Neies Lautre - Juli/August 2015
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NEIES LAUTRE ZEITUNG FÜR EINE SOLIDARISCHE UND BASISDEMOKRATISCHE GESELLSCHAFT
ZUM INHALT In dieser fünften Ausgabe haben wir zwei Schwerpunktthemen: Die Entwicklungen in und um Griechenland sowie Streiks, die es nicht nur in Deutschland ver-mehrt gibt. Wie zu erwarten konnten wir auch diesmal viele dringliche Themen nicht berück-sichtigen. Deswegen möchten wir euch unter anderem auch die August-Ausgabe der Gai Dao ans Herz legen, die ihr hier online lesen könnt: fda-ifa.org/gai-dao/ Sie enthält zwei Artikel von uns, einer zur Kapitulation SYRIZAs, einer zu Anarchisten und Linken.
Ralf Dreis ist in der anarcho-syndikalistischen FAU in Frankfurt und der anarchistischen Bewegung in Grie-chenland aktiv. In seinem Kommentar in der Tageszeitung neues Deutschland "Den Widerstand von unten organisie-ren" (vom 18.07.) erklärt er, warum man 'keine Hoffnung in die Eroberung des Staates setzen, sondern selbst die gesellschaftlichen Strukturen umbauen' sollte. [S. 1]
In unserem Text "Solidarität mit den Menschen in Griechenland" erklären wir Hintergründe der Griechenland-Krise und unsere Antwort darauf. [S. 2]
In seinem Interview "Kleine geile Streiks" mit der Direkten Aktion spricht Peter Nowak über zunehmen-de Streiks in Deutschland. [S. 5]
Sebastian Friedrich analysiert in "Kleinbürgertum oder kleiner Mann", was der Führungsstreit und die darauffolgende Spaltung der AfD bedeuten. [S. 3]
In "Um sich greifender Ungehorsam" ordnet Hakan Koçak Streiks in der Türkei (die neben den Wahlen, der Gefahr durch den IS und die Repres-sion des Staates leider oft unbeachtet bleiben) in den globalen Kontext der großen Streikwellen in der Automo-bilindustrie und in den Kontext be-trieblicher und gewerkschaftlicher Organisierungsfragen ein. [S. 7]
DEN WIDERSTAND VON UNTEN OR-
GANISIEREN
Mit der Unterwerfung unter die maßgeblich durch
die Bundesregierung diktierte Ausplünderungspo-
litik der Troika, hat die griechische SYRIZA-
Regierung den Hoffnungen der parlamentarischen
Linken in Europa ein abruptes Ende bereitet.
Hatte einst der Putsch gegen Salvador Allende
1973 die Diskussionen über einen friedlichen
Übergang zum Sozialismus durch die faktische
Macht der Panzer verstummen lassen, so beweist
der gegen die griechische Bevölkerung geführte
Wirtschaftskrieg nun, dass im von Deutschland
dominierten Europa nicht einmal der friedliche
Übergang zur Sozialdemokratie möglich ist. In
Südamerika, ihrem damals von den USA selbst
deklarierten Hinterhof, waren 35 Jahre blutiger
Bürgerkrieg, und hunderttausende Tote, der im
Namen des Kapitalismus folternden und morden-
den Militärdiktaturen die Folge. Es bedarf keines
Propheten um nach der Unterwerfung der
SYRIZA-Regierung unter die neoliberale Doktrin
der Alternativlosigkeit, einen erneuten Zulauf von
Teilen der griechischen Jugend zu bewaffnet
kämpfenden Stadtguerillaorganisationen vorher-
zusagen.
Die so genannte Einigung mit der Troika stellt alle
von griechischen Vorgängerregierungen gegen
weite Teile der Bevölkerung durchgesetzte Spar-
diktate in den Schatten. Soweit bisher bekannt
geht es um weitere Rentenkürzungen bei gleich-
zeitiger Erhöhung der Krankenversicherungsbei-
träge, um die Privatisierung der gesamten staatli-
chen Infrastruktur, die weitere »Flexibilisierung«
des Arbeitsmarktes, sprich die Zerschlagung von
Arbeitnehmerrechten, (Ermöglichung von Mas-
senentlassungen), die Erhöhung der Mehrwert-
steuer, sowie um die automatische Kürzung des
Staatsbudgets bei Nichteinhaltung der Auflagen.
Staatsvermögen im Wert von 50 Milliarden Euro
wird in einen durch die Gläubiger verwalteten
Treuhandfonds überführt, die Sondersteuer auf
Haus- und Grundbesitz ENFIA wird weiter er-
höht, die von der Vorgängerregierung eingeführte
Sonntagsarbeit ausgeweitet und jedes »haushalts-
relevante« Gesetzesvorhaben muss erst durch die
Troika genehmigt werden. Früher wurde so etwas
als Kolonie bezeichnet.
Juli/August 2015
Kaiserslautern
Auflage: 50
Solidarität mit den Menschen in Griechenland!
Woher kommen die griechischen Schulden? Alle Staaten der EU sind verschuldet, und die meisten höher, als nach EU-Richtlinien erlaubt. Der griechische Staat war zu Beginn der Wirtschaftskrise noch höher verschuldet als der Rest Europas: er war von korrupten Politikern zum Selbst-bedienungsladen umfunktioniert worden und reiche Oligar-chen hinterzogen Steuern, ohne von den bürgerlichen Re-gierungen dafür verfolgt zu werden. Diese und weitere Gründe führten dazu, dass Griechenlands Schulden höher waren als die der anderen EU-Staaten. Aber zu sagen, die Griechen hätten über ihre Verhältnisse gelebt, ist falsch: die einfachen Leute in Griechenland sind nicht schuld an den Vergehen der griechischen Eliten.
Es kann nicht jeder gewinnen Der Kapitalismus schafft immer Verlierer: Genauso, wie es selbst in den Reichsten Ländern Armut gibt, ebenso können nicht alle Staaten Europas Exportweltmeister sein. Solange die griechische Produktivität halb so hoch ist wie in Deutsch-land, wäre das Land auch mit besseren Politikern in der ka-pitalistischen Konkurrenz von Deutschland überflügelt wor-den. Und genau deswegen haben sich 'Strukturreformen' allein nicht als Weg in eine blühende Zukunft erwiesen. Selbst wenn Griechenland durch ein Investitionsprogramm (wie es linke Parteien fordern) wirtschaftlich langfristig stär-ker wird, wird dies wahrscheinlich auch zulasten der deut-schen Exportwirtschaft gehen: Der Kapitalismus ist kein Po-nyhof.
"Hilfen", die keine sind Die "Rettungsprogramme" der Troika haben vor allem zur Verarmung und Verelendung des griechischen Volkes ge-führt (Arbeitslosigkeit über 25%, unter Jugendlichen bei 50 %, ein Drittel ohne Krankenversicherung, ...). Diese Pro-gramme waren aber offensichtlich auch für die Wirtschaft schädlich, die Wirtschaftsleistung brach um 25% ein. Die Troika musste ihre Erwartungen für das Land immer wieder als zu optimistisch korrigieren. Der deutschen Regierung konnte das egal sein: Sie hatte die Kredite von deutschen Banken und Versicherungen über-nommen (und diese damit vor hohen Verlusten bewahrt) und solange Griechenland seine Schulden bediente, verdien-te sie gut daran (durch Zinsgewinne auf Kredite und eine Abwertung des Euro, was die Exporte ankurbelte). Aber wenn Griechenland aufhört, seine Schulden und Zinsen zu-rückzuzahlen, ist viel Geld verloren.
Unsere Antwort: Solidarität von unten statt Rettungspake-te Innerhalb des Kapitalismus gibt es also keine gute Lösung der Krise. Außerhalb dagegen schon. Deshalb unterstützen wir griechische Solidaritätsnetzwerke: unabhängig und von einfachen Menschen selbstorganisiert 'von unten' aufge-baut, organisieren diese Volksküchen, kostenlose Behand-lung für Menschen ohne Gesundheitsversicherung, soziale Zentren usw. Dies ist für uns auch ein Vorbild, wie wir unse-re Zukunft gestalten wollen: solidarisch, selbstorganisiert und basisdemokratisch - jenseits von kapitalistischem Wett-bewerb und Nationalismus!
Ein besonders widerwärtiges Kapitel der letzten
Monate betrifft die Berichterstattung der deut-
schen Leitmedien. Nach wochen- und monatelan-
ger rassistischer Hetze gegen »die Griechen«,
nach Verleumdungen und offenen Lügen, nach
dem in Herrenmenschenart wiederholten Mantra
»die Griechen müssen liefern« und »die Griechen
sind reformunwillig«, wird nun umgesteuert.
Plötzlich, nachdem die aufmüpfigen Linksradika-
len erfolgreich diszipliniert sind, wird die humani-
täre Katastrophe entdeckt, arme RentnerInnen, die
im Müll wühlen, Selbstmorde, Eltern, die ihre
hungernden Kinder im SOS-Kinderdorf abgeben,
und sterbende Kranke. Jetzt ist all das Thema, das
Ergebnis von fünf Jahren kapitalistischem Spar-
diktat, durchgesetzt auch und gerade von deut-
schen Regierungen und begleitender Medienpro-
paganda. Ist die drohende linke Alternative erst
zerschlagen, gibt es Almosen für die Opfer, so die
perverse Logik.
AnarchistInnen und Basisgewerkschaften hatten
vor der Wahl am 25. Januar immer behauptet,
SYRIZA werde ein neues Spardiktat unterschrei-
ben. Trotzdem gelang es ihnen nicht, offensiv ihre
Differenz zur Regierung sichtbar zu machen. Sie
haben abgewartet, statt die gesellschaftliche Spiel-
räume zu erweitern. Nun ist es an ihnen sein die
Mobilisierungen gegen Sonntagsarbeit oder Mas-
senentlassungen auf der Straße zu intensivieren;
und sie werden wieder mit den nun von SYRIZA
befehligten Sondereinsatzkommandos der Polizei
konfrontiert sein. Für die schwachen Bewegungen
in Deutschland kann nur gelten, diese Kämpfe zu
unterstützen.
Statt Hoffnung in die Eroberung des Staates zu
setzen, sollten wir beginnen gesellschaftliche
Strukturen so umzubauen, dass grundsätzliche
Veränderung überhaupt denkbar wird. Der Aufbau
solidarischer Basisstrukturen, ihre Vernetzung und
die Entwicklung gemeinsamer Visionen sind ge-
fragt. Selbstorganisation, solidarische Alltags-
strukturen, gegenseitige Hilfe, praktische Alterna-
tiven gegen das alltägliche Elend - sie sind die
Basis für erfolgreiche politische Mobilisierung.
Eine Mobilisierung die dringend anliegt sollte die
Durchsetzung der Reparationszahlungen an Grie-
chenland für die hunderttausenden verhungerten
und ermordeten GriechInnen und die tausenden
zerstörten Dörfer während der Nazibesatzung des
Landes 1941-44, sowie die Rückzahlung des dem
Land damals abgepressten Zwangskredits für
»Besatzungskosten« sein. Das ist unsere Pflicht.
KLEINBÜRGERTUM ODER KLEINER
MANN?
Der Führungsstreit in der 'Alternative für
Deutschland' (AfD) ist entschieden. Der national-
konservative Flügel um Frauke Petry hat gewon-
nen, der rechtliberale sich abgespalten und mit
Bernd Lucke als Vorsitzenden eine neue Partei
gegründet. Trotzdem ist der Artikel von Sebastian
Friedrich vom 15. Juni 2015 noch aktuell, denn
bei dem Machtkampf ging "es neben inhaltlichen
und persönlichen Fragen auch um die strategi-
sche Ausrichtung der Partei. Speziell in der Fra-
ge, welche Klassen und Klassenfraktionen ange-
sprochen werden sollen, herrscht[e] Uneinigkeit
zwischen den Flügeln."
Die AfD war einst angetreten, um das reaktionäre
Kleinbürgertum zu einen. Man gab sich moderat
wertkonservativ und vertrat ein nationalneolibera-
les Wirtschaftsprogramm. Mit Erfolg. Wahlanaly-
sen zu den Bundestagswahlen 2013, den Wahlen
zum Europaparlament im Mai 2014 sowie den im
Sommer 2014 stattgefundenen Landtagswahlen in
Thüringen, Sachsen und Brandenburg zeigen, dass
genau diese Klientel angesprochen wurde: Männ-
lich, unter 45 Jahre, (Fach-)Arbeiter oder selbst-
ständig und sich der Mittelschicht zugehörig füh-
lend. Außerdem verdiente der ursprüngliche typi-
sche AfD-Wähler überdurchschnittlich gut und
war eher vermögend. Darauf deuten verschiedene
Studien hin.
Laut einer repräsentativen Befragung im Auftrag
der Universität Leipzig, die zwischen Februar und
April 2014 stattfand1, befinden sich unter den
Wähler_innen der AfD nur sehr wenige mit nied-
rigem Einkommen. Lediglich 3,9 Prozent der
AfD-Wähler_innen haben ein Haushaltseinkom-
men von unter 1.000 EUR. Einen niedrigeren
Wert hat nur die FDP vorzuweisen (2,8 Prozent).
Einer Auswertung des Forsa-Instituts kurz nach
den Europawahlen zufolge kommen die Anhä-
nger_innen der AfD überwiegend aus der Mittel-
schicht (53 Prozent) und der Oberschicht (26 Pro-
zent). Mehr als die Hälfte der Anhänger_innen (55
Prozent) hat Abitur und 44 Prozent verfügen über
ein Haushaltsnettoeinkommen von mindestens
3.000 EUR. Was das Vermögen angeht, gibt es
kaum verlässliche Daten. Lediglich die Mitteilung
des kommissarischen Vorstands des Landesamtes
für Statistik Berlin-Brandenburg ist hier auf-
1 Nachzulesen hier: home.uni-
leipzig.de/decker/waehlerherz_2014.pdf
schlussreich. Demnach schnitt die AfD bei den
Landtagswahlen in Brandenburg vor allem in Ge-
bieten mit „einer höheren Eigentümerquote“ bes-
ser ab. In Gebieten mit vielen Hartz 4-Empfängern
war die AfD weniger erfolgreich, so das Lande-
samt. Es waren also eher nicht die Deklassierten,
die sich zur AfD hingezogen fühlten.
Außerdem erhielt die AfD vor allem zu Beginn
Unterstützung von Teilen der Wirtschaft, insbe-
sondere von denjenigen Unternehmen, die auf
lokale und regionale Absatzmärkte setzen. Sie
sind nicht exportorientiert und fürchten die euro-
päische Integration wegen einer Intensivierung
des Wettbewerbs, der sich negativ auf sie auswir-
ken könnte. Eine Studie von Frederic Heine und
Thomas Sablowski, die 2013 für die Rosa-
Luxemburg-Stiftung erstellt wurde, zeigt diese
Verbindung eindrücklich auf2. Heine und
Sablowski untersuchten Pressemitteilungen und
Positionspapiere von Wirtschaftsverbänden zur
Regierungspolitik während der Legislaturperiode
von Schwarz-Gelb.
Sie arbeiteten heraus, dass alle Wirtschaftsverbän-
de mehr oder weniger d’accord waren mit der Re-
gierungspolitik. Alle bis auf einen Verband: der
Verband der Familienunternehmer, der sich als
Einziger während der Euro-Krise grundsätzlich
gegen die Euro-Rettungspolitik stellte. Er unter-
stützte außerdem die Klage gegen den Europäi-
schen Stabilitätsmechanismus vor dem Bundes-
verfassungsgericht und forderte den Ausschluss
Griechenlands aus der Euro-Zone. Insgesamt
sprach sich der Verband gegen wirtschaftspoliti-
sche Europäisierung aus und bediente sich laut der
Studie einer rechtspopulistischen Rhetorik. Heine
und Sablowski kommen zum dem Schluss, dass
die nationalkonservativen und neoliberalen Kräfte
2 Nachzulesen hier:
www.rosalux.de/publication/39834/die-europapolitik-des-deutschen-machtblocks-und-ihre-widersprueche.html
in dem Verband in der AfD ihren parteipolitischen
Ausdruck gefunden haben.
Sie sollten Recht behalten. Praktisch wurde die
Unterstützung des Verbands kurz vor der Europa-
wahl Anfang Mai 2014. Beim „Tag der Familien-
unternehmer“ in Dresden war Bernd Lucke Haupt-
redner, erst später durften Christian Lindner und
Günther Öttinger ran. Der Hauptgeschäftsführer
des Verbands, Albrecht von der Hagen, sprach
davon, dass viele Fragen der AfD auch Fragen des
Verbands seien.
RECHT S ENTWI CK LUN G DER AFD
Die Partei entwickelte sich zunehmend nach
rechts. Heute tut Lucke so, als sei er ein Vorkämp-
fer gegen die Rechtsentwicklung. Das Gegenteil
ist der Fall. Er war es, der um die Bundestagswahl
herum die Partei strategisch nach rechts ausgerich-
tet hat. Knapp zwei Monate vor der Bundestags-
wahl schrieb Lucke an seine Vorstandskollegen
Alexander Gauland und Konrad Adam eine auf-
schlussreiche Mail, deren Wortlaut das Nachrich-
tenmagazin „Der Spiegel“ zum Teil veröffentlich-
te. Gegenüber seinen heutigen erbitterten Kontra-
henten forderte er einen Tabubruch, um den bis
dahin schleppend laufenden Wahlkampf ein wenig
in Fahrt zu bringen. So schlug er vor, Thilo
Sarrazin zu vereinnahmen. Das könne viel Auf-
merksamkeit, Kritik der linken Presse und viel
Zuspruch in der Bevölkerung einbringen. Laut der
AfD-Aussteigerin Michaela Merz wurde von eini-
gen Kräften der Partei offen darüber nachgedacht,
„die Partei in Richtung einer konservativ bis
rechtspopulistischen Strömung und der Sarrazin-
Klientel zu öffnen“. So habe Lucke angeregt,
Sarrazin während einer Wahlkampfveranstaltung
einen Buchpreis der AfD zu verleihen, was aller-
dings insbesondere durch die liberalen Kräfte in-
nerhalb des Bundesvorstands der Partei verhindert
worden sei. Rückblickend schreibt Merz Lucke
bei der Öffnung nach rechts eine Schlüsselrolle
zu: „Er ist maßgeblich für die spätere Entwicklung
verantwortlich, da er die Partei bewusst dem rech-
ten und rechtspopulistischen Rand geöffnet hat.“
Im weiteren Verlauf hat sich die Zusammenset-
zung der AfD nachhaltig verändert. Die rechten
Flügel wurden in der Folge immer mächtiger. Sie
konzentrierten sich auf die Wahlen in den drei
ostdeutschen Bundesländern, denn dort hatte die
AfD bei den Bundestags- und Europawahlen ihre
stärksten Ergebnisse geholt, und dort waren die
Landesverbände deutlich rechtslastig. In allen drei
Bundesländern zog die AfD mit herausragenden
Ergebnissen — in Thüringen und Brandenburg
sogar zweistellig — in die Landtage ein. Die Er-
folge bestätigten die programmatische Erweite-
rung nach rechts und lösten harte Flügelkämpfe
um die inhaltliche und personelle Zukunft der
Partei aus, in deren Folge fast alle Liberalkonser-
vativen die Partei verließen. Spätestens hier fand
der aktuelle Führungsstreit in der AfD ihren Aus-
gangspunkt.
SOZIALE BASIS ZERBROCHEN
Die AfD war in ihrer Gründung vor allem deshalb
gefährlich, weil sie das Zeug hatte, National-
Neoliberale und Rechtskonservative zu verbinden
und dadurch ein rechtes Hegemonieprojekt zu
etablieren. Die Basis des Projekts war die reaktio-
näre Mittelklasse, das Kleinbürgertum. Dieses
scheint der Partei zunehmend den Rücken zu keh-
ren — und sich wieder mehr in Richtung FDP zu
bewegen. Während vor einem Jahr führende Frak-
tionen des mächtigen Verbands der Familienun-
ternehmer im Zuge der Europawahl 2014 die AfD
unterstützten, herrscht heute weitgehend Funkstil-
le zwischen dem Verband und der AfD. Ende Ap-
ril 2015 fanden die Familienunternehmer-Tage in
Berlin statt, bei denen neben Gauck auch Vertre-
ter_innen aus FDP, SPD, den Unionsparteien und
den Grünen auf Podien sprachen. Die AfD suchte
man vergeblich. Die Entwicklung kommt einigen
in der Partei gelegen. Gauland, der im Verlauf der
vergangenen zwei Jahre immer weiter nach rechts
rückte, äußerte im April in einem Interview im
Handelsblatt: „Man sollte auch nicht den Fehler
machen und auf Stimmen des Bürgertums und
früherer FDP-Anhänger setzen. Wir sind eine Par-
tei der kleinen Leute. Damit meine ich auch Leute,
die eben kein Asylbewerberheim neben sich haben
wollen. Die damit ver-
bundenen Ängste und
Sorgen sollten wir ernst
nehmen und aufgreifen,
dann werden wir auch
gewählt.“
Sebastian Friedrich ist
Publizist. Im Januar 2015
erschien beim Berliner
Verlag bertz + fischer sein
Buch „Der Aufstieg der
AfD. Neokonservative Mo-
bilmachung in Deutsch-
land“
KLEINE GEILE STREIKS
STREIKS SCHEINEN AUCH IN DEUTSCH-
LAND ZUZUNEHMEN – EINE NEUE DEUT-
SCHE STREIKWELLE?
Demnächst erscheint das Buch „Ein Streik steht,
wenn mensch ihn selber macht. Arbeitskämpfe
nach dem Ende der großen Fabriken“, herausge-
geben von Peter Nowak. Darin werden Streiks
außerhalb des klassischen Fabrik- und Gewerk-
schaftsumfelds dargestellt, vor allem in bislang
als schwer organisierbar geltenden Sektoren. Auf
Einladung der Region Süd der FAU wird der
Herausgeber das Buch im September 2015 vor-
stellen.
Siehst du einen allgemeinen Trend zu Streiks in
prekären und nicht gut organisierten Sektoren,
oder bleiben dies lobenswerte Einzelfälle?
Oft sind diese Streiks Einzelfälle, aber sie deuten
eine Tendenz an. Die Beschäftigten in den schwer
zu organisierenden Branchen machen die Erfah-
rung, dass sie oft frühkapitalistischen Arbeitsbe-
dingungen ausgesetzt sind und dass das Gerede
über familiäre Arbeitsverhältnisse und flache Hie-
rarchien diese Ausbeutungsverhältnisse nur müh-
sam ideologisch verschleiern. Sehr deutlich wird
das am Arbeitskampf in einem Berliner Spätkauf,
den ich im Buch vorstelle. Er ging für den Be-
schäftigten erfolgreich aus, er erstritt sich mit Hil-
fe der FAU eine Lohnnachzahlung. Dies war nur
möglich, weil der Arbeitskampf auch als politi-
sche Auseinandersetzung öffentlich geführt wur-
de. Der Kollege arbeitete in der Woche bis zu 60
Stunden, hatte aber offiziell einen 20-Stunden-
Job. Er war mit dem Chef per Du und erfüllte oft
die Funktion eines Ladenleiters. Als der Chef eine
Kamera einbaute, mit der er den Kollegen ständig
an seinen Arbeitsplatz beobachten konnte, war das
Maß voll. Er forderte nicht nur den Abbau der
Kamera, sondern auch eine Bezahlung nach den
von ihm geleisteten Arbeitsstunden, Pausen, Ur-
laub etc. Sofort wurde der Ladenbesitzer, mit dem
er per Du war, zum Kleinkapitalisten, der ihm
zeigen wollte, wer Herr im Haus war. Er verhäng-
te ein Hausverbot gegen den Kollegen und seine
UnterstützerInnen und ging juristisch gegen Me-
dien vor, die über den Arbeitskampf berichteten.
Hier begann erst die Geschichte des Arbeitskamp-
fes, der sicher ohne die Unterstützung der FAU
und eines UnterstützerInnenkreises so nicht mög-
lich gewesen wäre. So gelang es, innerhalb weni-
ger Wochen mit Flyer- und Plakataktionen im
Umfeld des Spät-
kaufs deutlich zu
machen, dass Aus-
beutung in der
Nachbarschaft be-
ginnt und bekämpft
werden muss. Es
gab mehrere Kund-
gebungen und zu-
nehmend reagierten AnwohnerInnen offener. An
diesem Beispiel zeigt sich, dass es möglich ist,
auch in Branchen, die schwer zu organisieren
sind, einen erfolgreichen Arbeitskampf zu führen.
Dazu gehört allerdings der erste Schritt, dass der
Beschäftigte die sozialpartnerschaftliche Ideologie
„Wir sind eine große Familie“ überwinden muss.
Es geht darum zu erkennen, dass es auch in diesen
Arbeitsverhältnissen Interessengegensätze zwi-
schen den KäuferInnen und VerkäuferInnen der
Arbeitskraft gibt, die nicht durch Chefduzen
überwunden werden können. Das ist der erste,
aber wichtigste Schritt, um in diesen Branchen
einen Arbeitskampf zu führen. Es gibt viele Bei-
spiele, die erst einmal bekannt gemacht werden
müssen. Dazu soll das Buch beitragen.
Viele kämpferische Streiks gingen von kleinen
oder Spartengewerkschaften aus, oder von sich
selbst organisierenden ArbeiterInnen. Gleich-
zeitig geht der gewerkschaftliche Organisati-
onsgrad seit Jahren zurück. Was leisten kleine
Gewerkschaften, was die klassischen Massen-
organisationen nicht können?
Sie können Beschäftigte in Bereichen organisie-
ren, die durch das Raster der DGB-
Gewerkschaften fallen. In Branchen, wo es Be-
triebe mit einer Handvoll Beschäftigten gibt, wer-
den die großen Gewerkschaften erst gar nicht ak-
tiv. Natürlich gibt es da mittlerweile gerade im
Bereich von ver.di auch Bewegung. So sind in
Hamburg im ver.di-Fachbereich „besondere
Dienstleistungen“ mittlerweile auch Sexarbeite-
rInnen organisiert. Generell aber gilt: Kleine Ge-
werkschaften sind viel näher an den KollegInnen
dran und es gibt auch bessere Möglichkeiten der
Basisbeteiligung, weil eben nicht ein großer Ge-
werkschaftsapparat vorhanden ist, der im Zweifel
Basisaktivitäten lähmt. Rosa und Johanna von
labournet.tv haben im Buch anschaulich beschrie-
ben, wie sich die oft migrantischen Logistikarbei-
terInnen in Norditalien mit Unterstützung der Ba-
sisgewerkschaft SI Cobas organisierten, erfolgrei-
che Arbeitskämpfe führten und auch ein Unter-
stützerInnenumfeld in der außerparlamentarischen
Linken fanden. Dass sind Prozesse, die Mut und
Inspiration geben. Es ist überhaupt ein Plädoyer,
über den nationalen Tellerrand zu blicken. In vie-
len europäischen Ländern, aber auch in den USA
gibt es interessante Organisierungsversuche von
schwer organisierbaren Beschäftigten. Am Ende
des Buches sind Zeitschriften und Internetprojekte
aufgeführt, die darüber berichten.
Der Untertitel – „Arbeitskämpfe nach dem
Ende der Fabriken“ – verweist auf einen ande-
ren Trend: In den Hochlohnländern nehmen
die Betriebsgrößen ab, Arbeitsverhältnisse
werden zunehmend ‚flexibilisiert’. Wie können
sich ArbeiterInnen unter diesen veränderten
Bedingungen wirksam organisieren?
Zunächst mal ist die Flexibilisierung kein Natur-
gesetz, wie oft behauptet wird. Sie ist die Folge
des Machtverlustes der Arbeiterbewegung in den
letzten Jahrzehnten. Schließlich wurden alle Rech-
te von Lohnerhöhungen bis zur Begrenzung der
Arbeitszeit etc. durch die Arbeiterbewegung er-
kämpft und waren kein Geschenk von Staat und
Wirtschaft. Allerdings haben die sozialpartner-
schaftlichen Gewerkschaften einen gewichtigen
Anteil daran, dass diese Erkenntnis verloren ging.
Es gibt natürlich kein Patentrezept, wie sich Kol-
legInnen organisieren sollen. Wichtig ist, dass sie
selber ihre Interessen aktiv wahrnehmen, sich un-
tereinander austauschen, beratschlagen, Forderun-
gen aufstellen und sie dann auch öffentlich durch-
setzen. Das ist nicht so viel anders als in der alten
Arbeiterbewegung. Denn damals wurde ebenfalls
unter extrem prekären und flexiblen Arbeitsver-
hältnissen gearbeitet und auch dagegen gekämpft.
Im Care-Bereich sind Streiks oft besonders
schwer zu vermitteln – die von der Arbeitsnie-
derlegung Betroffenen sind oft von den er-
brachten Dienstleistungen in hohem Maße ab-
hängig. Siehst du den jüngsten KiTa-Streik in
dieser Hinsicht als erfolgreiches Modell? Lässt
sich dies auf z.B. den Pflegebereich mit seinen
notorisch schlechten Arbeitsbedingungen über-
tragen?
Viele der neuen Arbeitskämpfe werden im Dienst-
leistungsbereich geführt, in denen vor allem Frau-
en oft zu niedrigeren Löhnen als Männer beschäf-
tigt sind. Das gilt für den KiTa-Bereich ebenso
wie im Gesundheitswesen. Auch im Einzelhandel
waren es vor allem Frauen, die sich gegen ihre
Arbeitsbedingungen organisierten. Die feministi-
sche Sozialwissenschaftlerin Gabriele Winker hat
in ihrem jüngsten Buch „Carerevolution – Schritte
in eine solidarische Gesellschaft“ sehr gut darge-
legt, dass ein wichtiger Teil der neuen
Carerevolution-Bewegung auch gewerkschaftliche
Kämpfe im Sorge-, Gesundheits- und Erziehungs-
bereich sind. Dankenswerterweise hat Alexandra
Wischnewski für unser Streikbuch einen Beitrag
geliefert, der sich mit den Problemen einer solida-
rischen Organisierung von Carearbeit befasst. Ihr
Aufsatz beginnt mit der Frage: „Wer übernimmt
die Versorgung der Kinder und Alten, der Pflege-
oder Assistenzbedürftigen, wenn die Beschäftig-
ten streiken?“ Damit spricht sie eine wichtige Fra-
ge der neuen Arbeitskämpfe an. Gerade Arbeits-
kämpfe im Dienstleistungssektor zeigen nur Wir-
kung, wenn diese Bereiche lahmgelegt werden.
Was bedeutet es aber für berufstätige Frauen,
wenn die KiTa geschlossen ist? Die Organisierung
solidarischer Netzwerke ist auch eine Aufgabe der
Gewerkschaften. Wenn während eines KiTa-
Streiks gewerkschaftliche und feministische Zu-
sammenhänge gemeinsam eine solidarische KiTa
organisieren, wächst so auch die Bereitschaft von
Eltern, sich mit dem Arbeitskampf der KiTa-
Beschäftigten zu solidarisieren. Genauso sollten
bei Arbeitskämpfen im Gesundheitssektor Patien-
tInnen und ihre Angehörigen einbezogen werden.
So wird aus einem Betriebskampf eine gesell-
schaftliche Auseinandersetzung. Heute ist gerade
bei Arbeitskämpfen in Bereichen außerhalb der
großen Fabriken eine gesellschaftliche Solidarisie-
rung notwendig für einen Erfolg. Gleichzeitig
wird dadurch, dass ein
Arbeitskampf aus dem
Betrieb in die Gesell-
schaft getragen wird,
deutlich, dass es um
mehr als eine Lohnerhö-
hung oder eine Arbeits-
zeitverkürzung geht. Es
geht um die
Infragestellung eines
kapitalistischen Systems,
dass die Verwertung und
Ausbeutung der Arbeits-
kraft zur Grundlage hat.
Interview: Robert Schmidt
Termine der Rundreise unter anderem:
Karlsruhe, Di. 15.09.2015, 19.30 Uhr | Viki, Viktoria-str. 12
Mannheim, Do. 17. 09.2015, 20.15 Uhr | wildwest, Alphornstr. 38
UM SICH GREIFENDER UNGEHOR-
SAM
ÜBER DIE STREIKWELLE IN DER TÜRKEI Mit wilden Streiks im Metall- und Automobilsek-
tor kam die Türkei Mitte Mai in die Schlagzeilen
der Wirtschaftsteile auch europäischer Zeitungen.
Einige Artikel berichteten gar von erheblichen
Auswirkungen auf die Produktion, denn die
Streiks dauerten teilweise Wochen und auch die
großen Produktionslinien kamen zeitweilig zum
Stehen. Mögliche Folgen für die Reputation des
Standortes Türkei wurden diskutiert. Derartige
Bewertungen verdeutlichen einmal mehr, dass in
der Türkei Streiks, die ernste Auswirkungen auf
die Produktion haben, eher selten sind. Schwache
Gewerkschaften und disziplinierte ArbeiterInnen
scheinen einen wichtigen Teil der im Übrigen
stark informalisierten Lohnarbeitsverhältnisse
auszumachen. Auch während der Gezi-Revolte
war kein Funke auf die Betriebe übergesprungen
– wo Lohnarbeitende Teil der Bewegung waren,
da waren sie es nach Feierabend. Nur wenige
linke Gewerkschaften riefen zu einem Streiktag
auf, und dies auch erst spät.
Umso mehr überraschten die Streiks, die im Mai
mit einem hohen Maß an Spontaneität und an Or-
ten ausbrachen, die, wie Bursa, zwar industrielle
Zentren, nicht aber Orte primär linker gewerk-
schaftlicher Mobilisierung sind. Dennoch waren
auch diese Streiks nicht die einzigen, die sich al-
lein im laufenden Jahr in der Türkei ereignet ha-
ben. Bereits im Februar hatte es Arbeitsniederle-
gungen in der Metallindustrie gegeben, die
schließlich verboten worden waren. Denn sie hät-
ten in Sektoren stattgefunden, die für die nationale
Sicherheit von Bedeutung seien – so die offizielle
Begründung. Bei allem betrieblichen Unfrieden im
Vorfeld der Parlamentswahlen, der einmal mehr
die Selbstdarstellung von Erdogans AKP als Ver-
treterin des Volkes karikierte, bleibt ungewiss,
inwieweit die Streiks für den Ausgang der Wahl
relevant gewesen sind. Auch die Beziehungen der
kurdischen HDP, die erstmals die Zehn-Prozent-
Hürde nahm und die AKP so um die absolute
Mehrheit brachte, zu Gewerkschaften im All-
gemeinen und ihre Aufmerksamkeit für die jüngs-
ten betrieblichen Kämpfe im Besonderen hätten
stärker sein können.
Axel Gehring (express)
Die Automobilarbeiter der Renault-Fabrik in Bur-
sa, die in der Metallgewerkschaft Türk Metal
Sendikası Mitglieder sind, starteten eine Rebelli-
on, der Funke sprang in andere Fabriken und Re-
gionen über und wuchs. Während einige Streiks
mittlerweile beendet sind, zum Teil sogar erfolg-
reich, halten andere Kämpfe noch an. Die Bewe-
gung ist also noch aktiv, dennoch soll hier ver-
sucht werden, sie zu verstehen und eine Einschät-
zung vorzunehmen. Es folgen daher erste Notizen
und Analysen.
D IR EKT E REPR ÄS EN TATION UN D RECHT AUF
STR EIK
Die Arbeiter haben mit ihrer Rebellion zwei Din-
ge erreicht: ihre direkte Repräsentation und die
Nutzung ihres Streikrechts. Damit wurden zwei
wichtige, radikale Schritte für ihre Autonomie
getan. Durch massenhaften Austritt aus der Ge-
werkschaft Türk-Metal zeigten sie, dass die beste-
hende Vertretungsstruktur, die ein Überbleibsel
des Putsches vom 12. September 19803 darstellt
und zu einem Kontrollapparat der Arbeitgeber
verkommen ist, sie nicht repräsentieren kann.
Durch die Bildung von Arbeiterräten haben sie die
Vertretung ihrer Interessen selbst in die Hand ge-
nommen. Damit haben sie eine historische Orga-
nisierungsform der internationalen Arbeiterbewe-
gung wieder aufleben lassen. Indem sie ihre Be-
triebe nicht verließen und die Produktion zum
Stillstand brachten, setzten sie das Recht auf
Streik, dessen Wahrnehmung durch die Arbeitsge-
setzgebung erschwert und durch die von der Re-
gierung im Februar verhängte sechzigtägige Aus-
setzungsfrist faktisch aufgehoben wurde, wieder
in Kraft. Im Resultat erreichten die Metallarbeiter,
dass das zwischen der Gewerkschaft Türk-Metal,
dem Arbeitgeberverband MESS (Gewerkschaft
der Industriellen für Metallwaren) und den übri-
gen, nicht im Arbeitgeberverband organisierten
Unternehmern aufgeführte Tarifverhandlungsthea-
ter, dessen Regeln noch vom Putschregime ge-
schrieben wurden, beendet wurde. Indem sie Räte
bildeten, haben sie eine direkte Interessenvertre-
tung hergestellt und die Wahrnehmung des Streik-
rechts ohne Schranken und Verbote erreicht. Sie
besannen sich auf den Kern ihrer Interessen und
erinnerten daran, dass die Aktion Vorrang gegen-
über dem Recht hat.
Aufmerksame BeobachterInnen wird diese Ent-
wicklung nicht unbedingt verwundern. Die Arbei-
3 Am 12. September 1980 putschte das Militär und verhäng-
te das Kriegsrecht in der Türkei. Ende 1982 wurde eine von der Junta vorgelegte Verfassung per Volksabstimmung angenommen, die bis heute gültig ist.
terklasse in der Türkei hat seit 1980 eine qualitativ
und quantitativ bemerkenswerte Entwicklung
durchgemacht. Insgesamt haben die Unsicherhei-
ten zugenommen und das Wohlstandsniveau ist
gesunken. Das bestehende Arbeitsregime mit sei-
nen überkommenen Regeln aus der Zeit des Put-
sches konnte die »friedliche« Fortführung des
Systems industrieller Beziehungen nicht mehr
gewährleisten. Der Rahmen des Regimes wurde
immer öfter gesprengt. Die Metallarbeiter haben
der objektiven Sackgasse, in der das Regime
steckte, nun die subjektive Tat – ihren Kollektiv-
willen – hinzugefügt und den Rahmen endgültig
gesprengt. Ereignisse wie der Tekel-Widerstand,
mit dem sich die ArbeiterInnen ebenfalls außer-
halb der gewerkschaftlichen Organisierung gegen
ihre Prekarisierung in Folge von Privatisierung
stemmten, Streiks der Angestellten im öffentli-
chen Dienst, die Aktionen der Birleşik Metal-İş
(Vereinte Metallarbeitsgewerkschaft) gegen Aus-
setzungen des Streikrechts, bildeten einen neuen
Standard für die Arbeiterbewegung. Überall im
Land ist es zu Eruptionen gekommen, die an Kraft
gewannen. Die Massenarbeitsniederlegungen in
den Ziegelwerken in Diyarbakır, den Schuhfabri-
ken in Adana, den Stickereien in Merter, den Tex-
tilfabriken in Gaziantep und der Boydak-
Möbelfabrik in Kayseri sind dafür nur einige Bei-
spiele.
GEFÜGI GE GEW ERK SCHAFT EN , S CHW ACHE
L INKE
Das wichtigste Merkmal dieser Situation ist zwei-
fellos, dass die Gewerkschaften, die sich seit etwa
30 Jahren im Rahmen der Legalität verfangen
haben, nicht die treibenden Kräfte der Kämpfe
darstellen. Die Gewerkschaften müssen ihre Pra-
xis dem Kurs der Kämpfe anpassen oder mit ähn-
lichen Reaktionen der ArbeiterInnen rechnen, die
ihre Legitimität weiter untergraben wird. Beson-
ders mit den Folgen der Krise im Jahr 2008, den
seither nicht kompensierten Reallohnverlusten,
dem gestiegenen Druck an den Arbeitsplätzen, der
Verdichtung der Arbeit und der Erhöhung der
Arbeitszeiten ist es zunehmend schwieriger für die
ArbeiterInnen geworden, sowohl den bestehenden
restriktiven Rahmen als auch Gewerkschaften zu
akzeptieren, die sie in ihren Kämpfen nicht unter-
stützen, im Gegenteil, ihren Widerstandswillen
absorbieren und passivieren. Es wird schwieriger
werden, eine junge, gebildete Arbeiterklasse, die
hohe Erwartungen hegt und in der
intensiven Nutzung von Kommu-
nikationsmitteln erprobt ist, unter
Kontrolle zu behalten.
Für die türkische Metallindustrie ist die Rede von
einem System, das den Arbeitsprozess neben einer
Mischung aus Konsens und Zwang durch Ge-
werkschaften reguliert, die sich im Einklang mit
den Bedürfnissen des Kapitals bewegen. Einige
wissenschaftliche Publikationen haben die Her-
ausforderung der in den Produktionsprozessen
hergestellten Hegemonie durch alltägliche Wider-
stände der ArbeiterInnen bereits wiederholt the-
matisiert. Überliefert wurde dabei, dass unter der
sichtbaren Oberfläche einer fügsamen Arbeiter-
schaft kontinuierlich ein verdeckter Widerstand
junger ArbeiterInnen stattfindet. Neben dieser
Feststellung wurde auf die autokratische Verfasst-
heit der Gewerkschaft Türk-Metal hingewiesen
und betont, dass die ArbeiterInnen diese Interes-
senvertretung ablehnen und dass sie sich bereits in
früheren Auseinandersetzungen, wie z.B. im Jahr
1998, entschieden, aber bislang mit wenig Erfolg
gegen diese Gewerkschaft gestellt haben.
Nun sind die Metallarbeiter an einem Punkt ange-
langt, an dem sie sich sowohl der Kontrolle der
Unternehmen als auch der Gewerkschaft entzie-
hen könnten. Hier kommt ein dritter Kontrollme-
chanismus ins Spiel, der sich auf soziale und ideo-
logische Grundlagen stützt. Die Metallarbeiter
sind in Übereinstimmung mit den in ihren Woh-
norten vorwiegenden ideologischen Überzeugun-
gen oft stark nationalistisch und konservativ ge-
prägt. Das hat nicht nur zur Folge, dass sie gegen-
über Autoritäten wie der Polizei, der Gewerk-
schaftsführung oder dem Arbeitgeber gefügig
sind, sondern auch, dass sie distanziert gegenüber
linksorientierten und effektiv kämpfenden Ge-
werkschaften wie der Birleşik Metal-İş sind, die
Mitglied in der Konföderation Revolutionärer
Arbeitergewerkschaften DİSK (zweitgrößter Ge-
werkschaftsdachverband in der Türkei) ist. Es war
die Birleşik Metal-İş, die vor wenigen Jahren bei
dem für die jetzige Rebellion beispielhaften Ar-
beitskampf in der Bosch-Fabrik durchsetzen konn-
te, dass ein relativ guter Tarifvertrag zustande
kam. Trotz aller Verbote setzte sie damals den
Streik als Mittel des Kampfes effektiv gegen den
Arbeitgeberverband MESS ein.4 Dennoch gelingt
4 Der Keim für die heutige Rebellion wurde vor einigen
Jahren ebenfalls in Bursa gelegt. Die Arbeiter der Firma Bosch, die Mitglieder in der Gewerkschaft Türk-Metal wa-ren, kündigten ihre Mitgliedschaft und traten der Vereinten Metallarbeitsgewerkschaft (BMİS) bei. Diese erste militante Massenbewegung wurde von der Türk-Metal aufs Härteste bekämpft. Die ArbeiterInnen wurden zudem vom Ministeri-um für Arbeit und den Arbeitgebern unter Druck gesetzt, einigen wurde gekündigt und die Übriggebliebenen muss-ten zu Türk-Metal zurückkehren. Doch diese Bewegung
Der linke Gewerkschaftsverband DİSK.
es ihr aufgrund der gegebenen sozialen und ideo-
logischen Verfasstheit der ArbeiterInnen nicht,
deren Gunst zu gewinnen. Dieser Tatbestand stellt
eines der wichtigsten Kennzeichen der aktuellen
Arbeiterbewegung dar. So besteht der Unterschied
zu globalen Erfahrungen und unseren Erfahrungen
zwischen 1960 und 1980 darin, dass wir es heute
mit einer Bewegung zu tun haben, die nur sehr
marginal linke politische Kennzeichen trägt. Dies
beeinträchtigt die Fähigkeit, als Klasse zu handeln
enorm und muss auf alle Fälle überwunden wer-
den.
STR EIKW ELLEN I N DER AUTOMOBI LIN DUS TRI E
Die Rebellion der MetallarbeiterInnen verfügt
über eine globale Dimension. Beverly Silver erör-
tert in ihrem Hauptwerk, wie in den USA der
1930er-Jahre eine militante Bewegung der Auto-
mobilarbeiter entstand, die sich 1960 über Europa
ausdehnte, in den 70er und 80er-Jahren Anschluss
in Brasilien fand und sogar nach Südafrika und
Südkorea übersprang. Überall, so Silver, provo-
zierten militante Arbeiterbewegungen ähnliche
Reaktionen des Kapitals – und dies sei einer der
Gründe für die Verlagerung von Produktionsstät-
ten in der Automobilindustrie. Die Widerstands-
welle der Automobilarbeiter begünstigte die Bil-
dung autonomer Gewerkschaften, diskreditierte
»verantwortungsbewusstes« gewerkschaftliches
Handeln im Sinne der Unternehmen und hat sogar
eine beschleunigende Wirkung auf den Übergang
zur Demokratie (in Brasilien) und die Befreiung
von der Apartheid (in Südafrika) entfaltet.
Für die Türkei kann gesagt werden, dass sich die
militante Bewegung der Automobilarbeiter in den
1970ern unter der Führung von Maden-İş (Ge-
werkschaft für Bergbau) entwickelte, durch den
Putsch von 1980 unterbrochen wurde, 1998 dann
mit der Rebellion der ArbeiterInnen gegen ihre
unternehmernahe Gewerkschaft Türk-Metal er-
neut Fahrt aufnahm und schließlich, mit Höhen
und Tiefen, ihre heutige Form angenommen hat.
Nun ist es auch möglich, die heutige Rebellion im
Rahmen der anhaltenden globalen ökonomischen
Krise als absehbares Resultat der Strategie der
Automobilkonzerne anzusehen, die ihre über den
gesamten Globus verteilten Standorte in Konkur-
renz zueinander setzen, um die Produktionskosten
zu senken. Während Silver die nächste Wider-
standswelle für China und Mexiko erwartete, kris-
tallisierte sie sich de facto in der Türkei heraus.
Die Erklärung von Renault, die Produktion zu
hatte auch zur Folge, dass Türk-Metal einen neuen Tarifver-trag vereinbaren musste, um nicht einen Großteil der Ar-beiter zu verlieren.
verlagern, wenn der Streik anhalte, ist ein Zeichen
dafür, dass die Manager die Widerstände, wie
auch schon bei vergangenen Widerstandswellen,
mit Standortverlagerungen kontern möchten.
Kurzum: Historisch und global betrachtet gibt es
einige auffällige Ähnlichkeiten.
KRIS TAL LI SATIONS PUN KTE VON AR BEIT S -
KÄMP FEN
Der erste, in den letzten Jahren besonders aktive
Strang der Arbeiterbewegung in der Türkei be-
stand aus Beschäftigten staatlicher Betriebe, die
von Privatisierungen betroffen waren und sich
gegen deren Folgen zur Wehr setzten. Der Wider-
stand bei Tekel (dem privatisierten Monopolun-
ternehmen für Alkohol und Zigaretten) und der
langjährige Widerstand der ArbeiterInnen gegen
die Privatisierung des Kohlekraftwerkes in
Yatağan (Ägäis) gehören zu den herausragenden
Arbeitskämpfen in diesem Sektor. Getragen wur-
den dieser Widerstand hauptsächlich von Arbeite-
rInnen staatlicher Unternehmen, deren relativ pri-
vilegierter, weil mit umfassenden Sicherheiten
und Rechten ausgestatteter Status sich insgesamt
in Auflösung befand. Obgleich diese Kämpfe auch
auf starke Initiativen an der Basis zurückgingen,
wurden sie maßgeblich von etablierten Gewerk-
schaften gelenkt. Sie waren Beispiele dafür, wie
eine Radikalisierung sich in disziplinierter Form
in gewerkschaftlichen Kanälen bewegt – und sie
waren eine letzte und daher radikale Antwort auf
den langen Privatisierungsprozess. Zwar motivier-
ten diese Kämpfe die Arbeiterbewegung und die
gesellschaftliche Opposition und bereicherten sie
mit ihrer Widerstandskultur, doch blieb der inspi-
rierende Effekt aufgrund des sich insgesamt in
Auflösung befindlichen Status dieser ArbeiterIn-
nen begrenzt.
Der zweite Strang besteht allgemein formuliert
aus ArbeiterInnen, die wir als Prekarisierte be-
zeichnen würden: TagelöhnerInnen, Leiharbeite-
rInnen, flexibilisierte ArbeiterInnen in
fordistischen, paternalistisch geführten Fabriken
überwiegend in ruralen Regionen. Den Streik be-
ziehungsweise den Widerstand der Leiharbeite-
rInnen im Energie- und Gesundheitssektor, die
Massenarbeitsniederlegung der Textil- oder Ziege-
leibeschäftigten in Gaziantep und Diyarbakır oder
die spontanen und kurzlebigen Widerstände der
Bauarbeiter kann man hierunter zählen. In diesem
sehr heterogenen und dynamischen Bereich, in
dem sich auch einige politische AktivistInnen en-
gagieren, wird sich sicherlich noch viel tun, mög-
licherweise bildet sich hier etwas, aus dem in Zu-
kunft eine stärkere Organisierung erwächst.
Antonio Gramsci (1891-1937), ital. Kommunist. Ist in der heutigen Lin-ken sehr beliebt.
Die Metallarbeiter haben heute einen dritten Weg
geebnet. Dieser in letzter Zeit vergleichsweise
statische, bewegungslose Teil der Arbeiterklasse
ist mit der jetzigen Rebellion zu einer motivieren-
den, antreibenden Kraft geworden. Die Bewegung
der Automobilarbeiter, die den Typus des
fordistischen Arbeiters und einen gewerkschaftli-
chen Prototyp des 20. Jahrhunderts darstellen,
zeigt, dass auch aus hoffnungslos erscheinenden
Fällen unerwartet eine Dynamik entstehen kann.
Trotz ihrer vergleichsweise guten Bezahlung, aber
konfrontiert mit sinkenden Reallöhnen, mit einer
außergewöhnlichen Arbeitsverdichtung und einer
Gewerkschaft, die zum Kontrollorgan verkommen
ist, haben sie sich erhoben und eine Dynamik her-
vorgebracht, die die zentralen Anliegen der ge-
samten Arbeiterklasse umfasst.
Für den ersten Strang war der primäre Ansprech-
partner die Regierung. Für den zweiten Strang, die
Prekären, besteht der Kampf oft schon darin, ein
verantwortliches Gegenüber ausfindig zu machen,
und/oder dieses Gegenüber an einen Verhand-
lungstisch zu bringen. Für den dritten Strang der
Arbeiterbewegung, die Metallarbeiter, ist der erste
Ansprechpartner die Gewerkschaft. Hier zeigt sich
nun ein wesentliches Problem aktueller Arbeitsbe-
ziehungen in der Türkei: Die überkommenen ge-
werkschaftlichen Formen müssen überwunden
werden, damit die ArbeiterInnenbewegung in der
Türkei an Fahrt gewinnen kann.
REFO R MIER UN G DER ARBEIT ER BEW EGUN G
Die von den MetallarbeiterInnen gegründeten Rä-
te sind beachtenswert und stellen einen histori-
schen Gewinn dar. Antonio Gramsci unterstrich,
dass die Räte die Gesetzeskonformität im Bereich
industrieller Beziehungen zurückweisen, und in
unserem Fall passiert genau das. Wiederum nach
Gramsci repräsentieren die Gewerkschaften eben
jene Konformität und versuchen, ihre Mitglieder
an die Gesetze zu binden. Denn die Gewerkschaf-
ten müssen sich gegenüber dem Arbeitgeber ver-
antworten. An dieser Stelle entwickelte Gramsci
einen kritischen Vorschlag im Hinblick auf das
Verhältnis zwischen diesen beiden organisatori-
schen Modellen, der darauf zielt, den spontan ge-
wachsenen Räten die Permanenz von Gewerk-
schaften zu geben und den Bürokratismus der
Gewerkschaften aufzuheben: »Die Beziehungen
zwischen den beiden Institutionen müssen so or-
ganisiert werden, dass die Arbeiterklasse durch
die spontanen Impulse der Räte nicht zurückge-
worfen wird oder eine Niederlage erfährt. Mit an-
deren Worten, die Räte müssen die Disziplin der
Gewerkschaft verinnerlichen. Die revolutionäre
Identität des Rates muss so konzipiert werden,
dass er gegenüber der Gewerkschaft einen starken
Einfluss hat und die Bürokratie und den Bürokra-
tismus der Gewerkschaft aufhebt.«
Vor dem Hintergrund die-
ses Vorschlags von
Gramsci haben wir die
Einschätzung, dass die
Metallarbeiter ihre beste-
henden Räte stärken, auf
eine gewerkschaftliche
Organisierung jedoch
nicht verzichten sollten.
Doch das läuft auf ein
Verständnis von Ge-
werkschaft hinaus, das
die Arbeiter nicht auf
Mitglieder reduziert
und nicht die Auflö-
sung der Arbeiterräte vorantreibt. Die entschiede-
ne und mutige Rebellion der Metallarbeiter hat
grundlegende Erfahrungen für eine energische
Organisierung an der Basis ermöglicht. Ein ge-
werkschaftliches Verständnis, das diese Erfahrun-
gen produktiv weiterführt, gilt es zu entwickeln.
So müssen für eine aufstrebende Arbeiterbewe-
gung drei Hauptsäulen gebildet werden: Eine gut
funktionierende, partizipative gewerkschaftliche
Struktur; Räte, die eine starke Initiative an der
Basis ermöglichen; und im Hintergrund eine
linksorientierte Politik, die die hegemonialen Ka-
pazitäten der Arbeiterklasse erhöht. Wie sagte
Etienne Balibar einst: »Es wird immer eine Zeit
für die Arbeiterbewegung kommen, in der sie sich
gegen die bestehenden Organisierungsformen und
-praktiken neu formieren muss«. Die Arbeiterbe-
wegung in der Türkei erlebt genau diesen Mo-
ment. Es ist an der Zeit, die Solidarität, die Ideen
und die Erfahrungen zu vervielfältigen.
Hakan Kocak arbeitet an der Universität Kocaeli,
Fachbereich Arbeitsbeziehungen, und ist ehemali-
ger Mitarbeiter der Gewerkschaft Petrol-İş
Übersetzung: Fitnat Tezerdi und Errol Babacan
Macher*innen dieser Zeitung sind organisiert in der Anarchistischen Initiative Kaiserslautern (anarchisti-sche-initiative-kl.blogspot.de). Bei Fragen kann man sich an diese per Mail wenden ([email protected]).
Wir sind organisiert im Anarchistischen Netzwerk Südwest* (a-netz.org) und der Föderation deutsch-sprachiger Anarchist*innen (fda-ifa.org).
Empfehlung: Das Lower Class Magazine zur Repression der Türkei gegen die kurdische Freiheitsbewegung: http://lowerclassmag.com/2015/07/krieg-fuer-machterhalt/