Nur Gimmick oder echter Kundennutzen? · und sie alle müssen für ihre Wert-schöpfung und ihre...

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FRONT-END BACK-END END-TO-END-PROZESSINTEGRATION SUPPORT-PROZESSE (HR, FINANZEN, IKT) SMARTE MARKETING- & VERTRIEBSPROZESSE SMARTES INNOVATIONSMANAGEMENT SMARTES SUPPLY- CHAIN-MANAGEMENT SMARTE PRODUKTION ORGANISATION & KULTUR (INKL. RESSOURCEN, GOVERNANCE) SMARTE DATEN (APPLIKATIONEN, INFRASTRUKTUR & SICHERHEIT) LEISTUNGSANGEBOT: SMARTE PRODUKTE & SERVICE STRATEGIE (SELBSTVERSTÄNDNIS & STRATEGISCHE POSITIONIERUNG) TOP-THEMA /BRANCHENWERKSTATT Nur Gimmick oder echter Kundennutzen? Digitalisierung ist keine Option, sondern längst Fakt für alle Unternehmen – auch in der Möbelbranche. Doch an welchen Punkten kann die Industrie ansetzen? Welche Stellschrauben lassen sich drehen, um vernetzt mit dem Handel mehr Begeisterung bei den Kunden zu bewirken? Und warum braucht die Branche dringend mehr echte Innovationen? Die „möbel kultur“ sprach mit Dr. Timo Renz, Managing Partner von Dr. Wieselhuber & Partner, über diese herausfordernden Themen. SMARTE PRODUKTE SMARTE PRODUKTION SMARTES INNOVATIONSMANAGEMENT 7/2016 möbel kultur 40 Prozent der Kon- sumenten interessie- ren sich bereits heute für Smart-Home- Lösungen. Vernetzung von Möbeln, Haus- haltsgeräten und Gebäudetechnik wird zum Lifestyle. Massenindividualisie- rung/Losgröße 1 wird Standard. Bei- spiel: Digital Print wächst. In den kom- menden Jahren geht die Textilindustrie von zweistelligen Wachs- tumsraten aus. Marktführerschaft verlangt Datenführer- schaft, egal ob Innovationsführer (Nutzen) oder Kosten- führer (Effizienz). lerer Fertigstellung, geringerer Ri- siken und reduzierter nachgelager- ter Gebäudebetriebskosten. Das sind echte „Revolutionen“. Im Maschinenbau beispiels- weise arbeiten wir mit einem klas- sischen Hersteller zusammen, der schon heute seinen Kunden zahl- reiche datenbasierte Services bietet, die die Herstellung von Dreh-, Bieg- und Frästeilen optimiert. So sparen seine Kunden Energie bei steigender Produktqualität und Stückzahl. Auch in konsumnahen Bran- chen finden sich Hunderte von Beispielen mit konkretem Kunden- möbel kultur: Herr Dr. Renz, die Unter- nehmensberatung Dr. Wieselhuber & Partner ist in unterschiedlichen Bran- chen unterwegs. Wie stark durchdringt die Digitalisierung bereits andere Branchen? Dr. Timo Renz: Nehmen Sie z.B. den Bausektor, dessen Entwicklung ja durchaus hohen Einfluss auf die Möbelbranche hat: Wenn weniger gebaut wird, werden auch bei- spielsweise weniger Küchen ver- kauft. In der Baubranche wird unter der Überschrift „BIM (Building In- formation Modeling, Anm. der Red.)“ derzeit das Bauen quasi neu erfunden. Es geht darum, die ver- schiedenen am Prozess Beteiligten durch Vernetzung besser zu ko- ordinieren und die Prozesse zu syn- chronisieren, mit der Folge schnel- nutzen: Digitale Technologien wie Smart Analytics oder Echtzeit-Ver- netzung können bisher gültige Spielregeln über den Haufen wer- fen. Ein gutes Beispiel ist der Regelbrecher Freeletics, der mit seiner Plattform herkömmliche Anbieter von Trainingseinheiten und Workouts in mehr als 160 Ländern frontal angreift und mitt- lerweile direkt auf die 20-Mio.- Mitglieder-Marke zusteuert. möbel kultur: Und wie sieht es im Ver- gleich dazu in der Möbelindustrie aus? Dr. Timo Renz: Vieles steckt noch in den Kinderschuhen. Man muss aber auch aufpassen mit jeder Form von Pauschalisierung, denn: Je nachdem, an welcher Stelle der Wertschöpfungskette sich ein Unternehmen in der Möbelbran- che befindet, hat es mit unter- schiedlichen digitalen Herausfor- derungen zu tun: Der Hersteller von Holzverarbeitungsmaschinen, der Holzwerkstoffhersteller, der Oberflächen-/Kantenhersteller, der Beschlägezulieferer, der Produzent von Küchenmöbeln, Wohnmöbeln oder Polstermöbeln oder auch der Möbelhändler – sie alle kann man nicht über einen Kamm scheren und sie alle müssen für ihre Wert- schöpfung und ihre Positionierung die richtigen Antworten finden. Und jede Antwort beginnt mit der richtigen Fragestellung. Im

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FRONT-END BACK-ENDEND-TO-END-PROZESSINTEGRATION

SUPPORT-PROZESSE (HR, FINANZEN, IKT)

SMARTE MARKETING- & VERTRIEBSPROZESSE

SMARTESINNOVATIONSMANAGEMENT

SMARTES SUPPLY- CHAIN-MANAGEMENT

SMARTEPRODUKTION

ORGANISATION & KULTUR (INKL. RESSOURCEN, GOVERNANCE)

SMARTE DATEN(APPLIKATIONEN, INFRASTRUKTUR & SICHERHEIT)

LEISTUNGSANGEBOT: SMARTE PRODUKTE & SERVICE

STRATEGIE(SELBSTVERSTÄNDNIS & STRATEGISCHE POSITIONIERUNG)

T O P -T H E M A / B R A N C H E N W E R K S TAT T

Nur Gimmick oder echter Kundennutzen?

Digitalisierung ist keine Option, sondern längst Fakt für alle Unternehmen – auch in der Möbelbranche.Doch an welchen Punkten kann die Industrie ansetzen? Welche Stellschrauben lassen sich drehen, umvernetzt mit dem Handel mehr Begeisterung bei den Kunden zu bewirken? Und warum braucht dieBranche dringend mehr echte Innovationen? Die „möbel kultur“ sprach mit Dr. Timo Renz, ManagingPartner von Dr. Wieselhuber & Partner, über diese herausfordernden Themen.

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SMARTE PRODUKTE

SMARTE PRODUKTION

SMARTESINNOVATIONSMANAGEMENT

7/2016 möbel kultur

40 Prozent der Kon-sumenten interessie-ren sich bereits heutefür Smart-Home-Lösungen. Vernetzungvon Möbeln, Haus-haltsgeräten und Gebäudetechnik wirdzum Lifestyle.

Massenindividualisie-rung/Losgröße 1wird Standard. Bei-spiel: Digital Printwächst. In den kom-menden Jahren gehtdie Textilindustrie vonzweistelligen Wachs-tumsraten aus.

Marktführerschaftverlangt Datenführer-schaft, egal obInnovationsführer(Nutzen) oder Kosten-führer (Effizienz).

lerer Fertigstellung, geringerer Ri-siken und reduzierter nachgelager-ter Gebäudebetriebskosten. Das sindechte „Revolutionen“.

Im Maschinenbau beispiels-weise arbeiten wir mit einem klas-sischen Hersteller zusammen, derschon heute seinen Kunden zahl-reiche datenbasierte Services bietet,die die Herstellung von Dreh-,Bieg- und Frästeilen optimiert. Sosparen seine Kunden Energie beisteigender Produktqualität undStückzahl.

Auch in konsumnahen Bran-chen finden sich Hunderte vonBeispielen mit konkretem Kunden-

möbel kultur: Herr Dr. Renz, die Unter-nehmensberatung Dr. Wieselhuber &Partner ist in unterschiedlichen Bran-chen unterwegs. Wie stark durchdringtdie Digitalisierung bereits andereBranchen? Dr. Timo Renz: Nehmen Sie z.B. denBausektor, dessen Entwicklung jadurchaus hohen Einfluss auf dieMöbelbranche hat: Wenn wenigergebaut wird, werden auch bei-spielsweise weniger Küchen ver-kauft. In der Baubranche wird unterder Überschrift „BIM (Building In-formation Modeling, Anm. derRed.)“ derzeit das Bauen quasi neuerfunden. Es geht darum, die ver-schiedenen am Prozess Beteiligtendurch Vernetzung besser zu ko -ordinieren und die Prozesse zu syn-chronisieren, mit der Folge schnel-

nutzen: Digitale Technologien wieSmart Analytics oder Echtzeit-Ver-netzung können bisher gültigeSpielregeln über den Haufen wer-fen. Ein gutes Beispiel ist der Regelbrecher Freeletics, der mitseiner Plattform herkömmlicheAnbieter von Trainingseinheitenund Workouts in mehr als 160Ländern frontal angreift und mitt-lerweile direkt auf die 20-Mio.-Mitglieder-Marke zusteuert.

möbel kultur: Und wie sieht es im Ver-gleich dazu in der Möbelindustrie aus? Dr. Timo Renz: Vieles steckt noch inden Kinderschuhen. Man mussaber auch aufpassen mit jederForm von Pauschalisierung, denn:Je nachdem, an welcher Stelle derWertschöpfungskette sich ein

Unternehmen in der Möbelbran-che befindet, hat es mit unter-schiedlichen digitalen Herausfor-derungen zu tun: Der Herstellervon Holzverarbeitungsmaschinen,der Holzwerkstoffhersteller, derOberflächen-/Kantenhersteller, derBeschlägezulieferer, der Produzentvon Küchenmöbeln, Wohnmöbelnoder Polstermöbeln oder auch derMöbelhändler – sie alle kann mannicht über einen Kamm scherenund sie alle müssen für ihre Wert-schöpfung und ihre Positionierungdie richtigen Antworten finden.

Und jede Antwort beginnt mitder richtigen Fragestellung. Im

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Grunde muss sich jedes Unterneh-men in Bezug auf die Digitalisie-rung zwei Fragen stellen: 1. Wel-chen Nutzen bzw. welchen Mehr-wert kann ich durch Einsatz digi-taler Lösungen meinen Kundenbieten und lässt sich dadurch letzt-endlich mein Umsatz erhöhen?2. Welche Effizienzvorteile kann ichdurch Einsatz digitaler Lösungengenerieren und lassen sich dadurchdie Kosten bzw. der Cash-Bedarfreduzieren?

Die beiden Fragen zeigen: Digi-talisierung ist kein Selbstzweck,sondern muss im wirtschaftlichenUnternehmensergebnis ankom-men. Dass die Antworten hierfürauch in der Möbelbranche höchstindividuell gefunden werden müs-sen und es kein „Digitalisierungs-rezept von der Stange“ gibt, ver-steht sich von selbst.

möbel kultur: Der Kühlschrank, der mirsagt, wann ich neue Milch kaufen muss,ist ein typisches Beispiel für smarte Pro-dukte in der Branche. Warum gibt es bis-her so wenig wirklich smarte Möbel? Dr. Timo Renz: Häufig zitiert, abermal ganz ehrlich: Für mich war daszunächst einmal lediglich ein gutesBeispiel dafür, dass nicht alles, wastechnisch möglich ist, auch einen

Kundennutzen aufweist. WelcherKunde ist denn wirklich darauf angewiesen, dass ihm der Kühl-schrank mitteilt, wann sein Him-beerjoghurt abgelaufen ist oderdass nur noch eine Milchflasche daist? Das ist vielleicht ein Gimmick,aber noch lange kein echterKundennutzen.

Denkt man aber einen Schrittweiter, dann kann es schon durch-aus spannender werden: Wenn derKühlschrank weiß, dass ich am Wo-chenende mindestens drei FlaschenMilch und auch Fleisch, Käse undButter brauche und er nun gleichmeine Lebensmittelbestellung on-line bei dem Lebensmittelhändlermeines Vertrauens auslöst, dannkann das für einzelne Consumer-Verbrauchergruppen – und erstrecht z.B. für Profi-Küchen im Gas-tro-Bereich – hochinteressant undnützlich sein. Setzt aber voraus, dassmein Kühlschrank „intelligent“ ge-nug ist, zu wissen, was ich wirklichbrauche und „kommunikativ“ ge-nug, um beispielsweise mit demOnline-Lieferdienst direkt zu kom-munizieren. Und schon bin ichbeim Internet of Things angekom-men. Klingt kompliziert. Fest stehtaber, dass derzeit völlig branchen-übergreifend intensive Entwick-lungsarbeiten und auch viele Ko-operationsgespräche zwischen Her-stellern und Händlern rund um dasThema Smart Home laufen.

möbel kultur: Was heißt das für die Mö-belbranche? Dr. Timo Renz: Bisher hat man in derTat den Anschein, dass es wenigesmarte Möbel gibt. Völlig klar istdoch aber, dass Smart Home dasWohnen und Einrichten – alsoLiving – verändern wird. Deshalbmuss auch in der Möbelbranchegewaltig viel passieren. „Smart“ istz.B. die Lampe oder die Ablage miteingebauter Ladefunktion für dasSmartphone. Auch die Integrationeines Touchscreens mit Tabletfunk-tionen in die Oberfläche einer Küchenarbeitsplatte oder in denBürokonferenztisch wäre „smart“und mit echtem Kundennutzen ver-bunden. Was diese Produktinnova-tionen angeht, müssen nach meinerEinschätzung die Hersteller in derMöbelbranche dringend einen

Gang hochschalten! Denn: Wennsie es nicht tun, dann könnten auchbranchenfremde Anbieter wie zumBeispiel Apple oder Samsung denMarkt umkrempeln. Eine glaub-hafte und erwiesene Technologie-und Designkompetenz bringen sieauf jeden Fall mit. Das Apple-Bürooder das Samsung-Wohnzimmer –der Schritt ist doch gar nicht soweit.

möbel kultur: Warum muss die Möbel -industrie mehr in Innovationen investieren?Dr. Timo Renz: Die Antwort ist relativeinfach: Innovation ist schlichtwegdie einzige Wachstumsquelle, dieniemals zu Ende geht!

Dabei ist es wichtig, die richti-gen Themen zu adressieren. MeinEindruck ist, dass sehr häufig beineuen Produkten die Innovations-höhe einfach nicht stimmt. Stattechter Innovation dominiert die Variation. Wie das Beispiel mit dersmarten Küchenoberfläche zeigt,gibt es auch hochattraktive Pro-duktinnovationsfelder. Die Frage ist,wer sie erschließt. Branchenüber-greifende Kooperationen sind hier-für gerade im Kontext von SmartHome nach meiner Einschätzungunerlässlich.

Erhebliche Potenziale steckengerade in der Möbelindustrie auchin innovativen, smarten Prozessen,die die Hersteller und den Handelwesentlich effizienter machen kön-nen. Bei den Herstellern hakt es seitjeher bei Themen wie der hohenSortiments- und Bauteilekomplexi-tät, ineffizienten Schnittstellen inder Supply Chain, langen Durch-laufzeiten, hohen Reklamations -raten usw. Durch eine clevere Kom-bination von klassischen Lean-Methoden, Big-Data-Analysen unddigitalen Technologien hat dieBranche die Chance, diese typi-schen Defizite endlich besser in denGriff zu bekommen.

Und last but not least muss manbei dem Thema Innovation auch anTechnologieinnovationen denken.Hier sind die Themen Digitaldruckoder auch 3D-Druck sicher mit anerster Stelle zu nennen. Die Branchewird auf unterschiedlichsten Stufenmit diesen Technologien kon -frontiert und braucht innovativeLösungen.

möbel kultur: Welche Bedeutung spieltdie Digitalisierung für die Unternehmens-strategien und für die Prozesse?

T O P -T H E M A / B R A N C H E N W E R K S TAT T

möbel kultur 7/2016

Smarte Produkte

Im Interview: Dr. TimoRenz, Managing Partnervon Dr. Wieselhuber &Partner, München.

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Dr. Timo Renz: Die Digitalisierung be-einflusst einerseits die Strategiebzw. die Positionierung im Marktund andererseits die Prozesse hinzum Handel und zu den Kunden –also am Front-End – und in der ei-genen Wertschöpfung bzw. in derZusammenarbeit mit den Lieferan-ten – also am Back-End – gleicher-maßen.

Wenn man über die Strategie imZusammenhang mit Digitalisierungspricht, dann ist es zunächst einmalwichtig, dass heute jedes Unter-nehmen ein digitales Selbstver-ständnis braucht. Und damit sindkeine einzelnen und funktionalendigitalen Alibi-Aktivitäten gemeintwie „Wir sind nun auch auf Face-book“ oder „Wir befassen uns auchmit RFID in der Logistik“. DigitaleStrategie bedeutet vor dem Hinter-grund der Chancen und Risiken,die sich für das eigene Geschäfts-modell durch die Digitalisierungergeben, ganzheitlich Ziele,Schwerpunkte und Stoßrichtungenabzuleiten und mit strategischenProgrammen zu hinterlegen.

Geht man auf die Seite derFront-End-Prozesse, dann mussman sich zunächst einmal klar ma-chen, wie die Welt der Konsumen-ten heute funktioniert: Die Konsu-menten sind Always-On, also im-mer im Internet und nutzen diesals Informations-, Kommunika -tions- und Transaktionskanal. Siesind zunehmend miteinander ver-netzt. Sie sind mündiger und auchbesser informiert. Leihen, Teilen,Mieten wird „sexy“, und sie sindes gewohnt, immer mehr interaktivin den Marketing-Vertriebsprozesseingebunden zu sein: Sie bewertenLeistungen von bzw. ihre Erfahrun-gen mit Unternehmen, bloggen darüber oder beteiligen sich an Foren usw. Die sogenannte Custo-mer-Journey – also die Einkaufs-und Erfahrungsreise, die ein Kundemacht, wenn er Möbel- oder Ein-richtungsgegenstände sucht undkauft – ist heute eine andere alsnoch vor fünf Jahren. Es ist ent-scheidend, die Customer-Journeyder Kunden zu kennen und vorallem auch die Berührungspunkte– neudeutsch die Touchpoints – mitdem eigenen Leistungsangebot.

Doch mindestens ebenso wich-tig sind die Herausforderungen derMöbler in Bezug auf die Digitali-sierung ihrer Back-End-Prozesse,worüber wir bereits gesprochenhaben: Durch ein smartes Supply-Chain-Management, smarte Pro-duktion und smarte Logistik können Potenziale gehoben werdenbis hin zu einer effizienten Los-größe-1-Produktion.

Das ultimative Ziel aller Möbel-hersteller aber sollte die End-to-End-Vernetzung sein. Die Unter-scheidung in Front-End und Back-End löst sich dann quasi auf. Kon-kret könnte das bedeuten: DerEndkunde konfiguriert sein eigenesMöbelstück online und kann dabeinatürlich auf Support seitens desHerstellers oder Händlers zurück-greifen. Dem Kunden wird sofortder Preis sowie die Verfügbarkeitund ein kurzfristiger Liefertermingenannt. Die Auftragserfassung und-kontrolle zwischen Handel undHersteller erfolgt ohne Medien-bruch, sowie die Einspeisung desAuftrags in die Produktion undLogistik inkl. Auflösung in Stück-listen und Produktionszeiten undunter Einbindung der Daten zuBestandsverfügbarkeit und Liefer-zeiten seitens Zulieferern ergebensich „automatisch optimiert“.

Wenn man diesen Prozessablaufeinmal mit der heutigen Realitätvergleicht, dann liegen dazwischenWelten. Nichtsdestotrotz genau indiese visionäre Richtung müssendie Gedanken abzielen: weg vonder Einzeloptimierung von Funk-tionen hin zu einer ganzheitlichenEnd-to-End-Prozessoptimierung inEchtzeit.

möbel kultur: Digitalisierung bedeutetfür jede Firma etwas anderes. Wie findetein Unternehmen seinen individuellenDigitalisierungspfad? Dr. Timo Renz:Verkürzt und allgemeinformuliert lautet die Vorgehens-weise: Verstehe und erkenne aus derAußensicht die Chancen und be-werte die Möglichkeiten, die sichaus der Digitalisierung ergeben.Plausibilisiere aus der Innensichtdie Potenziale der Digitalisierungan den unterschiedlichen Stellenim Unternehmen bzw. im Ge-schäftsmodell am Front-End undBack-End. Identifiziere das Zielbildund die erforderlichen Soll-Kom-petenzen, die man benötigt, um diePotenziale zu heben, und stelle fest,

wie groß die Lücke zum Ziel undzu den Ist-Kompetenzen ist. Diesalles natürlich unterstützt durch er-probte Tools und Methoden. Daraufaufbauend kann man dann den in-dividuellen Pfad, der nichts anderesals ein Bündel an Maßnahmen aufunterschiedlichen Ebenen ist, ent-werfen und ihn Schritt für Schrittgehen.

möbel kultur: Wie kann das sogenannteW&P-Digitalisierungshaus dabei helfen? Dr. Timo Renz: Immer dann, wennUnternehmen mit vielschichtigenund komplexen Herausforderun-gen konfrontiert werden, brauchtman Modelle, die das Thema erklä-ren und handhabbar machen. DasW&P-Digitalisierungshaus ist so einin der Praxis bewährtes Modell, dasOrientierungshilfe gibt und so dieUnternehmen auf ihrem Weg in diedigitale Zukunft unterstützen kann.

Es baut auf fünf Ebenen auf: DasDach ist die „Digitale Strategie unddas digitale Selbstverständnis“ alserste Ebene, welches quasi den Rah-men für sämtliche Digitalisierungs-aktivitäten vorgibt und auch diestrategische Begründung liefert. Aufder zweiten Ebene fassen wir das ganze Themenfeld digitaleLeistungsangebote, also smarte Pro-dukte & Services, zusammen. Die

dritte Ebene ist die digitale Prozess-ebene: Smarte Prozesse am Front-end, am Back-End und auch ausder End-to-End-Perspektive fallendarunter. Sämtliche digitale Lösun-gen, egal ob Produkte/Servicesoder Prozesse, setzen voraus, dassDaten generiert und mit Soft- undHardware sicher und effizient ver-arbeitet werden. Dies ist die vierteEbene in unserem Digitalisierungs-haus. Die fünfte Betrachtungsebenesetzt an der Unternehmensorgani-sation und Kultur an, denn natür-lich wirft die Digitalisierung auchdiesbezüglich viele Fragen auf:Kompetenzen und Qualifikationen,Führungsstile im Zeitalter 4.0, Füh-rungspositionen z.B. als Chief Di-gital Officer, kulturelle Verhaltens-weisen etc.

möbel kultur: Welchen Vorsprung kannsich ein Unternehmen heute verschaffen,wenn es seine Möglichkeiten in SachenDigitalisierung mehr ausschöpft? Dr. Timo Renz:Vorsicht: Digitalisierungist keine Option! Sie ist ein Fakt undist bereits in vollem Gange. Darummuss sich jedes Unternehmen mitdem Thema aus einandersetzen,wenn es weiter im Markt bestehenwill. Abgesehen davon kann die Digitalisierung natürlich durchauspositiv als „Booster“ genutzt wer-den, um andere Hersteller zu über-holen oder sie sogar abzuhängen –um sein Unternehmen als Markt-führer zu positionieren.

7/2016 möbel kultur

Smarte Produktion

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Im digitalen Zeitalter werdendies nur diejenigen Unternehmensein, die auf den für ihr Geschäfts-modell relevanten Digitalisierungs-ebenen ihren Entwicklungspfadkennen und als „Daten-/Digital-führer“ vorhandene Wachstums-und Effizienzpotenziale voll aus-schöpfen.

möbel kultur: Wie sieht es auf der ande-ren Seite im Möbelhandel aus? In Bezugauf den E-Commerce kursieren die un-terschiedlichsten Prognosen über denStellenwert im Bereich Möbel in dennächsten zehn Jahren. Welche qualifi-zierte Schätzung trauen Sie sich zu? Dr. Timo Renz: Diese Diskrepanzenhaben unterschiedliche Gründe:Zum einen unsaubere Abgrenzun-gen zwischen Distanzhandel, zudem auch das Kataloggeschäft ge-hört, und dem reinen Onlinebusi-ness. Zum anderen reden im Zu-sammenhang mit dem Möbel-On-linehandel die einen wirklich vonnur Möbeln, die meisten meinendamit aber auch die im Einrich-tungsjargon unter der Überschrift„Fachsortimente“ angebotenen Ar-tikel. Dazu verfolgen die Quellenmit der Publizierung unterschied-lichste Interessen.

Ohne jetzt auf alle Details andieser Stelle einzugehen: Auf Basisvieler Gespräche und verschiede-ner, teils auch tiefergehender Ana-lysen rechnen wir im Moment inunseren Schätzungen damit, dassder Onlinehandel mit Möbeln inkl.Fachsortimenten bis 2020 auf etwa4 Mrd. Euro wächst. 2014 warenes noch etwa 2,5 Mrd. Euro.

Wie sich der E-Commerce abertatsächlich entwickelt, ist auch ab-hängig davon, wie die klassischstationären Anbieter das ThemaCross-Channel weiter angehen undob es auch gelingt, Geschäftsmo-delle wie das von Home24 endlichauf Ertrag zu trimmen.

möbel kultur: Welche Antworten auf die-sen Trend muss der stationäre Handelfinden? Und warum hat dieser aus IhrerSicht weiterhin gute Chancen? Dr. Timo Renz: Die Zeiten, in denen esausreichte, ein gutes Produkt zu ei-nem guten Preis auf die Fläche oderins Regal zu stellen und das mit ei-nem Handzettel zu bewerben, damitder Kunde kommt und kauft, sindvorbei. Verstehen Sie mich nichtfalsch: Produkt, Preis, Werbung –das alles braucht es natürlich auchin Zukunft. Der Punkt ist: Es reichtnicht mehr als alleiniges Mittel.

Die gute Nachricht: Der stationäreHandel hat aus meiner Sicht vieleMöglichkeiten, die er nutzen kann:zum Beispiel mit dem Thema„Marke“. Nach wie vor sind die Mö-belhändler zu austauschbar. Erstkommt Ikea, dann kommt langenichts. Eine glaubwürdige, differen-zierende und eine für den Kundenrelevante Positionierung einer Markezu schaffen und dann deren Merk-male durch operative Marketingmaß-nahmen in die jeweiligen Touch-points bei der Customer-Journey zuüberführen, das muss die Herausfor-derung für jeden Möbelhändler sein.

Dann gilt mehr Point of Emotionstatt Point of Sale: Die Kunden wol-len beim Einkaufen im stationärenHandel nicht nur Produkte kaufen.Sie wollen etwas Schönes erleben,das ihr Leben inspiriert, das siefreundlich stimmt, auf Ideen bringt,das ihnen Spaß macht. Das beginntbeim freundlichen Verkäufer, derden Kunden wertschätzt, ihm zuhörtund ihm ein guter „Berater“ ist, undgeht weiter beim Entertainment undendet bei der inspirierenden Atmo-sphäre oder der Möglichkeit, Dingeauszuprobieren.

Das hängt auch eng mit demdritten Thema zusammen: Solu-tion-Selling statt Product-Selling.Ich bin der festen Überzeugung,dass Händler sich in Zukunft nochviel mehr als Dienstleister und nichtnur als Produktverkäufer begreifenmüssen. Der Möbelhandel musshierauf Antworten finden: Wie undwo wohnt der Kunde? Fläche,Raumaufteilung, Stil, etc. Waswünscht er sich? Was braucht er anPlatz, Stauraum, Funktionalitätenund was nicht? Der Kontext desKunden muss erfasst werden, wegvom Denken, dass Kojen und Pro-dukte für sich sprechen. Und na-türlich Cross-Channel: Die optimaleund markenkonforme Verknüpfung

der Online- und Off line-Leistungenim gesamten Such-, Kauf-, Service-und Kundenbindungsprozess istweit mehr als ein Onlineshop undvor allem ein Prozessthema und da-mit auch wieder nur mithilfe vonDaten und digitalen Lösungen inden Griff zu bekommen.

möbel kultur: Der Kunde ist letztendlichdas Maß aller Dinge. Wie müssen Möbel-industrie und -handel sich künftig nochbesser miteinander vernetzen, um dieKunden zu begeistern? Dr. Timo Renz: Sie sagen es: DerKunde als Maß aller Dinge. Ichglaube, dass viele Entscheider nochzu sehr funktional und zu wenigEnd-to-End am Kundennutzen ori-entiert denken. Und viele glaubenmöglicherweise auch noch, dassDigitalisierung irgendwie doch inerster Linie ein IT-Thema ist. DieseSichtweisen müssen durchbrochenwerden. Jedes Unternehmen musszunächst für sich, für sein Ge-schäftsmodell den Mehrwert durchDigitalisierung erkennen und dannwird es auch sehen: Vernetzung vonLeistungen mit höchstem Kunden-nutzen, von sicheren und intelli-genten Daten sowie von effizientenund schnellen Prozessen zwischenden verschiedenen Marktteilneh-mern der Möbelbranche ist derSchlüssel zur Kundenbegeisterungund zum Erfolg. Und dafür brauchtes früher wie heute kreative, moti-vierte und fleißige Menschen undmutige Entscheider. Insofern gibtes für mich auch im digitalen Zeit-alter einen sozusagen „fundamen-talen Schlüsselfaktor“: Es ist undbleibt der Mensch.

RITA BREER

T O P -T H E M A / B R A N C H E N W E R K S TAT T

möbel kultur 7/2016

Save the Date:Am 8. November geht wieder die Branchenwerkstatt – diesmal zum

Thema Digitalisierung – im Hettich Forum in Kirchlengern über die Bühne. Infos unter www.wieselhuber.de

Smartes Innovations -management

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