Massenkommunikation Ein erster Einblick! Pluschkowitz, 23.5.2012.
Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle · McLuhan (1911 -1980), die Menschen lebten...
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Autor: Kübler, Hans-Dieter.
Titel: Medien- und Massenkommunikation: Begriffe und Modelle.
Quelle: Hans-Dieter Kübler: Kommunikation und Medien. Eine Einführung. Münster 2003.
S. 91-129.
Verlag: LIT Verlag.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags.
Hans-Dieter Kübler
Medien- und Massenkommunikation:Begriffe und Modelle
Inhaltsverzeichnis
1. Digitale Revolution und “Informationsgesellschaft”.......................................................2
2. Ein kurzer Abriss der Mediengeschichte.......................................................................5
3. ‘Neue Medien’ – neue Schlagwörter...........................................................................14
4. Diverse Medienbegriffe...............................................................................................17
4.1. Der universale Medienbegriff...............................................................................17
4.2. Der elementare Medienbegriff.............................................................................19
4.3. Der technische (oder technologische) Medienbegriff..........................................20
4.4. Der kommunikations- und organisationssoziologische Medienbegriff................22
4.5. Der kommunikativ-funktionale Medienbegriff......................................................23
4.6. Der systemische Medienbegriff...........................................................................24
5. Ende der Massenkommunikation?..............................................................................25
6. Typen medialer Kommunikation..................................................................................29
7. Von der Öffentlichkeit zur ‘audience polarization’?.....................................................32
8. Definitionen und Dimensionen von Massenkommunikation.......................................37
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8.1. Das bewährte Modell der Massenkommunikation Gerhard Maletzkes...............37
8.2. Eine Weiterentwicklung: das “Modell elektronisch mediatisierter
Gemeinschaftskommunikation”...................................................................................40
8.3. Eine aktuelle Definition für mediale Kommunikation...........................................42
9. Objektivität, Universalität, Aktualität, Periodizität: Wie angemessen sind heute noch
die klassischen publizistischen Kriterien?.......................................................................451. Digitale Revolution und “Informationsgesellschaft”
Industriegesellschaften wie die unsrige – so wird in zahlreichen Diagnosen und
Zukunftsentwürfen immer wieder betont – befinden sich in einem gravierenden Umbruch,
wandeln sich – nach derzeit gängigen Schlagwörtern – in “Medien”-, “Informations-”
und/oder “Wissensgesellschaften”: Dabei bleibt meist unentschieden, ob diese
Entwicklung – im Sinne eines historischen Evolutionsmodell – als generelle Optimierung
und Steigerung, also als Fortschritt zu werten ist oder ob es sich um eine offene
Transformation mit Chancen, aber auch Risiken und Nachteilen, zumindest für bestimmte
Regionen in der Welt und für bestimmte soziale Gruppen handelt. Hervorgerufen werde
dieser Wandel durch die immensen Potenziale der Informations- und
Kommunikationstechnologien, die am Ende des 20. Jahrhunderts zu Schlüsselindustrien
avancieren, nicht nur Information, Kommunikation und Verkehr gründlich umwälzen,
sondern selbst zu mächtigen Faktoren für Produktion und Wertschöpfung werden. Schon
scheint die Informations- und Kommunikationsbranche die bislang führende
Automobilindustrie im Umsatz überrundet zu haben, und immer mehr Menschen arbeiten
in den so genannten tertiären bzw. quartären Sektoren der hochentwickelten
Volkswirtschaften, in Dienstleistungs-, Medien- und Informationsbranchen (Bell 1985;
Steinbicker 2001; Castells 2001; 2002; 2003).
Von den westlichen Industrienationen aus werden Information, Kommunikation, Verkehr
und Wissensproduktion, Innovation und Medien weltweit organisiert und betrieben, eben
globalisiert, so dass sich die Visionen des kanadischen Medienphilosophen Marshall
McLuhan (1911 -1980), die Menschen lebten künftig in einem “globalen Dorf”, zumindest
technisch einlösen. Dass sich diese Dorfgemeinschaft in ihrer sozialen Konstellation und
in ihrem praktischen Handeln angesichts drückender, sich ständig verschärfender
Ungleichheiten und Benachteiligungen, angesichts offenbar unabwendbarer Krisen und
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Konflikte, angesichts aggressiver werdender fundamentalistischer Strömungen und sogar
militanten Widerstands gegen die hegemoniale amerikanisch-europäische, ‘weiße’
Lebensweise kaum verwirklichen dürfte und die relevanten Zonen eher heterogenen,
anonymen und risikoreichen ‘cities’ gleichen, scheint dem – zumindest verbalen – Ideal
des digitalen Dorfes keinen Abbruch zu tun (Huntington 1996).
Zentraler technischer Antrieb dieses Wandels ist zum einen die Digitalisierung, d. h. die
rasche und letztlich totale Umwandlung aller Informations- und Kommunikationsprozesse
in computertaugliche Codes und Formate, zum anderen die globale Vernetzung via
Satelliten und Internet, womit die um den Globus zirkulierenden Daten blitzschnell
verbreitet, gespeichert und bearbeitet werden. Räumliche Entfernungen werden
tendenziell aufgehoben, und auch zeitliche Verzögerungen schrumpfen auf Bruchteile, die
“Transportmetapher” (Meckel 2001, 26) habe ausgedient; der utopische Traum, dass jede
(r) mit jeder (m) auf dieser Welt verbunden ist und in Kontakt treten kann, dass
Informationen unbegrenzt verfügbar und mindestens symbolischer Austausch unbegrenzt
und mit nur minimalen Kosten jederzeit und überall hin möglich sind, könnte wahr werden.
Die bislang noch getrennten, sich aber über den digitalen Modus angleichenden
Techniken der Mikroelektronik, der Telekommunikation, der Netzwerke und des
Rundfunks konvergieren zu Multimedia – wie das Schlagwort dafür heißt –, ohne dass
deren künftige materielle und mediale Optionen alle schon erkennbar sind. Möglich wird
jedenfalls die Aufhebung der Einseitigkeit, wie sie für die etablierte Massenkommunikation
vom Sender zum Empfänger charakteristisch ist, möglich wird also Interaktivität, die
ähnlich wie bei der personalen Kommunikation jeden Teilnehmer technisch
gleichberechtigt kommunizieren lässt. Möglich wird auch die vielfältige Kombination aller
denkbaren Zeichensysteme, also von Schriften, Grafiken, Tönen, statischen und
bewegten Bildern, und deren je individuelle Komposition in so genannten Hybridmodi und
-medien, so dass professionell produzierte Programme nur noch Optionen darstellen, die
auf Bedarf abgerufen, aber auch jeweils verändert werden können.
Dadurch dürften sich ebenso überkommene Besitz- und Produktionsstrukturen in der
Medienbranche allmählich verändern: Ältere Produktionsformen wie traditionelle
Buchverlage und -handlungen mögen an Umsatz und kulturellem Gewicht verlieren, da
Gedrucktes verdrängt und schriftliche Informationen über elektronische Netze angeboten
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bzw. kommuniziert werden. Auch der professionelle Journalismus wandelt sich, löst sich
zumindest in vielerlei Facetten auf, so dass angestammte Ressorts und Redaktionen
erodieren (Weischenberg u. a. 1994; Altmeppen u. a. 2000). Mit ihnen konkurrieren
Konzepte und Produktionen elektronischer Software, und zwar sowohl als fixierte
Programme wie auch als in den Netzen flottierende Anwendungs- und
Navigationssoftware, um die immensen Datenmassen zu handhaben und aufzuspüren.
Auch sämtliche Formen informatorischer Dienstleistung bis hin zu Public Relations und
Werbung verzeichnen Verschiebungen in ihren Formaten und wechselnde
Wachstumsraten. Schließlich nehmen Optionen zu, ganze Wirklichkeitsbereiche
multimedial zu reproduzieren, zu simulieren bzw. zu virtualisieren, so dass sie nicht mehr
unmittelbar erfahren werden müssen, und elektronische Vergegenwärtigungen oder
Entwürfe von ihnen vielfach faszinierender, womöglich sogar echter erscheinen als die
realen Vorlagen. In unzähligen Computerspielen werden diese virtuellen Welten
(“cyberspaces”) paradigmatisch vervollkommnet, aber auch in der Industrie, im Design,
der Architektur, dem Städtebau, in der Kosmetik (bis hin zum Friseur), der Medizin und in
Konsumbereichen (wie Möbel, Schneidereien etc.) werden sie zunehmend eingesetzt.
In abstrakten Termini gesprochen, multiplizieren, vernetzen und durchdringen sich die
Medien, ihre Funktionsweisen werden vielfältiger und hybrid auf digitaler Basis, sie
reichen in alle gesellschaftlichen und alltäglichen Bereiche hinein, verändern und/oder
übernehmen Aufgaben und Tätigkeiten. Diese werden immer weniger direkt, materiell und
zwischen Menschen erledigt, sondern mediatisiert durch technische Lösungen und
medialisiert durch elektronische Repräsentationen, und unter den obwaltenden
ökonomischen Konstellationen werden damit sowohl diese Tätigkeiten rationalisiert,
beschleunigt und intensiviert, als auch neue Produkte erzeugt und neue Märkte
erschlossen werden. Die Programme bzw. die Software dafür werden zugleich universell
wie individuell, sie sind jeweils flexibel zu modellieren und zu handhaben, damit passende
Lösungen möglich werden. Dass bei solch einschneidendem Wandel die kuranten
Begriffe nicht mehr allgemein und überzeugend auf Dauer festgeschrieben werden
können bzw. jeweils neue erprobt oder ältere mit neuen Inhalten ventiliert werden,
versteht sich. Dadurch verlieren auch bislang anerkannte Fachtermini und Modelle an
Gültigkeit und Relevanz, so dass manche von ihnen nur noch unter Vorbehalt und nicht
mehr mit uneingeschränkter Nachhaltigkeit anzusehen sind. Schon ein Reflex darauf ist,
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dass sich nicht mehr unbeirrt von “Massenkommunikation” sprechen lässt, sondern
inzwischen breitere und weniger belastetere Begriffe wie “Medienkommunikation” oder
“mediale Kommunikation” vorgezogen werden (Krotz 1995; Kübler 2000a).
2. Ein kurzer Abriss der Mediengeschichte
Bei soviel Zukunftsgewandtheit und auch -unsicherheit empfiehlt es sich, sich knapp
mediengeschichtlicher Marksteine zu versichern, um sowohl relevante Veränderungen
erkennen zu können als auch historische Kontinuitäten festzuhalten und aus beiden
Perspektiven theoretische wie begriffliche Orientierungen zu gewinnen. Denn
“paradoxerweise bleibt die Vergangenheit das nützlichste analytische Werkzeug für die
Bewältigung eines konstanten Wandels” (Hobsbawm 2001, 35). Rückblickend werden
inzwischen mindestens drei große Phasen der Mediengeschichte angesetzt, die
insgesamt die immense Beschleunigung, Verdichtung und Vervielfältigung der
Medienentwicklung erkennen lassen:
Mit der Erfindung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts beginnt die erste
Phase der Mediengeschichte (sofern der Mediengriff eine technische Komponente
berücksichtigt und nicht universell verstanden wird). Gutenbergs Erfindungen bewirken die
Mechanisierung der Schriftproduktion durch die Herstellung, den Guss wieder
verwendbarer, “beweglicher” Lettern, der Druckerschwärze sowie der Verwirklichung in
der Setzerei; sie setzt aber auch die Produktion neuen Trägermaterials, des Papiers,
voraus, beschleunigt die mechanische Vervielfältigung durch die Druckerpresse und lässt
erste professionelle Medienproduzenten (Drucker, Setzer, Binder, Verleger) entstehen.
Ihre Genialität liegt also weniger in einer technischen Erfindung als in der Kombination
und zweckorientierten Ausrichtung verschiedener Techniken, die teilweise schon bekannt
sind, um das Ziel und den Bedarf einer rekursiven Reproduktionsweise, der
Mechanisierung und Verbreitung der Schrift, zu erfüllen. Außerdem begünstigt sie die
weitere Herausbildung spezieller, allmählich anerkannter Wort- und Schriftproduzenten,
der Autoren und Journalisten. Ferner etablieren sich vielfältige Distributionswege
(Messen, Buchverkauf, Kolporteure) und textliche Diversifizierungsformen der zunächst
aufwendig herzustellenden Druckmedien (Buch und seine Gattungen, Flugblatt, Kalender,
Heft, Zeitung, Zeitschrift etc.).
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Entlang den Verkehrswegen entstehen vergleichsweise rasch weitere Druckereien,
gewissermaßen werden sie die ersten Nachrichtenstationen. Auf Messen – etwa in
Frankfurt/M. später in Leipzig – werden die Drucke fassweise feilgeboten, Kolporteure
tragen sie im Bauchladen durch die Lande, die `aktuellen', rasch verderblichen
Geschichten werden als Flugblatt, Spruchbild, Heft, Kalender und andere Gebrauchstexte
verhökert und dem leseunkundigen Publikum vorgelesen. Aus ihnen entwickeln sich
allmählich die periodischen Druckmedien, in der ersten Dekade des 17. Jahrhunderts die
ersten Zeitungen (dokumentiert ab 1609 in Wolfenbüttel (Aviso) und in Straßburg
(Relation), ab 1650 die Einkommenden Zeitungen als erste Tageszeitung in Leipzig).
Etwa 60 bis 70 Zeitungen gibt es im deutschsprachigen Raum, mit einer geschätzten
Gesamtauflage von 20.000 bis 30.000 Exemplaren pro Erscheinungsintervall und einer
hochgerechneten Leserschaft von 200.000 bis 300.000 Menschen. Zeitschriften, gelehrte
wie populäre, kommen vorzugsweise im 18. Jahrhundert hinzu und verkörpern Ansporn
und Geist der Aufklärung, den Aufbruch der Wissenschaften wie die Herausbildung des
Bürgertums als nunmehr selbstbewusste, tonangebende Klasse. Verbreitung und
Rezeption befördern Qualifizierungen (allmähliche Verbreitung der Lesefähigkeit,
Bildungsanstrengungen) und Profilierung des Publikums sowie einzelner Gruppen in ihm
wie der Frauen, der ‘niederen Stände’ und der Jugend; sie regen auch zu neuen
Gesellungsformen, in den Lesegesellschaften und bürgerlichen Salons, an (Hunziker
1988, 5; Wilke 2000a).
Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich die zweite Phase der Medienentwicklung markieren;
es beginnt die Phase der Massenmedien: zunächst mit der Rationalisierung der
Produktion von Druckmedien durch Schnell- (seit 1811) und Rotationspresse (seit 1848)
und der automatischen Zeilensetzmaschine Ottmar Mergenthalers (1854-1899), der
Linotype, seit 1883. Es folgen erstmals ‘neue Medien’, die weitere Kommunikationsformen
ermöglichen und die vorhandenen diversifizieren: Die Fotografie erlaubt seit Ende der
1830er Jahre die mechanische Reproduktion von Wirklichkeit in Bildern, bald nach Beginn
des 20. Jahrhunderts lassen sie sich auch im massenhaften Druck reproduzieren, und es
entstehen Pressefotografie und Fotojournalismus (“Illustrierte”). Die Telegrafie (durch
Samuel Morse seit 1840) beschleunigt und verdichtet seit Mitte des 19. Jahrhunderts die
Nachrichtenübermittlung und erzeugt die Vorstellung wie den Anspruch von Aktualität und
den weltumspannenden Informationsaustausch. Ein Markt für Nachrichten formiert sich
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allmählich, den sich Nachrichtenagenturen wie Reuters (England), Havas (Frankreich)
und das Wolff’sche Telegrafenbüro (Deutschland) um 1870 oligopolistisch aufteilen und
so erstmals Konturen globaler Nachrichtenkartelle erkennen lassen (Wilke/Rosenberger
1991; Wilke 1993; 2000b; Prokop 2001, 198ff).
Insgesamt werden in den ersten beiden Phasen der Mediengeschichte Daten bzw.
Informationen analog codiert, d. h. sie werden für den Transport, die Speicherung
und/oder für die Präsentation von einem materiellen Zustand in einen anderen verwandelt.
Ende des 19. Jahrhunderts werden die fotografischen Bilder beweglich, der Film entsteht
und bewirkt als bald attraktives, unterhaltsames Massenmedium eine spezielle, sich rasch
monopolisierende Industrie, zunächst in New York, später in Hollywood (Ebd., 240ff).
Zusammen mit der sich rasant entwickelnden und sich beschleunigenden
Zeitungsproduktion formieren sich in Deutschland die ersten Medienkonzerne (z. B.
Hugenberg, Ullstein, Scherl u. a.), die Märkte und Köpfe zu beherrschen trachten. Die
Telegrafie wird (ab 1897 durch Guglielmo Marconi) drahtlos und wandelt sich Anfang der
20er Jahre zum ersten elektromagnetischen Programmmedium, dem Hörfunk. Seit den
1870er Jahren (durch Johann Philipp Reis, 1861, und Alexander Graham Bell, 1876)
lassen sich Laute und Geräusche elektrisch über Leitungen transportieren, das Telefon
wird das erste, sich schnell verbreitende technische Transportmittel für direkte, personale
Kommunikation – wobei allerdings seine spezielle Nutzung nicht gleich feststeht, sondern
sich erst allmählich herausschält (Flichy 1994, 137ff).
Neben den technischen Innovationen wird der private Konsum immer wichtiger.
Endgeräte kommen in die Haushalte, sie dienen der Verbreitung (Emission), Speicherung
wie der adressatenorientierten Gestaltung medialer Botschaften. Der durch die
nationalsozialistische Propagandapolitik forcierte und billig verbreitete “Volksempfänger”
wird zu einem solchen Massenartikel, so dass sich innerhalb von fünf Jahren, von 1934
bis 1939, die Teilnehmerzahlen von fünf auf zehn Millionen verdoppeln. Die Medien bzw.
ihre privaten Endpunkte veralltäglichen sich, sie konstituieren und popularisieren den
Prozess der Massenkommunikation insofern, als über sie die öffentlichen,
professionellen, eben journalistischen Mitteilungen empfangen werden, die den
Rezipienten über das alltägliche Kommunikationsverhalten hinaus keine zusätzlichen
Fähigkeiten abverlangen (Hunziker 1988, 6). Die wachsende Werbung wird zum
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Katalysator zwischen Medienindustrie, -inhalten und Konsum. Die Produktion der Geräte
industrialisiert sich zunehmend und benötigt entsprechend Investitionskapital: Nach dem
Walzenphonographen (1877) von Thomas A. Edison (1847-1931) und der Schellackplatte
(1897) entwickelt sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die
Tonaufzeichnung auf Schallplatte zum ersten populären Musikmarkt, der allerdings erst
mit der Langspielplatte (1947) zur ansprechenden Qualität und erforderlichen Kapazität
gelangt.
Ebenfalls in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts werden die ersten privat nutzbaren
Fotokameras zur Marktreife entwickelt: 1888 die Kodak-Boxkamera, 1895 die Pocket
Kodak Kamera, sie geht als erste in Massenserie; danach folgt die 8-mmFilmkamera (ca.
1926). Für den Audiosektor werden das Tonbandgerät (ca. 1935), der
Tonkassettenrecorder (ca. 1963) verfügbar; sie haben mit C(ompact)D(isc)Recorder (seit
1981) und D(igital)A(udio)T(ape) (seit 1986) ihre digitale Weiterentwicklung erfahren.
Davor noch verbreitet sich seit den frühen 50er Jahren das Fernsehen. Seit 1967 wird es
farbig, und seit Mitte der 80er Jahre lässt es nicht mehr nur über terrestrische
Frequenzen, sondern auch über Kabel und Satellit verbreiten. Dadurch erhöht und
internationalisiert sich sein Kanalangebot erheblich; in Deutschland wird es zudem
privatisiert, so dass die nach 1945 von den Alliierten Siegermächten eingeführte Struktur
des öffentlich-rechtlichen Rundfunks zum “dualen System” transformiert. In dieser Struktur
konkurriert der öffentlich-rechtliche Rundfunk, der nach grundlegenden Urteilen des
Bundesverfassungsgerichts für die “Grundversorgung” unverzichtbar verantwortlich ist
und sich vornehmlich aus Gebühren aller Rundfunkteilnehmer trägt, mit
privatkommerziellen Anbietern, die einen weniger anspruchsvollen und umfassenden
Programmauftrag zu erfüllen haben und sich ausschließlich aus Werbeeinnahmen
finanzieren. Auch für das Fernsehen steht in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts die
digitale Übertragung an, die seit 1996 technisch möglich ist. Seit März 2003 wird seine
Einführung zunächst in Berlin, dann auch anderswo erprobt. Bis 2010 soll es
flächendeckend eingeführt sein. Seine private Reproduktion bewerkstelligen Videotape
bzw. Videokassette, Videorecorder (seit ca. 1967) und Videokamera (seit ca. 1978), die
ebenfalls vor ihrer digitalen Transformation – etwa durch die DVD (digital versatile disc) –
stehen.
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Die dritte Phase der Mediengeschichte lässt sich etwa ab den 1940er Jahren ansetzen:
Aus dem jahrhundertealten Streben der Menschen, mechanisch rechnen, Daten und
Zahlen speichern zu können, entwickeln Pioniergeister wie Alan M. Turing (1912-1954) ab
1936 und Konrad Zuse (1910-1995) ab 1937 die ersten Universalrechner bzw.
Relaiscomputer. 1945 wird mit ENIAC der erste Röhrencomputer gebaut, Mitte der 50er
Jahre entstehen integrierte Schaltkreise in Halbleitertechnik, ab Ende der 60er Jahre
Teleprocessing und Mikroprozessoren. Mit den 70er Jahren beginnt die Revolution des
Personal Computers durch Microsoft (ab 1975) und Apple (ab 1976), in den 80er Jahren
werden die Kapazitäten bis hin zum 486er PC enorm gesteigert. Mit I(ntegrated)S(ervices)
D(igital)N(etwork) steht ab 1985 erstmals ein Leitungsnetz zur Verfügung. In den 90er
Jahre lösen Pentium-Prozessoren die hergebrachten Chip-Rechner ab, und mit dem
Internet steht nun einem ständig wachsenden Publikum ein weltweiter Daten-Highway zur
Verfügung. Vernetzte Computer lösen zunehmend den solitären PC mit Festplatte und
Disketten ab.
Die technische Entwicklung des Internet beginnt Ende der 60er Jahre – und zwar wie bei
den meisten Medien im militärischen Kontext (Kühler 1986; Eurich 1991). Die atomare
Aufrüstung der beiden Supermächte, ihr Wettlauf im Weltall sowie die wachsende
Notwendigkeit eines weltumfassenden Information- und Kommandonetzes lassen das
Pentagon, das amerikanische Verteidigungsministerium, nach einer neuartigen
Vernetzung suchen, die weitgehend vor feindlichen Angriffen schützt und auch noch nach
dem befürchteten atomaren Erstschlag funktionieren würde. Es vergibt dafür an seine
1958 eigens dafür gegründete Unterbehörde – genannt “DAPRA” (Defence Advanced
Research Project Agency) – einen Projektauftrag, die daraufhin bis 1969 das APRANET
entwickelt. Ende 1969 wird Telnet (Telecommunication Network), der erste Vorläufer von
Online-Medien, installiert. Es arbeitet erstmals nach dem neuartigen Client-Service-
Prinzip, wonach jeder Rechner jeden anderen als Terminal benutzen kann. Mit dem
Anfang Juli 1972 entwickelten Programm FTP (File Transfer Protocol) ist es vollends
erreicht, dass zwei Rechner quasi miteinander kooperieren können, ohne dass der eine
zum Terminal des anderen degradiert wird. Damit steht weltweit eine völlig dezentrale,
beliebig kombinierbare Vernetzung zur Verfügung, die zudem die Daten nur
portionsweise, gewissermaßen in kleinen Paketen, übermittelt: das Internet – als
Sammelbegriff für die nun wachsenden diversen Dienste. Ihre Ausschaltung hätte nicht
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mehr durch zentrale Schläge bewerkstelligt werden können. Doch die inzwischen
eingetretene politische Entspannung mit der Beendigung des Kalten Krieges reduziert die
militärischen Bedarfe und ermöglicht zivile Nutzungen. Schon 1971 bedienen sich mehr
als dreißig US-amerikanische Universitäten des APRANET für ihre
Kommunikationszwecke.
Der Durchbruch als privates Online-Medium kommt, als über dieses Netz ebenfalls
Anfang der 70er Jahre elektronische Post (E-Mail) verschickt werden kann. Ab 1983 wird
mit TCP (Transmission Control Programm) die einheitliche Adressierung der Rechner, das
erste “echte Netzvernetzungsprotokoll”, möglich (Winter 2000, 284ff). Ebenfalls im Jahr
1983 gibt das Pentagon das Internet vollends für die zivile Nutzung frei, überall entstehen
lokale Netze, und auch erste kommerzielle Nutzungen werden erprobt. Der gewaltige
Boom verlangt immer weitere Standardisierungen, mit der Einführung des Domain-Name-
Systems und dem eigenen Internet-Protokoll (IP), das mit TCP verkoppelt wird, eröffnen
sich ab 1984 weitere Nutzungsmöglichkeiten von E-Mail und Usenet, über das
Nachrichten getauscht werden können. Sprunghaft steigt nun die Zahl der Hosts – das
sind Rechner mit zentralen Dienstleistungen für alle Netzteilnehmer bzw. für das Netz:
1984 sind es noch um die 1000, 1992 bereits ca. 772.000, die in ca. 17.000 Domains in
4526 Netzwerken aus 42 Ländern in das Internet integriert sind (Ebd., 287). Doch ihre
ausschließliche textbasierte Nutzung ist bis dahin vornehmlich eine Sache für Experten
und Freaks, die sich mit den jeweils erforderlichen Befehlssystemen auskennen. Ab 1992
ändert sich diese Beschränkung grundsätzlich: Das World-Wide-Web (WWW) oder der
WWW-Browser machen das Internet benutzerfreundlich, und diese Instrumente stehen
deswegen heute – zumindest im alltäglichen Verständnis – als Synonym für alle Dienste
des Internet. Die Entwicklung des WWW wird im europäischen Kernforschungszentrum
(CERN) in der Schweiz von einem Forscherteam unter der Leitung von Tim Berners-Lee
vollbracht, das sein Ziel, Computerdaten den Nutzer leichter zugänglich zu machen, mit
dem seit längerem bekannten Konzept nichtlinearer Hyper-Texte verwirklicht. Dafür
müssen zusätzlich zu TCP/IP ein Hyper Text Transfer Protocol (HTTP), eine neue
Seitenbeschreibungssprache Hyper Text Markup Language (HTML) sowie eine neue, auf
dem IP aufbauende Adressierung, ein Universal Resource Locater (URL), entwickelt
werden. Mit ihnen wird eine nichtlineare, individuell optionale Strukturierung von Daten
möglich, die mit einer URL hinterlegt werden und mittels Mausklick anzusteuern und zu
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laden sind. Außerdem lassen sich Verweise oder “Links” individuell nutzen: 1992 wird
deshalb zum Startjahr der breiten und individuellen Internet-Nutzung weltweit, nicht zuletzt
weil in diesem Jahr mit der Gründung der Internet Society (ISOC) eine globale Instanz zur
verantwortliche Koordinierung und Standardisierung tätig werden kann. Sie hat aber
keinerlei Eigentums- oder Interventionsbefugnis.
1993 konstruiert der 22jährige Student Mark Andreessen den WWW Browser, X-Mosaic,
später Netscape genannt. Über seine benutzerfreundliche Bedienungsoberflächen
können nun auch Bildinformationen aus dem Internet abgerufen werden. Seine Nutzung
wird neben E-Mail von den damals schon über zehn Millionen Teilnehmern am häufigsten
wahrgenommen, denn Internet ist nun nicht mehr das Medium für Experten, sondern
verbreitet sich rasant in Beruf und Alltag. 1994 überrunden die kommerziellen Hosts
(.com) die Zahl der wissenschaftlichen (.edu), und ihre Gruppe wächst seither am
schnellsten, so dass die Hosts inzwischen einige zig Millionen zählen. Ebenso haben
WWW-Sites alle anderen Netzdokumente an Zahl und Umfang um das Vielfache
überrundet, so dass das WWW heute als das größte “Massen”-Medium weltweit gelten
kann. Im Jahr 2001 sollen weltweit rund 400 Mio. Menschen über einen Internet-Zugang
verfügt haben, allerdings vorwiegend in westlichen und westlich orientierten Ländern.
Längst ist Netscape nicht mehr der einzige Web-Browser. Sein heftigster Konkurrent ist
seit Ende 1997 der Explorer, den der PC-Monopolist Microsoft technisch verspätet, aber
marktwirksam ins Rennen schickte. Daneben existieren noch etliche kleinere, die ihre
spezielle Leistungsfähigkeit haben. Immens sind die Erwartungen, grandios die
Prognosen, die dem so genannten E-Business, bald als “new economy” gefeiert, mit
diesen universellen, zugleich beliebig spezifizier- und individualisierbaren Online-
Kommunikations- und Interaktionsnetzen zugeschrieben werden: Eine gänzlich neue,
eben nicht mehr materielle, sondern auf immateriellen Datentransfer und
Informationsaustausch beruhende Infrastruktur – und dies zudem weltweit – wird
annonciert, die Wirtschaft, Handel, Politik, Alltag, Konsum und Freizeit grundlegend
umkrempelt.
Am auffälligsten ist dieser Boom inzwischen bei der mobilen Telefonie – vulgo: Handy –
ersichtlich. Nach technischen Vorläufern seit den 50er Jahren schafft den Durchbruch das
digitale zellulare Netz (GSM = Groupe Spécial Mobile, ein Zusammenschluss von
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Telekommunikationsfirmen aus 26 europäischen Ländern) seit Ende der 80er Jahre in
fast 200 Ländern zugleich: 1992 gehen die beiden Konkurrenten D 1 (Telekom) und D 2
(Mannesmann) auf den Markt. Die Zuwachsraten explodieren in wenigen Jahren, so dass
inzwischen bei etwa 40 Mio Teilnehmern eine Sättigung erreicht sein dürfte. Mit dem
neuen Kapazitätsstandard UMTS (Universal Mobile Telecommunications System), deren
Lizenzen die Anbieter in Deutschland für fast 50 Milliarden € vom Staat ersteigern
müssen, sucht die Branche die Integration von Computer, Internet, Video und Telefonie,
mindestens auf dem handlichen Display zu erzielen.
Inzwischen haben etliche dieser Visionen konjunkturelle Dämpfer erlitten; die “new
economy” gilt als gescheitert oder hat sich als zwar nützlicher, aber nicht substituierender
Faktor der Wirtschaft erwiesen, den die “old economy” zur weiteren Expansion,
Fusionierung und Effizienzsteigerung integriert. Mit Daten und Werbung allein lässt sich
wohl auf Dauer keine eigenständige, immense Wertschöpfung betreiben, wie viele
Internet-Anbieter – nicht zuletzt die ‘online’ gegangenen Medienbetreiber selbst –
erfahren müssen. Gleichwohl sind WWW und Internet aus dem gewerblichen wie privaten
Alltag nicht mehr wegzudenken und werden ihre technischen wie kommunikativen
Weiterentwicklungen gewärtigen, wenn auch nicht mehr in der Rasanz und den
gigantischen Ausmaßen, wie ihnen vor wenigen Jahren noch prognostiziert wurde
(Kubicek 1998; Münker/Roesler 1997; 2002).
Aus medientechnischer Sicht besteht weitgehend Einigkeit, dass mit Gutenbergs
Drucktechnik und den daraus folgenden Veränderungen für Schrift, Kommunikation und
Kultur die erste Kommunikationsrevolution erfolgt ist, über deren strukturellen
Auswirkungen seither unentwegt räsoniert wird, nicht zuletzt aus heutiger Sicht, mit Blick
auf die anstehenden Transformationen: nicht nur hinsichtlich der Entstehung des
modernen Literaturmarktes, der Entwicklung der Printmedien und der Verbreitung der
Lesefähigkeit, sondern auch und vor allem hinsichtlich der Herausbildung der
Wissenschaften, von Tradition und der Kultur – etwa der Renaissance der Antike –, der
Formierung des Bürgertums und seiner politischen Forderungen nach Öffentlichkeit und
Demokratie sowie der Entwicklung individuellen Bildung bis hin zu Fähigkeiten der
sequenziellen Wahrnehmung und des logischen Denkens.
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Ob man die Phase ab Mitte des 19. Jahrhunderts bis Mitte des 20. Jahrhunderts, in der
sich die modernen Massenmedien – also Massenzeitung, Kinofilm, Hörfunk und
Fernsehen – formieren und – zusammen mit dem Modell der Massengesellschaft – das
Phänomen der Massenkommunikation, also der technischen, einseitigen, diffusen
Verbreitung professioneller Medienprodukte an ein “disperses” Massenpublikum,
konstituieren, als zweite Kommunikationsrevolution, aufwerten oder eben nur als
technische Weiterentwicklung, mithin als Elektrifizierung, Kombination sowie
optoelektrische Integration von Texten, Tönen und Bildern registrieren will, wird
unterschiedlich beurteilt. Jedenfalls prägt die Massenkommunikation die moderne
Gesellschaft, Kultur und Kunst nachhaltig, erzeugt Standarisierung, transnationale
Uniformität wie neue Ausdrucksformen, lässt die parlamentarische zur Mediendemokratie
mutieren, katapultiert die Medienindustrie mit an die Spitze ökonomischer Wertschöpfung,
bringt eine Vielzahl von Medienberufen hervor und expandiert Werbung zum
omnipräsenten Ferment für Konsum, aber auch für viele anderen Lebensbereiche, vom
Sport bis hin zur Kunst.
Mit der Entwicklung der Mikroelektronik, Telekommunikation und weltweiten Vernetzung
ist die dritte Kommunikationsrevolution voll im Gang. Technisch löst sie die analoge
Übertragung durch die digitale ab, die unbegrenzte Speicherung und Übertragung,
egalitäre Konversion in alle Formate und beliebige Multimedialität, Interaktivität und
permanenten Rollentausch, Echtzeit und Virtualität ermöglicht.
Kommunikationssoziologisch hebt sich die überkommene Dualität von interpersonaler und
Massenkommunikation auf, das Massenpublikum segmentiert nicht nur in spezielle
Zielgruppen, am PC und Internet individualisiert es sich in einzelne User, die ebenso via
E-Mail, Homepages, Chatrooms und Newsgroups kommunizieren wie sie weiterhin
professionelle Produkte rezipieren; als MUDs (Multi User Dungeos) beteiligen sie sich an
(Rollen)Spielen und virtuellen Welten.
Immer kleiner, flexibler, leistungsfähigen und billiger werden die elektronischen Geräte,
bis sie letztlich in andere Geräte integriert oder gar in menschliche Körperteile implantiert
werden: Vom gigantischen Zentralcomputer führt die Entwicklung durch ständig
steigenden Kapazitätszuwachs, gleichzeitige Verkleinerung der Hardware, enorme
Komplexitätssteigerung der Software, durch Preis- und Kostenreduzierung zum isolierten
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PC, dann zu den digitalen Netzen und endlich zur möglichst vollständigen, automatisierten
(“intelligenten”) Schnittstelle bzw. Integration aller Informations- und
Kommunikationsaufgaben durch Multimedia, worin nicht nur PC und Medien konvergent
einbezogen, sondern womit künftig auch weitere ‘informative’ bzw. wissensbasierte
Dienstleistungen bewerkstelligt werden, wie es der Gründer von Microsoft, Bill Gates (u. a.
1995; 1997), in seinen eigenem Haus, mehr noch in seinen Visionen antizipiert.
Immer rasanter vollziehen sich auch Innovationen und Verbreitungen: Brauchte es noch
38 Jahre, bis 50 Mio. Menschen ein Radio-Apparat hatten, 13 Jahre, bis sie über ein
Fernsehgerät verfügten, so dauerte es nur noch drei Jahre, bis es 50 Mio. Internet-Nutzer
gab. Dennoch existieren die meisten Medien aller drei Phasen nebeneinander und
werden genutzt. Mit jedem neuen technischen Schub haben sich funktionale
Differenzierungen insbesondere in der Nutzung und entsprechend in den Formen und
Inhalten ergeben, aber keines der substanziellen Medien ist gänzlich verschwunden.
Deshalb sieht die Kommunikationswissenschaft für den Medienwandel die von dem
Historiker Wolfgang Riepl (1913) als so genanntes “Grundgesetz der Entwicklung des
Nachrichtenwesens” der Antike früh formulierte Erkenntnis bestätigt, wonach ein neues
Medium ein altes nicht gänzlich verdrängt, sondern sich jeweils neue komplementäre
Funktionen und Nutzungsweisen ergeben (Lerg 1981; Kiefer 1989; Berg/Kiefer 1996, 19;
Kiefer 1998, 90; Peiser 1998, 159). Allerdings ist diese These nicht unbedingt auf ein
spezielles Medium bezogen (Faulstich 2002b, 159f), weshalb etliche ihrer technischen
Formate, die zeitbedingt sind, von leistungsfähigeren, robusteren, flexibleren und
billigeren abgelöst werden: Tonwalze, Schellackplatte, Tonband, Videoband, Lochkarte
und Lochstreifen gibt es nicht mehr oder kaum noch. Langspielplatte, Mikrofilm,
Mikrofiche oder 5,25-Zoll-Disketten sind schon fast abgelöst, auch der Film als Kunststoff-
und Zelluoidstreifen in Kamera und Projektor ist von der digitalen Aufzeichnung bedroht,
ebenso dürfte es bald der Videokassette ergehen (Flichy 1994; Gabriel 1997; Hiebel 1997;
Faßler/Halbach 1998; Hiebel u. a. 1998).
3. ‘Neue Medien’ – neue Schlagwörter
Angesichts dieser medientechnischen Vielfalt, des Tempos und der Offenheit ihrer
Entwicklung versteht man Kommunikation immer weniger als personalen Austausch,
unmittelbar zwischen Personen und ohne technische Hilfsmittel, sondern vornehmlich
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medial, und betont oder beklagt die anhaltende Mediatisierung (Mittelbarkeit) oder
Medialisierung aller Lebensbereiche. In den öffentlichen Diskussionen und Darstellungen
überbieten sich folglich ständig modische Schlagwörter, die meist wenig analytische
Substanz haben und nicht selten wieder verschwinden: Lauteten sie in den achtziger
Jahren noch ‘neue Medien’ – gemeint waren damals die neuen Übertragungswege für
Hörfunk und Fernsehen, nämlich Kabel und Satellit, die freilich zu jenen neuen
Organisationsformen und Besitzverteilungen, zur dualen Rundfunkstruktur in Deutschland,
führten –, so sind spätestens seit den 90er Jahren sämtliche elektronischen
Komponenten im Gespräch: zunächst der Personal Computer (PC) und neue opto-
elektronische Speicherträger wie CD, CD-ROMs, mitunter auch schon CD-Videos oder –
heute – DVDs (digital versatile disc), inzwischen sind alle digitalen Formen technisch
denkbar oder schon erprobt: für die Fotografie und für Video, künftig auch für Hörfunk
(digital audio broadcasting [DAB]) und fürs Fernsehen (digital video broadcasting [DVBI).
Hinzu kommen digitale, weltweite und dezentrale Übertragungswege mittels Kabel,
Satelliten oder auch Funkstrecken, die sich in Etiketten wie Vernetzung, Online, E-Mail,
Internet, Multimedia niederschlagen und Transformationen bewirken oder/und
befürchteten lassen. Sie beeindrucken oder irritieren durch Schlagwörter wie
Globalisierung der Kommunikation, Datenautobahn (“information highways”), Interaktivität,
vernetztes Denken, virtuelle Welten, Cyberspace, “global village”, die gleichwohl ständig
mit wechselnden Bedeutungen gefüllt werden und in den öffentlichen Konjunkturen auf-
und absteigen. Letztlich wollen sie – ob spektakulär oder gelassen – anzeigen, dass sich
in den Kommunikations- und Verkehrsformen zugleich Grundlegendes wie Radikales
ändert und sich dadurch die Gesellschaft neu formiert. Wie man diese Veränderungen
bewertet, hängt letztlich von der Position und der Einschätzung ab, die man zur Technik
und zum sozialen Wandel einnimmt.
Sucht man terminologischen Halt, erweist sich wohl der Begriff des Mediums immer noch
als der grundlegendste, mindestens markanteste: Mit ihm wurde bislang die personale,
direkte Kommunikation von der Massenkommunikation kategorial getrennt. Gleichzeitig
wurde die Phase seit dem Aufkommen der Massenmedien von der Epoche des
Buchdrucks davor geschieden und als die der Massenkommunikation bezeichnet, die
primär von den einseitigen Verteilmedien bestimmt wurde und wird. Allerdings wird diese
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duale Abgrenzung längst nicht von allen geteilt, wie in den Kap. 6.5 und 6.7 skizziert wird.
Gerade jene jüngsten Entwicklungen animieren dazu, universelle, überzeitliche, jedenfalls
technikferne Medienbegriffe zu kreieren und durchzusetzen bzw. Kultur- oder gar
Weltgeschichte vorzugsweise als Mediengeschichte begreifen zu wollen.
Mit dem Computer, der Digitalisierung und Vernetzung geht die begriffliche Dualität der
beiden Kommunikationsformen zumindest insofern zu Ende, als die neuen
Medientechnologien personale und mediale Kommunikation auf neue und vielfältige
Weise miteinander verknüpfen, letztlich verschmelzen. Diese Tendenz verfolgten zuerst
das Telefon und seine Erweiterungen durch Bildschirmtext als zweiseitig, interaktiv
nutzbare Vermittlungsmedien. Die sich nun verbreitenden Online-Medien, vor allem
Internet, vervielfältigen und vervollkommnen sie.
Ob Internet ein Massenmedium ist oder zu einem wird, ist letztlich wiederum
Definitionssache. Von seiner explodierenden Nutzung, mittlerweile auch von mancher
publizistischen Wirkung her (etwa nach der Verbreitung des Reports von Kenneth W.
Starr 1998 anlässlich der Lewinsky-Affäre von US-Präsident Bill Clinton) lässt es sich als
Massenmedium ansehen und wird auch so bereits bezeichnet (Kübler 2000c). Aber es
hält mehr Optionen als die klassischen Verteilmedien parat, da es auch andere, nicht
publizistische Leistungen und Dienste integriert und damit kommunikative Vermittlungen
ermöglicht. Seine Nutzungsbreite reicht von der Herstellung privater Kontakte mittels E-
Mail, der Einrichtung spezieller Kommunikationskreise, sogenannter Intranets, meist für
gewerbliche Zwecke, der Inanspruchnahme durch mehr oder weniger geschlossene
Foren und Newsgroups, bis hin zur Realisierung nichtpublizistischer Dienste wie Online-
Banking, Online-Shopping, Online-Ordering etc., in die jedoch zunehmend Werbung als
öffentliches Element eingelagert ist. Diese Dienste begründen zivilrechtliche, nicht
medienrechtliche Beziehungen unter den Teilnehmern, und viele überkommene
Rechtsfragen wie der Schutz der Verbraucher und die Urheberschaft für geistige Produkte
sind noch nicht befriedigend geklärt, zumal nicht mit der erforderlichen internationalen
Geltung. Deshalb suchen Gesetzgeber und Juristen nach passenden Regeln und
Vereinbarungen (ARD/ZDF-Arbeitsgruppe 1997, 29ff; vgl. die jeweils aktuellen
Staatsverträge über Rundfunk und Mediendienste, zuletzt 1. Juli 2002, sowie
Informations- und Kommunikationsdienste-Gesetz vom 22. Juli 1997, vgl. Telemediarecht
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2002); für die Europäische Union strebt die EUKommission eher wirtschaftspolitische,
sprich: deregulierende Fassungen an, die alle Medien eher als Wirtschafts- denn als
Kulturgüter sehen. Damit ergeben sich nicht unerhebliche Divergenzen zwischen
nationalen und europäischen Regelungen (Meckel/Kriener 1996; Dörr 2002).
4. Diverse Medienbegriffe
Wie bereits ausgeführt, sind Definitionen und Qualitäten der Medienbegriffe recht
vielfältig, von Extremen, Reichweiten und Widersprüchen gekennzeichnet, beeinflusst
vom Verständnis von Kommunikation und Wirklichkeit, wie sie ihrerseits solche
Auffassungen prägen (Leschke 2003, 12ff). Über die bereits genannten Typen hinaus
seien hier folgende Medienbegriffe paradigmatisch aufgeführt. Sie lassen sich –
erwartungsgemäß (Faulstich 2002b, 20) – nicht ganz trennscharf voneinander abgrenzen,
sind teils unabhängig voneinander, teils konkurrieren sie miteinander; aber sie lassen sich
auch nicht mit einem Federstrich vereinheitlichen oder in einer vorgeblich alles
umfassenden Definition normativ unterbringen (Ebd., 26).
4.1. Der universale Medienbegriff
Die universelle Bedeutung von Medien ist bereits umrissen worden; sie findet sich sowohl
in sprachlich-linguistischen, allgemein philosophischen, aber auch transzendentalen-
esoterischen Kontexten. Für die medientheoretische Diskussion stieß der kanadische
Medienphilosoph Marshall McLuhan in den 60er Jahren mit seinen weltweit verbreiteten
Bestsellern heftige Debatten mit säkularen Ausmaßen an; aber sein Medienbegriff als
“Erweiterung des Menschen”, womit er auf anthropologische Sichtweisen auf das
“Mängelwesen Mensch” (A. Gehlen) angespielte, setzte sich weit weniger durch,
wenngleich inzwischen seine Thesen wieder aufgegriffen wurden und sogar eine
fortgeführte “Tradition des McLuhanismus” konstatiert werden kann (Balten u. a. 1997;
Ludes 1997, 77ff; Kloock/Spahr 2000, 39ff).
In den philosophischen und kulturgeschichtlichen Diskursen tauchen solch universelle
Medienbegriffe immer wieder auf, wenn ihre Begründungen und Erklärungen aus
vielfältigen Quellen genährt werden. Je stärker sich Medienwissenschaft als
eigenständige Disziplin zu konturieren versucht, um so ausführlicher und genauer suchen
ihre Vertreter in früheren philosophisch und kulturgeschichtlich geprägten Diskursen
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medientheoretisches Denken zu rekonstruieren (Bohn u. a. 1988; Großklaus 1997;
Faulstich 2002b, 69ff; Leschke 2003). So hat etwa der Mannheimer
Medienwissenschaftler Jochen Hörisch als universale Kulturgeschichte eine dreiteilige
“Poesie” der Religion, des Geldes und der Medien entworfen (1992, 1998, 1999) und
entwickelt darin – ` ontosemiologisch”, d. h. zugleich seins- wie zeichenbezogen –
zentrale Tendenzen abendländischer Kultur- und Weltentwicklung: Als universelles
Paradigma gilt ihm die äußere Form der Scheibe, die der Hostie, der Münze wie der CD
(ROM) zu eigen sei, ihre jeweilige historische Vorherrschaft indiziere jeweils kulturelle wie
kultische Gewichtungen. Die Medienhistoriker Wulf R. Halbach und Manfred Faßler (1998)
unterscheiden zwischen Medien, die
a) als Vermittlung einer unerfahrbaren, göttlichen und religiös gefassten ‘Außenwelt’ nach‘Innen’ dienen
b) als Vermittlung zwischen ‘Wirklichkeit’ und ‘Schein’, Wahrheit und Trug gelten
c) als kulturell abhängiger Teil sozialer Selbstbeschreibung benutzt werden und
d) als autonome Systeme der scheinhaften Realitätserzeugung auftreten; darunter fallendie so genannten Massenmedien wie Zeitung, Film, Radio und Fernsehen(Halbach/Faßler 1998, 35; Hickethier 2002, 172).
Auf W. Faulstichs (2002b) universelle Medien- bzw. Menschheitsgeschichte und
dementsprechend auf seinen weiten Medienbegriff, der vom schlichten “Mensch-Medium”
bis zu komplexen systemtheoretischen Kategorien wie Kanal, Organisation, Leistung und
gesellschaftliche Dominanz alles einzuschließen vorgibt, ist bereits
hingewiesen worden (Kap. 5.4). Auch sämtliche poststrukturalistische Wirklichkeits.
konzepte oder oben als “kulturwissenschaftlich” bezeichnete Medientheorien rekur' rieren
auf wie immer gefasste universelle Medienbegriffe: Für den tschechischen
Medientheoretiker Vilém Flusser (1920- 1991) sind Medien unterschiedslos technische
Apparate, der Telegraf und der Fotoapparat ebenso wie gegenwärtig die digitalen
Systeme; sie haben jeweils weitreichende kulturelle Folgen, ja zeitigen neue
gesellschaftliche Formationen, nunmehr: die “telematische” Gesellschaft, die Flusser als
völlig vernetzte und dialogische, aber nun zur eigentlich menschlichen hochlobt (Rosner
2000). Auch der französische Architekt und Kulturkritiker Paul Virilio (geb. 1932) sieht mit
den “elektromagnetischen Übertragungsmedien” eine “völlig neue ‘Weltordnung’” (Klook
2002, 136) entstehen, aber eine, die die Menschen ihrer Räumlichkeit beraubt, ihnen
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Nähe und reale Präsenz blockiert. Verschaltet und enträumlicht , leben sie in “atopischen
Tele-Gemeinschaften” oder in einer “teleoptischen Meta-Polis”, ausgeliefert den
Dynamiken und Formierungen der Medien (Ebd., 152ff). Hingegen sieht der Berliner
Kulturwissenschaftler Friedrich A. Kittler (geb. 1943) Medien eher funktional, als Mittel, die
in historisch unterschiedlicher Potenzialität “Speichern, Übertragen und Verarbeiten von
Information leisten” (Spahr 2002, 167), dadurch aber die Entsubjektivierung des
Menschen vorantreiben und diverse Wirklichkeiten ausdifferenzieren. Erst mit dem
Computer kulminiert diese Tendenz, er ist das eigentliche “Maschinensubjekt”, der sich
gegenüber dem Menschen verselbständigt (Ebd., 200f).
Auch in kunstbezogen Debatten und Analysen spielt der universale Medienbegriff eine
ständig wachsende Rolle, seit etwa ab den 60er Jahren Videokunst entstand und sich als
neue Option anbietet, Wirklichkeit und ihre künstlerische Wahrnehmung zu visualisieren,
sie aber auch in frei flottierenden, ‘virtuellen’ Bildern zu simulieren oder zu imaginieren
(Pörksen 1997; Pias u. a. 1999; Baumann/Schwender 2000; Haustein 2003). Inzwischen
gelten sie als paradigmatische Repräsentanzen inter- oder transkultureller Art, die hybrid,
d. h. unendlich vielfältig kombiniert und fusioniert, global und enträumlicht, virtuell und
abstrakt weltweite Medienkunst (nicht zuletzt im Sinne der Visionen McLuhans)
konstruieren, sie auch unentwegt transformieren und transzendieren. Dabei deutet der
Begriff der Medienkunst abermals auf terminologische Unsicherheit hin; denn ein Medium
braucht Kunst für ihre Veranschaulichung immer, seit Menschen ihre ersten Eindrücke auf
Stein oder Holz festgehalten haben; wenn nun Medienkunst prototypisch für die
Technisierung, Medialisierung und Digitalisierung der gegenwärtigen Kunst sein soll, will
diese Begriffschöpfung auf das (vermeintlich) Neue und Andersartige dieser Kunst
hinweisen, ohne sich allerdings hinreichend der Tradition und Kontinuität zu versichern.
4.2. Der elementare Medienbegriff
Bleibt der Medienbegriff explizit oder mindestens nachvollziehbar auf symbolische
Dimensionen, zumal auf menschliche Konstrukte kommunikativer Interaktionen in der
Wirklichkeit begrenzt, lässt er sich als elementar kennzeichnen (wobei viele Entwürfe
heute in der Nachfolge McLuhans diesen Unterschied nicht erkennen oder wahrhaben
wollen). Der elementare Medienbegriff wurzelt zum einen in der Zeichentheorie, also in
der grundlegenden Definition des Zeichens als einer willkürlichen, nur konventionell
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festgelegten Relation zwischen Ausdruck und Inhalt, zwischen Bezeichnendem und
Bezeichnetem und in den Modalitäten seiner Verwendung (Pragmatik). Zum anderen
rekurriert dieser Begriff auf die generelle Sprach- und Kommunikationsfähigkeit des
Menschen, wodurch er sich als Lebewesen von allen anderen unterscheidet, also auf die
Sprach- und Kommunikationskompetenz, wie sie Wilhelm von Humboldt, nach ihm Noam
Chomsky und Jürgen Habermas als theoretischen Begriff formuliert haben (siehe Kap.
2.7). Danach sind alle Entäußerungen oder Manifestationen von Geistigem medial, weil
sie mittels eines Zeichensystems artikuliert und damit materialisiert werden. Das
essenziellste Zeichensystem des Menschen ist die Sprache, aber auch Gestik, Mimik,
Laute, Töne und Bilder gelten – ungeachtet ihrer technischen Formierungen – als Medien.
Solche Sichtweisen werden heute wieder betont, wenn darüber geforscht und
experimentiert wird, ob und wie menschliche Fähigkeiten der Kognition und Artikulation
von Computern imitiert und übernommen werden können, etwa die elektronische
Erkennung von Sprachen, die automatische Übersetzung von einer Sprache in die andere
oder gar die automatischen Ausführungen von Tätigkeiten, wie es in den Konzepten der
Künstlichen Intelligenz angestrebt wird. Aus ihnen resultiert auch die etwas nachlässige
oder euphemistische Rede von der Dialogfähigkeit des Computers, weil seine
Zeichenerkennung und -verarbeitung mit der des Menschen gleichgesetzt wird (Dreyfus
1985; Michie/Johnston 1985; Vulner 2000)
4.3. Der technische (oder technologische) Medienbegriff
In der eigentlichen Mediengeschichte (Hiebel u. a. 1999; Wilke 2000a) nimmt der
technische Medienbegriff seinen Ausgang bei Gutenbergs Druckerpresse, also bei der
mechanischen Vervielfältigung von Sprache und Schrift, universalhistorisch könnte er
auch bei besagter Erfindung der Schrift angesetzt werden. Vorrangig sind mit ihm die
material-technischen Zeichenträger bzw. Mittler als Medien gemeint, freilich sowohl die
Trägermaterialien wie die Vervielfältigungsfaktoren, wodurch immer wieder
Überschneidungen wie Verwechselungen auftreten: also das Papier ebenso wie die
Drucklettern, der Zelluloidstreifen und der Projektor für den Film, die elektromagnetischen
Wellen, später das Breitbandkabel und die Satellitenschüssel für Hörfunk und Fernsehen
wie die Empfangsgeräte, die Radio- und Fernsehapparate ebenso wie die Speicher- und
Verteilformen, also Videoband und -kassette, das Tonband und Schallplatte bzw. CD,
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beim Computer: die Festplatte, Diskette, die CD-ROM wie ISDN und Netze für die Online-
Optionen. “Multimedia” annonciert die Verschmelzung von Computertechnik
(Mikroelektronik), Telekommunikation und Netztechnologie, wobei aus Sicht des
Rezipienten noch nicht entschieden ist, ob künftig der Fernsehapparat mit Tastatur und
Online-Anschluss das zentrale Medium (oder Terminal) und damit eher die
Unterhaltungsofferten im Vordergrund stehen oder der PC, der dann hochauflösende
Bilder, Hifi- und Stereo-Qualität für Töne und Sprache haben muss, aber eher der
Informationsrecherche und -vermittlung dient, oder ob die beiden Systeme zwar technisch
miteinander integriert werden können, aber funktional getrennt bleiben.
Der moderne technische Medienbegriff, der dann mit theoretischer – etwa
funktionalistischer oder systemtheoretischer – Unterfütterung auch zum technologischen
erweitert werden kann, rekurriert auf die nachrichtentechnischen Entwicklungen, wie sie
C.E. Shannon und W. Weaver mit ihrer Mathematischen Theorie von Kommunikation
(1949; 1976) initiiert haben. Sie konzentrieren sich bekanntlich auf Material, Form und
Qualität der Übertragung, des Transfers, versuchen zum einen deren Eigenschaften zu
messen und zu optimieren, zum anderen jeweils neue Formen, Materien und Systeme für
den Informationsaustausch zu entwickeln: von der drahtgestützten zur drahtlosen, der
satelliten- zur netzbasierten und derzeit wieder zur “wireless” Übertragung. Dabei sind
neben technischen ökonomische und nicht zuletzt sicherheitsspezifische Aspekte von
Bedeutung, wie die Entwicklung des Internet von einem militärischen, dezentralisierten
Informationssystem im Kalten Krieg, über seine kollektive, gemeinwirtschaftliche Nutzung
als Campus- und Wissenschaftsnetz in den 60er und 70er Jahren bis hin zum
kommerzialisierten Endverbraucher-Service mittels des World Wide Web (WWW) seit den
80er Jahren exemplifiziert. Entsprechend wird heute zwischen Hardware und Software,
also zwischen Technik und Programm unterschieden, unterteilt in Betriebssysteme und
Anwendungsprogramme, wobei letztere inzwischen noch einen großen Bereich des so
genannten “content” einschließen. Der technische Medienbegriff bezieht sich dabei auf
die Hardware, von der Software sind es allenfalls noch die Betriebssysteme, weil diese
Einfluss auf die Anwendungsprogramme nehmen, nicht nur in technischer Hinsicht,
sondern auch als Bedingungen und Strategien des Marktes.
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Wenn universelle Medientheorien in der Nachfolge McLuhans vornehmlich aus
technischer Sicht argumentieren, mithin gewissermaßen einer technischen Determination
von Kultur und Wirklichkeit das Wort reden, in warnender oder euphemistischer Weise,
wie es etliche bekanntlich tun, implizieren sie stets auch eine technologische
Präjudizierung von Medien. Natürlich lässt sich bei den modernen Mediensystemen eine
solche Implikation nie ganz ausschließen, sie wäre angesichts einer anhaltenden
Technisierung von Lebenswelt und Alltag sogar irreführend; es kommt allerdings darauf
an, wie die Gewichte verteilt sind und wie Folgen und Wirkungen verursacht gesehen
werden.
4.4. Der kommunikations- und organisationssoziologische Medienbegriff
Wiederum seit Gutenberg verlangen und bewirken die jeweils neuen Technologien
spezielle betriebliche Organisations- und Arbeitsformen, Berufe und Tätigkeiten:
Papiermühlen, Setzereien und Druckereien entstehen, Verleger, Drucker, Kolporteure und
Buchhändler vertreiben die Drucke auf den Messen. Verlage und Grossisten im heutigen
Verständnis gründen sich erst später, seit dem 18. Jahrhundert. Zeitungen und
Zeitschriften erfordern ebenfalls Druckereien, Verlage, Distributionssysteme, ermutigen
die Gründung von Lesegesellschaften, -kabinetten und -zirkeln, Kinofilme verlangen neue
Abspielstätten, zunächst einfache Läden, dann – mit bürgerlichem Prestige – prachtvolle
Kinos, befördern Konzerne, mächtige Produktions- und Verleihformen, Auswahl- und
Promotionsstrategien von Schauspielern, Hollywoods “Starsystem” zum Beispiel, und
Hörfunk und Fernsehen erwirken Sendeanstalten in verschiedenen Rechts- und
Eigentumsformen: privatwirtschaftliche, öffentlichrechtliche und staatliche (Wilke 2000a;
Prokop 2001).
Unter den Anforderungen moderner Medientechnologien und hoher Kapitalinvestitionen
haben sich inzwischen intermediale Konzerne gebildet, die sämtliche medialen
Verbreitungsformen in ihren Betrieben oder in ihren Besitzstrukturen vereinen und “cross
ownerships” formieren. Sie vermarkten Stoffe und Stars multi- oder transmedial und
steuern jeweils ihre Vermarktungskampagnen weltweit. Etliche Konzerne sind nicht
ausschließlich in der Medienbranche angesiedelt, sondern stammen aus der Energie-,
Elektronik-, Bau-, Versorgungs- und Nahrungsmittelbranche. Mittlerweile vereinnahmen
sie von den Filmstudios in Hollywood bis zu den Telefonleitungen und Computernetzen,
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von der Papierherstellung und CD-Fabrikation bis hin zu den Buchclubs und Live-
Konzerten ihrer Popstars, von der Werbebranche bis hin zur Freizeitindustrie und
Tourismusbranche alles: Microsoft, AOL Time Warner Inc., Walt Disney Co., Viacom Inc.,
News Corporation Ltd., Murdoch, Vivendi und die Bertelsmann AG rechnen zu diesen
“Global Players”, die inzwischen den Kommunikationsmarkt der Welt beherrschen (Schulz
1997a; Hachmeister/Rager 1997, 2002; Johns 1998).
4.5. Der kommunikativ-funktionale Medienbegriff
Jede Kommunikation – auch die mediale – realisiert kommunikative Funktionen. Mithin
lässt sich auch jedes Medium in dieser kommunikativen Funktionalität beschreiben, bzw.
es lassen sich ihm kommunikative Funktionen attestieren. Sie werden dabei mit den
verschiedenen Komponenten der Medien verknüpft – mit den Apparaten ebenso wie mit
den geistigen Produkten, mit den elementaren Zeichendimensionen wie mit den
gesellschaftlichen Organisationsformen – und wandeln sich im Laufe der Geschichte.
Außerdem haben sich in der Kulturgeschichte und in der sozialen Gegenwart bestimmte
Kommunikationsfunktionen herausgebildet bzw. werden von den Medien wahrgenommen
oder ihnen zugeschrieben, die bei modernen Gesellschaften längst zum soziokulturellen
Gefüge und Bewusstsein gehören: etwa die Konstitution, mindestens die Präsentation von
Öffentlichkeit, die Integration heterogener Gruppen und Interessen, Information, Kritik und
Kontrolle als Faktoren demokratischer Willensbildung, die Anregung von
Bildungsprozessen, die Versorgung mit Unterhaltung und Amüsement, die Verbreitung
von Werbung etc.
Ferner werden einzelnen Medien besondere kulturelle, ästhetische Optionen attestiert:
Dem Fotoapparat schreibt man zu, dass er Ausschnitte von Realität auf dem Negativ
ablichtet, festhält und damit materialisiert. Spätestens seit Walter Benjamins (1963;
Kloock/Spahr 2000, Off) Ausführungen über die dadurch bewirkte Reproduzierbarkeit von
Kunst gelten Singularität und Aura des Kunstwerks als aufgekündigt. Aber vermutet wird
auch, dass diese Medientechnik ein neues Sehen bewirkt hat (Monaco 2002; Schnell
2000). Den Film mit seinen bewegten Bildern rühmt man wegen seiner speziellen
Sprache, also wegen seines expressiven und ästhetischen Vermögens. Das Fernsehen
universalisiert gewissermaßen die audiovisuelle Reproduktion von Wirklichkeit und
banalisiert sie zugleich, da es keinen Lebensbereich mehr vor der elektronischen
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Repräsentation verschont. Das Internet kann als Hybridmedium sämtliche kommunikative
Funktionen vereinnahmen, hat sich bislang eher als Informations- und Austauschmedium
durchgesetzt, aber löst zugleich traditionelle Formen mündlicher Kommunikation ab und
erweitert sie. Die Kernfunktionen der Massenmedien, etwa die von Zeitung, Radio und
Fernsehen, hinsichtlich aktueller Information und populärer Unterhaltung könnte es
technisch auch usurpieren, hat sie jedoch in der breiten Nutzung noch kaum angetastet
und wird sie wohl auch nicht in absehbarer Zeit. Gleichwohl gilt der Trend, dass Medien
immer mehr und komplexere kommunikative Funktionen übernehmen, so dass sich immer
schwerer trennen lässt, welche Eigenschafts- und Funktionszuschreibungen für das
jeweilige Medium vorrangig sind. Letztlich entscheiden darüber die unterschiedlichen und
mit der Entwicklung auch wechselnden Nutzungsgewohnheiten.
4.6. Der systemische Medienbegriff
Einen theoretischer Ausweg aus diesem real verursachten, aber theoretisch zugespitzten
Definitionswirrwarr sehen viele zeitgenössische Betrachtungen nur noch darin, den
Medienbegriff so auszudehnen, wie überhaupt menschliche Erkenntnis reicht (und sie
nähern sich damit dem eingangs aufgeführten universalen Medienbegriff an): Die einen
argumentieren von einer medien- und technikkritischen Haltung aus – der Semiotiker und
Kulturkritiker Umberto Eco (1986) nennt sie die “Apokalyptiker” –, und sie sehen die
Wirklichkeit weitgehend oder schon gänzlich mediatisiert, die “virtuelle Realität” mithin
schon als realer an als die wirkliche. Eingangs sind sie als “kulturwissenschaftliche
Medientheorien” bereits skizziert (Kloock/Spahr 2000; Engell u. a. 1999) oder als
unwissenschaftliche “Pseudotheorien” abgewertet worden (Faulstich 2002b, 26ff). Die
anderen verbreiten eher Technik- und Medieneuphorie und prophezeien deren
ungeahnten Potenziale, mit denen sich die natürlichen Begrenztheiten des Menschen
überwinden lassen und die Individuen selbst Teile von Mediensystemen werden.
So prangert etwa der Mediendesigner Nobert Bolz (1995) bedenkenlos den historisch
mühsam errungenen “Humanismus” als zentrales Hemmnis für die erforderliche
Modernisierung an und fordert für die Zukunft ein “antihumanistisches Menschenbild”,
ohne dass er hinreichend expliziert, was er darunter versteht, auch ohne dass er erst
recht gründlich bedenkt, was ein solches Postulat in einer durchaus nicht humanen Welt
anrichten könnte. Umgekehrt verdächtigt der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler
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Claus Eurich (1998) die öffentliche Diskussion, sie erhebe die Medien zum universalen,
übermächtigen Mythos und schreibe ihnen “quasireligiöse” Bedeutungen zu.
Besonders die soziologische Systemtheorie rekurriert in abstrakter Hinsicht auf einen
systemischen Medienbegriff, wie er von dem Bielefelder Soziologen Niklas Luhmann
(1927-1998) paradigmatisch entwickelt wurde (Luhmann 1996). Die Systemtheorie
begreift Gesellschaft als autoreferenzielles (d. h. als auf sich selbst bezügliches und sich
selbst erzeugendes) System, das als “Letztelement” auf Kommunikation beruht. Mit ihr
grenzt sich jedes System vom anderen ab, so dass sich bestimmen lässt, was zu einem
System gehört und was zu dessen Umwelt. Außerdem stiftet Kommunikation Sinn und
sinnhafte Grenzen und reduziert wie erhält innerhalb des Systems Komplexität. Dadurch
ist ein System fähig, seine Identität auszubilden und sich als System im Verhältnis zu
seiner Umwelt zu definieren (Görke/Kohring 1996, 16f; Schmidt 1994, 592ff).
Den Begriff des Massenmediums im engeren Sinn fasst die Systemtheorie eher
instrumentell, nämlich als technisches Verbreitungsmittel, das “keine Interaktion unter
Anwesenden zwischen Sender und Empfänger” zulässt (Luhmann 1996, 5;
Görke/Kohring, 1996, 18). Massenmedien verkörpern ein eigenes System, dessen Code
als zeitliche Dimension definiert wird und sich – entsprechend dem systemtheoretischen
Informationsbegriff – aus der Differenz von Information und Nichtinformation ergibt. Dieser
nicht sehr explizite, letztlich kryptisch bleibende Medienbegriff ist von systemtheoretisch
orientierten Kommunikationswissenschaftlern (wie U. Saxer, M. Rühl, K. Merten,
B.Blöbaum [1994] und S.J. Schmidt) aufgegriffen und unterschiedlich weiterentwickelt
worden, so dass inzwischen ebenfalls nicht mehr von einem konsistenten systemischen
Medienbegriff ausgegangen werden kann (vgl. Donges/Meier 2001). Diese Varianten sind
bereits angesprochen worden oder werden gegebenenfalls im weiteren Verlauf dieses
Buches vorgestellt.
5. Ende der Massenkommunikation?
In Umbruchzeiten bestehen gemeinhin alte und neue Strukturen nebeneinander, so dass
eingeführte und aktuelle, womöglich kaum überdauernde Begriffe miteinander
konkurrieren. Dabei gelingt es kaum, sie jeweils voneinander exakt zu trennen bzw. zu
entscheiden, welcher Begriff sich jeweils wie durchsetzt und welcher nicht. So wurde
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schon wiederholt prognostiziert, dass die inzwischen klassischen Massenmedien abgelöst
würden und zumindest theoretisch überholt seien.
Trotzdem erfreuen sie sich in ihren überkommenen wie auch in ihren jüngsten Formen
noch erheblicher, kaum eingeschränkter Resonanz: Radio und insbesondere Fernsehen
haben mit der Erweiterung ihrer Übertragungskapazitäten durch Kabel und Satellit sogar
eine enorme Expansion und quantitative Vervielfältigung erfahren, so dass sie jetzt –
zumindest hinsichtlich der Nachfrage durch das Publikum – mehr als jemals zuvor
Massenmedien sind. So erreicht etwa der Marktführer RTL in Deutschland mit einem
durchschnittlichen Marktanteil von rund 20 Prozent in Spitzenzeiten fünf bis sechs
Millionen Zuschauer, manche besonders populären Unterhaltungssendungen wie Rate-,
Quiz- und Starshows sowie große Sportübertragungen fesseln sogar über 16 Millionen an
den Bildschirm – Publikumszahlen, die denen in den 60er Jahren nicht nachstehen, als
die beiden öffentlich-rechtlichen Programme mit ihren “Straßenfegern”, den berühmten
Kriminalreihen wie das Halstuch oder Stahlnetz, noch Reichweiten um die 80 Prozent
erzielten. Wenn spektakuläre Ereignisse, sogenannte “media events” wie die
Fußballweltmeisterschaft oder die Begräbniszeremonie für die englische Prinzessin Diana
über den Bildschirm flimmern, schlägt das Fernsehen weltweit gut zweihundert Milliarden
Zuschauer in seinen Bann (Hickethier 1998; Klinger u. a. 1998; Burkart 2002, 362ff; Imhof
u. a. 2002).
Dennoch wird schon länger das Ende der Ära der Massenkommunikation angekündigt:
“There never was such a mass society before and probably will never be once again”,
konstatiert der amerikanische Kommunikationsforscher Ithiel de Sola Pool bereits zu
Beginn der 80er Jahre (1983, 259 zit. nach Maletzke 1987, 247), und andere stimmen ihm
zu (Burkhart/Hömberg 1997, 79 u. 87; Jarren/Donges 1997; 2002). Gemeint ist damit
zweierlei: Zum einen habe sich die Massengesellschaft als soziale Basis der
Mediennutzung verabschiedet, zumindest löse sie sich zusehends auf; zum andern
ermöglicht gerade die erwähnte Vervielfältigung und Spezialisierung der elektronischen
Medien die Diversifizierung und Segmentierung des Publikums, so dass ein
Massenpublikum wie früher kaum mehr erreicht werden könne.
Sicherlich ist der Begriff des Massenmediums an das Konzept der Massengesellschaft
gebunden, das zu Beginn dieses Jahrhunderts entsteht. Mit der Industrialisierung,
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Urbanisierung, Verelendung der unteren sozialen Schichten sowie der Erosion personaler
Strukturen und traditioneller Wertorientierungen löst sich die herkömmliche
Gesellschaftsordnung offensichtlich auf, die auf formellen, verwandtschaftlichen
Bindungen und normativen, organischen Beziehungen geruht hat. An ihre Stelle treten
situative, indifferente soziale Konstellationen, die sich entsprechend unterschiedlicher
Gegebenheiten und Zwecke bilden: über Arbeit, Wohnung, Bildung, Freizeit, funktionale
Organisationen, Situationen des Alltags und altersspezifische Interessen. Sie erzeugen
aber keine überdauernden, ganzheitlichen und emotionalen Bindungen mehr. Auch die
Massenmedien rechnen zu diesen Faktoren. Insbesondere besetzen sie – so die
Annahme – das durch die Bindungslosigkeit entstandene emotionale wie wertbezogene
Vakuum und können so die Menschen, die sich wie Atome abstoßen und anziehen, also
‘atomistisch leben’, nachhaltig steuern oder manipulieren: Wie subkutane Injektionen
(“hypodenmic needles”) stoßen die Medienbotschaften angeblich in das Unterbewusste
der Rezipienten vor, Treibriemen (“transmission belts”) gleich umschlingen sie sie mit
ihren Verlockungen – und was dergleichen mehr an verbalen Anleihen aus
Naturwissenschaften und Technik bemüht wurde (Naschold 1969).
Unterstützung erfahren diese Sichtweisen von der konservativen Gesellschafts- und
Kulturkritik. Spätestens seit Gustave Le Bons (1841 – 1931) Psychologie der Massen
(1895) ist “Masse” zum Synonym für attavistische Instinkthaftigkeit und irrationale
Beeinflussbarkeit, für den Verlust von Individualität und Mitte geworden. Der Soziologe
Ferdinand Tönnies (1855 -1936) formuliert 1887 mit der Trennung von Gesellschaft und
Gemeinschaft ein prägendes Paradigma der Gesellschaftstheorie und -politik. Er wertet
die (Massen)Gesellschaft als rationale Lebensführung (mit “Kürwillen”, eine der Willkür
nachempfundene Wortschöpfung) ab, da sie sich zum Ideal der durch innere, seelische
Verbundenheit der Mitglieder (dem “Wesenwillen”) prinzipiell zusammengehaltenen
Gemeinschaft “wie ein künstliches Gerät oder eine Maschine [verhalte], welche zu
bestimmten Zwecken angefertigt wird, zu den Organsystemen und einzelnen Organen
eines tierischen Leibes” (Tönnies 1935, 125, zit. nach Kunczik 19792, 18).
Es gehört wohl zu den verhängnisvollsten, mindestens mitzuverantwortenden Folgen
solchen wissenschaftlichen Denkens, dass sich die Nationalsozialisten seiner mentaler
Grundlagen bedienten, beliebige theoretische Versatzstücke herausgriffen und mit ihnen
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das perfideste Regime des Massenterrors und die grausamste, perfekteste Maschinerie
der physischen Massenvernichtung rechtfertigten (siehe Rammstedt 1986): Gerade jene
Massenpsychologie, die a priori die Schlechtigkeit der Masse postuliert und zugleich nach
der Herrschaft ruft, die diese im Zaum hält, warnen die Soziologischen Exkurse (Institut
für Sozialforschung 1956, 74), die in der unmittelbaren Nachkriegszeit im Frankfurter
Institut für Sozialforschung unter der Leitung von Max Horkheimer (1895 -1973) und
Theodor W. Adorno (1903 – 1969) entstehen, wird selbst ein Mittel der Verführung. So
lesen sich Hitlers Deklamationen über die Masse und ihre Beeinflussung wie eine billige
Kopie Le Bons. Massenpsychologische Gemeinplätze verdecken jene die Massen
manipulierende Demagogie, in deren Dienst sie selbst stehen.
In den USA ist der Begriff ‘mass’ nicht derart tiefgründig und ideologisch besetzt,
wenngleich die europäische Diskussion, vor allem aber die aufkommenden totalitären
Bewegungen Besorgnis erregen. Eher wird ‘Masse’ funktionalistisch gesehen als relativer
Indikator für jenen Grad der erreichten Industrialisierung und Urbanisierung, für die
fortschreitende soziale Nivellierung und Erosion, aber auch als Ausdruck für die als
unumkehrbar erachtete Isolierung des Individuums aus den überkommenen Strukturen
wie Verwandtschaft, Tradition, Religion oder ständischer Position. Zunehmend – so die
verbreitete Diagnose – vereinzeln die Individuen, leben isolierten Atomen ähnlich in
wechselseitiger Anonymität, als “einsame Masse” und sind Einflüssen, zumal gezielt von
außen ansetzenden wie den Medien schutzlos ausgeliefert (Riesman 1958).
In die deutsche Sprache wird der Begriff ‘Massenkommunikation’ in den 60er Jahren
durch die schlichte Übernahme des angloamerikanischen ‘mass communication’
eingeführt – und die ideologischen Implikationen des mitteleuropäischen Masse-Begriffs
bleiben wohl anfangs unbedacht. Seither debattiert man über seine missverständliche
Semantik und hat auch schon für seine Abschaffung plädiert (Merten 1977, 145; Merten
1986, 111). Aber seine internationale Gebräuchlichkeit lässt ihn überleben – bis er nun
wohl von dem unverfänglichen, aber auch breiteren der Medien oder der medialen
Kommunikation abgelöst wird, weil die realen Entwicklungen – wie skizziert – dahin
tendieren.
Falsch sei von Anfang an gewesen, kritisierte der amerikanische Soziologe Herbert
Blumer (1966, 30, zit. nach Kunczik 19792, 18f), der Massengesellschaft zu unterstellen,
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“dass [sie] nicht Lebensordnung, sondern Auflösung einer Lebensordnung bedeutet”.
Immerhin erkennen viele Zeitgenossen die Massengesellschaft als unausweichliche
Durchgangsphase zur modernen, demokratisch organisierten Industriegesellschaft. Dabei
haben empirische Indikatoren die vielfach apostrophierte Vermassung und Vereinzelung
der Menschen nicht so zwingend und umfassend nachgewiesen, wie es die theoretischen
Entwürfe und kritischen Sichtweisen behauptet haben. Vielmehr macht man bald
neuartige, funktional bedingte soziale Strukturierungen in den vermeintlich amorphen
sozialen Gebilden aus, die soziale Gruppe wird quasi ‘wiederentdeckt’, korrekter: als unter
anderen Bedingungen entstandene Primärformation der modernen Gesellschaft erkannt –
übrigens nicht zuletzt durch Erhebungen von Kommunikationsforschern, allen voran Paul
F. Lazarsfeld (1901-1976) und seinen Mitarbeitern im Präsidentschaftswahlkampf von
1940 (Lazarsfeld/Berelson/Gaudet 1969; Langenbucher 1990). Allmählich verstummt die
Rede von der Massengesellschaft, mindestens relativieren sich die pessimistischen
Untertöne. In Deutschland geschieht dies erst in den 60er Jahren, nachdem in der
Nachkriegszeit trotz der ideologisch-propagandistischen Perversion des Massenbegriffs
durch die Nationalsozialisten erneut Vereinzelung, Entfremdung, “Vermassung”, “Verlust
der Mitte” und Anonymität beschworen worden sind.
In der Medienforschung entspricht der Theorie der Massengesellschaft die These von der
allmächtigen Wirkungs- und Manipulationsmacht der Massenmedien, die sich allerdings
bis heute – trotz der Verabschiedung von der Massengesellschaft – in allerlei Versionen
hält. Diese Prämisse unterstellt (nach wie vor), dass die ständig einflussreicher
werdenden (Massen)Medien auf die Individuen fast ungehindert einwirken können, da
ihnen andere Orientierungen und Wertungen, die etwa als schützende Hüllen oder gar als
Gegenkräfte fungieren könnten, fehlen. Erst als die neuen funktionalen Gliederungen und
Netzwerke in der Gesellschaft entdeckt werden und man zugleich erkannt hat, dass auch
die Kommunikation über Medien mehrstufige Prozesse der Verbreitung durchläuft und
etwa sogenannte Meinungsführer (opinion leaders) oder Experten bei der Resonanz und
Akzeptanz von Neuigkeiten Einfluss haben oder soziale Netzwerke bestehen, über die
sich die Medienbotschaften vielfältig verbreiten, aufladen und bewerten, relativiert sich die
Annahme über die Wirkungsmacht der Medien. In den 60er Jahren verkehrt sie sich sogar
in ihr Gegenteil: nämlich in die Annahme von der weitgehenden Ohnmacht der Medien.
Bis heute lassen sich manche Kontroversen auf diese grundsätzliche, unterschiedliche
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Einschätzung der Wirkungsmacht von Medien zurückführen (Naschold 1969, 78ff; Schenk
1978, 16ff; 1987; 2002b, 24ff)
6. Typen medialer Kommunikation
Versteht man Kommunikation – gleich ob unmittelbar oder medial vermittelt – als
Obergriff, verkörpert Massenkommunikation eine Teilmenge oder spezielle Form von ihr,
wie verbreitet, beherrschend und attraktiv sie inzwischen auch ist. Daneben bzw. ihr in der
Geschichte vorgängig und anthropologisch grundlegend existiert die personale,
unmittelbare oder face-to-face-Kommunikation, die ja gleichwohl – angesichts der
beschriebenen, verschiedenen Medienbegriffe – vermittelt sein kann. Demnach müssen
unterscheidende Kriterien gefunden werden, und unzählige Definitionen und
Abhandlungen sind dafür vorgelegt worden. Sie können hier nicht alle rekapituliert
werden, und sie brauchen es auch nicht mehr in extenso, da sich infolge der skizzierten
Entwicklungen die Grenzen und Spezifikationen zwischen den beiden paradigmatischen
Formen von Kommunikation zusehends verwischen.
Pragmatisch läßt sich aber weiterhin unterscheiden zwischen
– den klassischen, öffentlichen, professionell produzierten Massenmedien, die sich nachwie vor einseitig, an ein breites, nicht eindeutig identifiziertes, “disperses” Publikum(s.u. Kap. 6.8.1) wenden und auch als so genannte Verteil- und Programm-Medienbezeichnet werden,
– und den individuell, online, also ausschließlich digital nutzbaren, interaktiven Medien,über die sowohl einzelne Partner, also im Dialog, miteinander kommunizieren (z. B. E-Mail, News- und Chat Groups), als sich auch über Server und Datenbanken spezielleDienstleistungen (z. B. Online-Banking, Online-Shopping) und Informationen abrufenlassen.
– Gewissermaßen zwischen diesen beiden Typen sind sämtliche Speichermedienanzusiedeln, die ursprünglich analog funktionierten, heute aber digitale medialeKonversionen ermöglichen, so dass alle Produkte der klassischen Massenmedien foto-elektronisch verfügbar sind: also vornehmlich CD, CD-ROM, CD-Video und DVD.
All diese Formen werden heute analytisch unscharf zu Multimedia zusammengefasst,
wobei ausschließlich digitale, also computerbasierte Formate gemeint sind, die zugleich
interaktiv, vernetzt und damit hybrid sind. Dass der Begriff all diese Komponenten nicht
unbedingt zu fassen vermag, kümmert dabei wenig. Denn – prinzipiell und
zeichentheoretisch betrachtet – ist schon der Film multimedial, nämlich kombiniert aus
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(Film)Bildern, Texten, Geräuschen und Musik, auch wenn seine Zeichen noch analog und
materialisiert gespeichert sind. Deshalb kann er seine Bilder und Töne nur in festen
Sequenzen veranschaulichen und nicht – wie die digitalen Versionen – in potenziell
beliebiger Folge und Kombination. Auch können analoge Speichermedien keine meta-
kommunikativen Optionen anbieten, mit denen die Zeichencorpora vielfältig erschlossen,
verknüpft und über “Links” verbunden werden. Solch kommunikative Mehrwert-
Funktionen, die der Nutzer (“user”) mit geeigneter Software durchführen kann,
ermöglichen besagte interaktive Komponenten. Als Hyper-Kapazitäten – als Hypertexte
oder gar Hybridmedien – eröffnen sie vielfältige, fast individualisierte
Nutzungsmöglichkeiten, die jeden User nicht mehr als abhängigen Rezipienten, sondern
als selbstbestimmenden Kommunikator erscheinen lassen; mindestens die einschlägige
Werbung feiert ihn so, und gewiss sind künftig dafür noch weitere technische
Innovationen zu erwarten (Berghaus 1994; Gabriel 1997; Münker/Roesler 1997; 2002).
Vermutlich werden daher künftig noch andere Bezeichnungen als Multimedia auftauchen,
um sowohl die sich noch erhöhende Vielfalt von Medien als auch mögliche funktionale
Differenzierungen und Novitäten begrifflich zu fassen.
Medial bzw. mittelbar wird durch sie auf verschiedene Weise (ursprüngliche)
Kommunikation, d. h. das unmittelbare Gegenüber und die gemeinsame
Kommunikationssituation zwischen den Kommunzierenden, wie sie bei der personalen
Kommunikation besteht, aufgehoben: Gemeinsamer Raum, identische Zeit, unmittelbarer
sinnlicher Kontakt und soziales Vis-à-Vis als Kriterien für die Kommunikationssituation
bestehen nicht mehr, sondern werden durch technische Transmissionen oder auch
Suggestionen ersetzt. Jeweils unterschiedlich sind die kommunikativen Funktionen und
Folgen:
– In der fixierten textlichen Kommunikation leistet allein die schriftliche, gedruckteSprache die medialen Übermittlungen; entsprechend ausführlich, abgewogen, präzise,korrekt und verbindlich bis hin zu vielfältigen Redundanzen muss sie gepflegt werden;zusätzliche prosodische und nonverbale Kommunikationsformen wie Tempo,Intonation, Akzent, Mimik, Gestik etc. kann sie nicht transportieren.
– Bei der interaktiven textlichen Kommunikation mittels Online-Vernetzungen machensich Formen mündlicher, umgangssprachlicher Kommunikation bemerkbar, wie siefrüher nur in recht persönlichen und/oder alltäglichen Notizen üblich waren, so dassman bereits von einer neuen, elektronisch gestützten Mündlichkeit spricht, die bei E-Mail, in Chat- und News-Groups gepflegt wird; sie integriert auch mehr und mehr
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illustrative Komponenten, etwa verfügbare Symbole und Piktogramme, in dieelektronischen Texte.
– Mündliche Kommunikation von unterschiedlichen Orten aus, aber bei identischer Zeitwie am Telefon einerseits, im Hörfunk andererseits, übermittelt alle zusätzlichenakustischen Kommunikationselemente, spart jedoch die visuellen aus. Daher sindrückversichernde, rekursive oder meta-kommunikative Redundanzen integriert.Außerdem muss diese Kommunikationsform auf das Hörverständnis und das kognitiveBehaltensvermögen im Kurzzeitgedächtnis des Menschen Rücksicht nehmen, so dasssich spezielle Sprachformen herausgebildet haben: Nähern sie sich beim Telefon starkder mündlichen Kommunikation – allerdings mit jenen rekursiven Elementen – an, istdie Radiosprache hingegen anfangs recht steif, fast normiert gewesen. Inzwischenpflegen die Moderatoren im Radio ebenfalls einen recht legeren Umgangston, der aberim Gegensatz zum Telefon kein dialogisches Gegenüber hat und daher häufigdeplatziert wirkt.
– Kommen bei diesen Formen Bilder hinzu, werden sie also zu Bildtelefon undFernsehen, lassen sich auch Mimik und Gestik übertragen. Beim Bildtelefon dürfte sichdie Übertragung auf die jeweils gerade agierenden Partner konzentrieren, so dass sichder Eindruck einer quasi personalen Situation einstellt, die nur noch der sinnlichenVielfalt der primären Kommunikation entbehrt und die Begrenztheiten der technischenÜbermittlung zu gewärtigen hat. Fernsehen bleibt hingegen an “disperse” Publikagerichtet, ohne Rückkoppelungen, trotz aller suggestiven Bemühungen um scheinbareBeteiligung, die heute üblich sind. Bilder, Texte und Geräusche können sich dabeiunterschiedlich zueinander verhalten: Sie können sich ergänzen und wechselseitigstützen, sie können sich widersprechen oder gänzlich unverbunden sein. Dann kannsich eine Text-Bild-Schere öffnen, die die Rezipienten individuell überwinden müssen(Wember 1976; Winterhoff-Spurk 2001, 155ff; Burkhart 2002, 355ff).
– Erst das Hybridmedium Internet überwindet solche technischen und medialenBegrenzungen, allerdings eher virtuell oder in der Imagination des User. Denn auchder bleibt materiell isoliert vor Bildschirm und Tastatur. Seine quasidialogischenOptionen schafft er sich letztlich in seiner Phantasie selbst, der Rechner bietet ihmdafür nur Daten und Zeichen, die der User mit “real life”, also mit leibhaftigenMenschen, sinnlichen Vorstellungen und emotionalen Anrührungen füllen muss (Turkle1986; 1999).
Alle Medien, seien sie massenkommunikativ oder digital-interaktiv, rekurrieren auf
Zeichen, Daten und Informationen, entweder in gespeicherter oder aktualiter erzeugten
Form. Sie haben mithin getrennte Raum- und Zeitkonstellationen, sie basieren auf
Programme, deren Produktion und Rezeption separiert sind, auch wenn bei den
interaktiven Formen die User selbst wieder zu Produzenten werden können und die
abgerufenen Programme bzw. Informationen weiter gestalten können. Just diese
Trennung haben frühe Medientheoretiker wie Bertolt Brecht (1932) und Hans Magnus
Enzensberger (1970) schon an den traditionellen Medien, Hörfunk und Fernsehen
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kritisiert und deren Überwindung gefordert, so dass der Sprung zu den interaktiv-digitalen
Medien heute zwar technisch enorm ist, sich aber theoretisch nicht so prinzipiell darstellt,
wie es vielfach postuliert wird (Kühler 2002c).
7. Von der Öffentlichkeit zur ‘audience polarization’?
Will man den Demokratisierungsgrad einer Gesellschaft ermessen, ist dafür ein wichtiger
Indikator, wie öffentlich, d. h. wie zugänglich und beeinflussbar die gesellschaftliche
Kommunikation ist, also: welchen Umfang und welche Partizipationschancen das
Publikum besitzt – oder noch anders formuliert: wer aus einer Population zum Publikum
zählt und wie es sich sozial zusammensetzt. Beispielsweise hatten in der antiken Polis,
dem Ideal direkter Demokratie, höchstens zehn Prozent der männlichen Bewohner die
vollen politischen Rechte.
Öffentlichkeit nimmt daher seit der Durchsetzung der bürgerlichen, modernen
Demokratie einen bedeutenden ideengeschichtlichen und verfassungsrechtlichen Rang
ein (siehe auch Kap. 5.3.1). Als kämpferische Losung richtet sie sich gegen die feudale
Arkanpolitik und wird so zum Hebel wie zum Ziel bürgerlicher Emanzipation.
Institutionalisiert wird sie einerseits im demokratischen Parlament, in den publizistischen
Medien realisiert sie sich andererseits zugleich als öffentlicher Diskurs wie als Geschäft,
zwischen öffentlichem Auftrag und Markt. Dadurch verliert Öffentlichkeit allmählich ihre
politische Brisanz und wandelt sich zur diffusen Publizität, letztlich auch zur ebenso
professionellen wie kommerziellen Inszenierung öffentlichen Geschehens: Die
hergebrachte Opposition von privat und öffentlich schwindet zusehends, Intimität wird –
zumal bei prominenten Personen – als besonders pikant für die Öffentlichkeit
herausgestellt. `Öffentliche Meinung' als der empirische Durchschnitt von
Einzelmeinungen wird von der kommerziellen Demoskopie unentwegt erhoben, damit
künstlich konstruiert und als Legitimation für diese oder jene politische Entscheidung
herangezogen (Habermas 1969; 1990; Sennett 1986; Neidhardt 1994).
Moderne, repräsentative Demokratie beruht auf der politischen Informiertheit,
Willensbildung und Beteiligung ihrer Bürgerinnen und Bürger; sie wird mithin erst durch
Massenmedien und deren breiten Rezeption möglich, da sie gewissermaßen zwischen
politischem System und Gesellschaft vermitteln. Medien stiften, organisieren, aber formen
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auch die öffentliche Reflexion, Diskussion und Kontrolle einer Gesellschaft. Daher werden
in den staatlichen Verfassungen die Meinungsfreiheit des Einzelnen und die
Pressefreiheit als institutionelle Gewähr gleichermaßen garantiert, die eine ist jeweils der
Maßstab für die andere. Mit den digitalen Medien verwischen sich wiederum öffentliche
und private Kommunikation, nicht nur in faktischer Konkretion, sondern auch in rechtlicher
Hinsicht, weshalb überkommene und bewährte Regularien überdacht und modifiziert
werden müssen. Ob die hergebrachte Medienfreiheit eben auch als gesellschaftliche,
allgemeinpolitische Verantwortung der einschlägigen Profession und Branche, der
Journalisten wie der Verlage, hinreichend integer und funktionstüchtig überleben wird,
scheint vielen fraglich. Bemühungen, dafür Qualitätsmaßstäbe und nicht zuletzt ethische
Orientierungen als professionelle Selbstverpflichtungen aufzurichten, nehmen daher zu
und drängen auf die Einhaltung, mit welchem Erfolg, wird sich zeigen müssen (Wunden
1993; 1996)
Aus prinzipieller, verfassungspolitischer Perspektive nehmen die Massenmedien die
Funktionen der Information, der Meinungsbildung, der Kritik und Kontrolle gewissermaßen
als verfassungsrechtlich geschützte öffentliche Aufgaben wahr, weshalb den Medien
mitunter im Rahmen der anerkannten Gewaltenteilung gewissermaßen die Funktion einer
vierten Gewalt im Staat attestiert wird (Bergsdorf 1980; Branahl 1996; 2002, 17ff;
Kunczik/Zipfel 2001, 84ff). Dabei handelt es sich allerdings eher um eine metaphorische
Übertragung, da die Medien ja nicht den gleichen verfassungsrechtlichen Rang wie die
drei grundlegenden Gewalten, die Legislative, Exekutive und Judikative, haben; immerhin
soll diese Analogie betonen, dass freie, nicht staatlich kontrollierte und genügend
konkurrenzierende Medien wesentliche, für die Demokratie unverzichtbare Funktionen
wahrnehmen. Außerdem sollen die Medien eine Gesellschaft sozial und politisch
integrieren, um ihren Zusammenhalt zu sichern und ihre Mitglieder politisch zu
sozialisieren (Holtz-Bacha 1997, 15). Welchen Anteil die Medien an der politischen
Sozialisation des Einzelnen tatsächlich haben, wird zwar vielfach postuliert, aber exakt zu
ermitteln ist er kaum (Bonfadelli 1981; Saxer 1988; Schorb u. a.1991). Tatsächlich richten
sie ihre Nachrichten und Beiträge vornehmlich an die politisch aktiven Bürgerinnen und
Bürger, sofern sie sich nicht gänzlich an den politischen und wirtschaftlichen Eliten
orientieren.
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Vielfach befürchtet wird inzwischen, dass die bereits skizzierte, anhaltende Diversifikation
der Medien und deren diagnostizierter Verfall als Massenmedien die integrierenden
Funktionen untergraben und damit die Demokratie schwächen: Wenn sich das Publikum
weiter “verstreue” (Hasebrink 1994; Höflich 1995; Klaus 1997), sich in Teilöffentlichkeiten
oder gar unzählige Interessenten- und Nutzergruppen fragmentiere, die nur noch von
Spezialmedien erreicht und bedient werden, könnten wichtige politische Debatten nicht
mehr über die Medien geführt werden, weil ein Großteil des Publikums die bedeutenden
Themen überhaupt nicht mehr mitbekomme. Daher drohe soziale Desintegration oder die
“balkanization of community” (Holtz-Bacha 1997, 21).
Bedenkt man indes, dass sich Lesefähigkeit und populäre Zeitungsproduktion erst in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinlänglich verbreiten, Radio und Fernsehen
Produkte des 20. Jahrhunderts sind, dann dauern Massenkommunikation und
repräsentative Demokratie – Phasen der Diktatur müssen subtrahiert werden – etwa 150
Jahre. Sie mögen sich aus der Sicht der Massenkommunikationsforschung nun ihrem
Ende zuneigen oder werden sich zumindest nachhaltig verändern. Dass dabei
vornehmlich die westliche, amerikanisch-europäische Entwicklung betrachtet wird und
nicht der restliche Großteil der Welt, darauf kann hier nur am Rande hingewiesen werden.
Außerdem sehen Optimisten mit den digitalen Medien, vor allem mit dem Internet, eine
neue Phase direkter Demokratie heraufziehen, zumindest die neuerliche Transformation
der repräsentativen Demokratie, da sich nun womöglich die für viele fremd gewordene
repräsentative Mitwirkung in eine digitale Polis wandle, die (elektronisch) unmittelbare
Partizipation und ständigen Dialog ermögliche. Potenziell können die digitalen Online-
Vernetzungen das Publikum vollständig in ‘Echtzeit’ erzeugen, und es mit mehr direkten
interaktiven Optionen ausstatten als jemals zuvor, selbst wenn dieses Publikum nur
virtuell bestünde, weil es individualisiert bleibt. So schwärmte der ehemalige
amerikanische Vizepräsident Al Gore bereits 1994 von einem neuen “Athenischen
Zeitalter”, nun als “globale Informationsstruktur” (Holtz-Bacha 1997). Das repräsentative
Parlament werde “virtuell” oder könne sogar durch periodische Plebiszite abgelöst
werden, sofern alle Bürgerinnen und Bürger online verbunden sind. Die öffentliche Sphäre
demokratisiere sich, wie sich ebenso gesellschaftliche Gruppen und Vereinigungen
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revitalisieren, da sich ihre Mitglieder umstandslos in politische Willensbildungs- und
Entscheidungsprozesse einschalten könnten (Zittel 1997; Leggewie/Maar 1998).
Andere Prognostiker halten die Visionen von der digitalen Demokratisierung für
ideologisches Wunschdenken, denn aus ihrer Sicht verlange die
“Informationsgesellschaft” nicht weniger, sondern mehr staatliche Autorität, um die
heraufziehenden sozialen Verwerfungen und internationalen Risiken zu meistern, um der
befürchteten Erosion der Gesellschaft und der fortschreitenden Relativierung der Normen
zu begegnen. Je mehr Information zur Verfügung stehe, umso mehr Orientierungswissen
und Moral seien erforderlich, und deren Direktiven und Begründungen könnten nur
staatliche Instanzen allgemein verbindlich bereitstellen und vor allem durchsetzen (Metze-
Mangold 1997, 112f; Münker/Roesler 1997).
Offensichtlich ist diese Diskussion mit jener über das Ende der Massenkommunikation
noch nicht genügend verknüpft; diese Diskrepanz belegt erneut die gegenwärtigen
strukturellen Umbrüche wie Inkonsistenzen heutiger Debatten. Es sind mithin mindestens
zwei konträre Modelle, die in ihren Visionen über die Entwicklung von Staat und
Gesellschaft miteinander konkurrieren. Aber beide dürften prinzipiell daran kranken, dass
sie ihre Prognosen relativ eindimensional aus technologischen Tendenzen ableiten und
andere womöglich nicht weniger relevante, aber nicht allein technologiebedingte Faktoren
unterschätzen. Um deren Bedeutung zu erkennen, genügt schon ein Blick in öffentliche
Diskurse und publizierte Prognosen, die nicht primär die Medien ins Blickfeld nehmen: Zu
denken ist etwa an die anhaltenden demographischen Verschiebungen, die die
hochentwickelten Industrienationen immer älter werden lassen, wohingegen die ärmeren
Staaten enormen Bevölkerungsüberschuss verzeichnen; ferner an die sich mit der
Globalisierung verschärfende Arbeitsteilung, an die ungleiche Verteilung von Wohlstand
und die wachsende Unterprivilegierung auf der Welt, an die Umweltproblematik, an
vornehmlich wirtschaftswissenschaftliche Diskussionen über die Veränderungen der
Erwerbsarbeit und das wirtschaftliche Handeln unter technischem, ökonomischem und
globalisiertem Wandel, aber auch an die Erstarkung fundamentalistischer Strömungen,
kultureller Autonomiebestrebungen und separatistischer Bewegungen sowie an vielfältige
Veränderungen in den sozialen Mikrokosmen wie in den Familien und Gruppen, die als
wachsende Individualisierung, Pluralisierung, aber auch als bedenkliche Erosion tradierter
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Fundamente und Normen analysiert werden. All diese Tendenzen und Faktoren mögen
'irgendwie' miteinander zusammenhängen, doch der jeweilige disziplinäre Blickwinkel
entscheidet darüber, welche Zusammenhänge wie gesehen werden (Friedrichs 1997;
Martin/Schumann 1997; Beck 1997, Jarren/Donges 1997; 2002).
8. Definitionen und Dimensionen von Massenkommunikation
8.1. Das bewährte Modell der Massenkommunikation Gerhard Maletzkes
In seinem Pionierwerk Psychologie der Massenkommunikation von 1963 arbeitete
Gerhard Maletzke, seinerzeit wissenschaftlicher Referent am Hamburger Hans-Bredow-
Institut für Medienforschung, den damaligen Stand der empirischen Forschung unter
psychologischer Perspektive auf und definierte Massenkommunikation allgemein so:
Unter Massenkommunikation verstehen wir jene Form der Kommunikation, bei derAussagen
öffentlich also ohne begrenzte und personelldefinierte Empfängerschaft
durch technische Verbreitungsmittel Medien
indirekt also bei räumlicher oder zeitlicher oderraumzeitlicher Distanz zwischen denKommunikationspartnern
und einseitig also ohne Rollenwechsel zwischenAussagendem und Aufnehmendem
an ein disperses Publikum vermitteltwerden
(s.u.)
(Maletzke 1963, 32).
Dispers sei das Publikum der Massenkommunikation deshalb, weil es sich nur von Fall zu
Fall durch gemeinsame Zuwendung an einen gemeinsamen Gegenstand, nämlich die
publizistische Aussage, bilde und daher kein überdauerndes soziales Gebilde sei. Die
Medien erzeugen gewissermaßen dieses Publikum, auch wenn es sich inzwischen
vielfach festgefügt habe, z. B. als Abonnenten, oder sich – bei den elektronischen Medien
– regel- bzw. gewohnheitsmäßig formiere. Seine Mitglieder seien als Individuen räumlich
getrennt, oder sie treffen sich in relativ kleinen, an einem Ort versammelte Gruppen (z. B.
Familien, Freundeskreise oder Peer groups von Jugendlichen, Kinopublikum).
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Äußerlich lasse sich das disperse Publikum durch folgende Kriterien charakterisieren:
durch
– die große Anzahl seiner Mitglieder
– ihre gegenseitige Anonymität
– ihre soziale Inhomogenität, also durch ihre vielfältigen Lebensstandards und -stile, ihreInteressen, Meinungen und Einstellungen, Erfahrungen und Erlebnisweisen
– die Unorganisiertheit und Unstrukturiertheit, so dass keine Spezialisierung von Rollen,“keine [gemeinsamen] Sitte und Tradition, keine Verhaltensregeln und Riten und keineInstitutionen” (Maletzke 1963, 32) ersichtlich sind.
Diese Definition fand Eingang in viele Lehrbücher und wurde hierzulande ein Paradigma
für die moderne Medienforschung, auch wenn manche Kritik an ihr geäußert und manche
Erweiterung und Modifikation vorgenommen wurden. Maletzke veranschaulicht sie auch
grafisch als “Feldschema”. Ein solches Modell zeichnet sich gemäß der allgemeinen Feld-
Theorie des Sozialpsychologen Kurt Lewin (1890-1947) dadurch aus, dass es eine
ganzheitliche Struktur von Phänomenen innerhalb eines sozialen Systems abzubilden
sucht (1951). Diesen Ansatz übertrug Maletzke auf die Massenkommunikation, denn “[ihr]
Beziehungsfeld [ ... ] ist zu verstehen als ein kompliziertes dynamisches System von
Dependenzen und Interdependenzen der beteiligten Faktoren” (Maletzke 1963, 37).
Abb. 1: Schema des Feldes der Massenkommunikation von Gerhard Maletzke, (1963, 41;1981, 14)
In späteren Veröffentlichungen (u. a. 1976, 14f; 1981, 15) erläutert Maletzke das
Feldschema so: Das Schema versucht, folgende Sachverhalte darzustellen:
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– Der Kommunikator (K) produziert die Aussage durch Stoffwahl und Gestaltung. SeineArbeit wird mitbestimmt durch seine Persönlichkeit, seine allgemeinen sozialenBeziehungen (u. a. persönliche direkte Kommunikation), durch Einflüsse aus derÖffentlichkeit und durch die Tatsache, dass der Kommunikator meist in einemProduktionsteam arbeitet, das wiederum einer Institution eingefügt ist. Außerdem mussder Kommunikator die Erfordernisse seines Mediums und des 'Programms' kennenund berücksichtigen, und schließlich formt er sich von seinem Publikum ein Bild, dasseine Arbeit und damit die Aussage und damit endlich auch die Wirkungen wesentlichmitbestimmt.
– Die Aussage (A) wird durch das Medium (M) zum Rezipienten geleitet. Sie muss dabeiden technischen und dramaturgischen Besonderheiten des jeweiligen Mediumsangepasst werden. Der Rezipient (R) wählt aus dem Angebot bestimmte Aussagenaus und rezipiert sie. Der Akt des Auswählens, das Erleben der Aussage und diedaraus resultierenden Wirkungen hängen ab von der Persönlichkeit des Rezipienten,von seinen sozialen Beziehungen, von den wahrnehmungs- undverhaltenspsychologischen Eigenarten des Mediums auf der Empfangerseite, von demBild, das sich der Rezipient von der Kommunikatorseite formt und von dem mehr oderweniger klaren Bewusstsein, Glied eines dispersen Publikums zu sein. Schließlichdeutet der obere Pfeil im Feldschema an, dass trotz der Einseitigkeit derMassenkommunikation ein ‘Feedback’ zustande kommt.
Die genannten relevanten Faktoren der Massenkommunikation werden folgendermaßen
charakterisiert:
– Kommunikator (K): Kommunikator im Rahmen der Massenkommunikation ist jedePerson oder Personengruppe (... j, die an der Produktion von öffentlichen, für dieVerbreitung durch ein Massenmedium bestimmten Aussagen beteiligt ist, sei esschöpferisch, gestaltend oder kontrollierend.
– Aussage (A): Als Aussage bezeichnen wir symbolhafte Objektivationen oderBedeutungsinhalte, die Menschen (als Kommunikatoren) herstellen und gestalten, sodass sie bei anderen Menschen (als Rezipienten) psychische Prozesse verursachen,anregen oder modifizieren können, und zwar Prozesse, die in einem sinnvollenZusammenhang mit der Bedeutung des Ausgesagten stehen.
– Medium (M): Als Medien der Massenkommunikation bezeichnen wir die technischenInstrumente oder Apparaturen, mit denen Aussagen öffentlich, indirekt und einseitigeinem dispersen Publikum vermittelt werden.
– Rezipient (R): Rezipient im Prozess der Massenkommunikation ist jede Person, dieeine durch ein Massenmedium vermittelte Aussage soweit ‘entschlüsselt’, dass derSinn der Aussage dieser Person – zum mindesten in groben Zügen – zugänglich wird.
Außer auf Lewin rekurriert Maletzke für dieses Feldschema und der Beschreibung seiner
Faktoren noch auf andere amerikanische Vorbilder, etwa auf die berühmte “Lasswell-
Formel” (s. u Kap. 7). Deren funktionalistischen Prämissen behält er offensichtlich bei, bis
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hin zur Annahme einer Balance zwischen Kommunikator und Rezipient. Damit lässt
dieses Modell weitgehend ausser Acht, dass sich im Zeitalter professioneller,
hochorganisierter, machtpolitisch verstrickter und vor allem ökonomisch – sprich: auf
Profitmaximierung – ausgerichteter Medienkommunikation die Gewichte zum Nachteil des
Publikums verlagert haben, dass es mithin erhebliche Beeinflussungsmöglichkeiten und
wohl auch Abhängigkeiten gibt; sie werden durch das Modell egalisiert und damit
eskamotiert. Auch bei den Strukturen und Mechanismen der Produktion, also bei den
Kommunikatoren, sind heutzutage mächtige (Inter)Dependenzen – etwa von der Werbung
– und Verflechtungen in besagten weltweit operierenden und viele Branchen
einvernehmende Konzerne zu verzeichnen, so dass auch hierfür die Abbildungen des
Modells zu simpel und einschichtig erscheinen. Immerhin sind zur selben Zeit, als
Maletzkes Buch erschien, die Thesen und Analysen der Vertreter der Frankfurter Schule,
also von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, zur “Kulturindustrie” diskutiert worden.
Sie diagnostizierten kein egalitäres Verhältnis zwischen Medien und Publikum, sondern
eher massive Abhängigkeiten der Rezipienten, einschließlich drastischer
Bewusstseinsmanipulationen (Horkheimer/Adorno 1944; 1969; Adorno 1967: Kausch
1988). An solchen analytischen Diskrepanzen zwischen theoretischen Entwürfen und
empirischen Befunden krankte die Medienforschung lange, wenn sie es nicht bis heute tut
(vgl. etwa Prokop 2001, 2002).
Allerdings gerät letztlich jedes Modell an Grenzen der Darstellbarkeit, vor allem
hinsichtlich der angemessenen Repräsentation gesellschaftlicher Wirklichkeit bzw. realer
Komplexität und insbesondere hinsichtlich der Abbildung dynamischer und informeller
Interdependenzen. Immerhin würdigte kürzlich, anlässlich des 75. Geburtstags Maletzkes,
die gegenwärtige Medienwissenschaft seinen Ansatz und sein Modell nicht nur insoweit,
dass sie “Schule” gemacht und “Medienwissenschaft und Medienpraxis” weithin geprägt
haben, vielmehr auch deshalb, weil sie noch immer genügend heuristisches Potenzial
bergen, um die Grundfrage: “Was heißt heute noch Massenkommunikation?” nicht nur
erneut, sondern auch systematischer zu diskutieren, als dies “weit verstreute
Einzelstudien” und Erkenntnisse gemeinhin vermögen (Fünfgeld/Mast 1997, 11).
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8.2. Eine Weiterentwicklung: das “Modell elektronisch mediatisierter
Gemeinschaftskommunikation”
Ein aktuelle Weiterentwicklung des Feldschemas Maletzkes legen Roland Burkhart und
Walter Hömberg (1997) vor und nennen es “Modell elektronisch mediatisierter
Gemeinschaftskommunikation”. Mit ihm wollen sie einerseits zeigen, dass das
Feldschema “auch unter geänderten Medienbedingungen zum Weiterdenken anregt” und
seine “heuristische Qualität” behält. Zum anderen soll das veränderte Modell den
eingetretenen Veränderungen Rechnung tragen, die Digitalisierung und Vernetzung
erwirken, wozu besonders die tendenzielle Einebnung der “Unterschiede zwischen
Kommunikator- und Rezipientenrolle” gerechnet wird. Allerdings müsse berücksichtigt
werden, dass die Technik nicht zwangsläufig alle funktionalen und sozialstrukturellen
Spezifizierungen aufhebt, sondern diese ebenso sehr, wenn nicht nachhaltiger durch
ökonomische, organisatorische und strukturelle Konditionen bestimmt seien und
womöglich trotz der rasanten technologischen Transformation überdauern. Auch in der
gesellschaftlichen, öffentlichen Kommunikation dürften Arbeitsteilung und
Professionalisierung, Verteilprogramme und Vermittlungsoptionen weiterhin bestehen, die
mit den als offen gedachten Begriffen “Beteiligte” (B) und “organisiert Beteiligte” (OB)
umschrieben sind (siehe Abb. 2).
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Abb. 2: Modell elektronisch mediatisierter Gemeinschaftskommunikation (Burkhart/Hömberg1997, 84)
Auch für dieses Modell lässt sich fragen, ob die strukturellen, zumal ökonomischen
Konditionen, in denen die Beteiligten operieren und produzieren, genügend ausgearbeitet
und vor allem gewichtet sind. Denn die anhaltende Kommerzialisierung medialer
Kommunikation – etwa die immer evidentere Dominanz der Werbung, die weit in die
digitalen, interaktiven Medien hinein reicht – wird kaum berücksichtigt. Somit gaukelt auch
dieses Modell nach wie vor freie Entscheidungsmöglichkeiten für das Individuum in allen
gesellschaftlichen Bereichen vor und begreift es als autonom kommunzierendes. Dabei
wird gerade unter der wachsenden Informations- und Medienfülle immer offenkundiger,
dass Auswahl und Tendenz der Medieninhalte kaum mehr den hehren Zielen der
Informationsfreiheit, nicht einmal dem vielgelobten freien Spiel des Marktes folgen,
sondern dass sie vornehmlich den Maximen der Kostenminimierung, der Eindämmung
des Akzeptanzrisikos, dem Mainstream und dem Profit gehorchen, die von immer
wenigeren, aber ständig größer werdenden Kommunikationskonzernen diktiert werden.
8.3. Eine aktuelle Definition für mediale Kommunikation
Bleibt man in den (formalen, deskriptiven) Kategorien Maletzkes, ohne die Kritik über
ihren Realitätsgehalt hinreichend umsetzen zu können, könnte eine zeitgemäße Fassung,
die die allmähliche Aufweichung der Massenkommunikation und die Mutationen zur
medialen Kommunikation aufgreift, wie folgt formuliert werden:
Unter medialer Kommunikation verstehen wir die (sich mehr und mehr verbreitende) Formder Kommunikation, bei der
Zeichen also Texte, Grafiken, Töne, Bilder
privat oder öffentlich in allen denkbaren Graden und Versionen
durch technische Verbreitungsmittel Medien im weitesten Sinne
analog oder digital und vernetzt also ohne oder mit Unterstützungelektronischer Datenverarbeitung[Computer] und Netzsystemen
anonym, verschlüsselt oder explizitsimultan oder zeitversetzt bei räumlicherDistanz ein- oder wechselseitig
also ohne oder mit Rollenwechsel derKommunizierenden, wobei letzterer auchals Interaktivität bezeichnet wird
an einzelne, mehrere oder viele(Adressaten/Zielgruppen) vermittelt werden.
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Diese Definition versucht den jüngsten Entwicklungen der Medien und der medialen
Kommunikation Rechnung zu tragen. Angesichts der einhergehenden Transformationen
kann sie nicht mehr so eindeutig und dipodisch zwischen personaler und
Massenkommunikation trennen, wie es Maletzke in den 60er Jahren vermochte (siehe
auch Berghaus 1994; Höflich 1995):
Der Begriff der “Aussage” war vermutlich schon immer zu eng und missverständlich, denn
darunter müssen auch Unterhaltung, Service oder Werbung subsumiert werden, die man
gemeinhin nicht als “Aussage” versteht. Jedenfalls hört er sich altertümlich an. “Zeichen”,
der Grundbegriff der Semiotik, ist neutraler und umfasst alle Typen kommunikativ-
medialer Inhalte, auch die, die nicht vorrangig intentional und mit einer Botschaft versehen
sind, sowie auch die, die nicht professionell, also im System der institutionalisierten
Massenkommunikation, sondern von Amateuren, etwa privaten Videoproduzenten und
Internet-Usern, produziert werden. Allerdings muss der Zeichenbegriff jeweils spezifiziert
und konkretisiert werden. Landläufig wird dafür auch der Begriff der Information benutzt –
selten indes mit jenen Relativierungen, die in den Kap. 2.4 und 8.2 ausgeführt sind.
Ebenso kann nicht mehr eindeutig zwischen Öffentlichkeit und Privatheit geschieden
werden, wie bereits apostrophiert wurde (siehe Kap. 5.3.1). In den modernen
Mediengesellschaften vermischen sich Privates und Öffentliches unentwegt, ja es gehört
wohl zu ihren Mechanismen von Herrschafts- und Loyalitätssicherung, zu den Strategien
von Aufmerksamkeitsweckung und Personalisierung, dass mit vielfältigen Graden und
Formen von Öffentlichkeit und Privatheit gespielt, gewissermaßen das Privat-Intime
veröffentlicht, vielfach allerdings auch nur scheinbar, und das Öffentliche als Privates
vergeheimnist und sensationslüstern camoufliert wird.
Die elektronischen Online-Medien vereinen ohnehin zunehmend private und öffentliche
Kommunikation: Das erste Medium war der so genannte Bildschirmtext (seit 1983 in
Deutschland), eine Verbindung von Telefon und Fernsehen. Für ihn musste erstmals ein
Gesetz formuliert werden, das privatrechtliche wie öffentlich-rechtliche Optionen verband.
Als “Datex J”(seit 1992) ist der ehemalige Bildschirmtext in das Online-Angebot der
Telekom “T Online” integriert worden. Inzwischen offerieren alle Vernetzungen sowohl
privatrechtliche Dienstleistungen wie öffentliche Kommunikationsformen. Im Internet sind
sämtliche Optionen, bisher weitgehend kostenlos, möglich, so dass es am
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offensichtlichsten die anhaltende Transformation und Fusion von Kommunikation
markiert. Zugleich kennt es aber auch Abschottungen, die mindestens formal Privatheit
signalisieren (auch wenn sie technisch überwindbar sind): Die diversen News- und
Chatting-Groups machen sich durch Zugangsschwellen und Accounts begrenzt exklusiv;
Intranets schließen sich noch massiver ab und vernetzen nur bekannte Adressen, etwa
als interne Firmenkommunikation.
Noch sind einige Übertragungswege analog, wie etwa bei den klassischen
Massenmedien. Manche haben bereits beide Varianten wie etwa die gedruckte und die
Online-Zeitung. Hörfunk und Fernsehen stehen unmittelbar vor ihrer Digitalisierung (ab
2003); ihre Verwirklichung ist kein technisches Problem mehr, sondern vorrangig ein
marktstrategisches. Aber die Besitz- und Machtverhältnisse auf den Märkten des digitalen
Rundfunks sind mächtig umkämpft; sie sind weder zwischen den öffentlich-rechtlichen
und den privaten Betreibern noch unter den privaten selbst hinreichend geklärt, wie der in
den 90er Jahren ausgetragene Kampf zwischen den Medienkonzernen Bertelsmann und
Kirch und der Zusammenbuch des Kirch-Imperiums zu Beginn des 21. Jahrhunderts
exemplifizieren.
Wie Zeichen und Daten übertragen und verbreitet werden, hängt von ihrer Funktion und
Publizierbarkeit, also von den entsprechenden Intentionen ihrer Urheber, ab. Insofern
finden sich wiederum alle Varianten, von der Geheimhaltung und/oder Vertraulichkeit bis
hin zur uneingeschränkten Zugänglichkeit und Publizität. Allerdings können ihre Urheber
sie nur noch begrenzt sichern und entsprechend kategorisieren. Denn elektronische
Daten sind tendenziell dechiffrierbar, so dass sich die Grade von Öffentlichkeit und
Zugänglichkeit für die Nutzung und aus Sicht der Technik möglicherweise anders
darstellen als für die Urheber und Verbreiter. Um ihre Interessen kümmert sich das seit
Juli 2003 verschärfte Urheberrecht in der Bundesrepublik (Branahl 2002, 199ff). Doch es
ist nur eine nationale Vorsorge, keine internationale; und außerdem sind rechtliche
Schranken noch lange keine technische, d. h., für entsprechend versierte Interessenten
sind sie letztlich überwindbar.
Elektronische Daten sind allerorts (nahezu) gleichzeitig mit ihrer Schöpfung und Eingabe
verfügbar, so dass nicht nur der Zeitverzug innerhalb der Produktion, der durch diverse
Phasen der Materialisierung und Gestaltung – etwa beim Druck – verursacht wird, wegfällt
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oder zumindest enorm reduziert wird: Letztlich fallen Produktion und Rezeption
zusammen, was mit dem Begriff der “Echtzeit” (Virilio 1996; Kloock 2000, 161ff)
gekennzeichnet wird; beim Internet können sie – wie im personalen Dialog – ständig
wechseln. Vor allem das charakteristischste Kriterium der Massenkommunikation, die
Einseitigkeit des Kommunikationstransfers, wird mehr und mehr aufgehoben –
entsprechend erodiert die Dualität von personaler und Massenkommunikation. Als
Unterscheidung kann nur dienen, ob allein die natürlichen Kommunikationsmittel des
Menschen, also Sprache, Gestik, Mimik, verwendet werden oder ob ein technisches
Medium zum Einsatz kommt. Bei den technischen Medien lassen sich der Grad ihrer
Institutionalisierung und der ihrer Professionalisierung spezifizieren, die man auch als
Grad der Gesellschaftlichkeit fassen kann. So dürften sich weiterhin die klassischen
Massenmedien von der Internet-Nutzung unterscheiden lassen, jedoch kaum mehr durch
ihren Grad der Publizität und Verbreitung. Denn auch das laienhafteste Produkt kann mit
Internet weltweit verbreitet werden und damit verfügbar sein. Ob es allerdings in der Flut
der Daten und Informationen beachtet oder gar rezipiert wird, ist eine ganz andere Frage.
Wenn schon der “Verfall” der bürgerlichen Öffentlichkeit das (ehedem als Ideal
apostrophierte) Publikum erodieren und zu zufälligen Adressaten und Zielgruppen für
diverse Offerten und Dienstleistungen diffundieren lässt (Habermas 1969, 1990), dann
beschleunigen und forcieren die elektronischen Medien diese Umwandlung erheblich, so
dass alle Varianten von Gruppierungen vorkommen. Nur noch bei wenigen entsprechend
publizistisch und öffentlichkeitswirksam aufbereiteten Ereignissen (“Events”) dürften sich
Publika im herkömmlichen Sinne konstituieren und etwa vor dem Fernsehapparat – vor
dem bis dato am weitesten reichenden Massenmedium – versammeln, um danach
ebenso schnell wieder zu verfallen und sich in anderen Formationen zu finden. Auch
wenn Maletzke das Publikum schon als “dispers” charakterisierte, hielt er dennoch am
Begriff des Publikums fest. Für den isolierten Internet-User, aber auch für die Special
Interest-Group einer Zeitschrift, für die von einem Sendebereich eines Hörfunkprogramms
in den anderen gelangenden Autofahrer sowie für die häufig hin und her zappenden
Fernsehrezipienten dürfte der historisch und normativ belegte Terminus des Publikums
auf Dauer wohl kaum mehr passen. Aber ein angemessenerer und vor allem geläufigerer
ist bislang nicht gefunden (Burkhart 2002, 355ff).
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9. Objektivität, Universalität, Aktualität, Periodizität: Wie angemessen
sind heute noch die klassischen publizistischen Kriterien?
Wie sich Massenkommunikation nicht nur formal, sondern auch prinzipiell, zumindest in
als funktional gedachten Normen definieren lässt, daran versucht sich die traditionelle
Publizistikwissenschaft seit jeher auf vielfache Weise (Dovifat 1931; 1976). Eine der
Bemühungen war, inhaltliche wie zeitliche Dimensionen der Massenmedien zu
postulieren, und zwar sowohl im Hinblick auf die Repräsentation von Wirklichkeit als auch
im Hinblick auf ihre Erscheinungsweise als Kriterium für die Dichte und Wiederholbarkeit
von Realitätsrepräsentation. Die höchste Norm dürfte nach wie vor die der Objektivität
sein, die man gemeinhin den Nachrichten attestiert. Sie beanspruchen sowohl die
Produzenten in ihrem professionellen Selbstverständnis, als sie auch die Rezipienten als
Maßstab für die Glaubwürdigkeit und Relevanz der Nachrichten erwarten (Donsbach
1991; Kunczik/Zipfel 2001, 276ff). Im erkenntnistheoretischen Sinn können Nachrichten
jedoch keine Objektivität beanspruchen. Die moderne Nachrichtenforschung hat viele
zweckdienliche und pragmatische Bezugsgrößen für Nachrichten aufgezeigt, die sich aus
der Produktion und den professionellen Standards der Nachrichtenproduzenten ergeben
(Wilke 1984). Im täglichen Produktionsgeschäft wird daher der gleichwohl
aufrechterhaltene Anspruch nach Objektivität als möglichst große Sachlichkeit (gegenüber
dem Sujet), Neutralität (gegenüber einer subjektiven Sicht), Relevanz (als Kriterium für die
Wichtigkeit) und Vollständigkeit (als Kriterium für die angestrebte und erreichte
Umfänglichkeit der Berichterstattung, der sogenannten Nachrichtenlage) übersetzt (Kühler
1979; Wilke 1984; Schütte 1994; Brosius 1995; Hagen 1995).
Nur noch für den seriösen Journalismus dürften auch die anderen Kriterien, nämlich
Universalität (als inhaltliche Reichweite und thematische Umfänglichkeit), Aktualität (als
Kriterium für die Zeitspanne zwischen Ereignis und Berichterstattung) und Periodizität (als
Kriterium für die Erscheinungsweise und damit für die Dichte und Wiederholbarkeit von
Wirklichkeitsrepräsentation) zutreffen, die dennoch von der Publizistikwissenschaft als
wesentliche Charakteristika für Massenmedien mit erheblicher Energie und Akribie zu
definieren versucht worden sind (Merten 1973; Bentele/Ruoff 1982; Bentele/Rühl 1993).
Angesichts der ständig wachsenden Informationsflut kann wohl kein Medium heute mehr
für sich das inhaltliche Ideal der Universalität beanspruchen. Es stammt vornehmlich aus
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früheren Vorstellungen, wie sie seit dem 18. Jahrhundert mit den enzyklopädischen
Versuchen, das anerkannte Weltwissen zu erfassen und zu strukturieren, tradiert und
dann in die moderne Zeitung und Zeitschrift herangetragen wurden, die als
Repräsentanten und Verbreiter der jeweils aktuellen, mindestens zeitgenössisch
anerkannten Version dieses Weltwissens fungierten. Doch mit der anhaltenden
Wissensexplosion lassen sich kaum mehr Grenzen für das anerkannte Wissen
konturieren, allein schon Gewichtungen dürften schwer fallen, wie das Internet permanent
veranschaulicht. Allein begrenzte ‘Universalitäten’ sind noch – wenn auch mit Vorbehalten
– vorstellbar, deren Selektion und Abgrenzung freilich stets auf dem Prüfstand stehen, oft
aber auch euphemistisch – zu Werbezwecken – behauptet werden. Bei der Zeitung kann
es sich höchstens noch um eine tägliche (oder wöchentliche) Ad-hoc-Universalität
handeln, deren Zustandekommen und Gewichtung ähnlich wie bei der Forschung zu den
Nachrichtenfaktoren (Staab 1990; Schütte 1994; Kunczik/Zipfel 2001, 245ff) überprüft
werden müsste; die Zeitschrift als publizistisches Abbild eines auch nur annähernd
universalen Kosmos ist ausgestorben – oder sie gaukelt sie als surrogative Welt der
Shows und Stars, der Sensationen und highlights vor. Insofern ist der seriöse Anspruch
nach Universalität obsolet geworden; er ist beliebig, unüberprüfbar, lässt sich aber
unentwegt suggerieren.
Pragmatisch lässt er sich nur noch aufrechterhalten, wenn eine bestimmte, selbstgestellte
thematische Reichweite implizit akzeptiert wird. So zeigt beispielsweise die empirische
Nachrichten(wert)forschung, dass Selektion bei der anhaltenden Nachrichtenflut nicht nur
unausweichlich ist, – schätzungsweise maximal 10 Prozent der weltweit verbreiteten
Nachrichten werden jeweils publiziert –, sondern auch, dass sie recht eigenwilligen, wenig
explizierten Kriterien gehorcht (Staab 1990; Schütte 1994; Kunczik/Zipfel 2001, 245ff). Sie
ergeben sich sowohl aus den Konditionen und Prozessen des Nachrichtenmarktes, den
Prämissen und Strukturen des Mediums – beim Fernsehen anders als beim Radio – als
auch aus der beruflichen Sozialisation und der eingeschliffenen Usancen der
Nachrichtenproduzenten, etwa aus dem berühmten journalistischen Gespür und dem
Selbstverständnis als Chronist, mithin aus Markt, Medien und professioneller Mentalität.
Aktualität ist mit der technologischen Entwicklung ständig kurzfristiger geworden: “Live”
avancierte zum attraktivsten Prädikat der elektronischen Medien, weshalb es inzwischen
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ständig beschworen wird, auch wenn es sich insgeheim um eine kontrollierte
Aufzeichnung handelt. Heute wird es sogar von der ‘Echtzeit’ übertrumpft, also von der
Gleichzeitigkeit von Ereignis und Berichterstattung sowie von der Simultaneität medialer
Reproduktion in diversen (multimedialen) Kanälen (Virilio 1992, 1996; Hörisch 1993;
Kloock/Spahr 2000, 133ff). Daneben ist eine Aktualität zweiten oder auch posterioren
Grades – vornehmlich für die Druckmedien – erfunden worden, da die Rasanz der
Produktion die Berichterstattung in den elektronischen Medien sehr verkürzt und ihr
vielfach Hintergrund wie Einordnung zum Opfer fallen. So arbeiten vor allem
ausführlichere und auch wertende Formen des Journalismus – etwa in Magazinen,
Berichten und Reportagen – Hintergründe aktueller Ereignisse auf, avisieren und
beurteilen Entwicklungen und Tendenzen und erschließen Zusammenhänge. Bei
investigativen Vorgehensweisen des Journalismus, bei denen unbekannte Tatsachen
oder geheim gehaltene Machenschaften enthüllt und damit der öffentlichen Diskussion
zugänglich gemacht werden (Ludwig 2002), schaffen die Medien selbst Aktualität, da ihre
Redaktionen bestimmen, wann und wie sie ihre Recherchen und Enthüllungen
veröffentlichen wollen. Die Publikation wird dabei zum Ereignis und kann dann ihrerseits
publizistische Reaktionen und Weiterungen auslösen. Vor allem die wöchentlichen
Magazine – wie SPIEGEL, STERN und FOCUS – sehen in solch einer publizistischen
Aktualität ihre öffentliche Aufgaben, und sie leben auch publizistisch wie ökonomisch von
ihr.
Allerdings sind die Übergänge zur so genannten “Pseudo-Aktualität” fließend, deren sich
besonders populäre Medien mit denen von ihnen initiierten oder gar inszenierten
Ereignissen (“Events”) und “News” unaufhörlich befleißigen. Denn auch besagte
Magazine bauschen oft Pseudo-Ereignisse, Vermutungen und Verdächtigungen
unverhältnismäßig auf und produzieren “Schein-Enthüllungen”, wenn nicht gar
Falschmeldungen (“Enten”). Denn alle Medien müssen und wollen in der heute
verschärften Konkurrenz und Vielzahl Aufmerksamkeit erzeugen, am besten eine, die sie
selbst lancieren und bestimmen, sie setzen sich mithin selbst als Aktualität und Nachricht
und betonen die bereits weit gediehene Selbstreferentialität bzw. Eigenrealität des
Mediensystems. Immer weniger fungiert es nämlich als öffentlicher Mittler zwischen
sozialer Wirklichkeit und Publikum, vielmehr agiert es oft genug als besagte eigene
Realität, die sich dem Publikum als vermeintlich bedeutend und attraktiv aufdrängt.
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Die Periodizität, die regelmäßige Erscheinungsweise, wie sie die Printmedien seit dem
17. Jahrhundert allmählich herausbildeten, haben die elektronischen Massenmedien bis
zur sekundengenauen Perfektion hypertrophiert, so dass sowohl feste Zeitrhythmen
entstanden sind, die sich in den Alltag des Publikums eingraviert haben, als sich auch
dadurch weitgehend stabile Publika formieren (Neverla 1992). Diese werden inzwischen
von den “Formatkonzepten” in Radio und Fernsehen weiter perfektioniert: Bestimmte
Publikumsgruppen bekommen gewissermaßen im fixen Zeitkorsett all ihre Nutzerwünsche
befriedigt und sollen möglichst selten ihr bevorzugtes Medium bzw. Programm verlassen.
Unter dem Diktat der Werbung, die ebenfalls solch fixe Zielgruppen-Bindung verlangt,
werden Serien und andere Sendungen sogar im täglichen Rhythmus wie die so
genannten “Daily(Soap)s” angeboten. Programme sind inzwischen starr fixiert, ihre
Änderungen bedürfen jeweils gesicherter Entscheidungen, die vorrangig nach den
Kriterien von Marketing, Resonanz und Akzeptanz getroffen werden und die oft genug
definitive Folgen haben, oder sie erfolgen – im besseren Fall – infolge außergewöhnlicher
Ereignisse. Denn mit den Sendeplätzen sind zugleich erwünschte oder schon einmal
erkämpfte Reichweiten und Marktanteile kalkuliert. Werden diese von den Sendungen
oder ihren Protagonisten nicht erreicht, werden sie umstandslos ausgewechselt. Das
äußere Format bleibt, nur die Figuren und Inhalte werden modifiziert. So firmiert
Periodizität immer weniger als ein publizistisches Kriterium denn als ein Marktkalkül.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Rechteinhabers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung undVerarbeitung in elektronischen Systemen.
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