen bei mir, in meinem ersten

    Band klare konturen: „... langsam / kriechen die finger den stein entlang

    schleifen / und kränze rosen aus

    grobem vergilbtem / stoff ...“

    Wenn Sie Hölderlin fragen könnten

    – was würden Sie ihn fragen?

    Holder, mein Lieber, wie hältst Du es

    mit der Ironie?

    48_49

  • Am 21. März 1970 las Paul Celan

    zur Feier von Friedrich Hölderlins

    200. Geburtstag im Silchersaal

    der Stuttgarter Liederhalle aus

    seinem noch unveröffentlichten

    Gedichtband Lichtzwang. Vier Wochen später nahm er sich in Paris das

    Leben. Der Auftritt in Stuttgart war

    seine letzte große Lesung. Die

    Gedichte aus dem kurz nach Celans

    Tod veröffentlichten Band Lichtzwang gelten seitdem als schwer zugänglich.

    Können wir Celans späte Verse

    heute – ein halbes Jahrhundert

    nach seiner Stuttgarter Lesung –

    besser verstehen? Wir haben sechs

    Leserinnen und Leser eingeladen,

    die sieben Verse des Gedichts

    „Was es an Sternen bedarf“ in jeweils

    sieben Sätzen zu kommentieren:

    Carolin Callies, Ann Cotten,

    Daniela Danz, Aris Fioretos, Norbert

    Hummelt und Rainer René Mueller.

    Das Video, das daraus entstanden

    ist, ist Teil der Reihe #closedbutopen

    auf dem YouTube-Kanal der Literatur-

    museen Marbach.

    WAS ES AN STERNEN BEDARF,

    schüttet sich aus,

    deiner Hände laubgrüner Schatt

    en

    sammelt es ein,

    freudig zerbeiß ich

    das münzenkernige

    Schicksal.

    Celans späte Sterne

    Paul Celan bei seiner letzten Lesung in Stuttgart. Fotos: Agnes Handwerk, mit der wir für unsere #closed-butopen Reihe auch ein Inter-view geführt haben.

    50_51

  • Von Winnetou zu Mohn und Gedächtnis.

    Der Schriftsteller und Arzt

    Farhad Showghi lebt in Hamburg.

    Aufgewachsen ist er in Bayern und

    in Teheran. Seit 1987 veröffentlicht

    er Gedichte und übersetzt aus dem

    Persischen. Für sein Werk wurde er

    vielfach ausgezeichnet, u.a. 2003 mit

    dem 3sat-Preis beim Klagenfurter

    Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb

    und 2018 mit dem Peter-Huchel-Preis.

    Fragensteller: Jan Bürger.

    Ein Gespräch mit Farhad Showghi, der seit 40 Jahren immer wieder Paul Celan liest

    52_53

  • geführt von einer älteren, sehr

    freundlichen Dame. Ihr stiller Laden

    bestand aus einem einzigen Raum

    im Souterrain, einige Regale voller

    Bücher, andere mit großen Lücken.

    Dort kaufte mir mein Vater auf

    ihre Empfehlung hin die ersten zwei

    Winnetou-Bücher.

    Von Karl May zu Paul Celan?

    Ich erzähle das aus einem ganz

    bestimmten Grund. Mit neun Jahren

    war mein Deutsch noch etwas porös

    und brüchig, es musste sich erst neu

    konsolidieren, und dies geschah mit

    Hilfe von Winnetou I – indem ich mich durch die ersten Seiten des dicken,

    grünen Buchs kämpfte. Ich hatte

    damals eine große Sehnsucht nach

    der deutschen Sprache: Sehnsucht

    nach der Muttersprache, also nach

    der Mutter und ihrer Sprache, denn

    meine Eltern hatten sich getrennt.

    Diese Sehnsucht schürten und

    linderten die Karl-May-Bücher,

    insbesondere solche wie Wurzelsepp

    Erinnern Sie sich, wann und wie

    Sie das erste Mal ein Gedicht von

    Paul Celan gelesen haben?

    Da war ich noch Schüler im ober-

    bayrischen Bad Aibling, es muss in

    der 11. oder 12. Klasse gewesen sein,

    in jener Zeit, als ich selbst anfing,

    Gedichte zu schreiben. Ich glaube,

    das erste Celan-Gedicht, das ich

    las, war die Todesfuge. Vermutlich im Rahmen des Schulunterrichts.

    Und mein erstes Buch von ihm war

    Mohn und Gedächtnis. Mein alter Band ist leider bei meinen vielen

    Umzügen verloren gegangen.

    Hatten Sie damals schon, bei der

    ersten Lektüre, das Gefühl, etwas

    Besonderes zu lesen? Oder war Paul

    Celan für Sie erst einmal nur ein

    Dichter unter vielen – so wie Ingeborg

    Bachmann oder Günter Eich?

    Nein, da las ich in der Tat etwas

    Anderes. In den folgenden Jahren

    hat mich Celan dann immer mehr

    beschäftigt. Um das zu erklären,

    muss ich etwas weiter ausholen.

    Das wird Sie vielleicht wundern, aber

    ich glaube, es hat viel mit meiner

    eigenen Geschichte und meiner Zeit

    in Teheran zu tun: Geboren wurde ich

    in Prag, aber die ersten Jahre

    verbrachte ich in Deutschland.

    Zwischen meinem vierten und dem

    16. Lebensjahr habe ich im Iran gelebt.

    Bis zur 10. Klasse ging ich in Teheran

    auf eine deutsche Schule. Eines

    Tages, ich war neun Jahre alt, sagte

    mein Vater: „Komm, wir besuchen

    jetzt einen besonderen Ort, und ich

    werde dir dort Bücher kaufen.“

    Er fuhr mit mir zu einer deutschen

    Buchhandlung im Herzen von Teheran,

    oder Aus dunklem Tann. Ja, diese ganz anderen Karl-May-Bücher waren

    für mich noch viel interessanter, weil

    sie beispielsweise im Erzgebirge,

    dieser typisch deutschen Landschaft

    spielen. Sie setzten auf wohltuende,

    besänftigende Art die Fiktion der

    Getrenntheit. – Als ich nach Deutsch-

    land zurückkam, gehörten zu

    meinen ersten Lyrik-Lektüren Brecht

    und Heine. Dann Rilke, Rimbaud,

    und schließlich Celan, und bei seinen

    Gedichten hatte ich plötzlich das

    Gefühl, mich an etwas nicht ganz zur

    Sprache Durchdringendes erinnern zu

    können: Ich berührte, spürte in und

    zwischen den Wörtern das, wonach

    ich mich als lesendes Kind in Persien

    über den Karl-May-Büchern, im

    lange nachwirkenden Papiergeruch in

    der trockenen Luft, gesehnt hatte.

    So etwas ist nicht leicht beschreibbar.

    Versuchen Sie es bitte trotzdem.

    Plötzlich schien in dieser Sprache

    der Sehnsuchtsort auf, der mich

    letztlich zum Schreiben brachte

    und auf eigentümliche Weise

    inspirierte und beruhigte, auch

    die Angst vorm Sprechen und

    Formulieren nahm. Denn ich habe

    mich damals im Deutschen nicht

    wie selbstverständlich bewegt –

    und ich würde fast sagen, bis heute

    gibt es Momente, in welchen das

    Verbindungsgefühl zum deutschen

    Sprachraum abzureißen scheint.

    Plötzlich ist etwas ganz und gar nicht

    selbstverständlich in dieser Sprache

    verankert. Trotz hoher Intensität

    und Verkopplung mit Gedächtnis,

    Intuition und Affekten, auch jetzt,

    wenn ich mit Ihnen spreche.

    Folgeseite: Umschlag-motiv Karl May, Der Schatz im Silbersee, Band 36, Karl-May-Verlag, Bamberg 1952.

    54_55

  • _26

  • Glauben Sie, dass das Celan ähnlich

    ergangen ist? Er wuchs ja auch mit

    mehreren Sprachen auf.

    Ja – bei ihm spüre ich immer diese

    Beunruhigung und dieses Sprechen

    ins Offene hinein, gerade das hat

    mir damals irgendwie Mut gemacht,

    selbst zu dichten und zu schreiben

    – aber nicht im epigonalen Sinn, nicht

    dass ich versucht hätte, Celans

    Ton nachzuahmen. Er hat mir eher

    Zutrauen gegeben: das Gefühl,

    etwas wagen zu können.

    War das für Sie auch ein Aufbruch

    ins Mehrdeutige, in das, was nicht

    eindimensional zu verstehen ist?

    Ist es das, was Sie mit Sprechen ins

    Offene meinen?

    Einerseits ins Mehrdeutige. Andrer-

    seits dreht es sich darum, ein Ich erst

    im Prozess des Schreibens entstehen,

    Form annehmen oder erahnbar werden

    zu lassen – so ähnlich hat es Celan

    einmal beschrieben. Das ist für mich

    bis heute ein wichtiges Moment.

    Oder anders gesagt: Ich hatte das

    Gefühl, dass es mir mit Hilfe von

    Celan weitaus leichter fiel, in der

    deutschen Sprache zu sein, als mit

    anderen Autoren, die mich eher

    verschreckt haben.

    Diese Zittrigkeit, diese subtile, latente

    Anwesenheit des Erlebten, des

    Gebrochenen, ich würde sagen, das

    war etwas, das für mich persönlich ein

    Berührungsmoment geschaffen hat

    mit Celans Sprache.

    Die meisten, die Celans erstes Buch

    Mohn und Gedächtnis lesen, das auch die berühmte Todesfuge enthält, achten auf das Politische, dann auf

    den besonderen Klang, den Sound

    dieser Verse, dann auch auf die

    Liebesgedichte, die legendäre Affäre

    mit Ingeborg Bachmann im Hinter-

    kopf – doch viel präsenter ist in dem

    Buch, wenn man genauer schaut,

    der Verlust der Mutter. Dieser Verlust

    ist sozusagen grundlegend. Wahr-

    scheinlich haben Sie dies viel stärker

    gespürt als die meisten Leser.

    Vermutlich war das wirklich so.

    Wenn man das psychoanalytisch

    ausdrücken wollte: auch der Verlust

    der Umgebungs-Mutter, die Erfah-

    rung, im deutschen Sprachraum

    nicht endgültig ankommen zu können.

    Ich denke dabei an den Psycho-

    analytiker Donald Winnicott: dass die

    Einheit nicht das Individuum ist,

    also der Schwerpunkt des Seins nicht

    im Individuum liegt. Celan wurde

    angefeindet, aber er hatte auch

    etwas Paranoides, sein Leben lang.

    Vielleicht als abgewehrte Angst

    vor dem Zusammenbruch.

    Was hat Sie verschreckt?

    Ihre Sprache schien mir fern,

    manchmal zu monolithisch aufragend,

    am Ende unerreichbar. Es fehlte mir

    ein sicheres Gefühl von Zugehörigkeit

    oder möglicher Identifikation, wenn

    ich sie las. Das fiel mir bei Celan

    wesentlich leichter. Bei ihm verwob

    sich Ferne mit zunehmender Nähe.

    Hat für Sie dabei auch das Politische

    eine Rolle gespielt? Also der Bezug

    auf Auschwitz, der für Celans

    Dichtung essenziell ist. Oder war dies

    für Sie anfangs gar nicht so wichtig?

    Die Shoah im engeren Sinn stand für

    mich damals nicht im Vordergrund.

    Es war eher das Moment des Verlustes

    – und des Erinnerns an die Mutter.

    Das hat wiederum viel mit meiner

    eigenen Mutter zu tun. Meine Mutter

    war in gewisser Hinsicht ein Opfer

    des Stalinismus: Als junge Frau war

    sie einige Jahre im Prager Militär-

    gefängnis inhaftiert, und letztlich ist

    sie als schwer gezeichneter Mensch

    aus dieser Haft entlassen worden.

    Sie konnte sich zunächst nicht einmal

    an ihren eigenen Namen erinnern.

    Diese brüchige Lebenskraft kam trotz

    hoher sinnlicher Wärme in ihrer

    Sprache zum Ausdruck. So habe ich

    von ihr als erstes dieses sich immer

    wieder leicht entrückte, eher weiche

    Deutsch gelernt. – Und dann kam

    die Entfernung zu ihr. Ich bin ja mit

    meinem Vater nach Persien gezogen

    – gleichzeitig blieb ich meiner Mutter

    verbunden, auch dem besonderen,

    selbstvergessenen Klang ihres

    Sprechens, mit einem leichten

    tschechischen Akzent und einem

    gewissen Zittern in der Stimme.

    Wenn ich seine Gedichte lese, dann

    spüre ich dieses drohende Hinter-

    grundrauschen sehr stark. Und ich

    spüre auf der anderen Seite auch

    eine existenzielle Notwendigkeit, ein

    immenses Vertrauen in Sprache per

    se, das diese Gedichte trägt. Den Sog

    einer Berufung.

    Glauben Sie, dass Sie Celans

    Gedichte heute grundsätzlich anders

    lesen als vor 30 oder 40 Jahren?

    Interessieren Sie heute andere Dinge

    an ihnen?

    Nicht unbedingt. Wie die meisten

    habe ich manchmal gedacht, Celans

    frühe Gedichte, gerade jene aus

    Mohn und Gedächtnis, gehörten zu seinen verständlicheren. Doch das

    ist auch nur eine vermeintliche

    Verständlichkeit, und auf Verständlich-

    keit kommt es mir nicht unbedingt an,

    wenn ich Celan lese. Mich interessiert

    eher das Wurzelwerk, der Subtext,

    der in sie hineingewoben ist. Auf

    diese Weise war Celan für mich nie

    hermetisch, auch nicht in seinen

    späten Gedichten. Ich empfinde ihn

    nicht als hermetisch. Es gibt bei ihm

    dieses Herantasten an den Saum

    des Verstehens, dieses Ausloten von

    Rändern, wieder und wieder, diese

    Bewegungen an jener dünnen Linie,

    an der das Verstehen gerade beginnen

    könnte. Und das ist etwas, was ich

    schon bei meiner ersten Lektüre

    gespürt habe. Ich lese diese Gedichte

    immer wieder, und oft ist es wie eine

    Art Heimkehr, ein Heimkehr-Moment.

    Für mich habe ich das einmal als

    Ausschauhalten nach mir selbst be-

    schrieben: Ich halte Ausschau nach

    mir, und sehe, bis wohin ich mich

    58_59

  • sozusagen vorausschicken kann.

    Und irgendwo dort, ganz am Rand,

    erlebe ich etwas wie Heimkehr.

    Am Saum. Und das berührt völlig

    unsentimental auch die Kindheit und

    Karl May, diese Winnetou- und

    Wurzelsepp-Geschichten, die ich in

    Teheran gelesen habe, in dieser

    dauerdröhnenden Millionenmetropole.

    Die dünnen Seiten der Karl-May-

    Bücher in der staubigen Luft, das

    Knisterrascheln des rasch vergilbten

    Papiers in der betäubenden Nach-

    mittagshitze – das sind diese Linien,

    die sich fortsetzen bis zu den offenen

    Enden im Freien, weit draußen.

    Das ist eine der scheinbar leisen

    Maßlosigkeiten, die mich beim

    Schreiben immer wieder antreiben.

    Und wenn ich Celan lese, erlebe ich

    tatsächlich etwas Ähnliches.

    Und Peter Huchel? 2018 wurden Sie

    für Ihren Band Wolkenflug spielt Zerreißprobe mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet, der vom SWR

    und dem Land Baden-Württemberg

    verliehen wird.

    Nun, zwischen Huchel und Celan

    liegen für mich Welten. Von Huchel

    gibt es einige Gedichte, die ich

    sehr mag und die ich für mich

    wiederentdeckt habe, als ich mich

    durch den Preis neu mit ihm

    beschäftigte. Aber bei Huchel – ich

    muss jetzt aufpassen, dass das

    nicht missverständlich klingt, denn

    ich meine das in keinster Weise

    abwertend oder stigmatisierend –,

    bei Huchel begegne ich doch

    immer wieder einer sehr deutschen

    Dichtung. Vielleicht berührt sie

    Punkte, zu denen ich mich nicht auf

    Distanz halten sollte.

    Gibt es eine Frage, die Sie Paul Celan

    gern gestellt hätten, wenn Sie ihn

    hätten treffen können?

    Ein gemeinsames, mit vielen Fragen

    verknüpftes Thema hätte vielleicht der

    Prozess des Denkens und Dichtens

    im Zwischen sein können, dort,

    wo ein Ich stets aufs Neue sich zu

    konstituieren und zu erscheinen

    versucht, intra- und interkulturell,

    mit mehrschichtigem Ineinander-

    greifen von Eigenwelt- und Fremd-

    heitserfahrung, auch Anerkennung

    und Ablehnung.

    Gibt es andere Dichter, mit denen es

    Ihnen genauso geht, die Sie so

    ähnlich erwischt oder abgeholt haben?

    Hölderlin auf jeden Fall, wobei ich

    zugeben muss, dass ich nicht genau

    weiß, warum. Ich könnte versuchen,

    es zu verstehen, werde aber wohl

    wissend nie an wesentliche Punkte

    kommen. So wie auch bei Celan.

    Glücklicherweise nähert und entzieht

    es sich wie asymptotisch. Man kann

    nichts festklopfen und raunen: Das ist

    es jetzt. Es ist eher eine Form des

    existenziellen, retardierten Erwischt-

    Werdens, auf verschiedenen Ebenen,

    das reicht von der fiktionalen Selbst-

    deutung bis ins Implizite. Es gibt für

    mich nur wenige Dichter, die so etwas

    bewirken können. Trakl würde ich

    noch nennen wollen. Etwas Ähnliches

    habe ich beispielsweise auch bei

    Paul Éluard erlebt, bei Basho oder bei

    Andrea Zanzotto.

    60_61

  • Wie erzählen wir heute von Afrika?Welche Geschichten und Mythen betreffen uns heute?

    Antworten von Oladipo Agboluaje,

    Julia Augart, Jennifer Nansubuga Makumbi,

    Nelson Mlambo, Rémy Ngamije,

    Sylvia Schlettwein, Annette Bühler-Dietrich,

    Ildevert Méda, Sami Tchak, Nuruddin Farah

    Folgeseiten:Der Sozio-loge Norbert Elias Anfang der 1960er- Jahre in Ghana.

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  • Klischees reduziert. Aus meiner Sicht

    bietet jedes afrikanische Land seine

    eigene, einzigartige multikulturelle

    und mehrsprachige Landschaft,

    die ich unter anderem durch seine

    vielfältige Literatur erforsche.

    Jennifer Nansubuga Makumbi: Ich

    bin eine Schriftstellerin aus Uganda.

    Mein erstes Buch, Kintu, ist ein historischer Roman. Das zweite ist

    eine Sammlung von Kurzgeschichten

    aus der Zeit der Diaspora, Manchester Happened. Mein drittes, The First Woman, ist ein feministischer Roman und erscheint dieses Jahr. Afrika ist

    Zuhause. Es ist ein Ort der Liebe, der

    Schönheit, des Essens, der Musik, des

    Tanzes, der Fantasie und der großen

    Familien. Aber es ist auch ein Ort

    des Schmerzes, der Absurditäten, der

    Verschwendung und der schieren

    Frustration. Afrika wurde von Nicht-

    Afrikanern falsch beschrieben, falsch

    dargestellt und falsch verstanden.

    Nelson Mlambo: Ich bin Dozent im

    Fachbereich ‚Sprache und Literatur-

    wissenschaft‘ in der Abteilung

    ‚Englisch‘ an der University

    of Namibia, wo ich mit Freude Vor-

    lesungen zu afrikanischer, süd-

    afrikanischer und namibischer

    Literatur halte. Afrika steht für mich

    für die Vitalität der Bevölkerung, die

    kulturelle Vielfalt und Kontraste, für

    den Regenbogenkontinent, auf dem

    verschiedene Völker zusammen leben,

    für Ubuntu-Philosophie und vor

    allem für die Widerstandsfähigkeit

    der Bevölkerung. Mich faszinieren

    auch Darstellungen und Kritik

    an Afro-Euphorie und Afro-cli-fi

    Oladipo Agboluaje: Wer bin ich? Was

    ist für mich ‚Afrika‘? Diese Fragen

    verlangen, dass ich ein Narrativ aus

    Fragmenten erstelle, die sich zeitlich

    und räumlich immer wieder neu

    zusammensetzen. Ich weiß, dass ich

    Oladipo Agboluaje bin, ein Dramatiker

    und Universitätstutor. Ich habe in

    Nigeria und im Vereinigten Königreich

    gelebt. Ich bezeichne mich selbst als

    „British-Nigerian“. Ich wurde einmal

    von Kollegen aus Sierra Leone

    gefragt, warum ich einen Bindestrich

    verwende, um meine Identität zu

    beschreiben. Als Antwort zitierte ich

    Tennyson: „Ich bin ein Teil von allen,

    denen ich begegnet bin.“ Ich verstehe

    mich selbst als Afrikaner, aber ich

    bin nigerianischer Staatsangehöriger

    und gehöre dem Volk der Yoruba an.

    Meine Heimatstadt ist Oyo im

    Westen Nigerias. Ich glaube an den

    Panafrikanismus und daran, dass

    Afrikanerinnen und Afrikaner sich

    vereinen müssen, um ein Afrika frei

    von seiner kolonialen Vergangenheit

    und der Geschichte der Sklaverei zu

    erschaffen. Dieses Afrika, das ich mir

    wünsche, ist keine Utopie, sondern

    eine Notwendigkeit. Daher verstehe

    ich Afrika als Entstehungsprozess.

    Julia Augart: Ich bin Lektorin an

    der University of Namibia und lehre

    dort deutsche Sprache und Literatur.

    Afrika ist einer der vielfältigsten

    und aufregendsten Kontinente für

    mich, der leider häufig auf Afrika

    reduziert wird. Seine Vielfältigkeit und

    Komplexität werden meistens

    ignoriert und in den Medien auf Bilder

    von Armut und Kriminalität und in

    Romanen und Filmen auf romantische

    (Literatur, die sich mit dem Klima-

    wandel auseinandersetzt) in der

    afrikanischen Literatur.

    Rémy Ngamije: Ich bin ein in Ruanda

    geborener namibischer Schriftsteller

    und Fotograf. Mein Debütroman

    The Eternal Audience Of One erscheint demnächst bei Scout Press. Ich

    schreibe Texte für brainwavez.org,

    eine Schriftstellervereinigung in

    Südafrika, und ich bin der Chef-

    redakteur von Doek!, Namibias erster Literaturzeitschrift. Meine Kurz-

    geschichten sind in verschiedenen

    Journalen veröffentlicht worden, unter

    anderem in Litro Magazine, AFREADA, The Johannesburg Review of Books, The Amistad, The Kalahari Review, American Chordata, Doek!, Azure, Sultan’s Seal, Columbia Journal und New Contrast. 2020 war ich Longlist-Kandidat für den Afritondo Short

    Story Prize; 2019 wurde ich für den

    Best Original Fiction Preis von Stack

    Magazines nominiert. Weitere

    Informationen zu meinem Werk finden

    Sie auf meiner Webseite: remythequill.

    com. Was Afrika für mich bedeutet?

    Es gibt keine einfache Antwort

    auf diese Frage, weil sich diese

    Bedeutung von Tag zu Tag, manchmal

    von Stunde zu Stunde verändert.

    Für mich persönlich, und ganz einfach

    gedacht, bedeutet es zunächst nur:

    Zuhause. Aber selbst das ist eine

    umstrittene Bezeichnung. Trotzdem

    ist es das für mich: Zuhause – ein Ort,

    an dem ich geschützt und sicher bin.

    Der Ort, an dem ich geboren wurde,

    von dem ich stamme und an

    den ich zurückkehre. Dies alles sind

    offensichtlich nebulöse und sich

    66_67

  • Folgeseiten:Noch nicht Covid-19 geschuldet, sondern Alexander Kluges Reisevor-sicht: unsere allererste Video- konferenz-veranstal-tung Anfang Februar 2020.

    2010 zum ersten Mal für einen Lehr-

    aufenthalt hinreiste, wollte ich für

    mich eine Beziehung zwischen

    der postkolonialen Theorie und dem

    Leben vor Ort herstellen, einem

    Leben, dem ich ohne vorgefasste

    Bilder zu begegnen versuchte.

    In Ouagadougou traf ich auf eine

    pulsierende Theaterszene und auf

    Studierende der Germanistik, die

    den Wissensaustausch suchten.

    ,Afrika‘ ist für mich ein fortdauernder

    Lernprozess, in dem ich Traditionen,

    Rituale, Sprachen und Codes zu

    verstehen suche und Wissensformen

    und Werte mit Freunden, Künstlern,

    Kollegen und Studierenden verhandle.

    Burkina Faso ist für mich auch ein

    Zuhause.

    Ildevert Méda: Ich bin Künstler,

    Dramatiker, Bühnenregisseur und

    Schauspieler. Ich bin der Direktor

    einer kleinen Theatergruppe namens

    théatr’Evasion, die ich 1996 gegründet habe. Heutzutage biete ich vor allem

    Workshops an, in denen ich Dramatik,

    Schauspiel und Bühneninszenierung

    lehre. Die Regierung von Burkina Faso

    bittet mich oft darum, an Projekten

    zur Lehre von Kunst und Kultur an

    Schulen mitzuwirken. Afrika steht für

    mich für die Zukunft der Menschheit.

    Deswegen habe ich mich dafür

    entschieden, hier in Afrika zu leben

    und meine Arbeit weiter zu ent-

    wickeln. Wenn ich beobachte, was in

    der Welt vor sich geht, fällt mir auf,

    dass die ständige Suche nach der

    Anhäufung von materiellen Werten

    und nach Selbstermächtigung

    dazu führt, dass menschliche Werte

    verloren gehen oder vergessen

    verändernde Konzepte, aber wenn sie

    sich einer eindeutigen Erklärung

    und Kategorisierung entziehen, dann

    nur, weil sie dem Konzept gleichen,

    das sie zu erklären versuchen – Afrika

    ist mehr als eine Landmasse, mehr

    als seine Bevölkerung. Es befindet

    sich ständig in Bewegung und im

    Fortschritt. Eben das ist es, was für

    mich ‚Zuhause‘ bedeutet, und auch,

    was Afrika für mich bedeutet.

    Sylvia Schlettwein: Ich bin eine

    namibische Schriftstellerin

    und Übersetzerin, die derzeit ihren

    Unterhalt als Deutsch- und

    Französischlehrerin verdient. Meine

    Muttersprache ist Deutsch, und

    ich schreibe auf Englisch, Deutsch

    und Afrikaans. Namibia, das sich

    auf dem afrikanischen Kontinent be-

    findet, ist das Land, in dem ich

    geboren wurde und aufgewachsen

    bin, in dem ich den größten Teil

    meines Lebens verbracht habe und

    in dem ich schreibe. Namibia/Afrika

    ist Zuhause, Familie, Inspiration und

    Bezugspunkt. Ich schreibe vielleicht

    nicht immer über Afrika, aber ich

    schreibe immer in und aus Afrika.

    Annette Bühler-Dietrich: Ich bin

    außerplanmäßige Professorin für

    Neuere deutsche Literatur an der

    Universität Stuttgart und unter-

    richte unter anderem Seminare zu

    Kolonialliteratur, Migration und

    dekolonialer Theorie. Seit 2010 lehre

    ich auch an der Université Ouaga I

    Joseph Ki-Zerbo, Burkina Faso, und

    übersetze Theaterstücke aus dem

    Französischen. Von 2012 bis 2018 habe

    ich in Burkina Faso gelebt. Als ich

    werden. Leider beobachte ich, dass

    Afrika sich seines eigenen Wertes

    nicht immer bewusst ist; es scheint

    ständig den Positionen der anderen

    Kontinente hinterherzulaufen, ohne

    darüber nachzudenken, welchen Preis

    es dafür zahlt: den Verlust seiner

    Menschlichkeit. Deshalb glaube ich,

    dass ich und andere Künstler und

    Künstlerinnen durch unsere Kunst

    dazu beitragen können, dass Afrika

    sich mancher seiner eigenen Werte

    bewusst wird.

    Sami Tchak: Sami Tchak ist ein

    Pseudonym für Sadamba Tcha-Koura.

    Ich wurde 1960 in Togo geboren,

    erwarb dort meine Licence in Philo-

    sophie und verteidigte 1993 meine

    Dissertation in Soziologie an

    der Universität Sorbonne-Paris V.

    Seit einigen Jahren widme ich

    mich dem Schreiben. Zu meinen

    Veröffentlichungen gehören Place des Fêtes (2001; dt. Scheiß Leben, 2004) Hermina (2003), La fête des masques (2004), Le paradis des Chiots (2006), Filles de Mexico (2008). Al Capone le Malien (2011), La couleur de l’écrivain (2014), Ainsi parlait mon père (2018), Les fables du moineau (2020). Seit 1986 lebe ich in Frankreich. Afrika, dieser

    Kontinent, auf dem sich mein Land,

    Togo, befindet, ist für mich eine

    Selbstverständlichkeit, aber auch der

    Ort meiner vielfachen Unkenntnis.

    Eine Selbstverständlichkeit, weil ich

    Afrikaner bin, weil ich von diesem

    Kontinent herstamme. Ort meiner

    vielfachen Unkenntnis, weil es ein

    riesiger Kontinent mit 56 Staaten und

    Hunderten von Völkern ist, deren

    Kulturen sich nicht in allen Punkten

    ähneln. Afrika ist mein Kontinent,

    aber erst in den Büchern, viele davon

    von Europäern verfasst, habe ich

    gelernt, es ein bisschen kennen-

    zulernen. Meine zahlreichen Reisen in

    mindestens 20 afrikanische Länder

    haben mir weitere Eindrücke

    geschenkt. Afrika ist der Kontinent,

    von dem ich komme, aber bis zum

    Ende meines Lebens wird es für mich

    eine Realität sein, die ich nur in

    Bruchstücken kennen werde. Folglich

    werde ich nicht sagen „bei uns in

    Afrika“. Selbst mein kleines Dorf ist

    von einer großen Komplexität, und ich

    bräuchte ein ganzes Leben, um zu

    versuchen, sie zu verstehen.

    Nuruddin Farah: Ich wurde in Baidoa,

    Somalia, geboren und bin in Äthiopien

    und danach in Somalia zur Schule

    gegangen, habe in Indien und England

    studiert. Ich bin der Verfasser

    mehrerer Theaterstücke und Romane,

    lebe in Kapstadt und lehre im Herbst-

    semester am Bard College in Upstate

    New York. Mein ganzes Leben

    lang habe ich in Afrika gelebt, weil

    ich die Geräusche, die Gerüche, die

    Menschen, alles an Afrika tröstlich

    finde und ich mich inspiriert fühle

    und besser schreibe als auf jedem

    anderen Kontinent.

    68_69

  • _40

  • Lesen! Deep,skim, dis- tant, close, micro, macro,wide, scala-ble, slow, fast?

    Im Juni hätte in Marbach auch

    die Jahreskonferenz der American

    Friends of Marbach (AFM) statt-

    finden sollen. Das Thema: Lesen

    und Leseforschung. Wir haben

    stattdessen allen Teilnehmerinnen

    und Teilnehmern unseren Lektüre-

    Fragebogen zugeschickt, mit

    dem wir in Kooperation mit dem

    Leibniz-Institut für Wissensmedien

    Tübingen im Rahmen des Netz-

    werks ,Literarische Erfahrung‘

    das Leseverhalten in der digitalen

    Welt besser verstehen möchten.

    72_73

  • Gail Finney (University of California,

    Davis): Ich lese (aus Vergnügen)

    hauptsächlich auf dem feststehenden

    Fahrrad im Fitness-Club und vor

    dem Schlafengehen.

    Kathrin Seidl (Brandeis University):

    Zweckorientiert. Wenn es mir keinen

    Genuss bereitet und auch keine für

    mich relevanten Informationen

    enthält, betrachte ich das Lesen als

    einen Raub meiner mir kostbaren Zeit.

    Sebastian Wogenstein (University

    of Connecticut): Ich lese sowohl aus

    professionellen Gründen als auch

    sehr gern zum Vergnügen.

    Sarah McGaughey (Dickinson

    College): Bei der Arbeit lese ich

    hauptsächlich deutsche und englische

    Romane aus dem frühen 20.

    Jahrhundert und seit den 1990ern.

    Gail Finney: Wenn es spannend wird.

    Kathrin Seidl: Wenn ich es nicht

    lesen muss! D.h. wenn ich keine

    Informationen extrahieren muss,

    sondern einfach das Lesen seiner

    selbst wegen GENIESSEN darf.

    Welcher Lesertyp sind Sie? Wie würden Sie Ihre Art zu lesen be-schreiben?

    Wann ver-sinken Sie in einem Buch?

    Zur Unterhaltung lese ich meistens

    Romane, die meine Mutter auf ihren

    Kindle lädt. Gedichte lese ich ab und

    zu und dann meistens im Internet.

    Hal H. Rennert (University of Florida):

    Allgemein würde ich meine Art

    zu lesen als verbindlich (wissen-

    schaftlich) im Gegensatz zu unver-

    bindlich (zum Vergnügen) bezeichnen.

    Ich redigiere, exzerpiere, kopiere,

    übersetze, mache also meist etwas

    aus dem Text, den ich lese.

    Meike Werner (Vanderbilt University):

    Gewohnheitsleser schon aus

    professionellen Gründen, Genuss-

    leser und gelegentlich Stressleser,

    um abzuschalten, auf andere

    Gedanken zu kommen.

    Rainer Rumold (Northwestern

    University): Professioneller

    Leser von zeitkritischen Texten.

    John McCarthy (Vanderbilt

    University): Ich bin ein eklektischer

    Leser. Hauptsächlich Erzählliteratur

    und Essayistisches. Ich lese genau

    und langsam, auf Inhalt, Stil und

    Bedeutungsnuancen achtend.

    Z.B. literarisch bedeutsame Werke

    wie Madame Bovary, Anna Karenina, Die Blechtrommel, A Room of One’s Own, Agathon und Don Sylvio. Diese Art von Lektüreverhalten

    wurde an Wieland früh geschult.

    Patrizia C. McBride (Director,

    Institute for German Cultural

    Studies, Cornell University, Ithaca):

    Im Allgemeinen neige ich zum

    langsamen Lesen, vor allem bei

    gedruckten Texten. Meine Lesege-

    wohnheiten sind auch durch die

    Materialität des Mediums bedingt.

    Eine E-Mail etwa will ich nicht lange

    lesen und werde schnell ungeduldig.

    Lesen ist Teil der Sozialisation, und

    mein Leseverhalten wurde von meinen

    Erfahrungen und Erwartungen mit

    Büchern tief geprägt. Es ist nicht so,

    als wäre das Bildschirmlesen

    umständlicher an sich, sondern für

    mich hat es nicht den Charakter des

    richtigen, genussvollen Lesens.

    Rachel Halverson (College of Letters,

    Arts and Social Sciences, Moscow):

    Ich sehe mich als eine ,Meditations-

    leserin‘, die sich in Texte aller Art

    vertieft und sich auf das Lesen

    so konzentriert, dass die Welt um

    sie herum verschwindet.

    Stephen Dowden (Brandeis

    University): Ich lese von morgens

    früh bis mittags, wenn es möglich ist.

    Selten abends.

    Judith Ryan (Harvard University):

    Seit frühester Kindheit bin ich

    eine unersättliche Leserin. Ich habe

    mir mit drei Jahren das Lesen

    beigebracht. Ich lese viel und schnell

    und mag viele Gattungen und Themen.

    74_75

  • gerne Krimis. Aber da werden die

    Gewalttätigen meistens zur

    Rechenschaft gezogen. Reiche

    Figuren mit viel Selbstmitleid kann

    ich nicht leiden. So à la Bret Easton

    Elli’s Rules of Attraction. Und alles, was sprachlich und inhaltlich

    schlecht geschrieben ist.

    Rainer Rumold: Nach einem Zuviel

    an Eigenanalyse.

    Hal H. Rennert: Ich habe eine

    Sammlung von etwa 300 kleinen

    Reclam-Heften, die ich für wenig Geld

    beim Ausverkauf eines Buchladens

    vor etwa 30 Jahren gekauft habe.

    Da ist deutsche Literatur dabei, die

    nie auf meinen Literaturleselisten

    der Uni stand: Hans Sachs z.B. und

    noch ältere Texte aus dem Mittelalter.

    Wenn ich so ein Büchlein entdecke,

    lege ich es gern beiseite.

    Meike Werner: Wenn mir die Zeit zum

    Weiterlesen fehlt.

    John A. McCarthy: Wenn es zu oft zu

    Wiederholungen kommt und ich das

    Gefühl habe, das Argument wird

    nicht vorangetrieben und die gleichen

    Empfindungen werden immer wieder

    durchgewühlt, wenn neue Horizonte

    nur langsam geöffnet werden.

    Stephen Dowden: Mit Vorliebe lese

    ich viele Bücher kurz – etwa je eine

    halbe Stunde, alle nacheinander.

    Judith Ryan: Fast nie: Meistens mache

    ich einen ernsthaften Versuch, das

    Buch zu Ende zu lesen, auch wenn es

    mir nicht gefällt.

    Sebastian Wogenstein:

    Wenn es gut geschrieben ist.

    Sarah McGaughey: Wenn

    es unterhaltsam ist. Krimis,

    Jugendbücher wie Tschick, Harry Potter, Hunger Games zählen meiner Meinung nach zu solchen

    Romanen, die zum Versinken sind.

    Rainer Rumold: Wenn es sprachlich

    packend ist.

    Hal H. Rennert: Ich habe drei Stellen

    im Haus, wo ich buchstäblich in einem

    Korbsessel versinke. Ich lese nie

    im Bett, weil ich mir verboten habe,

    beim Lesen einzuschlafen. Ein Buch

    ist doch kein Schlafmittel! Und beim

    Notizenmachen setze ich mich immer

    an einen Tisch. Bin ich überhaupt

    schon mal beim Lesen versunken?

    Vielleicht als Elfjähriger bei Karl Mays

    Winnetou.Meike Werner: Packendes Problem

    oder packende Story, gut geschrieben,

    zum Nachdenken, Weiterdenken

    anregend.

    John McCarthy: Selten. Wenn die

    Handlung spannend und verwickelt

    ist, dann schon. Goethes Werther, Schillers Die Räuber und Wielands Don Sylvio von Rosalva haben mich jeweils auf andere Art und Weise

    gefesselt.

    Patricia McBride: So richtig in einem

    Buch versinken, das passiert leider

    nicht oft genug. Selbst bei meinem

    Beruf – oder vielleicht deswegen. Bei

    mir heißt, in ein Buch zu versinken das

    Gleiche, wie nicht auf die Zeit achten

    zu müssen. Spätabends passiert

    es mir manchmal. Eine wichtige

    Bedingung ist dabei, dass das Lesen

    um des Lesens willen geschieht.

    Rachel Halverson: Am Abend, bevor

    ich einschlafe.

    Stephen Dowden: Das geschieht

    fast nie mehr. Das Versinken ist eher

    eine Kindheitserinnerung.

    Judith Ryan: Das hat viel mit dem

    Stil zu tun. Ein unbeholfener Stil

    macht es mir unmöglich, in das Buch

    zu versinken.

    Gail Finney: Wenn es trocken wird.

    Sebastian Wogenstein: Wenn ich es

    nicht interessant oder ergiebig finde.

    Sarah McGaughey: Fast nie. Aber

    meistens, wenn eine Hauptfigur

    nicht nur unsympathisch, sondern

    willkürlich und gewalttätig ist. Was ja

    nicht ganz stimmt, denn ich lese so

    Wann legen Sie ein Buch aus anderen Gründen als Mü-digkeit und Zeit-mangel beiseite?Auf den

    Folgeseiten: Scheren-schnitte von Luise Duttenhofer mit Lese-typen und Leseszenen um 1800.

    76_77

  • 78_79

  • Gail Finney: Ich lese so weit wie

    möglich nur gedruckte Bücher.

    Bei E-Books fällt es mir schwer,

    mich zu konzentrieren.

    Kathrin Seidl: Gedruckt ist schöner:

    ein taktiles Erlebnis, Lesen mit

    allen Sinnen.

    Sebastian Wogenstein: Ich kann

    mich in gedruckten Büchern besser

    orientieren, sehe aber v.a. in der

    globalen und sofortigen Verfügbarkeit

    von E-Büchern große Vorteile.

    Sarah McGaughey: Ich bevorzuge

    gedruckt, aber E-Books sind praktisch,

    wenn 1) man eine Mutter hat, die

    viele Kindle-Bücher kauft und 2)

    wenn ich unterwegs bin.

    Meike Werner: E-Books lese ich nur

    zu Forschungszwecken, sprich,

    wenn Texte nicht oder nur schwer

    gedruckt verfügbar sind.

    John A. McCarthy: Im gedruckten

    Buch kann man jederzeit nach-

    schlagen und hin und her blättern,

    Stellen mit den Fingern zum

    Vergleichen festhalten. Das Tast-

    gefühl fehlt im digitalen Raum.

    Gail Finney: Ja, weil man nicht mehr

    zum Fitness-Club gehen kann.

    Kathrin Seidl: Ich verbringe insgesamt

    mehr Zeit vor dem Computer, daher

    lese ich auch mehr online.

    Sebastian Wogenstein: Ja, sehr,

    aus Zeitgründen. Ich habe ein Kind

    im Kindergartenalter und eine

    Zweitklässlerin rund um die Uhr zu

    Hause und komme kaum noch

    zum Arbeiten – geschweige denn

    zum Lesen.

    Sarah McGaughey: Ich lese viel mehr!

    Ich habe wenig Platz, wo ich wohne,

    ein Kind und viel am Computer zu tun.

    Aber wenn ich abends Zeit habe, lese

    ich: Seit dem Beginn des Lockdowns

    Patrizia McBride: Bücher sind

    für mich gedruckt. E-Books fehlt

    die materielle Eingrenzung, die

    „boundedness“, aber auch das

    materielle Gewicht und der

    immaterielle Wert. Mir scheinen

    sie weniger Substanz zu haben.

    Aber ich schätze an ihnen, dass

    sie ‚portable‘ sind und man mit

    dem Inhalt anders umgehen kann,

    z.B. durch gezieltes Suchen.

    Stephen Dowden: E-Books besitzt

    man nicht, man leiht sie gegen Geld.

    Judith Ryan: Wenn es sein muss

    (z.B. wenn ich das gedruckte Buch

    nicht bekommen kann oder wenn es

    eher um Information und nicht so

    sehr um literarische Qualität geht),

    lese ich auch E-Books.

    habe ich doppelt so viele Romane

    gelesen, wie ich es normalerweise

    im Semester tue.

    Hal H. Rennert: Das letzte Treffen

    der Deutschstundeteilnehmer bei mir

    zu Hause war Anfang März. Seitdem

    machen wir leidlich online weiter. Mir

    fehlt regelrecht der Lektüre-Rahmen.

    Meike Werner: Erstaunlicherweise

    nicht wirklich.

    John A. McCarthy: Klar. Ich habe mehr

    Zeit zum Lesen und Nachdenken.

    Patrizia McBride: Nein, leider, weil ich

    von zu Hause arbeite. Ich habe sogar

    weniger Freizeit zum Lesen als sonst.

    Rachel Halverson: Ich vermeide

    Bücher, die bestimmte Themen

    (Arbeitslosigkeit, Tod, Weltende)

    behandeln. Durch das Lesen möchte

    ich eine Pause vom ,Pandemiestress‘.

    Judith Ryan: Um überhaupt noch

    forschen zu können, musste ich mehr

    auf E-Books zurückgreifen und auch

    mehr gebrauchte Bücher kaufen.

    Hat sich durch die Maßnah-men zur Eindäm-mung von Covid-19 Ihr Lese-verhalten verändert?

    Gedruckt oder E-Book – welchen Unter-schied sehen Sie?

    Möchten auch Sie

    auf

    unsere Fragen an

    tworten?

    Wir freuen uns d

    arüber

    und sammeln sie

    unter

    dieser Adresse:

    presse@dla-marba

    ch.de

    Nachfolgende Seiten: Momentaufnahme bei den 1:1 Konzerten im Juni 2020 auf dem Balkon des Schiller- National-museums mit Susanne Wich-mann (Horn), Kathrin Wipfler (Violine) und Christian Teiber (Klari- nette).

    80_81

  • Nachfolgende Seiten: Besuchermitspielkärtchenaus unserer Ausstellung „Hegel und seine Freunde“, die im September 2020 ins Goethe-Institut Ljubljana weiterwandert und dort von Hegels slowenischen Freunden ergänzt wird. In Marbach haben 133 Besucher*innen den Satz „Denken ist für mich …“ ergänzt, neun davon mit „Freiheit“, fünf mit „anstrengend“, vier mit „unabstellbar“. Weitere Definitionen waren u.a.: „Probehandeln“, „leider viel zu selten“, „eine sprudelnde Ketten-reaktion kleiner Männ- lein in meinem Kopf“, „Denken ist nicht links und rechts, schwarz oder weiß / Denken ist mutig sein“, „Luxus“, „nicht für Dich“.

    Ergänzend zur Schillerrede 2020

    am 8. November (auch hier geben

    wir den Redner sowie Uhrzeit

    und Ort rechtzeitig über unsere

    Homepage und die Presse bekannt)

    möchten wir Sie alle einladen,

    zu Friedrich Schillers Geburtstag

    am 10. November Ihre Gedanken

    zu einem der berühmtesten

    Schiller-Zitate mit dem Hashtag

    #SchillerFreiSpiel online zu stellen:

    „Um es endlich auf einmal heraus-

    zusagen, der Mensch spielt nur,

    wo er in voller Bedeutung des Worts

    Mensch ist, und er ist nur da ganz

    Mensch, wo er spielt.“ Schiller

    schreibt das in seinen fünf Jahre

    nach Ausbruch der Französischen

    Revolution 1794 veröffentlichten

    Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Aus seiner Sicht macht uns die Kunst frei,

    weil sie uns bewegt und verändert,

    ohne dass wir die Balance verlieren.

    Sie lehrt uns Geist, Seele und

    Körper in Einklang zu bringen. Viele

    der Objekte in Schillers Nachlass

    thematisieren solche Bewegungs-

    und Gleichgewichtsübungen.

    Aber: Wie sehen wir heute die

    Zusammenhänge zwischen Spielen

    und Freiheit, Individuum und

    Demokratie?

    Schillerlesen

    84_85

  • #Literatur Bewegt Lesen lernen

    Auch die für Dezember 2020

    geplante Fortsetzung unseres

    Ausstellungsprojekts

    #LiteraturBewegt (gefördert

    von der Kulturstiftung des

    Bundes und dem Ministerium

    für Wissenschaft, Forschung

    und Kunst Baden-Württemberg),

    in dem die Medienwechsel

    der Literatur im Mittelpunkt

    stehen , haben wir in den

    Herbst 2021 verschoben. Daher

    noch einmal zurück zum Lesen:

    Was geschieht mit unserem

    Körper, wenn wir Lesen lernen?

    Das haben wir die Essayistin

    und Literaturwissenschaftlerin

    Hannelore Schlaffer gefragt:

    Es muss etwas passieren! Etwas Unglaubliches! Übertreibung bis zur Unwahrscheinlichkeit ist ein erprobtes

    Mittel, das Furchtbare zu bannen,

    damit es das Schöne werde. Das

    Schreckliche ins Schöne zu über-

    setzen, dazu reicht schon ein

    bequemer Sessel. In Gemütlichkeit

    versunken, wird alles Ungeheuerliche,

    von dem man gerade erfährt, harmlos.

    Noch besser als der Sessel ist, falls

    man ein Kind ist, die Hand des Vaters

    oder der Mutter. So war denn auch

    das erste Buch, das mir vorgelesen

    wurde und dessen ich mich erinnere,

    ein schönes. Und doch erschien es

    mir, als ich es vierzig Jahre später aus

    kritischer Distanz noch einmal selbst

    las, als das erdenklich Bösartigste,

    was man einem Kind vorsetzen kann:

    Der Struwwelpeter. Sadismus in jedem Wort – doch die Hand des Vaters

    auf der Schulter war warm, und die

    spöttische Stimme, mit der er las,

    verkehrte den Barbarismus der

    Geschichtchen in spaßige Wunder, in

    Zauber, in Phantasie. So ließ sich

    über all das, was Erziehungswut sich

    an Grausamkeiten ausgedacht

    hatte, lachen, schadenfroh, über die

    brennenden Katzen wie über den

    fliegenden Robert, der hieß wie mein

    Bruder.

    Die ästhetische Erziehung ist keine

    moralische, wie Schiller meint. Sie

    beginnt beim Kind, gar beim Kleinkind,

    und von da an ist die Bedingung allen

    ästhetischen Genusses Körperwärme.

    Der Körper, der liest, muss sich seiner

    sicher sein. Er muss wissen, dass er

    das Auge nicht braucht, das wachsam

    Folgeseiten:Psyche und Pegasus. Testaufbau für Luise Duttenhofers Leseszenen im Litera-turmuseum der Moderne.

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  • das nicht – ein Asyl, das nicht riecht,

    nicht blendet, nicht dröhnt, nicht juckt,

    nicht schmerzt. Wer an diese Welt

    glaubt und in sie entflieht, nimmt an

    Wundern so viel wie möglich in die

    sinnliche Wirklichkeit mit, in die er

    zurück-kehren muss. Beides, Flucht

    und Rückkehr, wurden mir von diesen

    Brüdern leicht gemacht. Der Tag war

    still und gut zum Lesen geeignet,

    denn sie gingen zur Arbeit. An den

    Abenden und am Sonntag zelebrierte

    dann einer, der schöne Lieblings-

    bruder, zusammen mit meinem Vater

    und mit mir die Rückkehr aus der

    Bücherwelt in unser Wohnzimmer.

    Ich las alle Bände von Karl May, derer

    ich habhaft werden konnte, der Bruder

    und mein Vater lasen mit, und so

    war das Wohnzimmer ein Lager in

    den Great Plains, wir waren Old

    Shatterhand, Winnetou, Nscho-tschi.

    Ich sprang vom Pferd, legte das Ohr

    auf die Erde, um das Nahen feindlicher

    Stämme auszukundschaften, und

    verbeugte mich mit dem roten Bruder

    vor unserem weißen Freund Old

    Shatterhand, dem Vater. Lesen nennt

    man Bildung und fördert es bei

    Jugendlichen, aber keine Spur war mir

    bewusst von dieser Pflicht, und von

    den wirklichen Verhältnissen in jenem

    Amerika, mit dem ich mich gerade

    beschäftigte, hatte ich keine Ahnung,

    wusste nichts von der Verdrängung

    der Indianer aus ihren Revieren, auf

    die Karl May anspielt. Bildung ist ein

    emotionales und intellektuelles

    Training, keine Wissensvermittlung.

    Begleitet vom Achselzucken der

    anderen drei Brüder, lief dieses

    Spiel so vor sich hin und einige Zeit

    lang weiter, so lange, bis ich eine

    die Umwelt kontrolliert, weil er nicht

    in Gefahr ist. Die Augen sind die

    einzig Gequälten beim Lesen. Je

    monotoner die Welt, die vor ihnen liegt

    – und was ist schon eine Buchseite

    anderes als ein Gefängnis für das

    Auge –, desto freudiger arbeitet der

    Geist, sich seine eigenen Welten,

    auserlesene, zu erfinden. Schwer

    Büchersüchtige, die lebenslänglich

    hinter diesen Buchstabengittern

    sitzen, kokettieren gern mit ihrer

    Begeisterung für die Schönheit des

    Buches, mit der Sensibilität, die die

    Haptik des Einbandes erregt, mit

    der Schönheit des Papiers – ich vor

    allem erinnere mich am liebsten an

    das sogenannte Bibeldruckpapier,

    das damals, eine kirchliche Tradition,

    das Buch kostbar machte. Das

    Material ist jedoch nur eine Auf-

    forderung, mit dem Phantasieren zu

    beginnen.

    Die ersten Bücher, die ein Kind

    kennenlernt, sind nichts als

    Schachteln, in denen etwas versteckt

    ist, was die Stimme eines anderen

    zum Klingen bringt. Beim Vorlesen

    schon beginnt die Entlassung des

    Körpers, die Lesen erst eigentlich

    zum Glück macht. Lesen ist ein Glück,

    weil man, sobald man sich in ein Buch

    vertieft, ein Mensch ist ohne Leib.

    Man unterliegt weder der Schwerkraft

    noch den Gebrechen des Körpers.

    Lesen ist eine Kraftentäußerung.

    Nur wenn es zu lange währt, hat

    einen die Erde wieder: Der Rücken

    schmerzt, die Schultern knarzen,

    die Augen brennen.

    Diese Schwerelosigkeit, die süchtig

    macht, beginnt mit dem gehörten Text,

    mit der Erzählung des Vaters etwa,

    zu dem das Kind am Morgen ins Bett

    kriecht und auf fränkisch radebrecht:

    „Rodkäbbchen sach!“ Hier genießt es

    in der Morgenstunde die Sicherheit,

    die zum Lesen gehört. Nicht um etwas

    zu lernen, sondern damit die Welt

    nicht ganz verloren gehe dabei – was

    ein wirklicher Schreck wäre – müssen

    Kinderbücher Bilder haben und der

    Text eine Stimme, die des Erzählers

    oder Vorlesers. Zum Gefühl der

    Sicherheit, die Lesen erst ermöglicht,

    gehört das Vertrauen, dass Welt

    und Körper trotz der entfliegenden

    Phantasie miteinander freundlich

    verbunden sind. Dies Gefühl

    verschafft im Erwachsenenalter die

    Tasse Kaffee, die die Lektüre irdisch

    bleiben lässt, oder die Zigarette.

    Nicht aus Geistes- und Gedanken-

    schwäche hebt man immer einmal

    wieder den Blick vom Buch, steht auf

    und tut einige Schritte durch den

    Raum, sondern aus dem Bedürfnis

    heraus nach Rückkehr in die Welt,

    die über der Unglaublichkeit der

    Erzählung doch nie oder nur von Irren

    ganz vergessen wird.

    Nun also aus dem Bett des Vaters in

    den Sessel im Wohnzimmer, an

    dem von Zeit zu Zeit die vier Brüder

    vorbeikommen und sagen: „Ah! Die

    höhere Tochter liest schon wieder!“

    Vier Brüder fördern das Lesen

    einer kleinen Schwester sehr. Man

    entkommt ihnen gottlob ins Buch

    und dort in eine Welt, in die sie nicht

    mitlaufen können – oder doch?

    Bücher sind – wer, der liest, wüsste

    andere Verbindung von Fiktion und

    Wirklichkeit fand, wie sie notwendig

    ist, damit Lesen Glaubenssache

    bleibe und Glück bereitet. Die

    Wirklichkeit, in die das Gelesene nun

    einging, war das Theater, ein realer

    Ort, an dem ich mein einsames

    Lesen in die Gesellschaft integrieren

    konnte. Ich las Schiller, lernte Rollen

    auswendig, war Karl Moor, Max

    Piccolomini, Lady Milford – Frau oder

    Mann spielt in der Poesie keine

    Rolle –, ging ins Theater und sah,

    dass es das, was ich einstudiert hatte,

    wirklich gab. Mit dem Besuch im

    Theater war das Lesen zur sozialen

    Erfahrung geworden, die mir die

    Teilhabe an der Gesellschaft

    garantierte. Über das Theater kann

    man reden, die Lektüre hingegen

    macht stumm, während man liest,

    und meist auch danach. Zugleich

    wird in Schillers Theaterstücken der

    Leser zum Spieler, der frei ist vom

    Alltag. Seine Bühne ist ein anderer,

    ‚höherer‘ Ort.

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    1.-Klasse-Einsamkeit

    Nervenplankton

    Schmierseifenhansel

    Déjawuppdich

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    Gleichmachemaschine

    Aufklappsterne

    Maiengalle

    Gelegenheitsschwein

    Wohltäterätäter

    Paradiesvogelschiß

    Fundefeuer

    EtruskerspitzmausMondensud

    ratzepatz

    Rühmkorfs Nachlasspoesie

    Peter Rühmkorf in seiner Hamburger Studenten-bude, um 1955. Foto: Dieter Heggemann

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  • Gibt es Dinge, die Sie heute noch

    ratlos machen oder staunen lassen

    oder ... ?

    Ratlos bin ich angesichts des immens

    umfangreichen (und gesperrten)

    Tagebuchnachlasses – 30.000 hand-

    schriftliche Seiten! Nicht nur die

    manische Mitschrift des eigenen

    Lebens erstaunt mich, auch die Idee

    einer jahrzehntelangen Sperrung, die

    aus den Notizen eine Art Flaschen-

    post in die Zukunft werden lässt.

    Für wen? Oder hat sich Rühmkorf

    diese Frage gar nicht gestellt, sondern

    nur gedacht: Für euch nicht, ihr

    sensationsgierigen Zeitgenossen?

    – Was mich immer noch rührt, sind

    die Dokumente aus dem Nachlass

    der Mutter. Peter Rühmkorf wurde

    unehelich geboren, seine Mutter

    war Dorfschullehrerin, sein Vater ein

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