Neuroradiologische Abklärung eines Tumors im Nasenaugenwinkel

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Zur neuroradiologischen Diagnostik wird ein 6-jähri- ges syrisches Mädchen kur- discher Abstammung mit ei- nem Tumor im Nasenaugen- winkel rechts vorgestellt. Anamnestisch würde der Tumor seit der Geburt be- stehen und wäre seitdem langsam gewachsen. Im Alter von sechs Monaten sei bei einer Tumorinzision eine seröse Flüssigkeit aus- getreten. Der Tumor ist weich, nicht druckschmerz- haft und nicht verschieb- lich. Im Rahmen der präopera- tiven Diagnostik wurden eine konventionelle Rönt- genaufnahme (Abb. 1) an- gefertigt, eine kraniale Computertomographie mit koronaren Sekundär- rekonstruktionen (Abb. 2a-c), eine Kernspintomo- graphie (Abb. 3a-f ) und eine Angiographie (Abb. 4) durchgeführt. W. Reiche 1 • I. Niedermayer 2 • H. Reinhard 3 • B. Kramann 4 • W.I. Steudel 5 1 Abteilung für Neu- roradiologie der Radiologischen Klinik der Universitätskliniken des Saarlandes, 2 Abteilung für Neu- ropathologie des Instituts für Pathologie der Universitätskliniken des Saarlandes, 3 Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der Universitätskliniken des Saarlandes, 4 Abteilung für Radiodiagnostik der Radiologischen Klinik der Universitätskliniken des Saarlandes, 5 Neurochirurgische Klinik der Univer- sitätskliniken des Saarlandes Neuroradiologische Abklärung eines Tumors im Nasenaugenwinkel Radiologe 1998 • 38: 968–971 Springer-Verlag 1998 Quiz Abb. 1 c Konventionelle Röntgen- aufnahme ap (Ausschnitt) b Abb.2 Kraniale Computertomogra- phie nativ in Weichteil- (a) und (c) Knochendokumenta- tion sowie einer koronaren Sekundärrekonstruktion (b) a c b Der Radiologe 1198 968

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✜ Zur neuroradiologischenDiagnostik wird ein 6-jähri-ges syrisches Mädchen kur-discher Abstammung mit ei-nem Tumor im Nasenaugen-winkel rechts vorgestellt.Anamnestisch würde der Tumor seit der Geburt be-stehen und wäre seitdemlangsam gewachsen.Im Alter von sechs Monatensei bei einer Tumorinzisioneine seröse Flüssigkeit aus-getreten. Der Tumor istweich, nicht druckschmerz-haft und nicht verschieb-lich.Im Rahmen der präopera-tiven Diagnostik wurdeneine konventionelle Rönt-genaufnahme (Abb. 1) an-gefertigt, eine kranialeComputertomographiemit koronaren Sekundär-rekonstruktionen (Abb.2a-c), eine Kernspintomo-graphie (Abb. 3a-f) undeine Angiographie (Abb. 4)durchgeführt.

W. Reiche1 • I. Niedermayer2 • H. Reinhard3 • B. Kramann4 • W.I. Steudel5 • 1 Abteilung für Neu-

roradiologie der Radiologischen Klinik der Universitätskliniken des Saarlandes, 2 Abteilung für Neu-

ropathologie des Instituts für Pathologie der Universitätskliniken des Saarlandes, 3 Klinik für Kinder-

und Jugendmedizin der Universitätskliniken des Saarlandes, 4 Abteilung für Radiodiagnostik der

Radiologischen Klinik der Universitätskliniken des Saarlandes, 5 Neurochirurgische Klinik der Univer-

sitätskliniken des Saarlandes

Neuroradiologische Abklärung eines Tumors im Nasenaugenwinkel

Radiologe1998 • 38: 968–971 Springer-Verlag 1998 Quiz

Abb. 1 c

Konventionelle Röntgen-aufnahme ap (Ausschnitt)

b Abb.2

Kraniale Computertomogra-phie nativ in Weichteil- (a)

und (c) Knochendokumenta-tion sowie einer koronaren

Sekundärrekonstruktion (b)

a

c

b

Der Radiologe 11•98968

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Der Radiologe 11•98 969

Abb. 3 m

Kraniale Kernspintomographie. T2-gewichtete Scans axial (a) und koronar (d), T1-gewichtete Scans nativ axial (b), nach Gadolinium-DTPA axial (c) sowie koronar (e) und mit Fettsuppression (f)

b Abb. 4

Digitale Subtraktionsangiographie.Die Katheterspitze liegt selektiv in

der A. facialis rechts

Ihre Diagnose?

a b c

d e f

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Der Radiologe 11•98970

Quiz

Zephalozelen

Zephalozelen werden nach der Lokali-sation des knöchernen Defektes, durchden die intrakraniellen Strukturen her-niieren, benannt [3].

Frontoethmoidale Zephalozelen. Bei denfrontoethmoidalen (Synonym: sinzipi-talen) Zephalozelen werden drei For-men unterschieden [1, 4, 5]: eine naso-frontale, eine nasoethmoidale und einenasoorbitale. Bei der nasofrontalenForm liegt der knöcherne Defekt in derGlabellaregion zwischen den Ossa fron-talia und dem Nasenbein. Bei der naso-ethmoidalen Zephalozele dehnt sichder Herniensack durch einen Defektder Lamina cribrosa in die Nasenhöhleaus. Bei der nasoorbitalen Form liegtzusätzlich ein Defekt im Bereich dermedialen Orbitawand am Processusfrontalis maxillaris vor, so daß sich derHerniensack, wie in dem hier vorge-stellten Fall, von der Mittellinie nach la-teral und intraorbital ausdehnen kann.

Inzidenz und Geographie

Die Inzidenz von Zephalozelen liegt beiungefähr 0,8 - 3,0 pro 10 000 Geburten[2]. Sie treten somit ungefähr zehnmalweniger häufig als Myelomeningozelenauf [1, 2].

Geographische Unterschiede in derVerteilung von Zephalozelen deuten aufzusätzliche genetische und/oder um-weltbedingte Faktoren hin. Unter derweißen Bevölkerung Nordamerikasund Europas überwiegen mit 66 - 89 %okzipitale Zephalozelen [2]. In Südosta-sien kommen frontoethmoidale Zepha-lozelen am häufigsten vor [6]. Unterweißen Australiern treten mit 66,7 %okzipitale Zephalozelen am häufigstenund mit 2,2 % frontoethmoidale sehrselten auf, während unter den Aborigi-nes 50 % der Zephalozelen frontoeth-moidal lokalisiert sind.

Ätiologie

Die Ätiologie der Zephalozelen ist nichteinheitlich und hängt von ihrer Lokali-sation ab. Bei den okzipitalen und pa-rietalen Zephalozelen scheint eine Be-ziehung zu Defekten beziehungsweisefehlerhaften Verschlüssen des Neural-rohrs vorzuliegen. Dagegen besteht beifrontoethmoidalen Zephalozelen keine

Die konventionelle Röntgenaufnahmedes Schädels (Abb. 1) zeigt einenknöchernen Defekt in der Lamina cri-brosa rechts und eine Transparenzmin-derung in den angrenzenden Ethmoi-dalzellen. Das Ausmaß des knöchernenDefektes und der Fehlbildung läßt sichin der CT (Abb. 2) exakter analysieren.

Betroffen ist das frontale Drittelder Lamina cribrosa mit Erweiterungdes Foramen caecum. Die angrenzen-den Ethmoidalzellen sind nicht ent-wickelt. Desweiteren findet sich ein De-fekt der medialen Orbitawand. Im er-weiterten Foramen caecum und dembeschriebenen Defekt in der Laminacribrosa, im medialen Drittel der rech-ten Orbita sowie im Nasenaugenwinkeldehnt sich eine Weichteilgewebsver-mehrung aus, die das Auge und die me-dialen Augenmuskeln nach lateral ver-lagern. Kernspintomographisch stelltsich diese auf T2-gewichteten Aufnah-men (Abb. 3a und 3d) inhomogen hy-perintens dar.Auf T1-gewichteten Scans(Abb. 3b bis 3e) finden sich einerseitszystische deutlich hypointense Ab-schnitte und andererseits solide Antei-le, die sich isointens zur Muskulaturverhalten.

Der Weichteiltumor weist über denethmoidalen Defekt eine Verbindungnach intrakraniell auf (Abb. 3d und 3e),wobei eine große Zyste in direkter Ver-bindung mit dem Liquorraum steht.Nach i.v. Gadolinium-DTPA Gabe istauf fettsupprimierten T1-gewichtetenAufnahmen (Abb. 3f) eine Kontrastmit-telanreicherung in den soliden Tumor-abschnitten zu erkennen. Angiogra-phisch (Abb. 4) nach selektiver Sondie-rung der A. carotis externa kommt esüber einen Ast der A. facialis zu einerflauen Tumoranfärbung mit einem fei-nen retikulären Gefäßnetz, das übereine kaliberstarke Vene in die V. jugula-ris externa drainiert wird.

✜ Diagnose

Frontoethmoidale Enzephalozele (nasoorbitaleForm) mit zerebraler Heterotopie (nasales Gliom)

Unter synoptischer Wertung allervorgestellten Befunde liegt eine fron-toethmoidale Enzephalozele vor. DieZele dehnt sich nach nasoorbital aus.Bei dem Zeleninhalt dürfte es sich umheterotopes zerebralnervöses Gewebehandeln.

Über einen transfacialen, orbitalenund subfrontalen Zugang wurde diefrontoethmoidale, nasoorbitale Enze-phalozele interdisziplinär von Neuro-und Mund-Kiefer-Gesichtschirurgenreseziert und der Schädelbasisdefektgedeckt. Die histopathologische Aufar-beitung des resezierten Gewebes be-stätigte den bildmorphologischen Ver-dacht und zeigte ektopes Hirngewebe,das sich überwiegend aus fibrösen Ha-martien und zu einem geringen Anteilaus reifem Hirngewebe mit nodulärenHeterotopien zusammensetzte. Der Be-fund ist vereinbar mit einem sogenann-ten „nasalen Gliom“ bei frontoethmoi-daler nasoorbitaler Zephalozele.

Diskussion

Zephalozelen sind kongenitale Malfor-mationen, die aus einem knöchernenDefekt der Schädelbasis oder -kalotteeinschließlich der Dura bestehen, mitHerniation von intrakraniellen Struk-turen nach extrakraniell [1, 2]. Zephalo-zelen werden in 4 Typen eingeteilt [2]:

◗ Kraniale Meningozephalozelen sindZephalozelen, in die Meningen undLiquor herniieren.

◗ Bei kranialen Gliozelen bestehen dieherniierten Strukturen nur aus mitGliagewebe ausgekleideten Zysten,die Liquor enthalten.

◗ Kraniale Meningoenzephalozelensind Zephalozelen, bei denen sich dieaustretenden Strukturen aus Menin-gen, Liquor und Hirnparenchym zu-sammensetzen.

◗ Atretische Zephalozelen stellen eineZephalozelenform dar, die durchkleine nicht-zystische oder noduläreLäsionen gekennzeichnet ist, die inder Mittellinie der Kalotte entlangder Schädelnähte entweder vertexna-he (parietale Form) oder in unmittel-barer Nähe der Protuberantia occipi-talis (okzipitale Form) lokalisiert ist.

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Der Radiologe 11•98 971

Assoziation zu solchen Neuralrohrde-fekten [2].

Embryologie

Die Embryogenese der nasofrontalenRegion einschließlich möglicher Fehl-bildungen wurden ausführlich von Bar-kovich et al. 1991 [5] zusammengestellt.

Zephalozelen dieser Region liegteine fehlerhafte Vereinigung der Ossifi-kationszentren zu Grunde. Währendder frühen Schwangerschaft entstehenzwei Räume nasofrontal: der erste stellteine kleine Fontanelle, Fonticulus naso-frontalis, dar, der in der Mittellinie zwi-schen den paarigen Ossa frontalia unddem Nasenbein liegt. Bei dem zweitenhandelt es sich um einen pränasalenRaum, der unterhalb des Fonticulusliegt, nach dorsal durch die knorpeligenNasenkapsel und nach frontal durchdas Nasenbein begrenzt wird. GegenEnde des zweiten Schwangerschafts-monats entsteht ein Duradivertikel, dassich in den pränasalen Raum ausdehntund das oberflächliche Ektoderm kon-taktiert. Durch das normale Kno-chenwachstum der Ossa frontaliakommt es zum Verschluß des Fonticu-lus nasofrontalis. Weiterhin umwach-sen die Ossa frontalia das Duradiverti-kel des pränasalen Raums, um das Fora-men caecum zu bilden. In der weiterenEntwicklung involutiert das Duradiver-tikel in eine fibröse Struktur, die dasForamen caecum obliteriert.

Nasale Gliome

Nasenfisteln, nasale Zephalozelen unddie sogenannten nasalen Gliome resul-tieren aus verschieden ausgeprägten in-kompletten Rückbildungen des vorü-bergehend angelegten pränasalenRaums und des Duradivertikels [5, 7-9].Wenn der Kontakt zwischen Duradiver-tikel und Haut bestehen bleibt, so kannein Grübchen an der Nasenoberflächeentstehen. Dieses Grübchen stellt dieäußere Öffnung einer Nasenfistel dar.Der Fistelgang kann an jeder beliebigenStelle entlang des Duradivertikels impränasalen Raum enden und sich sogarbis über das Foramen caecum bis nachintrakraniell ausdehnen. NasofrontaleDermoide und Epidermoide könnendurch Desquamation von dermalenund epidermalen Zellen, die diesen na-

Differenzierung verschiedener Typen

Eine sichere Differenzierung zwischenfrontoethmoidalen Enzephalozelenund glialen Heterotopien gelingt mit ei-ner CT-Zisternographie nach intrathe-kaler Kontrastmittelapplikation [5].

Enzephalozelen kommunizierenmit dem Subarachnoidalraum,während die sogenannten nasalen Glio-me dies nicht tun. Die Differenzierungvon Nasenfisteln und nasalen Dermoi-den mit CT und MRT kann schwierigsein. Die wichtigsten Informationenvon CT- und MRT-Studien sind die Be-schreibung der Ausdehnung einer Na-senfistel oder eines Dermoids, insbe-sondere ob sie nach intrakraniell rei-chen und/oder ein intrakranieller fron-tobasaler Tumor vorliegt [5].

Zephalozelen sind häufig mit wei-teren Hirnfehlbildungen assoziiert. Inder zweiten Hälfte des zweiten Schwan-gerschaftsmonats, in dem auch derpränasale Raum und der Fonticulusfrontalis vorübergehend angelegt wer-den, entstehen der Balken und prolife-rieren und migrieren die jungen Neu-ronen. Auf Grund des engen zeitlichenZusammenhangs finden sich bei Pati-enten mit Zephalozelen gehäuft Bal-kenhypogenesien, interhemisphärischeLipome und Anomalien der neuronalenMigration wie Schizenzephalie [5].Ebenso können frontoethmoidale Ze-phalozelen zusammen mit kraniofazia-len Anomalien oft in Form von Spaltbil-dungen auftreten [11]. Hypertelorismusist ein häufiges Symptom bei frontoeth-moidalen Zephalozelen, hervorgerufendurch einen fehlenden oder inkomplet-ten Zusammenschluß der knöcherenMittelliniestrukturen und Herniationvon intrakraniellem Gewebe [3].

Literatur erhältlich beim Verfasser!

sofrontalen Gang auskleiden, entste-hen.

Bei den frontoethmoidalen Zepha-lozelen ist anzunehmen, daß intrakra-nielles Gewebe in das Duradivertikeldurch das Foramen caecum (nasoeth-moidale oder nasoorbitale Form) oderdurch den Fonticulus (nasofrontaleForm) herniiert.

Bei den sogenannten nasalen Glio-men handelt es sich um zerebrale bezie-hungsweise gliale oder glioneuronaleHeterotopien, die sich aus dysplasti-schem Hirngewebe zusammensetzenund sich entweder in der Nasenhaupt-höhle oder subkutan in der Glabella-region beziehungsweise, wie in diesemFall, im Nasenaugenwinkel und intraor-bital ausdehnen. Nasale Gliome stellenembryologisch gesehen Enzephaloze-len dar, die ihre Verbindung teilweiseoder komplett verloren haben [5]. Beiungefähr 15 % der Patienten kann eineVerbindung nach intrakraniell im Be-reich des Foramen caecum nachgewie-sen werden [10].

Neuroradiologische Diagnostik

Wegweisend für die neuroradiologischeDiagnostik frontoethmoidaler Zepha-lozelen ist der Nachweis eines knöcher-nen Defektes in der anterioren Schädel-basis (Lamina cribrosa) mit Erweite-rung des Foramen caecum oder Fonti-culus frontalis, durch die Hirnparen-chym herniieren kann [5]. Die Cristagalli ist in der Regel erodiert und die in-traorbitale Distanz gering verbreitertmit einer Weichteilgewebsvermehrung,die sich in die Nasenhöhle, in das naso-frontale subkutane Gewebe und/odernach intraorbital ausdehnt. Die Zepha-lozelen werden typischerweise von in-takter Haut bedeckt [2].

Kernspintomographisch stellt sichder Inhalt der Zephalozelen sowohl aufT2- als auch auf T1-gewichteten Auf-nahmen als inhomogener Weichteiltu-mor dar, der sich aus zystischen – T2-hyperintensen, T1-hypointensen,annähernd liquoräquivalenten – undsolideren Anteilen, letztere sind T1-ge-wichtet muskeläquivalent und T2-ge-wichtet inhomogen hyperintens, so wiein unserem Fall, zusammensetzt. Dr.W. Reiche

Abteilung für Neuroradiologie,

Radiologische Klinik der Universitätskliniken des

Saarlandes

D-66421 Homburg/Saar