Ordnung, Störung, Heilung · Sprecherin: Josef Matthias Hauer, Gedanken über seine...
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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE __________________________________________________________________________
SWR2 Essay
Ordnung, Störung, Heilung
Kybernetik und Klangwelt bei Friedrich Cerha
Von Matthias Henke
Sendung: Montag, 5. März 2018, 22.03 Uhr Redaktion: Lydia Jeschke Produktion: SWR 2018 __________________________________________________________________________ Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. __________________________________________________________________________ Service: SWR2 Essay können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de oder als Podcast nachhören: http://www1.swr.de/podcast/xml/swr2/essay.xml __________________________________________________________________________ Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
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Musik 1 (insgesamt ca. 1’50)
Josef Matthias Hauer: Zwöfltonspiele. Ensemble Avantgarde (Andreas Seidel, Violine; Matthias Moosdorf, Violoncello; Ivo Bauer, Akkordeon; Jean Christof, Klavier, Stefan Schleiermacher, Klavier) MDG 613 1060-2, LC 6768 (nach ca. 0’30 abblenden, unter Text weiterlaufen lassen)
Sprecher 1: „Gott hat von Ewigkeit her die absolute Musik ein für allemal
komponiert, vollkommen vollendet. Wir Menschenkinder bemühen uns diese göttliche
Vatersprache zu erlernen. Das Zwölftonspiel regelt die psychophysischen
Voraussetzungen der reinen Intuition, die es allein ermöglicht, Musik als Offenbarung
der Weltordnung zu vernehmen.“i
Sprecherin: Josef Matthias Hauer, Gedanken über seine Zwölftonspiele,
niedergeschrieben 1946, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Sprecher 1: „Die absolute, die kosmische Musik gestattet den tiefsten Einblick in das
Weltgeschehen. Die Töne mit ihren Obertönen sind Sonnen mit ihren Planeten.
Zwölftonspiele beinhalten Funktionen der Milchstraßensysteme, die motorische
Formungszentren organischer Prozesse sind.“ii
Musik 1
(hochblenden, ca. 0’20 stehen lassen unter dem folgenden Text ausblenden)
Sprecherin: Hauers Sätze mögen heute etwas skurril wirken. Aber sie spiegeln die
Jahrtausende alte Sehnsucht der Menschheit wieder, eine Art Urgesetz zu finden,
eine Formel, die alles zusammenhält: die organische wie die anorganische Natur,
das von Menschen Geschaffene wie das Kosmische.
Sprecher 2: Als Vehikel für diesen Ansatz dient seit der Antike vielfach die Musik.
Beispielsweise in der Legende von Pythagoras. Bekanntlich soll der griechische
Gelehrte in einer Schmiede den Zusammenhang zwischen dem Gewicht der
Hämmer und den durch ihre Schläge erzeugten Intervallen entdeckt haben. An
Pythagoras’ Musiktheorie knüpfte der spätantike Theologe Boethius an. Er setzte die
Proportionen des menschlichen Körpers mit den Intervallen des Kosmos in eins
sowie mit einfachen Tonabständen – wie Quart, Quint oder Oktav. Die göttliche, sich
unter der Oberfläche der Erscheinungen verbergende Ordnung nannte er „musica“.
Sprecherin: So entstand über die Jahrhunderte hinweg eine immer weiter
ausgebaute Ganzheitslehre. Sie lebte im Werk des frühbarocken Wissenschaftlers
Athanasius Kircher fort und beeinflusste später auch Isaac Newton. Der englische
Physiker begründete ein mechanistisches Bild der Welt, indem er sie als eine
Maschine deutete. Wenn man deren Beschaffenheit kennen würde und die Regeln
ihres Funktionierens, sei man in der Lage ihr künftiges Verhalten zu bestimmen,
lautete seine Prämisse.
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Sprecher 2: Womit wir wieder bei Hauer wären. Ihm ging es letztendlich nicht um
das Komponieren im traditionellen Sinn, nicht um konventionelles Handwerk, nicht
um die Eigenart des schaffenden Menschen. Vielmehr galt es ihm als Höchstes, die
elementaren Gesetzmäßigkeiten der Zwölftönigkeit zu erkunden, ihre Mechanik
sozusagen – ein Ansinnen, dem er mit seinem in der Zwischenkriegszeit erkundeten
Zwölftonspiel entsprechen wollte. Darunter verstand Hauer ein in sich geschlossenes
Regulierungssystem, eine besondere Methode der Klangsteuerung.
Sprecherin: Zunächst gilt es, eine Zwölftonreihe aufzustellen, die sodann in vier
Abschnitte zu gliedern ist, in Dreitoneinheiten. Übereinander geschichtet, ergeben sie
das harmonische Grundmaterial. Aus ihm wird durch schematische Vorgänge, durch
Spielregeln gewissermaßen, das Melos des jeweiligen Zwölftonspiels gewonnen.
Sprecher 2: Folglich kann man die althergebrachte Ton-Setz-Kunst vergessen. Der
Macher verliert also an Bedeutung, während der Hörer mehr als vordem ins Zentrum
rückt – ein bahnbrechendes Verständnis, das dem Grundmodell moderner
Kommunikationstheorien entspricht, dem gleichberechtigen Zusammenspiel von
Sender und Empfänger, einem Feedback-System sozusagen.
Musik 2 (insgesamt 3’30)
Josef Matthias Hauer: Zwölftonspiele. Ensemble Avantgarde (Ralf Mielke, Flöte; Andreas Seidel, Violine; Tilman Büning, Violine; Ivo Bauer, Viola ;Matthias Moosdorf, Violoncello) MDG 613 1060-2, LC 6768 (nach ca. 0’30 abblenden, unter Text weiterlaufen lassen)
Sprecher 1: „Das Vernehmen der Musik ist wirkliche Vernunft, ein Hören der ewigen
Gesetze, Gebote, ein Horchen auf den ethischen Sinn. Das Musikalisch-
Symbolische, das rein Intuitive muss den höchsten Rang einnehmen im geistigen
Leben des Menschen, weil es mit der Wahrheit und Wirklichkeit, mit den
geistigen Realitäten in engster Fühlung lebt, während das Begrifflich-Wortsprachliche
nur zu leicht in Geschwätz, Lüge, Heuchelei ausartet.“iii
Sprecherin: Hauer starb 1959. Bis dahin hatte er rund tausend Zwölftonspiele
hervorgebracht. Trotz ihrer Besetzungsvielfalt zeichnen sie sich durch ein
gemeinsames Klangbild aus. Es lässt sich als bewegtes Kontinuum beschreiben, als
musikalisches Mobile, dessen Teile ständig um eine oder mehrere Achsen kreisen.
Zudem fehlt den Zwölftonspielen Hauers jenes Spannungsgefälle, das sich mit dem
Dur-Moll-System verbindet.
Sprecher 2: Solche Eigenschaften mögen dazu geführt haben, dass man Hauers
Werken wiederholt therapeutische Qualitäten zusprach. Der in Wien tätige Mediziner
und Homöopath Erwin Schramm etwa erkannte im Zwölftonspiel das Potential, die
gestörte Ordnung eines Kranken „wieder ins biologische Gleichgewicht“ zu bringen.
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Sprecher 1: „Bei sinnvoller Ausgestaltung wäre im Zwölftonspiel mancher
therapeutische Schatz verborgen, den zu entdecken, zu kultivieren, sicher reichen
Lohn verheißen würde.“
Musik 2
hochblenden, bis Ende stehen lassen
Sprecherin: Hauers Zwölftonspiele und ihre Rahmenbedingungen. Die
Ganzheitslehre. Der Versuch, ein Steuerungssystem der Töne zu finden, das die
Spielregeln einer sich stets neu entfaltenden Textur festlegt. Die Mechanisierung des
schöpferischen Vorgangs. Damit verbunden: dessen Objektivierung, nicht der
Einzelne zählt, sondern das Gesamte. Ferner die Aufwertung des Hörers, das mit ihr
einhergehende, Feedback-basierte Kommunikationsmodell. Und schließlich die Idee,
gestörte Ordnungen heilen zu können.
Sprecher 2: Diese Aspekte zogen den 1911 in Wien geborenen Wissenschaftler
Heinz von Förster in ihren Bann. Hauers Einsichten faszinierten ihn jedenfalls so,
dass er sie in seinem 1947 veröffentlichten Essay „Von Pythagoras zu Josef Matthias
Hauer“ feierte, dessen Schluss einer Hymne gleicht:
Sprecher 1: „Da wir heutigen Menschen nicht in den äußeren Grenzen der Welt
suchen, sondern in der tiefen Erkenntnis einer Allgegenwart Gottes, die sich von
keinem Zeit- und Raumbegriff einordnen lässt, erlauschen wir in der geisterhaften
Klarheit der Hauerschen Zwölftonspiele, in der überwältigenden Gesetzmäßigkeit
ihres inneres Ablaufes, in der waltenden Harmonie das Alpha und Omega göttlichen
Seins. Einer der größten Suchenden unsrer Zeit, Josef Matthias Hauer, ist zum
Künder der reinen Musik, der höchsten Emanation menschlichen Geistes
geworden.“iv
Sprecherin: Heinz von Förster. Auf den ersten Blick mag seine Überschwänglichkeit
verblüffen. Er war ja kein Musiker, wenigstens kein professioneller, sondern hatte
Physik studiert, in Wien, an der Technischen Hochschule. Philosophische Fragen
interessierten allerdings schon den Jugendlichen – was eigentlich kein Wunder war.
Immerhin gehörte Ludwig Wittgenstein (Förster nannte ihn Onkel) ins Umfeld seiner
Familie.
Sprecher 2: Wittgenstein, der Begründer der Analytischen Sprachphilosophie, hatte
die Methode des „Sprachspiels“ etabliert, um die Urgesetze der Sprache zu
ergründen, indem er deren Ausgangsmaterial stark reduzierte. Eine gewisse Nähe zu
Hauers Zwölftonspielen lässt sich also nicht leugnen. Hat möglicherweise
Wittgenstein Försters Sinn für diese geweckt oder zumindest geschärft? Sicher ist,
dass Förster Hauer, dem eine Generation Älteren, schon früh begegnet war.
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Sprecher 1: „Es muß ein Sommertag im Jahre 1927 gewesen sein, an dem die
gerade verweilenden Verwandten und Freunde, mich eingeschlossen, um den
großen Familientisch bei einem köstlichen Mittagessen saßen und Hauer zuhörten,
der von seinen 12-Ton-Spielen sprach. Er erklärte, dass es einfach wäre, ein 12-Ton-
Spiel zu ‚komponieren’, nämlich, die Namen der 12 Töne innerhalb einer Oktave,
also c, cis, d, dis, e, f, und so weiter auf 12 Zettel zu schreiben, die in einen Hut zu
werfen, den gut zu schütteln, und dann einen Zettel nach dem anderen
herauszuholen und die Namen zu notieren. Die sich ergebende Folge ist dann,
sozusagen, die ,Signatur’ dieses soeben ,komponierten’ 12-Ton-Spiels.“v
Sprecherin: Heinz von Förster über seine Begegnung mit Josef Matthias Hauer.
Sein Bericht mutet anekdotenhaft an, legt aber interessante Fährten, die
beispielsweise zu Marcel Duchamp führen, dem großen Visionär der Moderne.
Sprecher 2: Der Urvater aller Konzeptkünstler hatte 1913 anlässlich einer
Familienfeier das „erratum musical“ kreiert, ein aleatorisches, mit dem Zufall
operierendes Musikstück. Um es zu generieren, schnitt Duchamp zunächst einige
Sets von Kärtchen mit den zwölf Tonnamen zurecht. In einen Zylinder geworfen,
wurden sie gemischt, einzeln gezogen und – ihrer Ziehung strikt folgend –einer
Partitur anverwandelt.
Musik 3 (1’40)
Marcel Duchamp: The Creative Act. Jean-Luc Plouvier; Marianne Pousseur; Lucy Graumann. sub rosa SR57, LC 6110
Sprecherin: Duchamps Vorgehen, sein „Hutspiel“, ähnelte in frappierender Weise
dem Verfahren Hauers, wie es Förster geschildert hatte, im äußerem Ablauf wie dem
Geist nach. Denn Duchamp wollte ebenfalls das schöpferische Ego zugunsten des
Überpersönlichen zurückdrängen; oder, negativ gesagt, das bürgerliche Genie vom
Sockel holen – ein Ziel, zu dem sich auch Hauer bekannte.
Sprecher 1: "Das Zwölftonspiel ist von jedem und für jeden halbwegs Musikalischen
erlernbar, ähnlich wie das Schachspiel, und wird sich wie dieses ‚spielend’
verbreiten. Es kommt nur darauf an, ob die ‚Komponisten’ es zuerst in die Hand
nehmen wollen, damit es von ihnen ausgeht, oder ob sie warten wollen, bis es ihnen
von den Kindern gezeigt wird."vi
Sprecherin: Försters Schilderung von Hauers Huteinsatz ist zudem von Belang, weil
sich von hier aus – über Duchamp – eine Linie zu John Cage ziehen lässt, der in
seinem 1957/58 entstandenen Klavierkonzert ebenfalls Karten verwendete und mit
dem Zufall operierte. Und auch mit dem Hauer-Jünger Cage kam Heinz von Förster
in näheren Kontakt, nachdem er 1949 in die USA ausgewandert war :
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Sprecher 1: „ich bin ja ein guter Freund von John Cage. Wir amüsieren uns enorm
miteinander! Cage kam irgendwann zur Universität von Illinois, wo ich [seit 1958] das
Biological Computer Laboratory leitete. Cage hatte dieses ‚prepared piano’, wo er
Papier und tausend andere Sachen hineinlegte, um den Klang zu modifizieren. Und
wir haben geredet: Wie können wir das erweitern? Können wir mit einem Piano zwei
Pianos spielen? Warum bauen wir nicht eine elektronische Verbindung? Wenn zum
Beispiel hier Magnete wären wie bei einer Elektrogitarre, dann könnte man doch ein
zweites Piano damit anhängen et cetera.“vii
Sprecher 2: Heinz von Förster inspirierte nicht nur Cage und weitere Komponisten.
In lebendigem Wechselspiel ließ er sich auch von ihnen anregen, und zwar auf
seinem ureigenen Gebiet: der Kybernetik, zu deren wesentlichen Akteuren er zählte.
Sprecherin: Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener hatte den Begriff der
Kybernetik, ein Kunstwort, 1948 in den Wissenschaftsdiskurs eingebracht, als er ein
entsprechend betiteltes Buch veröffentlichte: Cybernetics or Control and
Communication in the Animal and the Machine. Noch im gleichen Jahr erschien die
deutsche Übersetzung: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im
Lebewesen und in der Maschine.
Sprecher 2: Eine wesentliche, weil interdisziplinäre Erweiterung erfuhr Wieners
Manifest – um 1950 – durch sogenannten Macy-Konferenzen, deren Name auf ihren
Schirmherrn verwies. Unter den Teilnehmern: Heinz von Förster, der sich hier als
Bio-Physiker präsentierte. Er arbeitete demnach an einer Schnittstelle – verbunden
mit dem Ziel, die Abläufe innerhalb eines Organismus auf Modelle zu reduzieren, um
das Wesen ihrer Mechanik ergründen zu können. Dieser Ansatz gibt Förster einmal
mehr als Geistesverwandten Hauers zu erkennen. Um so mehr aber das von ihm
vertretene Kommunikationsmodell, das ebenfalls die Rolle des Hörers aufwertete:
Sprecher 1: „Der Hörer, nicht der Sprecher, bestimmt die Bedeutung einer Aussage.
Gewöhnlich glaubt man, dass der Sprecher festlegt, was ein Satz bedeutet, und der
Hörer verstehen muss, was der Sprecher gesagt hat. Aber das ist ein fundamentaler
Irrtum. Der Hörer ist es, der die merkwürdigen Laute, die ich oder ein anderer mit
Hilfe der eigenen Stimmlippen hervorruft, interpretiert und ihnen einen
beziehungsweise seinen Sinn gibt.“viii
Sprecherin: Förster brachte sich in die Macy-Konferenzen jedoch vor allem ein,
indem er seine bahnbrechende Theorie der Zirkularität vorstellte, die er außerdem
publikumsnah, wenn man so sagen darf, zu erläutern wusste:
Sprecher 1: „Am besten sprechen wir über das Steuern eines Bootes, da der Begriff
Kybernetik auf das griechische Wort für Steuermann (Kybernetes) zurückgeht, das
im Lateinischen zum gubernator und im Englischen zum governer wird. Was macht
ein Steuermann, der sein Schiff sicher in den Hafen hineinmanövrieren möchte? Er
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absolviert kein ein für allemal festgelegtes Programm, sondern er variiert dies
permanent. Wenn das Boot vom Kurs und von seinem Ziel nach links abweicht, weil
der Wind so stark bläst, schätzt er diese Kursabweichung ein, so dass er weiterhin
auf den Hafen zufährt. Er versucht, den Fehler zu korrigieren. Und vielleicht steuert
er etwas zu stark gegen. Das Ergebnis ist womöglich eine Kursabweichung nach
rechts – und die Notwendigkeit, erneut gegenzusteuern. Solche Steuerungsvorgänge
sind ein wunderbares Beispiel zirkulärer Kausalität.“ix
Sprecherin: 1953 ging die letzte Macy-Konferenz über die Bühne. Nicht ohne
Folgen. Denn schon bald begann Friedrich Cerha, der in Wien lebende, damals gut
30 Jahre alte Komponist, sich intensiv mit der Kybernetik auseinanderzusetzen, vor
allem aber mit der zirkulären Kausalität. Wie tiefgehend er das kybernetische Denken
dabei verinnerlichte, mag eine Passage aus Cerhas umfangreichen Schriften
belegen – Ausführungen, deren Nähe zu Förster nicht zu überhören sind:
Sprecher 1: „1966. Ich habe eine Beobachtung gemacht, die mich nun fortwährend
beschäftigt. Sie betrifft die Art, wie sich Veränderungen in einer Gesellschaft, im
Einzelindividuum, im Organismus vollziehen. Das Stadtgartenamt hat in der
Innenstadt einen Rasenstreifen angelegt. An einer bestimmten Stelle aber
überquerten immer wieder Passanten den Rasen. Man besserte ihn mehrmals aus
und pflanzte Verbotsschilder auf. Offenbar bestand aber ein besonderes Bedürfnis
für die Fußgänger, diesen Weg zu nehmen – und eines Tages legte man an dieser
Stelle tatsächlich einen Fußgängerweg an. Dieser Übergang hätte aber die
Architektonik der Anlage gestört. Man schuf also symmetrisch zum ersten einen
zweiten Fußweg. Von seiten der Fußgänger bestand dafür kein Bedarf und er wird
auch bis heute kaum benutzt. Was hatte sich ereignet? Eine Ordnung war gestört
worden, und zwar immer in gleicher Weise. Nachdem alle Versuche, sie aufrecht zu
erhalten, gescheitert waren, wurde die Störung in den Organismus integriert und eine
neue Ordnung geschaffen.“x
Sprecher 2: Cerhas Diagnose der beobachteten Störungen gibt ihn als Anhänger
Försters zu erkennen. Denn wie der Bio-Physiker am Beispiel des Steuermanns
interpretierte auch er einen alltäglichen Vorgang mit Hilfe der zirkulierenden
Kausalität. Die von Förster zu Cerha führende Linie lässt sich überdies zu einer
aufschlussreichen Dreierkonstellation erweitern. Denn Cerha zeigte sich ebenfalls
von Hauer und seinem Zwölftonspiel beeindruckt, obgleich ihn die persönliche
Begegnung mehr als irritierte.
Sprecher 1: „Zweimal habe ich Hauer selbst aufgesucht. In unserem Gespräch fiel
von seiner Seite her der Satz: ‚Mit Beethoven hat die Schweinerei in der Musik
begonnen.’ Ich war vor den Kopf gestoßen, aber ich begriff bald, dass diese Haltung
von Hauers Standpunkt aus ganz konsequent war. Beethovens Entwicklungsdenken
geht zu einem wesentlichen Teil auch von der Bipolarität von Haupt- und
Seitenthema aus, von der Konfrontation der Gegensätze. Gegensatz, Kontrast war
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aber genau das, was Hauer nicht wollte. Das Zwölftonspiel ist auf eine einzige
Bewegung gestellt, es gibt weder ein harmonisches, noch ein melodisches Gefälle,
es ist ein Ausschnitt aus einem enormen Klangkontinuum. Im allgemeinen ist aber
unser Leben offensichtlich zu hektisch, zu voll von Gegensätzen, als dass ein
größeres Publikum sich dem spannungslos-ruhigen Fließen von Hauers Musik
hingeben könnte.“xi
Sprecherin: Sicher, das Wissen um Hauers Zwölftonspiel, die Kenntnis von dessen
Steuerungssystem grundierten Cerhas Interesse an der Kybernetik. Doch lässt es
sich vor allem als Gegenreaktion verstehen, auf jene kompositionstechnischen
Entwicklungen, die mit den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik
zusammenhingen. Cerha betonte zwar immer wieder, dort wesentliche Impulse
empfangen zu haben. Ja, 1961, in einem Brief an Ernst Krenek, nannte er Darmstadt
sogar seine „Vaterstadt“. Dennoch betrachtete er die dort zur Norm erhobenen
Prinzipien, sprich den Serialismus, als Sackgasse, als Ursache für eine „graue
Uniformität“.
Sprecher 1: „Die Erfahrungen, die ich während der Ferienkurse machte, gaben
einen Anstoß zu einem Sprung in musiksprachliches Neuland. Ich habe niemals
strenge serielle Verfahren angewendet, aber die Auseinandersetzung mit ihnen
brachte mich auf Organisationsformen, die mir in wesentlichen Bereichen der
Komposition freie Hand ließen.“xii
Sprecher 2: Es war die Kybernetik, es waren Kybernetiker wie Heinz von Förster,
Norbert Wiener oder auch William Ross Ashbey, die Cerha den Weg wiesen, den
Serialismus zu überwinden, dessen enges Gehäuse zu sprengen. Eines seiner
ersten Werke, die kybernetischen Steuerungsprinzipien folgten, war das für die
Bühne gedachte „Netzwerk“. Die Arbeit daran hatte Cerha Anfang der 1960er Jahre
aufgenommen.
Sprecherin: „Netzwerk“, erläuterte Cerha, sei eine Art Welttheater, das sich mit der
Spezies Mensch auseinandersetze. Im Fokus steht der Konflikt zwischen dem Leben
wie Überleben des Einzelnen und den Beharrungstendenzen einer Gesellschaft,
einer Ordnung, die sich erhalten möchte.
Sprecher 1: „Die Masse ‚Mensch’, uniform in ihrem Verhalten – wie eine Art
Insektenstaat -, schafft notgedrungen Ordnungen und ist ihnen unterworfen.
Ordnungen werden willkürlich gelenkt, Unterwerfung wird gefordert,
Ordnungssysteme werden – einem urtümlichen Bedürfnis folgend – mit höherem
Sinn begründet. Macht- und Herrschaftsstrukturen politischer, religiöser und
humanistischer Prägung werden logisch daraus abgeleitet. Die Menschheit reibt sich
an ihnen – und produziert sie immer wieder. Systeme geraten zueinander in
Widerspruch, beeinflussen einander, lösen einander auf oder ab.“xiii
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Sprecherin: Für die hier einmal mehr von ihm beschriebene „zirkuläre Kausalität“
fand Cerha in „Netzwerk“ eine musikalische Entsprechung, die ihm half, den
„orthodoxen Frühserialismus“ zu überwinden. Sie besteht in einem durch und durch
kybernetischen Verfahren.
Sprecher 2: Es gibt in „Netzwerk“ Teile, die genau durchorganisiert sind, die
unpersönlich anmuten; sie verweisen auf die Makroebene, auf die „Masse Mensch“.
Und es gibt Teile, die Cerha „Regresse“ nannte; individuell formuliert, arbeiten sie mit
eher konventionellem Material und verweisen auf die Mikroebene, auf den einzelnen
Menschen. Auf diese Weise entsteht eine insgesamt brüchige Struktur. Doch
vermengen sich die Makro– und Mikroebene, so Cerha, im Verlauf der Komposition
immer stärker.
Sprecher 1: „In kurzen Zwischenspielen, Regressen genannt, rückt zunächst jeweils
ein winziges Detail aus der Masse ‚Mensch’ wie unter dem Mikroskop ganz nah
heran und zeigt alltägliche Typen, auf einer animalischen Basis zufrieden oder
uneins mit sich, gelenkt von einer übergeordneten Macht oder im Hader mit ihr,
unberechenbar in ihrem Verhalten und doch vertraut. Elemente der Regresse und
der Grundordnungen durchdringen einander immer erkennbarer im Lauf des Stücks,
dessen Titel ‚Netzwerk’ vielfach deutbar ist.“
Musik 4 (4’15)
Friedrich Cerha: Netzwerk, 2. Teil Cerha-Dokumente, Box, 12 CDs. Sprecher: Mircea Mihalache, Harumichi Fujiwara, Neven Belamarić, Wolfgang Dosch, Zelotes Edmund Toliver Bariton: Arthur Korn Koloratursopran: Donna Robin Ensemble "die reihe" Ltg. Friedrich Cerha ORF. Edition Zeitton B00005N6TS, LC 11428
Sprecherin: Den musikalischen Wechsel, das Gefälle von Ordnung und Störung,
spiegelt auch die „Netzwerk“-Bühne, in dem genannten Gegensatz von
Massenszenen und Betrachtungen des Einzelschicksals. Kybernetischen
Steuerungsprinzipien folgt also sowohl das kompositorische als auch das
theatralische Geschehen – ein Befund, den Cerha selbst bestätigte. In einem 1981
anlässlich der Uraufführung von „Netzwerk“ entstandenen Werkkommentar zitierte er
nämlich Norbert Wiener, genauer gesagt aus dessen autobiografischer Schrift
„Mathematik – mein Leben“.
Sprecher 1: „Organisation müssen wir als etwas betrachten, bei dem eine
Wechselwirkung zwischen den verschieden organisierten Teilen besteht.. Bestimmte
innere Zusammenhänge müssen wichtiger sein als andere, das besagt also, dass die
innere gegenseitige Abhängigkeit nicht vollständig ist und dass die Festsetzung
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bestimmter Größen des Systems die Möglichkeit offen lässt, andere zu verändern.“xiv
Musik 4
(Hochblenden, stehen lassen, unter Text ausblenden)
Sprecher 2: Cerha ging es bei seiner Erkundung kybernetischer Prozesse allerdings
nicht allein darum, ihnen Techniken für das eigene Komponieren abzugewinnen.
Vielmehr lag ihm auch an einer wichtigen Erkenntnis: nämlich den menschlichen
Organismus besser zu verstehen, letztlich also dem Zusammenhang von Leben und
Sterben auf die Spur zu kommen. Auch diesem Thema spürte die kybernetische
Forschung seinerzeit nach. Selbst populärwissenschaftliche Bücher bereiteten es
auf, beispielsweise Oskar Jursas 1971 publiziertes Werk „Kybernetik, die uns
angeht“. Hier widmete der bekannte Wiener Autor dem menschlichen Körper ein
ausführliches Kapitel:
Sprecher 1: „Vielfältig sind die kybernetischen Regelkreise, auf denen das
Funktionieren eines gesunden Organismus beruht: Wenn die Außentemperatur die
Normalwerte zu übersteigen beginnt, sondert die Haut Schweiß ab, um durch die
Verdunstungskälte, die Körpertemperatur an den Sollwert anzupassen. Sinkt die
Außentemperatur unter den Normalwert, so verengen sich die Poren der Haut, um
die Wärmeabstrahlung zu verringern; wir bekommen eine Gänsehaut. […] Das erste
Warnzeichen einer Störung ist das Unbehagen, das Alarmzeichen ist der Schmerz.
Der körperliche Schmerz informiert uns darüber, dass die vielschichtigen,
ineinandergreifenden biologischen Regelkreise gestört sind.“xv
Sprecherin: Ob Oskar Jursa, der Wiener Sachbuchautor, und Friedrich Cerha sich
jemals begegnet sind, ist eher unwahrscheinlich. Umso mehr erstaunen eben solche
Zeugnisse des Komponisten, die sich gleichfalls auf kybernetischer Basis mit dem
Wesen der Krankheit beschäftigen, nicht ohne Rückschlüsse auf musikalische
Regulationssysteme zu ziehen.
Sprecher 1: „Im Organismus von Lebewesen bedeutet Störung Verstörung -
Krankheit. Heilung ist oft ein neues Einspielen auf eine alte Ordnung, nicht
vollständige Heilung – „Besserung“ oft das Einspielen eines anderen neuen
Gleichgewichts auf Grund veränderter Voraussetzungen. Ist ein solches Verändern in
Richtung auf eine Neuordnung nicht mehr möglich, tritt Zerstörung ein, Tod. Mich
interessiert nicht das perfekte Kunstwerk, das untadelige Funktionieren, die
unausgesetzte Abwicklung eines Systems, sondern die Formung von Organismen,
die imstande sind, auf veränderte Bedingungen zu reagieren, Störungen aufzufangen
und Veränderungen in neue Ordnungen zu integrieren.“xvi
Sprecher 2: Heilung und Musik, Regulationssysteme, gestörte Ordnungen (für die
man auch Joseph Haydn und seine Surprisen anführen könnte), ein in der
griechischen Antike verwurzeltes Ganzheitsdenken. Und Namen wie Josef Matthias
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Hauer, Ludwig Wittgenstein, Heinz von Förster, und schließlich Friedrich Cerha.
Dass Wien die unbestreitbare Hauptstadt der musikalischen Kybernetik war,
untermauert auch das Werk des griechisch-österreichischen Komponisten Anestis
Logothetis.
Sprecherin: 1921 im bulgarischen Burgas geboren, hatte er seine Jugend im
mazedonischen Thessaloniki verbracht und das deutschsprachige Gymnasium
besucht. Anfang der 40er Jahre übersiedelte er nach Wien. Hier studierte er
zunächst Bauingenieurwesen, bevor er seiner inneren Berufung folgte, an die Wiener
Musikakademie wechselte und die Hauptfächer Komposition wie Dirigieren wählte.
Sprecher 2: Später besuchte Logothetis die Darmstädter Ferienkurse. Wie der ihm
verbundene Friedrich Cerha erkundete er hier die Möglichkeiten des Serialismus.
Dessen kühle Strenge zog anfangs auch ihn in den Bann. Immerhin verdankte er ihr
Erfahrungen des Un-Erhörten. Dann aber holte Logothetis zu einem
Befreiungsschlag aus, indem er die serialistischen Gesetzestafeln zertrümmerte. Als
Werkzeug diente ihm dabei eine eigene Schrift, eine selbst entworfene grafische
Notation. Sie räumt den Spielern ein, die Partitur in verschiedene Richtungen zu
lesen, etwa von oben nach unten, von rechts nach links ein. Sie erlaubt variable
Besetzungen und arbeitet mit sogenannten Aktionssignalen, die sowohl eine
Umsetzung in Klang wie in Gestik erlaubten.
Sprecher 1: „In einer Probe wurde Logothetis gefragt…“
Sprecherin: … erinnerte sich Cerha …
Sprecher 1: „…warum er die herkömmliche Form der Notation über Bord geworfen
hätte. Er antwortete, heute sei es an der Zeit, die traditionellen Schreibweisen
aufzugeben, ‚denn wozu machen sich die Komponisten soviel Arbeit, wenn man sie
hörend nicht registrieren kann’. (Das bezog sich natürlich auf seine Erfahrungen mit
komplizierter serieller Musik.) Allgemeines Gelächter war die Folge. Das ‚denn wozu’
wurde in unserem Ensemble zu einem geflügelten Wort, und in meiner Familie ist es
noch heute eine von allen verstandene Redewendung.“xvii
Sprecherin: Mit seinen ab 1960 konsequent grafisch notierten Kompositionen, es
sollten bis zu seinem Tod aberhunderte Blätter werden, bewegte sich Logothetis in
unmittelbarer Nähe zu kybernetischen Kommunikationsmodellen. Wie sein
langjähriger Mitstreiter ausführte, der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel,
habe Logothetis die Partitur gewissermaßen als Standbild der Musik etabliert. Deren
optische Verfestigung und ihre damit einhergehende Sichtbarmachung habe die
Grenzen zwischen Komponist und Interpret und Hörer beziehungsweise Betrachter
aufgelöst.
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Sprecher 1: „Die Partitur wird tendenziell zu einer Landkarte ohne Referenzialität,
die von ihren Beobachtern wie in einem kybernetischen System der Rückkopplungen
und Schleifen konstruiert wird.“xviii
Sprecher 2: Logothetis’ Beziehung zu den Denkmodellen von Norbert Wiener und
Heinz von Förster manifestiert sich vor allem in seinem zu Beginn der 70er Jahre
entstandenen und vom Norddeutschen Rundfunk produzierten Musik-Hörspiel
„Kybernetikon“. Durchbricht man dessen sinnliche Oberfläche, kann man einen
Schmelztiegel entsprechender Themen erkennen. Zu dessen Ingredienzien gehört
beispielsweise die Krankheit, also Störung, oder umgekehrt Ordnung und Heilung.
So eröffnet Logothetis’ „Kybernetikon“ denn auch mit einer Anamnese, einer Art
Patientenbefragung.
Sprecher 1: „bitte Ihre Vorgeschichte und früher überstandene Krankheiten – bevor
wir zum Status praesens kommen um Zukünftiges zu diagnostizieren – zieren Sie
sich nicht – bitte zunächst aber Ihren Namen und Alter.“xix
Sprecherin: Logothetis fährt nun fort, als wolle er den berühmten Einleitungssatz
von Thomas Manns „Josephs“-Romanen Tief ist der Brunnen der Vergangenheit
umsetzen. Er nennt nicht nur einen Namen, etwa den seinen, sondern eine lange
Reihe biblischer Namen: von Abraham über Isaac und Jakob bis hin zu Jesus
Christus. Und fügt, soweit biblisch verbürgt, noch deren Alter hinzu. Das
Sammelsurium der Namen bringt er allerdings in eine visuelle Ordnung. Sie erinnert
an die Gestalt des griechischen Buchstaben Chi, setzt somit einen Link zu Christus.
Möglicherweise weil der virtuelle Patient, nachdem er Namen und Alter genannt hat,
auch noch seinen Beruf nennen soll – eine Frage, die er lakonisch mit „Gott“
beantwortet.
Sprecher 1: „Kybernetikon bewegt sich auf drei Hauptebenen.“
Sprecherin: Logothetis Mitte der 70er Jahre, auf dem Cover einer LP.
Sprecher 1: „Da ist einmal eine Krankheitsgeschichte, die als ‚Antwort’ auf die
‚ärztlichen Fragen Name? Beruf? Wohnort? aufrollt.“
Sprecherin: Eine zweite Ebene bildete Logothetis mit der Einbeziehung
mythologischer Prototypen, die der kybernetisch beherrschten Gesellschaft
vorangingen.
Sprecher 1: „Die prototypischen Vater-Sohn-Beziehungen von Ödipus und Christus
greifen gespenstisch in den durch einen nüchternen Dialog gekennzeichneten Alltag
als dritte Hauptebene des Hörspiels ein, das mit der ärztlichen Frage „Was fehlt
Ihnen wirklich?“ abschließt.“
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Sprecher 2: In die genannten Ebenen seines Hörspiels lässt Logothetis immer
wieder Gedanken oder wörtliche Zitate aus kybernetischen Schriften einfließen. So
überantwortet er den Sirenen, die als mythologische Prototypen zur zweiten Ebene
gehören, einen Satz Norbert Wieners.
Sprecher 1: „die Beziehung Eingang-Ausgang schließt eine Vergangenheit-Zukunft-
Ordnung ein.“
Musik 5 (insgesamt 1’00)
Anestis Logothetis: „Worte-Orte“, aus „Kybernetikon 71“ Jeunesses musicales präsentiert: Anestis Logothetis Gundula König, Sprecherin Preiser Records 120 086, ohne LC
Sprecher 2: Der Sage nach lockten die Sirenen durch ihren magischen Gesang die
Seefahrer ins Verderben. Sie besaßen ferner die Gabe, von allem Vergangenen zu
wissen, aber auch das Künftige offenbaren zu können. Darf man also Logothesis
Kunstgriff, den Sirenen einen Satz Norbert Wieners in den Mund zu legen, als
vorsichtige Distanzierung von der Kybernetik werten? Jedenfalls von der ihr
ausgehenden Gefahr, durch immer raffiniertere Regelkreisläufe den Einzelnen wie
die Gesellschaft manipulieren zu können? War es eine Warnung, die wir heute, 50
Jahre nach der Entstehung von „Kybernetikon“, in einer Zeit, während der sich der
Mensch immer mehr zu einem Mischwesen entwickelt, vernabelt/verkabelt mit
Rechen- und Denkmaschinen, erst richtig begreifen können?
Sprecherin: Jedenfalls ist es mehr als auffällig, dass Logothetis – wie übrigens auch
Friedrich Cerha – nur selten mit oder für den Computer arbeitete, mit dem für die
Kybernetik geradezu prädestinierten Instrument. Mit einem „schwarzen Kasten“, wie
Roland Kayn ihn taufte, der deutsche Pionier kybernetischer Musik, und wie ihn der
Musikkritiker Heinz-Josef Herbort 1978 näher beschrieb:
Sprecher 1: „Mit einem ‚schwarzen Kasten’ kann man auch Musik machen,
kybernetische Musik. Wie immer die Geräte, Schaltungen, Systeme, Maschinen
aussehen mögen, die dabei den ‚schwarzen Kasten’ bilden – Generatoren,
Frequenzteiler, Produktmodulatoren, Flip-Flops, Hallgeräte – wichtig ist, dass hier ein
Input zu einem Output verändert wird und dass auf eine kybernetische Weise die
Vorgänge vom System selber geregelt werden – dass allerdings auch von außen
zusätzliche Manipulationen möglich sind.“xx
Sprecher 2: Eben diesem „schwarzen Kasten“ blieb Logothetis zeitlebens eher
reserviert gegenüber. Er zeigte sich dem Grundkonzept der Kybernetik, Störung und
Heilung, zwar fast durchgängig verpflichtet, aber er hielt fast ausnahmslos an den
traditionellen Musikinstrumenten fest. So auch in seinem bekanntesten Werk, dem
Ensemblestück „Styx“, 1969 für Siegfried Behrend geschrieben, den deutschen
Gitarristen und Komponisten. Wie im Fall seines wenig später entstandenen Musik-
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Hörspiels „Kybernetikon“ verknüpft Logothetis auch hier Mythologisches mit
Kybernetischem, speziell mit dem Modell der zirkulären Kausalität.
Sprecherin: Styx, so nannte man in der griechischen Antike, seit den Tagen
Homers, das ‚Wasser des Grauens’ – einen jener Flüsse, die den Hades umgeben,
also das Reich der Toten von dem der Lebenden abgrenzen. Logothetis wählte einen
so bildhaften Titel, weil er – durchaus im Sinn einer Programmmusik – die Reise der
Seele nach dem Tod des Körpers verklanglichen wollte.
Sprecher 2: Ihren Exodus, ihren Abschied von der menschlichen Gemeinschaft setzt
Logothetis um, indem er aus einem Elfton-Cluster einen separaten Einzelton
hervorgehen lässt. Wenig später kommt es zu einem besonders auffälligen Ereignis
in der grafisch notierten Partitur: Zwei riesige, schwellende Wassertropfen legen eine
Realisierung durch eine Art Glissando nahe; ihnen folgt eine Generalpause, eine
tabula rasa. Die Seele hat, so darf man interpretieren, vom Wasser des Vergessens
getrunken. Nun kann sie – ebenfalls antiker Vorstellung entsprechend – im
Totenreich ihren Frieden finden.
Sprecherin: Doch zuvor hat sie noch eine Reihe von Prüfungen und Hindernissen zu
überwinden. Gebilde in der Partitur, die an sturzartig hereinbrechende
Wassermassen oder schlüpfrige Schlieren denken lassen, deuten dergleichen an.
Vor allem aber eine schon rein optisch explosiv anmutende Passage. Die von ihr
eingeforderte Geräuschhaftigkeit lässt sich adäquat mit Hilfe von Bartók-Pizzikati
umsetzen. Dann aber mündet das Geschehen wieder in das Ausgangscluster, in den
Elftonakkord, in den sich nun der zwölfte Ton einreiht. Die Seele hat nach all den
Störungen zu einer neuen Ordnung gefunden, ist nunmehr geheilt, der Zirkel ist
geschlossen:
Musik 6 (insgesamt ca. 2’20)
Anestis Logothetis: „Styx“ für variable Besetzung - Requiem für Hiroshima DZO-Kammerorchester Ltg. Siegfried Behrend Thorofon CTH 2026, LC 0065 (bei ca. 6’20 einsetzen, bis Ende stehen lassen)
Sprecher 2: Die Idee der Heilung, also der Befriedung von Konflikten, kennzeichnet
vor allem jene Werke von Logothetis und Cerha, die in den 60er und 70er Jahren
entstanden. Der ihnen gemeinsame Ansatz führte zwar zur Ausprägung zweier völlig
unterschiedlicher Klangsprachen. Er entsprang jedoch einer gemeinsamen Wurzel,
nämlich dem Wunsch, über die Kunst hinaus in die Allgemeinheit hineinwirken zu
können. Logothetis’ und Cerhas Sehnsucht nach einer freien, sich immer wieder neu
zusammenfindenden Gesellschaft, ist denn auch als Reaktion auf das politische
Klima jener Jahre zu verstehen.
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Sprecherin: Stellvertreterkrieg In Vietnam, die Supermächte tobten sich aus.
Attentate, ideologisch motiviert, folgten dicht aufeinander: John F. Kennedy, sein
Bruder Robert, Martin Luther King, Benno Ohnesorg. Rudi Dutschke. Die Panzer der
Sowjetunion setzten den Blütenträumen des Pragers Frühling ein Ende. Und die RAF
nahm ihren Kampf auf. Und in Chile putschten die Generäle. Und Präsident Salvador
Allende tötete sich selbst. Und… und… und…
Sprecher 2: Nicht nur in seinem Bühnenschaffen, hier aber besonders deutlich,
offenbarte sich Cerha als ‚homo politicus’, der die Mechanik des gesellschaftlichen
Miteinanders vor allem erkundete, indem er das Verhältnis zwischen dem Einzelnen
und der Masse unter die Lupe nahm. Sein 1980 vollendeter „Baal“ nach Bertolt
Brecht, zeigte einen beschädigten Helden, der sich gegen die Verwaltung des
Menschen durch die Menschen wehrt. Ein paar Jahre später, in „Der Rattenfänger“
nach Carl Zuckmayer, rückte hingegen eine Figur in den Mittelpunkt, die der Jugend
zugleich Visionär wie Verführer ist.
Sprecherin: Politisch im weitesten Sinn sind aber auch alle kybernetisch grundierten
Werke Cerhas, speziell die Orchesterstücke. Denn sie zeigen Störungen nicht nur
auf, sondern weisen außerdem Wege, wie Konflikthaftes in immer wieder neu zu
verhandelnde Ordnungen integriert werden kann. Folglich haftet seinen
Kompositionen etwas Utopisches an, künden sie doch von vielfältigen Möglichkeiten,
verschiedenartige Krisen erfolgreich zu managen.
Sprecher 1: „Kunst hat durch Aufbrechen von ‚Harmonien’ im weitesten Sinn, durch
Bruch und Verfremdung von Vertrautem, durch Ausgrenzen und Verneinen von
Möglichkeiten auf Probleme reagiert, die unsere Welt integrierender Bewältigung
schlechthin stellt.“xxi
Sprecherin: Friedrich Cerha, „Komponieren heute“, ein 2001 veröffentlichter Aufsatz.
Sprecher 1: „Die Vielfalt grundsätzlich verschiedener möglicher Positionen
unterscheidet unsere Situation von der vergangener Zeiten. Sie ist eine
Herausforderung. Die Lösungen des Künstlers liegen im Reich der Fantasie. Nur
offene Ohren, Herzen und Hirne können mittelbar unserer Arbeit auch eine
gesellschaftliche Relevanz verleihen.“xxii
Sprecher 2: Cerha appelliert hier an die Hörer. Er, der Createur, bedürfe ihrer
Partnerschaft, wenn sein Werk soziale Kraft entfalten solle. Der Appell verdankt sich
– so kann man resümieren – aber nicht einem sentimentalen Augenblick oder einer
situativ bedingten Eingebung. Cerhas Hinwendung zum Gegenüber, das von ihm
postulierte Junktim zwischen dem Einzelnen und dem Gesamten, seine Kybern-Ethik
sozusagen, ist vielmehr fest in den Wiener Formen systemischen Denkens verankert,
dessen maßgebliche Repräsentanten Joseph Matthias Hauer und Heinz von Förster
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waren. So erscheint Norbert Wieners Satz, den Cerha sich in den 60er Jahren auf
dem Titelblatt einer Partitur notierte, denn auch wie ein künstlerisches Credo:
Sprecher 1: „Für mich sind Logik, Lernen und alle geistige Tätigkeit stets nur
verständlich als ein Prozess, bei dem der Mensch sich selber mit seiner Umwelt en
rapport setzt.“xxiii
Sprecherin: An die eigene Umwelt knüpfte Cerha Ende der 60er Jahre mit der
„Langegger Nachtmusik“ an. Er komponierte sie in seinem unweit der Donau
gelegenen Landhaus, mit dem Ziel, das „scheinbar Unzusammenhängende“
miteinander zu versöhnen:
Musik 7 (insgesamt 3’10)
Friedrich Cerha: Langegger Nachtmusik I
Cerha-Dokumente, Box, 12 CDs Ensemble "die reihe" Ltg. Friedrich Cerha ORF. Edition Zeitton B00005N6TS, LC 11428
Sprecher 1: „Das Erlebnis der vergeblichen Sehnsucht nach Harmonie mit der Welt,
nach dem Einfachen, das Nicht-Wegschauen-Können vom Eindringen des
Bedrohlichen, Zerstörerischen war für mich ein Punkt der Anknüpfung. Und ich
komponiere gern bei Nacht, die für mich in dem Stück klingt, immer wieder von
fremdem Klängen gestört. Auch in dieser Nachtmusik gibt es keine Zitate, aber auch
österreichische Musiklandschaft, soweit ich sie liebe – Mahler, Berg, Webern, auch
Ligeti – wird bewusst durch Allusionen geweckt und immer wieder weggewischt, der
Zerstörung anheimgegeben. Reales – wie das hörbare, durch die Nacht klingende
Tuten der Donauschiffe – mischt sich ins Reflektierte.“xxiv
Musik 7
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i Josef Matthias Hauer, [Vorrede zum Zwölftonspiel Juli 1946 für Klavier zu vier Händen, Wien Selbstverlag, zitiert nach: Walter Szmolyan, J.M. Hauer, Wien 1965, [S. 5] ii Ebd. iii Josef Matthias Hauer: Testament der hehren Kunst und Wissenschaft. Manuskript, 1941. iv Heinz von Förster, Von Pythagoras zu Josef Matthias Hauer, in: Jedermann. Eine Wochenschrift, 1. Jahrgang, Nr. 1, 1. August 1947, [S. 1]. Nachdruck in: Förster, Kybern-Ethik, S. 55–58. v Heinz von Förster, Kybern-Ethik, Berlin, Berlin 1993, S. 41. vi Josef Matthias Hauer, Manifest, geschrieben auf der letzten Innenseite des Zwölftonspiels für Orchester vom 28. August 1940, zitiert nach: https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedanken vii Heinz von Foerster in einem Interview mit Peter Bexte, FAZ-Magazin 461, 20.12.1988 viii Heinz von Foerster, in: Heinz von Foerster, Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Gespräche für Skeptiker, 11. Auflage, Heidelberg 2016, S. 100. ix Ebd., S. 107. x Friedrich Cerha, Schriften. Ein Netzwerk, Wien 2001, S. 77. xi Ebd., S. 32 f. xii Ebd., S. 221. xiii Ebd., S. 236. xiv Norbert Wiener, Mathematik – mein Leben, Frankfurt/Mai 1965, S. 263 f. Zitiert nach Friedrich Cerha, „Von ‚Exercises’ zu ‚Netzwerk’, in. Österreichische Musikzeitschrift, 36. Jg. Heft 5-6, Mai/Juni 1981, S. 318–322, hier S. 319. xv Oskar Jursa, Kybernetik, die uns angeht, Gütersloh u.a. 1971, S. 172. xvi Cerha, Schriften (wie Anmerkung 10), S. xvii Friedrich Cerha, „’denn wozu…’: Komponieren jenseits des Serialismus“, in: Hartmut Krones (Hg.), Anestis Logothetis. Klangbild und Bildklang, Wien 1998, S. 188–192, hier S. 192. xviii Peter Weibel, „Musik / Spiel als kybernetisches Modell“, in: Krones (wie Anmerkung 15), S. 200 f., hier S. 201. xix Anestis Logothetis, Kybernetikon. Musik-Hörspiel, Wien 1971/72, Selbstverlag, Blatt 2a. xx Heinz Josef Herbort, „Musik aus dem schwarzen Kasten. Roland Kayns ‚Makro’ im ‚Theatraction’ Den Haag, in: Die Zeit 1978, zitiert nach: http://www.zeit.de/1978/42/musik-aus-dem-schwarzen-kasten (Abruf 10.02.2018). xxi Cerha, Schriften, S. 161 (wie Anmerkung 10). xxii Ebd., S. 162. xxiii Norbert Wiener (genaue Fundstelle nicht bekannt), zitiert nach ebd., S. 60. xxiv Cerha, Schriften (wie Anmerkung 10), S. 239.
https://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedankenhttps://austria-forum.org/af/Wissenssammlungen/Musik_Kolleg/Hauer/Zwölftonspiel-Gedankenhttp://www.zeit.de/1978/42/musik-aus-dem-schwarzen-kasten