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»Alt und Alt ist zweierlei.« Den Beweis dafürtreten die beiden niederländischen Journalistin-nen Anne Biegel und Heleen Swildens in ihremBriefwechsel an. Vierzig Jahre lang waren sieKolleginnen, haben gemeinsam Artikel verfaßt,Pläne geschmiedet und eine ganze Skala vonEmotionen durchlebt. Im Laufe der Zeit vertrau-ten sie sich gegenseitig all jene ungreifbaren Din-ge an, die dem Menschen widerfahren, wenn erälter wird. »Sie schrecken vor keinem Tabu zu-rück und gehen mit ihren Erkenntnissen, mit al-len Gedanken und Empfindungen, die zum Al-tern gehören, weder sentimental noch zimperlichum. Ein Buch, das zum Nachdenken auffordertüber eigene Erfahrungen, eigenes Erleben. EinBuch auch, das mit seinem leisen Humor undeinem Hauch von Wehmut und Abschiedneh-men nicht schnell vergessen werden kann.« (Zeit-lupe)

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Anne BiegelHeleen Swildens

Wo ist denn meine Brille?

Briefwechsel zweier Frauenüber das Älterwerden

Aus dem Niederländischenvon Hanne Schleich

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Von Anne Biegel und Heleen Swildenssind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

Mitreden ist Gold (dtv großdruck 25107)Lust und Plage der späten Tage (dtv großdruck 25145)

Ungekürzte AusgabeApril 1995

i5. Auflage August 2007Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,

Münchenwww.dtv.de

© 1987 Uitgeverij J. H. Gottmer/H. T. W. Becht b. v.2060 AD Bloemendaal

Titel der niederländischen Originalausgabe:>M'n bril in de ijskast<

0 2002 der deutschsprachigen Ausgabe:Verlag Ernst Kaufmann GmbH, Lahr

Deutsche Erstveröffentlichung: Heilbronn 1989Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagbild: Rotraut Susanne Berner

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany 'ISBNR97_-3-423-25100-6

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Gebet eines Klosterfräuleinsaus versunkener Zeit

O Herr —Du weißt es besser als ich selbst:Ich bin nicht mehr die Jüngste,und bald werd' ich seinein altes Weib.

Gib,daß ich weder der Geschwätzigkeit verfallenoch dem eitlen Drang,das Wort zu redenjedem Thema,jeglicher Gelegenheit.

Befrei' mich von der Suchtzu lösen jedermanns Problem.Bewahre meinen Geistvor der Versuchung,endlos abzuschweifen in Details —laß ihn gesammeltund auf sanfter Schwingeflugs gelangen zu der Dinge Kern.

Verleih' mir soviel Taktgefühlals wie es braucht,die Klage eines Trostbedürftigen

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Liebe Ann —

bevor alte Menschen völlig emanzipiert und alssolche in die Gesellschaft integriert sind, wird wohlnoch viel Zeit vergehen. Es würde voraussetzen,daß man sich selbst annähme — und damit tue ichmich ziemlich schwer. Ich sehe mich so, wie michein Unbeteiligter betrachten würde: alt, einbißchen verschrumpelt. Was? Du willst noch mit-mischen? Na, hör mal!

Das wäre ja weiter nicht tragisch, wenn ich mirnicht selbst all der Gebrechen und Mängel bewußtwäre, mit denen ich zu kämpfen habe.

Es geht los bei ganz harmlosen Dingen; da flat-tert mir zum Beispiel die Einladung zu einer klei-nen Feier auf den Schreibtisch — »U. A. w. g.«*

Meine erste Reaktion ist Freude: Ach ja, wienett! Leute treffen, denen man sonst nur seltenbegegnet ...

Doch dann: Was — um Himmels willen — sollich da! Freut sich überhaupt jemand, wenn ichkomme? Außerdem hat mich die Erfahrunggelehrt, daß ich mich auf Parties zumeist todun-glücklich fühle.

Ich sage also ab, und nachher tut's mir leid.Woraus zu folgern wäre, daß man seine eigene

* Um Antwort wird gebeten.

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geduldig anzuhör'n,doch mir versiegele die Lippenvor dem eig'nen Leid;es werden meiner Mißlichkeiten mehr und mehr,und mit der Zeitwächst auch die Lust daran,sie aufzuzähl'n.

Schenk mir die glorreiche Erkenntnis,daß auch ichmich irren könnt'!

Gib mir an Liebenswürdigkeitein redlich Maß.Möcht' keine Heilige zwar sein(als Nachbarn sind sie schrecklich unbequem!),doch keins auch jener säuerlichen alten Weiber,die des Teufels Freude sind.

Mach, Herr, mich weise,aber laß nicht zu,daß ich ein Besserwisser sei.

Amen

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Person für nicht weniger wichtig halten sollte alsandere. Es gibt nur ganz wenige Menschen, derenBedeutsamkeit man auch dann erkennen würde,wenn sie sich in eine Ecke verkriechen oder sonst-wie unsichtbar zu machen versuchten.

Gottlob ist die Wirklichkeit ja zuweilen gnädi-ger mit uns, als wir selbst es sind, so daß man gele-gentlich auch mal Pluspunkte sammeln kann.Gestern war ich auf einem Kongreß, und ichbemerkte, daß der Herr am Podium aufmunterndzu mir herüberblickte.

»Kennen Sie mich?« fragte ich zögernd, und erdarauf: »Aber sicher!«

Also geht man doch nicht einfach unter in derzunehmenden Masse ergrauter Häupter.

Wobei ich zugeben will, daß ich die wachsendeÜberalterung manchmal selber beängstigendfinde. Wo steuern wir hin — mit diesem er-schreckenden Prozentsatz von alten Menschen? Esist etwas Niedagewesenes; wir werden lernen müs-sen, damit zu leben, und zwar nicht nur wir Altenselbst, sondern auch die jungen Leute und die des»midlife«. Wir sollten uns vor allem wehren gegendie Verherrlichung des Jungseins, womit wir ja vonallen Seiten her konfrontiert werden; es wird unszugerufen, zugesungen und spöttisch klargemacht,daß nur die Jugend, das Jungsein und das unein-geschränkte Sichausleben das menschliche Daseinlebenswert zu machen vermöchten.

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Wir aber — wir sind weiter nichts als alt; wirnehmen anderen den Arbeitsplatz weg oder kassie-ren Renten und Pensionen. Zum Glück nehmenwir — die Alten — im ökonomischen Umfeld den-noch einen wichtigen Platz ein: Das Geld, das wireinheimsen (auf welche Weise auch immer), wan-dert nicht in den Sparstrumpf, sondern fließtmunter in ein Verteilersystem und hilft mit »tomake the world go round«. In unserer gegenwärti-gen Wirtschaftsordnung wiegt der Konsum genauso schwer wie die Produktion. Und weil wir Geldzum Ausgeben haben, sind auch wir von Be-deutung für andere.

Das Allerwichtigste aber ist und bleibt unserGefühl für den eigenen Wert; wir sollten ihn unsnicht abschwatzen lassen!

Heleen

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Meine liebe Taube —

so nenne ich dich (auch wenn »Heleen« einschöner Name ist), seitdem wir vor zwölf Jahrenin Leningrad waren und du eine freundlichekleine Russin nach dem Weg fragtest — » .. .geradeaus, mein Täubchen«, sagte sie. Ich fandes köstlich.

Es fällt dir schwer, dich selbst als alterndenMenschen zu akzeptieren — du siehst dich mit denAugen anderer. Meine eigene Erfahrung läuft dar-auf hinaus, daß ich mein Altsein ein wenig wie einChamäleon erlebe: Für junge Menschen spiele ichdie Rolle einer alten Frau, während ich mitGleichaltrigen in ganz natürlicher Wechsel-wirkung stehe — wir befinden uns im gleichenLebensklima.

Es ging fast unmerklich, daß ich mir dieser ArtEcho bewußt wurde. Trotzdem: Wenn ich mit je-mandem guten Kontakt habe, halte ich mich mitderlei Definitionen nicht besonders lange auf;dann bin ich einfach das, was mein »Inhalt« ist,und meine grauen Haare und die Falten in mei-nem Gesicht gehören dazu.

Ganz anders ist es, wenn ich mit dem Zug fahre(nicht mit dem Bus, denn Busse sind das Beför-derungsmittel für Alte!). In einem nietenhosen-gefüllten Abteil kann ich förmlich fühlen, was man

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denkt: »Das alte Mensch« ...* Dennoch — esbewirkt, daß ich nicht in der Masse verschwinde,sondern daß ich etwas bin: »Das alte Mensch«eben. Ansonsten sind wir in dieser auf »Jungsein«fixierten Welt einfach nicht mehr »in«.

Kürzlich stolperte ich auf einem handtuch-schmalen Bürgersteig — eine noch ältere Frau amArm führend — über zwei Burschen. Für sie warenwir nichts als ein lästiges Hindernis auf ihremWeg, und der eine sprach es ungeniert aus: »AlteLeute sollten verrecken.«

Die Zunahme von alten Menschen ist erschrek-kend — damit hast du recht. Ich verstehe sogar, wasdie Jungen beim Umgang mit Alternden so irri-tiert: ihre Trägheit, die Begriffsstutzigkeit, daszögernde und oftmals törichte Verhalten imVerkehr, das Jammern über ihre Wehwehchen unddas an den unmöglichsten Stellen angebrachte»... früher war das alles ganz anders —«. Dennoch:Alt und Alt ist zweierlei. Wir haben es selbst in derHand — wir selbst können mithelfen, das fataleImage »altes Mensch« zu entzerren. Wir habeneine Menge Wertvolles anzubieten: Erfahrung,

* das . . . Mensch ist in diesem spezifischen Sinne nicht zuübersetzen. Damit gemeint ist — mit welchem Zusatz auchimmer — ein weiblicher Mensch. Ohne Adjektiv (... dasMensch —) wird ein Gefühl des Mitleids oder desMitfühlens, gelegentlich auch der Geringschätzigkeit ausge-drückt.

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Ruhe und ein untrügliches Gefühl für den relati-ven Wert der Dinge.

Übrigens: »Altes Mensch« — das gilt nie für einenMann, sondern nur für Frauen. Und wenn ich'smir recht überlege, dann gibt es auch für denBegriff »altes Weib« kein männliches Äquivalent.Daß sich die Unduldsamkeit mit dem Alterhauptsächlich gegen alte Frauen richtet, mag daherkommen, daß sie von jeher in der Überzahl waren.

Das einzige, wodurch wir das Wohlwollen unse-rer Mitmenschen erobern können, ist dasBewußtsein der eigenen Würde. Wir sollten unsnicht mit der Rolle geduldeter Mitläufer abfinden,sondern uns als positiv Dazugehörige zeigen.Voraussetzung dafür ist allerdings, sich selbst zuakzeptieren. Und weißt du, was ich dabei fürunabdingbar halte —? Den Humor. Wenn dumerkst, daß du dich irgendwie blödsinnigbenimmst: in den falschen Zug steigst, Schwierig-keiten mit der richtigen Uhrzeit hast oder zu stot-tern anfängst, wenn dir irgend jemandes Namennicht rasch genug einfällt, mußt du dich darüberamüsieren können; in Deutschland sagt man: Hu-mor ist, wenn man trotzdem lacht.

Ann

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Liebe Ann —

ich fürchte, daß mein Gefühl für Humor nicht be-sonders stark entwickelt ist. Meine Zerstreutheitwährt jetzt schon seit so vielen Jahren, daß ich esnicht einmal mehr komisch finden kann. ImGegenteil — es macht mich nervös und veranlaßtmich zu unfreundlichen Monologen. »... immerdas gleiche!« (das ist die fast stereotype Ein-leitung —) »Warum paßt du nicht besser auf —benutz gefälligst deinen Verstand!« Und das sageich nicht nur wehmutsvoll seufzend, sondern not-falls auch laut und grob.

Andererseits bin ich gelegentlich ganz erstauntüber das Maß dessen, was ich mit Gleichmut zurKenntnis nehme: ein bißchen schlechter zu sehenoder zu hören, oder auch die Stelle auf meinemKopf, wo das Haar nicht mehr so üppig sprießenwill. Natürlich sollte es sich in Grenzen halten,aber was ich in früheren Jahren als Katastrophebetrachtet hätte, das nehme ich jetzt einfach hinund lebe damit weiter.

In schlaflosen Nächten schlage ich mich zwarauch einmal mit dem Gedanken herum, welcheFormen der Verfall schließlich annehmen könnte,aber am nächsten Morgen stehe ich auf (einbißchen angeschlagen zwar — schließlich brauchtder Mensch seinen Schlaf) und bemühe mich,

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mein Dasein wieder in die richtigen Proportionenzu bringen.

Wenn du übrigens sagst, daß du dich in einemAbteil voll Nietenhosenvolk nicht wohlfühlst,dann beschreibst du genau das, was ich selbst auchso ausdrücken würde: Zu Hause und in gewohn-ter Umgebung akzeptiert man sich selbst undweiß, daß man auch von anderen angenommenwird. Doch sobald man sich als Individuum voneinem Hintergrund abhebt, der einem nicht ohneweiteres wohlgesonnen ist, überfällt einen raschwachsende Unsicherheit; als Beispiel: Zusammen-arbeit mit Leuten, die jünger sind, als man selbstes ist. Gottlob ist heutzutage jedermann zerstreutund vergeßlich — was möglicherweise zusammen-hängt mit dem Übermaß an Informationen undZerstreuung, das sich über unsere Häupter er-gießt. Ich habe mir sagen lassen, daß mancheLeute sich allein fürs Wochenende zehn oderzwölf Videofilme ausleihen und sich dann zweiTage lang den Magen damit überladen. Wie ver-trägt ein denkender Mensch solche Vergewalti-gung —?

Sicher, ich bin's nicht allein, die allerhand wich-tige Einzelheiten einfach vergißt, aber wenn solcheDinge dann zur Sprache kommen und jemandanderer ruft erleichtert aus »... ach ja, das stimmt!Jetzt erinnere ich mich genau —«, dann kann es mirpassieren, daß ich Stein und Bein schwöre, noch

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nie davon gehört zu haben; bei anderen scheinensolche Dinge in eine Art Vorratskammer zu fallen,während sie bei mir im »outer space«* landen —irgendwo im Weltraum und auf Nimmerwieder--sehn. Mein Gedächtnis muß so etwas wie ein gro-bes Sieb sein, durch dessen Löcher jedenAugenblick etwas Wichtiges verlorengehen kann;vielleicht schwebt es noch eine Zeitlang zwischenHimmel und Erde herum, und gelegentlich findetauch ein Fetzen davon in meine grauen Zellenzurück, aber alles in allem muß ich einfach zuge-ben, daß mein Erinnerungsvermögen sehr unzu-verlässig geworden ist. Vor längerer Zeit habe icheinen Artikel geschrieben, den ich >Guten Tag,Gedanken!< nannte und worin ich mich über dieseUnzuverlässigkeit, die man in der Amtssprache als»Verheimlichung von Tatsachen« bezeichnenkönnte, beklagt habe. Es brachte mir einen sehrernsthaften Brief von einem Leser ein. Seine Frauleide an Gfjächtnisverlust, schrieb er, und ob ichwisse, was man dagegen tun könne. Als ich es las,begriff ich plötzlich, daß ich noch gar kein Rechthatte, mich über ein solches Thema auszulassen.Denn es ist ja selbst heute noch so, daß ich aller-hand behalten kann: ausgefallene Namen oderungewöhnliche Tatsachen. Das Vertrackte ist, daßmein Gedächtnis mich ausgerechnet an den aller-

* im Weltall

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simpelsten Stellen im Stich läßt; heißt zumBeispiel der schrecklich wichtige Beamte, von demich etwas will, nun BRAUN oder WEIss? Oder istsein Name um Himmels willen vielleicht dochSCHWARZ?? In diesem Zusammenhang zitiere ichimmer gern meine Tante, die jemandem begegne-te, von dem sie mit Sicherheit wußte, daß seinName etwas mit militärischen Rängen zu tunhatte. Sie hob die Hand zum Gruß und rief fröh-lich: »Hallo, Mijnheer Corporaal!«* Der Mannhieß ADMIRAAL -.

Nun ja — mit sowas kann man natürlich bei jungund alt stürmische Heiterkeit ernten!

Aber laß uns für einen Moment auf die Fragezurückkommen, ob alte Leute endgültig in Un-gnade gefallen sind: Es gibt — trotz allem — nochdas Bedürfnis, unsere Meinung zu hören; du selbstbist doch gerade erst — zum soundsovielten Mal —um eine Stellungnahme gebeten worden! Schreibmir mal, worum es ging.

Heleen

* Unteroffizier

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Liebe Taube —

ja, so ist es: Die Dinge verschwinden aus unseremLeben — ins »outer space«.

»Weißt du das wirklich nicht mehr«, fragt je-mand mich ungläubig, »daß du mit diesem oderjenem da (oder dort) warst — ?«

Nein, ich weiß nichts dergleichen; die Tür zumDamals, dahinter es verborgen sein muß, ist her-metisch verschlossen — ich kriege sie keinen Fin-gerbreit mehr auf. Manchmal ängstigt mich dassehr.

Mit vergessenen Namen ist es anders, bei in-tensivem Nachdenken stellen sie sich manchmalwieder ein. Man erinnert sich zum Beispiel da-ran — und das scheint auch anderen Leuten so zugehn —, daß ein a oder o darin vorkommt, undkomischerweise scheint der Klang eine großeRolle zu spielen — etwa so, als verfüge das Ge-dächtnis auch über ein Hörgerät.

In der Fachliteratur über Alte — (ach nein — sodarf man sie ja nicht mehr bezeichnen!) — überSenioren also, entdecke ich, sofern ich mich über-haupt damit befasse, immer wieder Darlegungenvon gelehrten Herren, wonach der Gedächtnis-schwund zu den lästigsten Beschwerden des Alt-werdens zählt. Sie versichern in wortreichen Um-schreibungen, daß Abhilfe möglich sei. Gut — aber

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wie? Das bleibt im Nebel. Noch sind sie ja nichtselbst davon betroffen, und sollten sie jemals so altwerden, daß sie sich darüber grämen müßten, denNamen ihres Hundes nicht mehr zu wissen, wärees ohnehin zu spät — auch für sie.

Bei jedem Erwachsenen sterben pro Tag fünf-zigtausend Gehirnzellen ab. Das ist ganz normalund muß so sein — es bleiben uns immer nochMilliarden. Dennoch fürchte ich, daß etwa jenseitsdes sechzigsten Geburtstags die grauen Zellen —speziell die mit den Informationen für Namen —anfangen, einfach aus unserem Gehirn wegzuflie-gen. In einer Fachzeitschrift für Geriatrie schriebeine alte Frau zum Kapitel Nicht-mehr-aufs-richti-ge-Wort-Kommen: »... als erstes verschwinden dieNamen, dann die Hauptwörter; die Tätigkeitswör-ter haften am längsten.« Stimmt genau. Ich be-nötigte eine Schere, konnte aber nicht so schnellauf die Bezeichnung »Schere« kommen und sagtezu meiner Tochter: »Gib mir doch mal d... öhoch, verflixt: das Ding zum Schneiden ...«

Eine Bekannte, die unter den gleichen Be-schwerden zu leiden hat, formuliert es so: »Es liegtmir auf der Zunge, aber ich kann es nicht ausspre-chen.«

Das Ärgerlichste am Gedächtnisschwund ist dasUnvermögen, Dinge, die eigentlich von selbst imGedächtnis haften müßten, zu reflektieren — wie-der »drauf zu kommen«. Ich gerate jedesmal in

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Panik, wenn ich nach dem Einkaufen plötzlichnicht mehr weiß, wo ich mein Fahrrad abgestellthabe.

Vielleicht gibt es ja wirklich Arzneimittel, diedem einen oder anderen helfen, sein Konzentra-tionsvermögen ein bißchen auf Trab zu bringen.Aber ich vermute, daß Gedächtnisschwund alsAltersfolge ebenso wenig zu reparieren ist wie einRiß in der Borke eines alten Baumes.

Vor etwa 15 Jahren habe ich meinen Homöo-pathen gefragt, ob er mir etwas verschreiben kön-ne, womit ich russische Vokabeln besser behielte(du weißt ja: Ich habe viel zu spät mit der russi-schen Sprache angefangen!). Er schrieb mir auchprompt etwas auf, aber leider weiß ich nicht mehr,was es war. Ich habe mir soeben die englische>Materia Medica< — das Große Lexikon der homöo-pathischen Arzneimittel und ihrer Wirkung — an-geschafft. Es ist eine ganze Reihe von Heilmittelnfür Gedächtnisschwund darin aufgeführt, undzwar getrennt nach Vergeßlichkeit bei Personen-oder Straßennamen und für den Fall, daß man(verflixt!) nicht auf ein bestimmtes Wort kommenkann. Nun, in puncto Altersvergeßlichkeit ist dasletzte Wort bestimmt noch nicht gesprochen.

Du fragst nach den jungen Interviewerinnen,die in letzter Zeit bei mir waren, und ob sie sichgegenüber meinem Altsein ablehnend verhieltenoder nicht. Mein Eindruck war, daß sie an dem,

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was ich ihnen über meine Erfahrungen als eine derersten Zeitungsjournalistinnen erzählen konnte,sehr interessiert waren. Jetzt, vierzig Jahre nach die-ser Zeit, scheinen solche Informationen für jungeJournalistinnen wichtig zu sein — einfach »in«.Nein, ich hatte keineswegs das Gefühl, als betrach-teten sie mich als Fossil oder so was — im Gegen-teil: Sie zeigten Neugier und großes Interesse füralles, was ich ihnen aus der Vergangenheit überlie-fern konnte.

Was mich betroffen machte, war, daß diesejunge Generation keine Ahnung von der Art undWeise hat, wie völlig anders vor dem Weltkriegüber Frauen und von Frauen selbst gedacht wurde;und daß es — wenn man als Frau sein Leben in dieeigene Hand nahm — einen ununterbrochenenKampf gegen die öffentliche Meinung auszufech-ten galt.

Einer von ihnen versuchte ich deutlich zumachen, auf welch ungeahnte Weise die Frauennach dem Krieg ihre Chance bekamen. Sie ver-stand es nicht. »Wieso?« drängte sie. »Wie kam dasdenn?« Ich begriff, daß diese Fünfundzwanzig-jährige mit ihrem Mäusefraß-Haarschnitt — inknielanger Hose, Schlabberpulli und mit Freundauf der eigenen Bude, mit meiner Story auf Bandund dann »up and away«* mit ihrem kleinen

* auf und davon

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