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„Das einzige, was ein Kunstwerk kann,
ist Sehnsucht wecken nach einem anderen Zustand der Welt.
Und diese Sehnsucht ist revolutionär."
Heiner Müller
MATERIALMAPPE
NO UND ICH
Delphine de Vigan / dramatisiert von Juliane Kann /
Strichfassung von Carola Unser, Susan Leichtweiß & Team
Regie: Carola Unser
Bühne & Kostüme: Juliette Collas
Politologische & dramaturgische Beratung: Susan Leichtweiß
Dramaturgie: Athena Schreiber
Regieassistenz: Gabriele Kästner
Regiehospitanz: Edith Schriefl, Hannah Spielvogel
mit Mechthild Grabner / Zenzi Huber / Christian Simon
Premiere: Sa., 31/08/2013 / 20.00 Uhr / Wilhelmshaven, Studio Rheinstr. 91
www.landesbuehne‐nord.de
Konzeption und Erstellung Materialmappe: Susan Leichtweiß
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Vorwort
„Eines Tages wird man offiziell zugeben müssen,
dass das, was wir Wirklichkeit getauft haben,
eine noch größere Illusion ist als die Welt des Traumes.“
Salvador Dalí
Liebe Lehrerinnen und Lehrer, l iebe Pädagoginnen und Pädagogen!
Hereinspaziert in eine unbekannte Welt! Wir präsentieren: Armut, Elend, ein Leben auf der Straße.
Verstoßen vom Rest der Welt fristen hier am Abgrund Menschen ein Dasein ohne Hoffnung auf Normalität,
auf Liebe und Zuneigung, ohne Spaß und den Luxus einer heißen Badewanne. Abgeschottet und am Rand der
Gesellschaft – aber für Sie heute Abend auf die Bühne und ins Rampenlicht geholt! Das kann nur Theater: die
Realität für Sie abgebildet, in Kostüm und Bühne aufbereitet, authentisch und echt.
Schön, nicht wahr? Oder doch nicht?
Also gut, um was geht es in dem Stück NO UND ICH wirklich? Sie sind jedenfalls nicht auf der Bühne, die sog.
Obdachlosen, um die es geht. Wir raten also weiter, lehnen uns aus dem Fenster, versuchen, ein Stück Realität
zu erhaschen. Und bleiben kritisch. Denn auch darum geht es.
Und um Freundschaft, Zuneigung und Geborgenheit. Und natürlich Liebe, die darf nicht fehlen. Um den
Mut, anti zu sein. Und darum, den Ist‐Zustand nicht einfach hinzu nehmen sondern zu hinterfragen, zu
kritisieren – auch wenn das furchtbar anstrengend ist oder gar weh tut. Denn das tut Lou, die 13jährige
Außenseiterin, die einfach keine Lust mehr hat die Dinge so hinzunehmen, wie sie sind. Und die sich von
Erwachsenen nicht mehr sagen lassen will: So ist nun mal die Welt!
Wie schön, dass Sie sich für unser Stück interessieren! Diese Materialmappe soll Ihnen helfen,
Unterrichtseinheiten zum Stück und zum Thema Obdachlosigkeit vorzubereiten. Aus diesem Grund finden Sie
nicht nur Anregungen zur Textarbeit im Fach Deutsch und szenisches Arbeiten im Fach Darstellendes Spiel,
sondern auch Hintergründe und Diskussionsanregungen, die sich vielleicht für die Fächer Ethik, Religion oder
Politik & Wirtschaft eignen. Oder auch Mathe und Französisch! Vertiefende, über das Stück hinaus
gehende Anregungen für Ihren Unterricht haben wir im Anhang zusammenstellt. Verwenden Sie diese
Mappe nicht stat isch, sondern machen Sie damit das, was für Ihren individuellen Unterricht am besten passt!
Wenn Sie sich mehr Unterstützung bei der Vor‐ und Nachbereitung wünschen, sprechen Sie uns einfach an.
Unsere Dramaturgin Athena Schreiber, unser Theaterpädagoge Frank Fuhrmann, sowie Carola Unser, die
Regisseurin von NO UND ICH und Leitung der Jungen Landesbühne kommen auch sehr gerne zu Ihnen in die
Schule, um zusammen mit Ihnen und Ihren Schülern zu arbeiten.
Übrigens: Wir haben aus den vielen wundervollen Einsendungen für unser Postkartenmotiv nun
unsere 10 Favoriten ausgewählt ‐ und sie an verschiedenen Stellen in der Mappe verewigt. Der
oder die GewinnerIn wird natürlich extra benachrichtig!
Wir freuen uns auf Sie! Herzliche Grüße, das Team von NO UND ICH
PS: Sie finden NO UND ICH zusammen mit BUDDENBROOKS, BLUES BROTHERS, LEONCE
UND LENA sowie WAISEN auch im Klassenabo. Schüler ab der 9. Klasse können für 26,75 €
fünfmal in Wilhelmshaven ins Theater gehen. Fragen Sie bitte Ihren Spielortvertreter, ob es ein
ähnliches Angebot auch in Ihrem Ort gibt.
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Ein kleiner Fahrplan durch die Mappe
Zunächst finden Sie eine Inhaltsangabe zum Stück und wissenswertes über die Autorin (Kapitel 1 und 2).
Als nächstes haben wir eine Szene ausgesucht, die Sie für Ihren Unterricht verwenden könnten: Die Szene am
Bahnhof, aus der Romanvorlage (Kapitel 3) und die Stückversion (Kapitel 4).
Das Kapitel 5 gibt Ihnen und Ihren SchülerInnen einen Einblick in unsere Arbeit: Ein Stück entsteht, beginnend
mit den SpielerInnen, über Kostüm‐ und Bühnenentwürfe bis zu den ersten Fotos vom fertigen Stück. Zu den
Kostüm‐ und Bühnenentwürfen finden Sie übrigens erste kleine Ideen, wie Sie das Stück im Unterricht Vor‐
oder Nachbereiten können.
Ein paar Hintergrundinformationen zum Thema Obdachlosigkeit haben wir in Kapitel 6 zusammengestellt.
Sie sollen Ihnen als Grundlage oder Anregung dienen – je nachdem, wie ausführlich Sie das Thema behandeln
möchten.
Das 7. Kapitel soll Ihnen Anregungen für Ihren Unterricht bieten: als Einstieg in das Thema Obdachlosigkeit,
als Diskussionsanregung und natürlich für szenisches und literarisches Arbeiten. Wir haben das Kapitel in Vor‐
und Nachbereitung gegliedert, aber wie mit allen anderen Kapiteln auch sehen wir dies als Anregung, mit
diesen Sie so verfahren mögen, wie es für Ihre Arbeit am besten passt.
Die letzten drei Kapitel 8, 9 und 10 drehen sich rund um das Theater: Den Theaterknigge haben wir für
SchülerInnen zusammengestellt, die zum ersten Mal ein Theaterstück besuchen und auch um Fragen zu
beantworten, die uns immer wieder gestellt wurden. Ebenso möchten wir ihren SchülerInnen einige Berufe
am Theater vorstellen und die Vielfältigkeit an Möglichkeiten zeigen. Vielleicht animiert es ja die Eine oder
den Anderen, sich in eine der Richtungen zu orientieren oder sich gar für ein Praktikum zu bewerben. Zu
Allerletzt finden Sie die Buchungsinformationen und Kontaktdaten.
Nun zum Anhang: Das Kapitel 11 soll die Möglichkeit bieten, im Französischunterricht mit den gleichen
Texten zur Unterrichtsvorbereitung zu arbeiten, wie wir sie im ersten Teil in Deutsch bereitgestellt haben.
Zusätzlich dazu haben wir auch den Liedtext von Alors on danse (STROMAE) beigefügt, der im Stück
vorkommt.
Das Kapitel 12 beinhaltet weitere Hintergrundinformationen zum Thema Armut und Obdachlosigkeit, die
Sie entweder für die beiden folgenden Unterrichtsvorschläge verwenden, oder separat behandeln können. Die
Literaturhinweise sind ebenfalls als Vorschlag zu verstehen und waren zugleich Quellen für die vorliegenden
Texte. Die beiden letzten Kapitel 13 und 14 sind Vorschläge zur Unterrichtsgestaltung: Eine Simulation einer
Podiumsdiskussion haben wir selbst im Team durchgeführt. Die Idee, Ihre SchülerInnen auf Feldforschung zu
schicken, entstand durch das Stück selbst.
Vielleicht haben Sie und Ihre Schüler Lust, den einen oder anderen Vorschlag umzusetzen – wir freuen
uns sehr, wenn Sie uns Ihre Erfahrungen mitteilen oder Anregungen für die nächsten Materialmappen
geben möchten! Schreiben Sie uns – carola.unser@landesbuehne‐nord.de oder rufen Sie uns an: 04421‐
9401‐34.
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Inhalt
1. Inhaltsangabe .................................................................................................. 5
2. Zur Autorin ...................................................................................................... 6
3. Szene aus dem Roman: Am Bahnhof .................................................................. 8
4. Spielszene aus dem Stück: Am Bahnhof ............................................................ 11
5. Ein Stück entsteht .......................................................................................... 15
6. Obdachlosigkeit ............................................................................................. 19
7. Anregungen für Ihren Unterricht ...................................................................... 21
8. Theaterknigge ................................................................................................ 25
9. Arbeiten am Theater: Berufe und Ausbildung .................................................... 26
10. Buchungsinformation und Kontakt .................................................................. 29
ANHANG: EXKURSE ZUR VERTIEFENDEN UNTERRICHTSBEGLEITUNG ................. 30
11. NO UND ICH im Französischunterricht ............................................................. 31
12. Armut – was ist das? ....................................................................................... 39
13. Simulation einer Podiumsdiskussion ................................................................ 42
14. Interviews als Forschungsmethode .................................................................. 46
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1. Inhaltsangabe
„‘Man kann nicht allen helfen‘, sagt der Engherzige und hilft keinem.“
Marie Freifrau von Ebner‐Eschenbach
„No retten!“ ist seit einiger Zeit Lous einziger Gedanke. No hat keine Eltern, kein Zuhause, No lebt auf der
Straße. Die Achtzehnjährige muss sich jede Nacht einen anderen Schlafplatz suchen. Lou weiß das. Für ein
Schulprojekt hat sie No interviewt, mit ihr in Cafés gesessen, ihr Würstchen gekauft. Jetzt muss sie No retten –
ein schwieriges Vorhaben für ein dreizehnjähriges Mädchen.
Außerdem hat Lou eine Menge eigener Probleme: als Hochbegabte hat sie zwei Klassen übersprungen und
gilt in der Schule als Freak. Ihre Mutter, von der sie sich so sehr Liebe und Zuneigung wünscht, ist nach dem
Tod der kleinen Schwester von Lou verstummt und lebt lethargisch vor sich hin. Der Vater versucht
krampfhaft eine Familienidylle aufrecht zu halten und kann doch nicht verhindern, dass Lou sich ständig
alleine und nirgendwo zugehörig fühlt.
Für die Rettung von No braucht sie aber nun Hilfe. Nur
woher? Gut, dass Lucas da ist, der Traumtyp der Klasse und
ein Fan der kleinen Lou. Außerdem schwärmt Lou ein
bisschen für den super‐coolen Lucas ... Die beiden Teenager
holen No von der Straße und sorgen dafür, dass sie endlich
ein normales Leben führt. Aber was bedeutet das überhaupt,
Normalsein? Und wer bestimmt, was normal ist?
Und dann beginnt die Fassade zu bröckeln und die Frage
steht im Raum: Kann der Plan funktionieren? Und wenn ja,
wodurch? Und überhaupt: Wer sollte denn wirklich gerettet
werden – und wovor?
Delphine de Vigan schrieb 2008 ihren Roman über
Obdachlosigkeit, Freundschaft, alltägliche Menschen; und
erntete großen Erfolg damit in Frankreich. Das Stück NO
UND ICH beschreibt den Versuch eines Kindes, der Welt zu
beweisen, dass sich alles ändern lässt und stellt vor allem eine
Frage: Welches Leben möchte ich leben?
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2. Zur Autorin
„Es ist das erste Mal, dass ich ein Buch angefangen habe,
ohne zu wissen, wie es enden würde.“
Delphine de Vigan
BIOGRAFIE DELPHINE DE VIGAN1
Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren, wo sie heute noch mit ihren zwei Kindern lebt. Sie arbeitet
tagsüber für ein soziologisches Forschungsinstitut und schreibt nachts, wenn alle schlafen, ihre Romane. Ihr
dritter Roman, „No & ich“, wurde in 11 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet (u. a. 2008 mit dem Prix
des Libraires und dem Prix Rotary International). Auch „Ich hatte vergessen, dass ich verwundbar bin“ war für
den Prix Goncourt nominiert.
AUSZUG AUS EINEM INTERVIEW2
Die Erzählerin Ihres Romans No & ich ist Lou, ein junges Mädchen mit
einem großen Herzen. Warum haben Sie diese Figur als Ihr
Sprachrohr gewählt? War es für Sie nicht schwierig, sich in die
Gedankenwelt einer Dreizehnjährigen hineinzuversetzen und ihre
Sprache zu benutzen?
Am Anfang wollte ich über die Jugendlichen schreiben, die auf der
Straße leben, vor allem über die jungen Frauen. Und so hat sich die
Figur von No herauskristallisiert. Schnell bin ich auf die Idee gekommen,
die Geschichte aus der Perspektive einer anderen jungen Frau zu
erzählen, die aus einem ganz anderen sozialen Umfeld kommen würde, und so wurde Lou geboren. Ich wollte,
dass man bei der Lektüre des Romans diese Mischung aus Offenherzigkeit und Naivität verspürt, die sie
charakterisiert, denn sie konfrontiert uns mit dem Blick, den wir Erwachsene auf die Dinge werfen, gleichzeitig
schockiert und machtlos. Ich habe Zeit gebraucht, um Lous Stimme richtig zu treffen. Ich glaube, dass ich mich an
mich selbst mit dreizehn Jahren erinnert habe, aber ich habe auch Jugendliche von heute beobachtet. Die
angebliche Einfachheit von Lous Sprache war an sich eine Herausforderung. Ich wollte aber vor allem, dass sie
echt klingt. Ich habe das Gefühl, dass ich ein Jahr lang die Welt mit ihren Augen gesehen habe, bei einer Größe von
1 Meter 30 …
Wem fühlten Sie sich näher? Lou oder No?
Leute, die mich gut kennen, sagen, dass man mich in beiden Figuren wiederfindet, und damit haben sie
wahrscheinlich recht. No ist meine dunkle Seite … Bei Lou habe ich mich von meinen eigenen
Kindheitserinnerungen inspirieren lassen, ohne es wirklich zu merken. Wie sie habe ich Klassen übersprungen, war
sehr schüchtern und etwas traurig, aber dennoch auch voller Fantasie.
Was für eine Rolle spielt eigentlich Lucas in der Geschichte von No und Lou?
1 Quelle: http://www.droemer‐knaur.de/autoren/359991/delphine‐de‐vigan 2 Quelle: http://www.droemer‐knaur.de/leselounge/2121780/delphine‐de‐vigan‐im‐interview
BUCHDATEN
Knaur, 1. Auflage August 2010
Originaltitel: No et Moi
Aus dem Französischen von
Doris Heinemann
Taschenbuch, 256 Seiten
EUR (D) 8,95 | EUR (A) 9,20
ISBN: 978‐3‐426‐50158‐0
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Er ist eine sehr wichtige Figur. Ich sage immer, dass No & ich die Geschichte von drei Kindern des Chaos erzählt.
Aus sehr unterschiedlichen Gründen sind alle drei sich selbst überlassen, in einer Welt, die sie nicht verstehen. Ich
habe Lucas sehr gerne. Er ist der Typ Junge, von dem man mit dreizehn oder siebzehn Jahren nur so träumt.
Im Laufe des Romans glaubt man irgendwann wirklich, dass es Lou gelingen wird, No zu retten. Alles fängt so
gut an, doch man merkt allmählich, dass ihr Unterfangen zum Scheitern verurteilt ist … Gab es einen Moment
während des Schreibens, an dem Sie daran gedacht haben, Ihrem Roman ein anderes – positiveres – Ende zu
geben?
Es ist das erste Mal, dass ich ein Buch angefangen habe, ohne zu wissen, wie es enden würde. Normalerweise
habe ich eine sehr genaue Vorstellung von der Struktur und der Entwicklung einer Handlung. Bei No & ich habe ich
mir gedacht, dass sich irgendwann im Laufe der Erzählung ein Ende von selbst behaupten würde, das Ende, das
am glaubwürdigsten wäre. Allerdings habe ich nie ein Ende wie im Märchen in Betracht gezogen – denn der Traum
eines kleinen Mädchens reicht leider nicht aus, um die Welt zu retten. No & ich ist ein Roman über die
Entzauberung. Und wie wir dadurch erwachsen werden. Auch
wenn das Buch nicht nur düster ist.
BIOGRAFIE JULIANE KANN3
Juliane Kann wurde 1982 in Mecklenburg geboren und
studierte Szenisches Schreiben an der Universität der Künste
Berlin. Seit 2009 studiert sie Regie an der Hochschule für
Schauspielkunst „Ernst Busch“ Berlin. Sie war Stipendiatin
des Autorenlabors am Düsseldorfer Schauspielhaus, ist
Trägerin des Hamburger Thalia‐Freunde‐Preises und des
Dramatikerpreises der deutschen Wirtschaft. Ihre Stücke
wurden am Düsseldorfer Schauspielhaus, am Staatstheater
Stuttgart, am Thalia Theater Hamburg, dem Nationaltheater
Mannheim, am Berliner Maxim Gorki Theater und dem
Schauspiel Frankfurt uraufgeführt. 2012 inszenierte sie am
BAT „Reich der Tiere“ von Roland Schimmelpfennig und
erarbeitete mit ihrer Romanbearbeitung „No und Ich“ (nach
dem Roman von Delphine de Vigan) am Jungen
Staatstheater Braunschweig erstmals eine Inszenierung
außerhalb des Studiums.
3 Quellen: http://www.staatstheater‐braunschweig.de/spielplan/premieren/die_drei_raeuber/juliane‐kann/ und
http://www.theaterportal.de/detail_stueck?stadt=Braunschweig&theater=Staatstheater%20Braunschweig&stueck=Hotel%20Braunschweig
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3. Szene aus dem Roman: Am Bahnhof
„Weißt du, Kleine, du solltest nicht mit solchen Mädchen herumhängen.
Ich mag Nora gern, aber sie lebt auf der Straße, sie lebt nicht in der derselben Welt wie Du,
du hast doch sicher Hausaufgaben und noch ein Haufen anderes Zeug zu erledigen,
du solltest lieber wieder nach Hause gehen.“
Rothaarige Frau vom Zeitungskiosk. Oder Wurstpalast
Dienstags und freitags, wenn ich früher aus der Schule komme, gehe ich oft zur Gare d’Austerlitz. Ich gehe hin
und sehe mir die abfahrenden Züge an, wegen der Gefühlsbewegungen, die beobachte ich nämlich gern, die
Gefühle anderer Leute, deshalb verpasse ich im Fernsehen auch kein Fußballspiel, ich liebe es, wenn sich die
Leute nach einem Tor umarmen, sie rennen mit hochgestreckten Armen herum und umhalsen sich, und auch
in Wer wird Millionär?: Man muss die Mädchen nur sehen, wenn sie die richtige Antwort gegeben haben, sie
halten sich die Hände vor den Mund, werfen den Kopf in den Nacken, stoßen Schreie aus und so, und dabei
stehen ihnen dicke Tränen in den Augen. Auf den Bahnhöfen ist es anders, die Gefühle lassen sich aus den
Blicken erraten, aus den Gesten und Bewegungen, da trennen sich Liebespaare, Großmütter reisen wieder ab,
Damen in weiten Mänteln lassen Herren mit hochgeschlagenen Kragen zurück oder umgekehrt, und ich
beobachte diese Leute, die fortgehen, man weiß weder wohin noch warum, noch für wie lange, durch die
Scheibe hindurch verabschieden sie sich, sie winken diskret oder rufen laut, obwohl man sie sowieso nicht
hören kann. Mit ein wenig Glück erlebt man echte Trennungen, ich meine, dann spürt man deutlich, es wird
lange dauern, oder es wird den Betreffenden lange vorkommen (was auf dasselbe hinausläuft), dann sind die
Gefühle sehr dicht, es ist, als würde die Luft dicker, als wären sie allein und ringsum wäre niemand. Bei den
ankommenden Zügen ist es genauso, ich stelle mich ans Ende des Bahnsteigs und beobachte die Wartenden,
ihr angespanntes, ungeduldiges Gesicht, die suchenden Augen und dann plötzlich dieses Lächeln auf ihren
Lippen, den erhobenen Arm, ihr Winken, während sie loslaufen, um sich in die Arme zu fallen – dieser
Überschwang, das ist es, was ich am allerliebsten mag.
Kurzum, deshalb war ich auf der Gare d’Austerlitz. Ich wartete auf die Ankunft des TER um 16 Uhr 44 aus
Clermont‐Ferrand, der ist mein Lieblingszug, aus dem kommen alle möglichen Leute, Junge, Alte, gut
Gekleidete, Dicke, Magere, schäbig Gekleidete, einfach alles. Irgendwann merkte ich, dass mir jemand auf die
Schulter klopfte, ich brauchte eine Weile, denn ich war sehr konzentriert, und in einem solchen Fall könnte
sich ein Mammut auf meinen Turnschuhen wälzen, ich würde nichts merken. Ich drehte mich um.
»Hast du mal ’ne Fluppe?«
Sie trug eine schmutzige Khaki‐Hose, einen alten Blouson mit durchgescheuerten Ellbogen und einen
Benetton‐Schal, genauso einen wie den, den meine Mutter zur Erinnerung an ihre Jugend ganz hinten im
Kleiderschrank aufbewahrt.
»Nein, tut mir leid, ich rauche nicht. Aber ich habe Pfefferminz‐Kaugummis, wenn Sie möchten.«
Sie verzog den Mund, dann streckte sie die Hand aus, ich gab ihr das Päckchen, und sie stopfte es in ihre
Tasche.
»Salut, ich heiße No. Und du?«
»No?«
»Ja.«
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»Und ich Lou … Lou Bertignac.« (Normalerweise hat das eine gewisse Wirkung, weil die Leute glauben, ich sei
mit dem Sänger verwandt, vielleicht sogar seine Tochter. Einmal, auf dem Collège, habe ich auch so getan als
ob, aber dann wurde es schwierig, ich sollte Einzelheiten erzählen, Autogramme besorgen und so, schließlich
musste ich doch mit der Wahrheit rausrücken.)
Es schien sie nicht zu beeindrucken. Ich dachte, es sei vielleicht nicht die Sorte Musik, die sie mochte. Sie ging
zu einem Mann, der einige Meter entfernt stand und Zeitung las. Er verdrehte seufzend die Augen und zog
eine Zigarette aus seiner Schachtel, sie griff danach, ohne ihn anzusehen, und kam dann zu mir zurück.
»Ich hab dich hier schon öfter gesehen. Was machst du hier?«
»Ich komme, um mir die Leute anzusehen.«
»Ach. Und bei dir zu Hause gibt’s keine Leute?«
»Doch, aber das ist nicht dasselbe.«
»Wie alt bist du?«
»Dreizehn.«
»Du hast nicht zufällig zwei, drei Euro? Ich hab seit gestern Abend nichts gegessen.«
Ich suchte in meinen Hosentaschen, es waren noch ein paar Münzen da, ich sah sie gar nicht an, sondern gab
sie ihr alle. Sie zählte sie, bevor sie die Hand schloss.
»In welche Klasse gehst du?«
»In die Zehnte.«
»Das ist doch nicht normal für dein Alter.«
»Äh … nein. Ich hab zwei Klassen Vorsprung.«
»Und wie kommt das?«
»Ich hab Klassen übersprungen.«
»Das hab ich verstanden, aber wie kommt es, dass du zwei Klassen übersprungen hast, Lou?«
Ich fand, dass sie irgendwie komisch mit mir redete, ich fragte mich schon, ob sie sich nicht über mich lustig
machte, aber sie wirkte zugleich sehr ernst und sehr irritiert.
»Ich weiß auch nicht. Ich hab schon im Kindergarten lesen gelernt, also brauchte ich nicht in die erste Klasse zu
gehen, und dann hab ich die vierte Klasse übersprungen. Ich hab mich nämlich so gelangweilt, dass ich mir die
Haare um den Finger wickelte und den ganzen Tag daran zog. Nach einigen Wochen hatte ich eine kahle
Stelle. Nach der dritten kahlen Stelle wurde ich in die nächste Klasse versetzt.«
Ich hätte ihr auch gern Fragen gestellt, aber ich war zu eingeschüchtert, sie rauchte ihre Zigarette und
musterte mich von oben bis unten, als suche sie nach etwas, was ich ihr geben könnte. Es war still geworden
(zwischen uns, meine ich, ansonsten brüllte uns die synthetische Stimme aus den Lautsprechern in die Ohren),
daher fühlte ich mich zu dem Zusatz bemüßigt, es sei jetzt besser geworden.
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»Was ist besser geworden, die Haare oder die Langeweile?«
»Öm … beides.«
Sie lachte.
Da sah ich, dass ihr ein Zahn fehlte, und ich brauchte nicht einmal eine Zehntelsekunde für die richtige
Antwort: ein Prämolar.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich außerhalb gefühlt, wo auch immer, außerhalb des Bilds, außerhalb des
Gesprächs, neben der Situation, als könnte ich als Einzige Geräusche oder Worte hören, die die anderen nicht
wahrnehmen, wäre dabei aber taub für die Worte, die die anderen anscheinend hören, als wäre ich außerhalb
des Rahmens oder auf der anderen Seite einer riesigen unsichtbaren Glaswand.
Aber gestern war ich dabei, bei ihr, ich bin sicher, man hätte einen Kreis um uns ziehen können, einen Kreis,
aus dem ich nicht ausgeschlossen gewesen wäre, einen Kreis, der uns beide umfing und uns für einige Minuten
vor der Welt schützte.
Ich konnte nicht länger bleiben, mein Vater wartete auf mich, doch ich wusste nicht, wie ich mich von ihr
verabschieden sollte, ob ich sie mit Madame oder Mademoiselle anreden sollte oder einfach mit No, ich
kannte ja ihren Vornamen.
Ich löste das Problem mit einem einfachen au revoir, denn ich dachte mir, sie gehöre schon nicht zu den
Leuten, die sich über schlechte Manieren und all den anderen Kram aufregen, den man im gesellschaftlichen
Verkehr beachten muss. Ich drehte mich noch einmal um und winkte ihr kurz zu, und sie stand da und sah mir
nach, es tat mir weh, denn schon an ihrem Blick, an der Leere ihres Blicks, erkannte man, dass sie niemanden
hatte, der auf sie wartete, kein Zuhause, keinen Computer und vielleicht auch keinen Ort, an den sie gehen
konnte.
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4. Spielszene aus dem Stück: Am Bahnhof
„Phantasie ist nicht Ausflucht.
Denn sich etwas vorstellen heißt, eine Welt bauen, eine Welt erschaffen.“
Eugène Ionesco
NO Geh zum Teufel, glotz woanders hin. Willst du ein Foto von mir? Bin ich was Besonderes? Mein Name ist Nora. Ein gängiger Name – in der Provence. So what? Ich
lebe seit zehn Jahren auf der Straße. LUCAS Wie alt bist du denn? NO Geht Dich n Scheiß an. Ich verkaufe die Straßenzeitung „Asphalt“. Die
kostet 1 Euro 60. Die Hälfte geht an das Projekt, die andere Hälfte an mich. Ich werde keine alkoholischen Getränke kaufen. Versprochen. Hoch und heilig. Nur eine warme Mahlzeit und ein warmes Zimmer für
heute Nacht. Irgendjemand vielleicht eine kleine Spende oder Interesse an einer Zeitung?
Wenn ich diese eine verkauft habe, dann hab ich mein Soll erfüllt und kann mir eine warme Mahlzeit leisten...
LUCAS Hey NO deutet auf die Büchse auf dem Boden. Wenn du mit mir sprechen willst,
musst du da was reinwerfen. LUCAS sucht in seinen Taschen nach Geld. Findet was und wirft es rein. Das
Zähneklappern ist`n bisschen dick aufgetragen. NO Es ist arschkalt. Merkst du vielleicht in deinem dickwattierten Wintermantel
nicht. LUCAS Dass du keinen Alkohol kaufst, glaubt Dir kein Mensch. In Anbetracht
deiner Situation würde das jeder verstehen. LOU an der Rampe Der Konsum von Drogen ist für Straßenbewohner in Deutschland wie
anderswo ein Mittel zur Lebensbewältigung. Alkohol kann für eine gewisse Zeit Angst Komma Ekel Komma Frust
Komma Wut und Hoffnungslosigkeit besänftigen oder beseitigen. NO Danke! Du meinst Mitleid? Eine von diesen niedlichen sozialen Eigenschaften. LUCAS Das schreiben die sich als gute Tat auf. Eigentlich bist du denen total egal. Das ist eine besondere Form von
Ignoranz: Die geben dir`n Euro und kaufen sich damit ihre Ruhe. NO sammelt einen Euro aus ihrer Tasche Verpiss Dich. Scheiße. Vielleicht brauch ich `n Hund. LUCAS Den willst du wohl klauen.
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NO Den brauch ich nicht klauen. Werden doch ständig welche ausgesetzt. Dann
könnte ich sagen: Ich brauche Hilfe für meinen vierbeinigen Freund und mich.
LUCAS Wie lange machst du das schon? NO 1 Jahr. Pause. Boah, 2 Monate. LUCAS Nachher hast du einen Hund und der will auch versorgt werden. LUCAS Schläfst du hier? NO Mal hier mal da. LOU mit einem Buch in der Hand, lernt eine Definition auswendig, das weckt Noras
Interesse. Als Gehirn bezeichnet man den im Kopf gelegenen Teil des Zentralnervensystems. Es liegt geschützt in der Schädelhöhle, wird umhüllt von Hirnhaut und besteht hauptsächlich aus Nervengewebe.
NO Wo liegt das Gefühl? LOU Was? NO Das Gefühl, wo das liegt, würd´ ich gerne wissen. LOU zögernd Im limbischen System. NO sieht Lou herausfordernd an LOU Die Struktur des limbischen Systems/ NORA /bildet einen doppelten Ring um die Basalganglien und den Thalamus. Es
wird gebildet aus phyogenetischen Anteilen der Großhirnrinde und subkortikalen Strukturen, die medial der Hirnhemisphären liegen.
LOU Ja. NO Was glaubst du eigentlich? Das ist nicht wichtig. Zu wissen wo es liegt. Es ist wichtig zu wissen, dass
man Gefühle hat. Können die einem in der Schule eigentlich nie etwas beibringen, was man gebrauchen kann? Glucose? Fructose? Zellteilung.
Braucht kein Mensch. Hast du ne Kippe? LOU schüttelt den Kopf. Ich hab Pfefferminz‐Kaugummis. Wenn Sie möchten. NO nimmt mit ekelverzogenem Gesicht die Packung. Sie möchte. Holt eine Zigarette aus ihrer Brusttasche und zündet sie an. LOU Rauchverbot. Theater? NO Du darfst nicht so leise reden. Bei der Entfernung kann kein Mensch verstehen, was du zu sagen hast. LOU Du kannst ja näher kommen.
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NO Hast du ne Ahnung, wie ich stinke. LOU lächelt NO Ich heiße No. Eigentlich Nora, aber No wie nein find ich besser. LUCAS Oh ein Statement. NO Ne klare Ansage. Wenn du verstehst, was ich meine. LOU Lou Bertignac. NO Ich hab kein Wort verstanden. Dabei hab ich mir den Dreck aus den Ohren
gepult. LOU sehr laut ICH HEISSE LOU BERTIGNAC. NO Das wissen jetzt alle. LOU ‐ NO Du hast nicht zufällig zwei oder drei Euro? Ich hab schon ne ganze Weile
nichts gegessen. LOU gibt ihr die Münzen, die sie in ihrer Hosentasche finden kann Willst du einen Kakao trinken oder so? NO springt sofort auf und nimmt ihren Rollkoffer LOU Ich meinte nicht jetzt. NO Fick dich. Distanziert. Au revoir, Lou Bertignac. LOU Ich muss gleich in die Schule. NO In welche Klasse gehst du? LOU Zehnte. NO Wie alt bist du? LOU Dreizehn. NO Ist nicht normal für Dein Alter. LUCAS Sie hat zwei Klassen Vorsprung. NO Wie das? LUCAS Sie hat zwei Klassen übersprungen. NO Ich bin nicht schwer von Begriff oder sowas. LOU ‐ NO Warum hast du zwei Klassen übersprungen? LOU Fabrikationsfehler.
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Stell Dir vor, du wärst ein Auto und hättest viel mehr Funktionen als die meisten Autos, du wärst schneller und leistungsfähiger.
NO Einfache Frage, einfache Antwort? LOU Weil ich weiß, dass der Zahn, der dir fehlt, Prämolar heißt. Deshalb. Ich wär beeindruckt, wenn du mir sagen könntst, warum mir mein Prämolar
fehlt. LOU Ich weiß nicht. Warum? NO Das geht Dich nichts an. LOU ‐ NO Prügelei – nicht weiter von Bedeutung. Die Einfahrt eines Zuges wird angekündigt LOU Das ist mein Zug. NO Warte. Sie nimmt aus einer Plastiktüte eine alte Salami und schneidet für Lou `n
Stück ab. Sie gibt ihrer Bierdose einen Tritt, sie fliegt quer über den Steig.
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5. Ein Stück entsteht
„Theater muss unterhalten.“
Bert Brecht
DIE SCHAUSPIELERINNEN UND DER SCHAUSPIELER
„Wer kämpft kann verlieren.
Wer nicht kämpft, hat schon
verloren!“ Mechthild Grabner
“It’s all one song.” Zenzi Huber
„Weiter,
und immer
weiter!“ Christian Simon
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DAS BÜHNENBILD
UNTERRICHTSANREGUNG
Welche Stadt könnte es sein?
Lassen Sie ihre Schüler
überlegen, ob das Bühnenbild Ihre
Stadt zeigt, wenn ja, woran Sie es
erkennen. Welche markanten
Objekte und Gebäude gibt es (z.B.
in Wilhelmshaven)? Anhand
welcher Gebäude ist sofort
erkennbar, welche Stadt gemeint
ist?
Montagsmaler: Lassen Sie die
Schüler Skizzen von Städten
zeichnen: der Kölner Dom, das
Brandenburger Tor in Berlin usw.
und der Rest der Klasse, in zwei
Gruppen aufgeteilt, muss raten!
Gibt es prägnante Merkmale,
anhand derer verschiedene
Stadteile erkennbar sind? Woran
erkennt man ärmere, woran
reichere Stadtteile?
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DIE KOSTÜME
UNTERRICHTSANREGUNG
Wer ist die Obdachlose?
Oft kann man an Kostümen viel ablesen und erkennen: Welche
Eigenschaften, Alter und Herkunft hat die Figur. Wir haben uns
dagegen entschieden. Zum einen erkennt man Obdachlose nicht
mehr unbedingt an ihrer Kleidung. Und zum anderen wollen wir
es dem Zuschauer nicht so leicht machen: Wenn von vornherein
ein Klischee bedient wird und eine Erwartung befriedigt, dann
hört der Kopf auf darüber nach zu denken. Außerdem haben uns
Experten, die mit Obdachlosen arbeiten, erzählt, dass besonders
junge Menschen auf der Straße sich sehr bemühen, nicht als
Obdachlose erkannt zu werden.
Diskussionsanregung: Wie sehen Obdachlose aus? Sind sie
erkennbar? Wenn ja, woran? Was bedeuten für Euch Eure Kleider?
Was glaubt ihr, wie es ist wenn man kein Geld für Kleidung hat
und das anziehen muss, was einem geschenkt wird?
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DAS STÜCK: VORSCHAUFOTOS (TEASER)
UNTERRICHTSANREGUNG
nach dem Vorstellungsbesuch
Figurenstandbild als alternative Szenefotos
Fordern Sie die Klasse auf, ein Standbild des
Verhältnisses von No, Lou und Lucas zu bauen.
Drei Schüler sind die beiden Protagonisten,
einer der Arrangeur. Natürlich muss zuvor
diskutiert werden:
Wie ist das Verhältnis der Drei zueinander?
Wie hat es sich verändert, von der Siebten
Szene, in der Lou und Luca No kennenlernen,
bis zu einer der letzten?
Lassen sie drei Entwicklungsstadien
nachstellen: Das Kennenlernen, die Phase des
Vertrauens und der Freundschaft, und der
Moment des „Scheiterns“.
Gibt es eine abweichende Meinung zu dem
Standbild?
Lassen Sie andere Schüler ein neues
Standbild bauen und sprechen sie mit ihnen
über die unterschiedliche Wahrnehmung.
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6. Obdachlosigkeit
„Und sie gebar ihren ersten Sohn
und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe;
denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge.“
Lukas 2:7
Dieses Kapitel soll Ihnen zur theoretischen Einführung in das Thema Obdachlosigkeit dienen, als
Unterstützung und Anregung beispielsweise im Fach Politik & Wirtschaft, Deutsch, Ethik oder Religion. Im
Anhang finden Sie vertiefende Anregungen und weitere praktische Ratschläge und Anleitungen.4
DEFINITION
Der Begriff Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit wird verschieden definiert. Umgangssprachlich ist ein
Mensch, der auf der Straße lebt, obdachlos. Amtlich betrachtet haben Obdachlose aber ein Dach über dem
Kopf und leben zum Beispiel in einer provisorischen Notunterkunft. Wohnungslos hingegen werden alle
genannt, die keine eigene Wohnung haben welche per Mietvertrag abgesichert ist. Das sind neben den
Menschen, die auf der Straße übernachten, zum Beispiel auch Bewohner von Heimen, Asylen und
Frauenhäusern, Menschen die in Aussiedler‐ und Asylbewerberunterkünften leben, sowie Personen, die bei
Verwandten, Freunden und Bekannten vorübergehend untergekommen sind.
Es existieren weitere unzureichende, verallgemeinernde oder irreführende Begriffe wie Wohnsitzlose,
diskriminierende Begriffe wie Penner oder gar in der Nazizeit entstandene wie „Nicht‐Sesshafte“. Keiner der
Begriffe kann umfassen, was mit Obdachlosigkeit einhergeht, wie Menschen obdachlos wurden und unter
welchen Bedingungen sie leben: Mit dem Verlust der Wohnung ist diesen Menschen eine elementare
Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges Leben entzogen.
ZAHLEN
Da es keine einheitliche
Erhebung in Deutschland zur
Situation von Wohnungslosen
gibt hat sich die
Bundesarbeitsgemeinschaft
Wohnungslosenhilfe (BAG W)
zur Aufgabe gemacht, die
Situation jährlich zu bewerten.
Aktuellen Schätzungen zufolge
ergibt sich folgendes Bild: Im
letzten Jahr waren 284.000
Menschen in Deutschland ohne
Wohnung. Das bedeutet ein
4 Alle Zahlen, Daten und Fakten wurden nach bestem Wissen recherchiert, sind aber dennoch ohne Gewähr. Quellenangaben, Links und Literaturvorschläge finden sie in den Kästen in diesem Kapitel, sowie in den Kapiteln des Anhangs.
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Anstieg um 15 Prozent im Vergleich zum Jahr 2010.
Auch die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, stieg um 2000 Personen auf 24.000 an. 11 Prozent der
Wohnungslosen sind minderjährig (32.999). Unter den Erwachsenen ist der Männeranteil 75 Prozent
(189.000), der Frauenanteil 25 Prozent (63.000).
URSACHEN UND AUSLÖSER
Man traut sich nicht zu fragen. Aber eigentlich wüssten viele gerne um die Hintergründe, die Menschen auf der
Straße erlebten und die dazu führten, dass sie so leben. Die Gründe sind aber so vielfältig wie die Geschichten
der Menschen, die sie erlebten. Die Ursachen für die Wohnungsnot sind meist Mietschulden und
Arbeitslosigkeiten; hiervon betroffen sind diejenigen Gruppen, die bereits schon zu den Risikogruppen der
Einkommensarmut gehören, also kinderreiche Familien und alleinerziehende Mütter. Die größte Zahl der
alleinstehenden Obdach‐ und Wohnungslosen sind allerdings alleinlebende Männer mit einem Prozentsatz
von 86 %.
Häufige Auslöser sind Trennung vom Partner und/oder Verlust des Arbeitsplatzes. 25.000 Zwangsräumungen
führten in 2012 zum Wohnungsverlust. Neben der mehr oder weniger „klassischen“ Abwärtsspirale aus
Faktoren wie Gewalt, Alkohol, Jobverlust, Verschuldung und ähnlichem entsprungen gibt es unzählige andere
Hintergründe. Selten ist es ein Grund, eine Ursache oder ein
Auslöser allein, sondern eine Kombination von Schicksalen,
schlechten Bedingungen und Ausgangssituationen.
Eine Sozialisation, die den Grundstock bildet um mit Verlust,
Enttäuschung, oder anderen schwerwiegenden Problemen
umzugehen ist eine wichtige Grundlage um nicht in diese
Notlage zu geraten. Ein schützendes und
verantwortungsvolles soziales Umfeld ist ein weiterer
wichtiger Faktor. Unter Wohnungslosen sind auch
Menschen, die nach Haft oder Heimaufenthalt nirgendwo
anders als auf der Straße Fuß gefasst haben.
QUELLEN UND LINKS ZUM THEMA
www.bgaw.de
www.igfm.de/menschenrechte/hilfe‐fuer‐
den‐notfall/hilfe‐fuer‐ obdachlose/
www.hilfspunkt.de
21
7. Anregungen für Ihren Unterricht
„Die Bildung kommt nicht vom Lesen,
sondern vom Nachdenken über das Gelesene.“
Carl Hilty
VORBEREITUNG DES THEMAS OBDACHLOSIGKEIT
Im Unterricht haben Sie vielfältige Möglichkeiten, praktisch an das Thema heranzugehen. Sprechen Sie mit
Ihren SchülerInnen über Ihre Wahrnehmung:
Wo nehmen Sie Obdachlose wahr?
Wo halten sie sich auf und warum?
Fallen Sie uns auf oder sehen wir bewusst an ihnen vorbei?
Was denken Ihre SchülerInnen:
Wie wird man obdachlos?
Was sind Ursachen und Hintergründe?
Vielleicht hat schon mal jemand Kontakt zu Obdachlosen gehabt? Was sind die Erfahrungen?
Diskussionsanregende Fragen
Stellen Sie die Frage zur Diskussion, ob man bettelnden Obdachlosen Geld geben soll. Die Schüler können
sich aufteilen und in zwei Gruppen gegeneinander argumentieren oder eine pro/kontra – Liste führen.
Was machen die Schüler mit Ihrem Geld? Finden sie die drei häufigsten Dinge, die Ihre Schüler kaufen.
Sprechen sie über den Sinn und Unsinn, über den Wert und was es den Schülern bedeutet. Symbolisieren diese
Dinge etwas Bestimmtes?
Klischees: Lassen Sie die SchülerInnen aufzählen, welche Klischees und Vorurteile es zum Thema
Obdachlosigkeit gibt und stellen Sie diese dann in der ganzen Klasse zur Diskussion. Woher kommen diese
Klischees? Was stimmt und was stimmt nicht? Welche Möglichkeiten gibt es, sie zu überprüfen?
Experten
Schlussendlich gibt es Fragen, auf die es keine allgemeingültige Antwort gibt, Fragen, die Fachliteratur
beantworten kann und Fragen, die man am besten Experten fragt! Laden Sie einen Experten ein (zum Beispiel
einen Mitarbeiter der Tafel oder einer anderen Hilfsorganisation) und bereiten sie in Kleingruppen konkrete
Fragen zu verschiedenen Bereichen des Themas vor.
Ein paar Antworten
Das Leben auf der Straße ist wohl den wenigsten unter uns vertraut, wir kennen die Regeln nicht und können
uns schwer vorstellen wie es ist, nicht zu wissen wo wir nachts schlafen werden. Die Menschen sind uns oft
fremd, als lebten sie in einer anderen Welt. Im Folgenden versuchen wir ein paar Fragen, die sich vielleicht der
Eine oder die Andere stellt, zu beantworten. Auf den Internetseiten mancher Hilfsorganisationen gibt es
weitere Hilfestellungen und Anregungen, wie wir mit einem für uns fremden oder gar erschreckenden
Phänomen umgehen können.
Warum trinken so viele Obdachlose?
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Es gibt Menschen, die durch Probleme Alkoholiker wurden was wiederum zu Job‐ und Wohnungsverlust
führte. Andererseits ist das Leben auf der Straße hart und Alkohol kann betäuben und die Situation leichter
erscheinen lassen. Was auch immer zuerst da war, eine Sucht erschwert es zusätzlich, die Situation zu ändern,
da sie die Menschen kurzfristig denken lässt. Außerdem braucht man um von einer Sucht loszukommen,
Kraft, Unterstützung und Perspektiven.
Sind Obdachlose gefährlich?
Obdachlose sind im Durchschnitt so gefährlich oder ungefährlich wie jede andere Gesellschaftsgruppe auch.
Es gibt Menschen, die grundsätzlich vor Fremden Angst haben. Mitunter sprechen auch Menschen von der
Angst, selbst in eine sog. „prekäre Lage“ zu geraten. Auf diese Menschen wirken Obdachlose mitunter
abschreckend, da sie etwas verkörpern, wovor sie sich fürchten.
Sind Obdachlose Opfer von Gewalt?
Es kommt leider immer wieder vor, dass Obdachlose Opfer von Gewalttätern werden, die sich hilflose
Personen aussuchen, denen sie sich überlegen fühlen. Es muss heute keiner mehr den Helden spielen, aber
nicht mal zum Handy zu greifen und die Polizei zu verständigen, wenn man Zeuge von Gewalt wird, ist
unterlassene Hilfeleistung. Wenn ihr in Gefahr seid, wünscht ihr Euch auch, dass jemand, der vorbei kommt,
Zivilcourage besitzt und Euch hilft.
Welche Chancen haben Obdachlose wieder zurück ins „normale“ Leben zu kommen?
Lt. einer Statistik liegt die durchschnittliche Verweildauer in der Obdachlosigkeit bei etwa 4 Jahren. Immerhin
sind aber immer noch 11 % länger als 10 Jahre obdachlos. Natürlich gibt es sie, die Wege aus der
Obdachlosigkeit, und so gering die Chance ist, jede und jeder sollte dafür die größtmögliche Unterstützung
erhalten.
Welche Rechte haben Obdachlose?
Unser Sozialstaat sorgt dafür, dass Obdachlose
genau dieselben Rechte auf medizinische
Leistungen und Arbeitslosen/Sozialgeld/Hartz IV
haben, wie alle anderen auch. In der
Durchführung aber gibt es Schwächen, in der
Praxis stehen viele Obdachlose vor Hindernissen
wie Verwaltung von Post, fehlender Akzeptanz
bei manchen Ärzten und Banken etc.
Verschiedene Organisationen und auch die BAG
W versuchen Menschen ohne festen Wohnsitz zu
informieren und zu ihrem Recht zu verhelfen.
Wie kann ich helfen? Soll ich Obdachlosen Geld
geben?
Ob man einen Euro übrig hat und hergibt, wenn man höflich danach gefragt wird oder nicht, ist eine
persönliche Entscheidung. Ob er oder sie das Geld vertrinkt oder etwas in unseren Augen „Nützliches“ damit
anstellt, ist allerdings kein Gedanke wert: Vieles, was wir mit unserem Geld kaufen, finden andere ebenfalls
sinnlos oder gar schädlich. Trotzdem wollen wir uns das nicht vorschreiben lassen. Man kann aber auch
„helfen“, in dem man sich Obdachlosen respektvoll gegenüber verhält, sie nicht ausgrenzt, sie wie jeden
anderen Mensch behandelt und im Zweifel einfach mal auf ihn oder sie zugeht und fragt, ob er Hilfe braucht.
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VORBEREITUNG DES TEXTES NO UND ICH
Der Roman NO UND ICH von Delphine de Vigan bietet sich natürlich ebenfalls, zum Beispiel im
Deutschunterricht, als Vorbereitung an. Wird das Buch nicht im Unterricht gelesen, empfehlen wir zur
Vorbereitung die Spielszene AM BAHNHOF:
Lesen Sie gemeinsam die Szene (falls der Text zu lange ist, gerne kürzen). Jeder Schüler liest dabei der
Reihe nach einen Satz. Alle Schüler sind nun auf dem gleichen Kenntnisstand und jeder hat etwas dazu
beigetragen. Lesen Sie die Szenen mit verteilten Rollen.
Fordern Sie die Schüler auf, den Text neutral zu lesen. Experimentieren Sie im Weiteren mit
Gemütszuständen: Wie kann man den Text noch lesen? Aggressiv, ängstlich, wütend, glücklich, müde,
hysterisch, verliebt … Welches Gefühl stimmt mit dem Inhalt der Szene überein, welches nicht?
Eine Variante dieser Aufgabe ist, sie im Kreis stehend durchzuführen. Man kann sich gegenseitig besser
beobachten und ist beim Lesen freier. Regen Sie Ihre Schüler dazu an, auch körperlich in die Emotion zu
gehen. Welche Gesten, welche Haltungen und welche Mimik sind den verschiedenen Emotionen zueigen?
Sammeln Sie Hinweise zur Figurenbiografie von No, Lou und Lucas. Was kann man über die beiden aus der
Szene erfahren? Was hat man beim experimentellen Lesen über sie erfahren können?
Mädchen (Jungs) lesen die Szene mit verteilten Rollen. Ist es egal, ob die Figuren von Jungen oder Mädchen
gespielt werden? Fordern sie die Mädchen (Jungs) in Ihrer Klasse auf, den Dialog als Jungs zu lesen und dann
als Mädchen.
Diskussion: Könnten No und Lou auch zwei Jungs sein? Was wäre dann anders? Was sind typisch weibliche und
typisch männliche Eigenschaften? Wie geht man konstruktiv mit Klischees um? Kennen die Schüler Beispiele
aus der Literatur, in denen Klischees auf den Kopf gestellt werden?
Szenisches Arbeiten: Das Entwickeln einer Theaterszene
Am besten lesen Sie mit der Klasse den Auszug aus der Romanvorlage. Sammeln Sie gemeinsam erste Ideen,
wie die Szene in einem Theaterstück aussehen könnte. Besprechen Sie die verschiedenen Tätigkeiten, die für
das Entstehen eines Stückes notwendig sind, nehmen Sie sich ggf. das Kapitel BERUFE AM THEATER zur
Hilfe. Nun werden Teams eingeteilt. Je nach Möglichkeiten kann diese anspruchsvollere Aufgabe mehrere
Unterrichtsstunden oder auch einen Projekttag oder ‐woche füllen.
Team AutorIn: Ein Autor (oder ein Autorenteam) schreibt die Szene. Überlegt, welche Sätze, Wörter,
Ausdrücke zu den Rollen passen. Achtet darauf, dass Eure Texte von den Spielern gesprochen werden, nicht
gelesen!
Team SchauspielerIn: Verteilt die Rollen und sprecht im Team darüber: Was ist aus dem Text zu erkennen,
wer diese Person ist? Nun fehlt Euch vielleicht eine Menge Hintergrund. Überlegt Euch gemeinsam passende
Biografien: Was hat die Person erlebt, warum ist sie heute, wie sie ist, wie reagiert sie auf bestimmte
Situationen, was mag sie – und was nicht? Lernt den Text auswendig und überleg, wie ihr die Rolle gerne
spielen würdet.
Team Requisite & Kostüm: Überlegt, welche Kleidung, Make‐up, Accessoires und Requisiten zu den drei
Rollen passen. Wenn ihr die fertige Szene bekommt, könnt ihr Vorschläge machen, was wann und wie
verwendet wird. Achtet darauf, dass die Requisiten die Szene, die Charaktere und den Text unterstützt und
nicht störend oder befremdlich wirken.
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Team Regie & Dramaturgie: Den Text solltet ihr gut kennen und im Vorfeld Ideen haben, wie ihr die Szene
darstellen wollt. Sprecht die Szene nun mit den Spielern in verteilten Rollen durch. Die Spieler stellen somit
ihre Rolle dar. Beobachtet aus der Zuschauerperspektive wie die Szene rüber kommt und überlegt mit den
Spielern, wie Position, Lautstärke, Bewegungen verändert werden können, um die Szene für den Zuschauer
interessant zu machen. Achtet auf die Interaktion zwischen den Spielern: Wie reagieren sie aufeinander?
Literarisches Arbeiten: Schlagwörter
Diese Aktion eignet sich hervorragend, um eine Brücke zwischen der Aufführung und den Unterrichtsstunden
zu schlagen.
Lassen Sie die Schüler vor und nach dem Theaterbesuch je ein Wort zum Stück auf eine Karteikarte
schreiben. Wie hat sich die Wahrnehmung der einzelnen Schüler verändert? Sprechen Sie mit ihren Schülern
über erfüllte und unerfüllte Erwartungen, veränderte Einstellung zur Thematik und den Einfluss der Spielweise
auf die Wahrnehmung von Problemen.
NACHBEREITUNG
Was habe ich gesehen ‐ Fragenkatalog zur Reflexion des Stückes
Wie sah das Bühnenbild aus?
Was konnte das Bühnenbild über die Atmosphäre der Inszenierung verraten?
Was erzählen Euch die Kostüme?
Womit beginnt das Stück?
Wurden die Figuren immer vom selben Schauspieler gespielt?
Sind die Schauspieler auch aus der Figur ausgebrochen?
Haben sich die Schauspieler direkt an die Zuschauer gewandt?
Hatten die Schauspieler selbst Spaß an der Geschichte?
Wie wurde Musik eingesetzt? Wurde mit ihr gespielt, wurde sie live erzeugt, hat sie zum Fortgang der
Handlung beigetragen oder hat sie „nur“ Atmosphäre erzeugt?
Wie wurde mit Konflikten umgegangen?
Konntet Ihr der Geschichte gut folgen?
War der Schluss offen, so dass Ihr selbst noch nachdenken musstet, oder hat er alle Fragen beantwortet?
Szenisches Arbeiten: Verarbeitung des Beobachteten
Wie ist das Verhältnis von Lou und ihren Eltern?
Könnt Ihr euch vorstellen, wie das Verhältnis von Lucas und seinen Eltern oder seinem großen Bruder ist?
Stellt Eure Ideen in einem Standbild da.
Legt den Figuren des Standbilds die typischen Wörter dazu in den Mund, keine ganzen Sätze.
Szenisches Arbeiten: Wie könnte die Geschichte weitergehen?
Lous Eltern holen sie vom Bahnhof ab, wie könnte diese Szene aussehen?
Wie könnte eine Begegnung zwischen No und Lui in Irland vonstattengehen?
Wie verhalten sich Lou und No, als sie sich das erste Mal nach 10 Jahren wieder sehen?
Spielt zu Euren Ideen eine kurze Szene und diskutiert darüber. Eventuell nach der Diskussion die ganze Szene
mit den neuen Erkenntnissen noch einmal zeigen.
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8. Theaterknigge
„Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater.“
George Bernard Shaw
Viele Fragen erreichen uns, wenn es um den Theaterbesuch geht: Was passiert im Stück, wie funktioniert der
Ablauf hinter der Bühne, was ist, wenn jemand mal seinen Text vergisst. Aber auch Fragen zum Verhalten als
Zuschauer: Was soll ich anziehen, wann darf ich klatschen, was ist, wenn ich mal raus muss? Wir haben uns
diese Fragen zu Herzen genommen und einen kleinen Knigge erstellt. Sollten wichtige Punkte fehlen, freuen
wir uns über einen Hinweis!
Ausweg: Wie komme ich hier raus? Wir hoffen natürlich, dass niemand vorzeitig das Stück verlassen muss.
Wenn dem aber doch so ist, sollte man versuchen so ruhig wie möglich zu gehen, ohne die Zuschauer und
Spieler zu stören. Dann ist das kein Problem! Toiletten sind ausgeschildert!
Kleiderordnung: Schicke Kleidung ist heute keine Vorschrift mehr. Wer möchte, darf sich aber gerne schön
anziehen, um sich selbst hübsch zu finden oder auch dem Ensemble zu zeigen, wie sehr man sich auf den
Theaterbesuch freut.
Handy: Wie im Kino auch müsst ihr das Handy bitte ausmachen. Das Klingeln und Piepsen, besonders wenn es
mal ganz still ist, würde wirklich Zuschauer und Spieler sehr stören …
Fotografieren: Auch das Fotografieren ist leider nicht erlaubt. Wenn ihr aber schöne Bilder von dem Stück
haben wollt – unser Fotograf hat ganz tolle für Euch geschossen. Ihr könnt direkt im Theater fragen oder
schaut auf der Homepage, dort haben wir welche zum Download bereitgestellt.
Essen: Das ist nun wirklich anders als im Kino: Im Theater arbeiten die Spieler live auf der Bühne und wenn ihr
Eure Brote auspackt oder mit dem Chipstüten raschelt, dann stört das alle. Bitte seid so nett und lasst das
Essen zuhause.
Lachen: Aber sicher dürft Ihr lachen! Oder weinen, wenn ihr was traurig findet. Nur reinquatschen, das wäre
nicht nett. Stellt Euch vor wie es ist, wenn man vor Leuten etwas vorführt und sie hören nicht zu…
Applaus: Geklatscht werden soll im Theater: besonders am Ende, wenn das Stück vorbei ist und die
Schauspielerinnen und Schauspieler auf die Bühne kommen. Je besser Euch das Stück gefallen hat, desto
lauter und länger kann der Applaus sein, denn Applaus ist der unbezahlbare Lohn der Spieler! Wenn mitten im
Stück etwas ganz besonders gut gefällt, kann auch hier geklatscht werden. Das nennt man in der Fachsprache
Szenenapplaus.
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9. Arbeiten am Theater: Berufe und Ausbildung
Handout für Ihre Schülerinnen und Schüler
„Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“
Bertolt Brecht
Die Bandbreite der Berufe, die an einem Theater ausgeübt werden, ist weit vielfältiger als viele ahnen: Vom
Schauspieler bis zum Schuhmacher, vom Theaterpädagogen bis zum Tontechniker finden sich im Theater eine
Fülle unterschiedlicher Arbeitsplätze. Diese Vielfalt und das Arbeiten im Dienst der Künste machen es auch so
interessant und die Ausbildungsberufe sehr begehrenswert. Ein paar dieser Berufe möchten wir Euch hier
vorstellen.
Im Moment haben wir zwar keine offenen Ausbildungsstellen, aber es gibt natürlich auch die Möglichkeit, ein
Praktikum in einem der vielen Bereiche an unserem Theater zu absolvieren. Hierfür wendet Euch bitte an
Frank Fuhrmann, Tel. 04421.9401‐49, frank.fuhrmann@landesbuehne‐nord.de.
BÜHNENMALER/INNEN verwirklichen das Konzept der Bühnenbildner auf zeichnerische, malerische
oder plastische Weise. Sie müssen viele verschiedene Stilrichtungen beherrschen, dazu zählen: Landschaft,
Architektur, Porträt, figürliche Malerei, Anatomie, Schriften und Ornamente. Für diesen Beruf ist eine
Absolvierung der Schulpflicht, sowie der Abschluss in einem artverwandten Beruf zum Beispiel Maler nötig.
Die Ausbildung an sich dauert noch einmal drei Jahre.
Jule Schuster: Ein Bühnenmaler malt alles, was später auf der Bühne zu sehen ist. Ich muss von Architektur bis
hin zur Porträtmalerei oder der Holz‐ und Mamorimitation alles beherrschen. Bühnenmalerin zu sein
bedeutet für mich, mein Hobby zum Beruf zu machen und das zu tun, was ich schon seit der Schulzeit tun
wollte.
Ein/e DRAMATURG/IN kümmert sich sowohl um die Gestaltung des Spielplans, als auch um die
Vermittlung zwischen dem Stück und dem Regisseuren, bzw. dem Stück und der Öffentlichkeit.
Voraussetzend für diesen Beruf sind das Interesse an den Texten und das Bemühen um ein gutes
Allgemeinwissen im Bereich klassischer und moderner Literatur.
Athena Schreiber: Als Dramaturgin begleite ich die Proben und sorge für die Bereitstellung von
Hintergrundwissen sowohl für das Produktionsteam als auch für die Zuschauer. Zudem arbeite ich an der
Spielplangestaltung und an der Stichfassung der Stücke mit. Dramaturg/in zu sein bedeutet für mich die
Schnittstelle zwischen Kunst und Zuschauern zu sein, was wunderbar ist.
Der/die INSPIZIENT/IN betreut den organisatorischen Ablauf eines Stückes und überwacht alle Licht‐ und
Toneinsätze. Während der Vorstellung sorgt er dafür, dass alle Schauspieler ihre Einsätze einhalten und die
Bühne ordnungsgemäß eingerichtet ist. Der Beruf des Inspizienten ist an keine gesonderte Ausbildung
geknüpft. Wichtig sind eher Charakterstärken wie Gelassenheit, eine gute Kommunikation und
Durchsetzungsvermögen.
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Pascal Simon Grote: Ein Inspizient ist die Stimme aus dem Off für das Off, oder auch der Strippenzieher. Ich
muss die Musik abfahren, Lichtsignale geben und dafür sorgen, dass der Vorhang auf und zu geht. Inspizient/in
zu sein bedeutet für mich: Ich liebe die Perfektion im Multitasking, die es mir ermöglicht, meine Hobbys zu
finanzieren.
KOSTÜMBILDNER/INNEN entwerfen und gestalten die Kostüme und zumeist auch Masken einer
Produktion, in enger Absprache mit den Regisseuren und den Bühnenbildnern. An kleinen Häusern sind sie oft
auch verantwortlich für die Umsetzung und das Erstellen dieser Kostüme. Die Ausbildung zum Kostümbildner
dauert circa vier bis fünf Jahre. Ähnlich wie beim Bühnenbildner werden Kreativität und ein gutes
Hintergrundwissen vorausgesetzt.
Cornelia Brey: Ein Kostümbildner liest das Stück und macht sich Gedanken zu den Kostümen. In enger
Absprache mit dem Regisseur entwickele ich ein Kostümkonzept und entwerfe diese Kostüme. Danach muss
man gegebenenfalls das benötigte Material zusammensuchen und organisieren. Zudem bestimme ich die
Maske der Schauspieler. Also alles, was den Kopf der Schauspieler betrifft, sei es die Frisur, die Schminke oder
eine Perücke. Außerdem stelle ich die Probenkleidung zur Verfügung und leite Anproben. Kostümbildner/in zu
sein bedeutet für mich mit einer großen Gruppe von Leuten, in der jede verschiedene Dinge gut kann,
zusammen zu arbeiten und eine Geschichte zu erzählen, die sich die Menschen gerne angucken.
Ein/e MASKENBILDNER/IN fertigt ‐ wie der Name schon sagt – die Masken, aber auch die Perücken einer
Produktion an. Die Ausbildung zum Maskenbildner dauert drei Jahre und setzte ein gewisse Kreativität,
Fingerspitzengefühl und Anpassungsfähigkeit voraus.
Annalena Leber: Ein Maskenbildner schminkt die Schauspieler, knüpft die Perücken und betreut die
Schauspieler bei den Vorstellungen. Maskenbildner/in zu sein bedeutet für mich genau den richtigen Beruf am
Theater ergriffen zu haben. Es ist eine gute Mischung zwischen Handwerksarbeit und der Arbeit mit den
Schauspielern.
Der/die REGISSEUR/IN inszeniert das Stück nach einem bestimmten individuellen Konzept und bringt es
in Zusammenarbeit mit allen anderen Abteilungen auf die Bühne. Er muss kreativ mit dem ihm gegebenen
Text umgehen können, ein hohes Allgemeinwissen haben und eine gewisses Selbstbewusstsein und
Führungsstärke an den Tag legen. Oftmals wird für den Beruf des Regisseures eine bestimmte Ausbildung
erfordert, für die es jedoch oft nur eine begrenzte Anzahl an Studienplätzen gibt.
Carola Unser: Als Regisseurin ist es meine Aufgabe, alle Bausteine eines guten Theaterabends im Blick zu
haben und sie zusammen zu führen, dass sowohl alle Beteiligten, als auch die Zuschauer eine für sich sinnvolle
Lebenszeit erleben. Regisseur/in zu sein bedeutet für mich mit dem wundervollen Medium Theater, immer
wieder die Welt, die Gesellschaft zu hinterfragen, Gespräche anzustoßen, die vielleicht ein bisschen zum
besseren Gelingen einer guten Gemeinschaft beitragen und das mit Spaß.
Die Aufgabe des/der REQUISITEURs/IN ist es, sich darum zu kümmern, dass alle für ein Stück benötigten
Gegenstände vorhanden sind. Zudem ist er für Pflege, Instandhaltung und zum Teil auch Herstellung dieser
Requisiten verantwortlich. Ein Requisiteur sollte vor allem handwerkliches Geschick und ein gewisses
Organisationstalent mitbringen.
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Jochen Kempa: Ein/e Requisiteur/in deckt alles ab zwischen Bühnenbild und Kostüm. Er ist zuständig für die
Dekoration, wie Blumenvasen, für alles, was ein Schauspieler in der Tasche hat, wie Portemonnaies oder
Pistolen und für alles, was der Schauspieler sonst noch bespielt, wie Teddys oder Kaffeegeschirr. Außerdem
machen wir die Pyrotechnik. Wir organisieren und besorgen die Requisiten auf Flohmärkten oder im Internet.
Alles, was wir dort nicht finden, wird im Theater selbst angefertigt. Requisiteur/in zu sein bedeutet für mich
vor allem Arbeit. Aber auch Spaß. Das hält sich so die Waage.
Bevor ein/e SCHAUSPIELER/IN auf der Bühne zu sehen ist, muss er sich vor jedem Stück ausgiebig mit
seiner Rolle und seinem Text auseinander gesetzt haben. Ein Schauspieler muss sowohl physisch als auch
psychisch belastbar und kreativ sein. Die Ausbildung zum Schauspieler dauert in der Regel vier Jahre.
Zenzi Huber: Ich habe vor einem Jahr meinen Abschluss gemacht und habe jetzt zwei Gastspiele hier in
Wilhelmshaven und eines in Bochum. Wenn ich gerade kein Gastspiel habe, mache ich Musik. Als
Schauspielerin muss ich Text lernen, und spielen. Schauspieler/in zu sein bedeutet für mich einen total
abwechslungsreichen Beruf mit immer neuen Herausforderungen zu haben. Wenn man von einer guten Probe
kommt, ist man halt auch mal zwei Zentimeter größer.
Ein/e SCHREINER/IN fertigt alle größeren Teile aus Holz, die für ein Bühnenbild benötigt werden, an. Sinnvoll für diesen
Beruf ist es, eine dreijährige Ausbildung zum Schreiner
abgeschlossen zu haben.
Werkstattleiter Günter Rohlfs: Ich stelle alle Dekorationen
der Landesbühne her. Es ist ein abwechslungsreicher, kreativer
Job, der einen immer wieder vor neue Herausforderungen
stellt, weil man Lösungen für schwierige Aufträge finden muss,
um herauszufinden, wie etwas in der Realität umsetzbar ist.
Tischler Oliver Hilbers: In der Tischlerei zu arbeiten bedeutet
für mich als Handwerker mit Holz zu arbeiten und am Ende das
fertige Produkt zu sehen.
Wer den Beruf des/der MASSSCHNEIDERs/IN Fachrichtung Herren oder Damen erlernen möchte, sollte
großes handwerkliches Geschick, Geduld und eine ausgeprägte Lernbereitschaft mitbringen, um sich immer
wieder auf unbekannte und ungewöhnliche Entwürfe und Materialvorstellungen seitens des Kostümbildners
einstellen zu können. Um in einem Theateratelier tätig zu werden, benötigt man in der Regel eine Ausbildung
zum Maßschneider Fachrichtung Herren oder Damen. Ausbildungsplätze sind sowohl am Theater als auch im
Handwerk nur in begrenztem Umfang vorhanden.
Monika Kleen: Ein Schneider nimmt die Maße, stellt die Schnitte her und schneidet die Kostüme zu. Zu dem
fertigt man die Kostüme an. Ein Gewandmeister ist zuständig für die Stoffberatung und begleitet zudem die
Proben. Man muss die Wäsche waschen, die Abend‐ und die Garderobendienste machen. Die Fundusarbeit
und die Anproben machen sowohl Schneider als auch Gewandmeister. In der Kostümabteilung zu arbeiten
bedeutet für mich, mein Hobby zum Beruf zu machen, denn es ist interessant und abwechslungsreich und man
muss eine große Palette an verschiedensten Kostümen bedienen, von Alt bis Neu.
WEITERFÜHRENDE INFOS
Der Deutsche Bühnenverein hat auf seine
Homepage eine ganze Reihe weiterer
Informationen über einzelne Berufe
gestellt:
http://www.buehnenverein.de/de/jobs‐
und‐ausbildung/berufe‐am‐theater‐
einzelne.html
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10. Buchungsinformation und Kontakt
NO UND ICH
Premiere: 31.08.2013, 20:00 Uhr / Studio Rheinstr. 91 Wilhelmshaven
ProbeGucken / Lehrersicht: Montag, 26.08.2013 / 19:00 Uhr / Rheinstr. 91 Wilhelmshaven
(im Anschluss an den Lehrerinfotag)
Anmeldungen unter Tel. 04421.9401‐34 oder athena.schreiber@landesbuehne‐nord.de
Wir spielen NO UND ICH voraussichtlich bis zum 03.10.2013 und empfehlen das Stück ab der 7. Klasse.
Melden Sie sich für einen Wunschtermin in der Rheinstr. 91 Wilhelmshaven oder direkt in ihrer Schule bei
unserer Disponentin Heike Thies, heike.thies@landesbuehne‐nord.de, Tel. 04421.9401‐27. Wenn Sie bis zum
03. Oktober keinen passenden Termin finden, merken wir Sie gerne für eine evtl. Wiederaufnahme vor.
Wenden Sie sich bei Fragen zu den Anforderungen an den Raum ebenfalls an Heike Thies.
Pro Schüler kostet eine Karte 5,10 €. Lehrer und Aufsichtspersonen sind frei.
Frühbucherrabatt: Buchen Sie vor der Premiere, kostet eine Karte nur 2,50 €.
Klassenabo: Sie finden NO UND ICH zusammen mit BUDDENBROOKS, BLUES BROTHERS, LEONCE UND
LENA sowie WAISEN auch im Klassenabo.
Schüler ab der 9. Klasse können für 26,75 € fünfmal in Wilhelmshaven ins Theater gehen.
Fragen Sie bitte Ihren Spielortvertreter, ob es ein ähnliches Angebot auch in Ihrem Ort gibt.
Für alle inhaltlichen Fragen stehen wir Ihnen gerne zur Verfügung:
Athena Schreiber, Dramaturgin der Jungen
Landesbühne
Tel. 04421.9401‐34
athena.schreiber@landesbuehne‐nord.de
Carola Unser, Leitung der Jungen
Landesbühne
Tel. 04421.9401‐34
carola.unser@landesbuehne‐nord.de
Sie möchten, dass wir zu Ihnen in die Schule
kommen? Dann sprechen Sie uns an:
Frank Fuhrmann, Theaterpädagoge der
Jungen Landesbühne
Tel. 04421.9401‐49
frank.fuhrmann@landesbuehne‐nord.de
30
ANHANG:
EXKURSE ZUR VERTIEFENDEN
UNTERRICHTSBEGLEITUNG
31
11. NO UND ICH im Französischunterricht
„Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung.“
Antoine de Saint‐Exupéry
Die Romanvorlage im Original eignet sich natürlich gut für den Französischunterricht der Oberstufe, ebenso
empfehlenswert ist die Verfilmung von 2010 (mit Julie‐Maria Parmentier und Nina Rodriguez, Regie: Zabou
Breitman). Im Folgenden finden Sie jeweils den Ausschnitt aus dem Roman sowie die Übersetzung der
Spielszene, die schon im ersten Teil der Mappe als Anregung für den Unterricht dienen sollte: À LA GARE
D’AUSTERLITZ. Natürlich können Sie die Anregungen des ersten Teils ebenso für den Französischunterricht
übernehmen oder in Ihrem Sinne anpassen. Zuletzt haben wir Ihnen den Songtext ALORS ON DANSE von
STROMAE beigefügt. Das Lied ist Ihren Schülern sicherlich bekannt und eignet sich mit einem thematisch
passenden Text sehr gut zum Übersetzen.
À LA GARE D’AUSTERLITZ (NOVEL)
La gare d’Austerlitz, j’y vais souvent, le mardi ou le vendredi, quand
je finis les cours plus tôt. J’y vais pour regarder les trains qui partent,
à cause de l’émotion, c’est un truc que j’aime bien, voir l’émotion des
gens, c’est pour ça que je ne rate jamais les matches de foot à la
télévision, j’adore quand ils s’embrassent après les buts, ils courent
avec les bras en l’air et ils s’enlacent, et puis aussi Qui veut gagner
des millions, il faut voir les filles quand elles donnent la bonne
réponse, elles mettent leurs mains devant leur bouche, renversent la
tête en arrière, poussent des cris et tout, avec des grosses larmes
dans leurs yeux. Dans les gares, c’est autre chose, l’émotion se devine dans les regards, les gestes, les
mouvements, il y a les amoureux qui se quittent, les mamies qui repartent, les dames avec des grands
manteaux qui abandonnent des hommes au col relevé, ou l’inverse, j’observe ces gens qui s’en vont, on ne sait
pas où, ni pourquoi, ni pour combien de temps, ils se disent au revoir à travers la vitre, d’un petit signe, ou
s’évertuent à crier alors qu’on ne les entend pas. Quand on a de la chance on assiste à de vraies séparations, je
veux dire qu’on sent bien que cela va durer longtemps ou que cela va paraître très long (ce qui revient au
même), alors là l’émotion est très dense, c’est comme si l’air s’épaississait, comme s’ils étaient seuls, sans
personne autour. C’est pareil pour les trains à l’arrivée, je m’installe au début du quai, j’observe les gens qui
attendent, leur visage tendu, impatient, leurs yeux qui cherchent, et soudain ce sourire à leurs lèvres, leur bras
levé, leur main qui s’agite, alors ils s’avancent, ils s’étreignent, c’est ce que je préfère, entre tout, ces effusions.
Bref, voilà pourquoi je me trouvais gare d’Austerlitz. J’attendais l’arrivée du TER de 16 h 44, en provenance de
Clermont‐Ferrand, c’est mon préféré parce qu’il y a toute sorte de gens, des jeunes, des vieux, des bien
habillés, des gros, des maigres, des mal fagotés et tout. J’ai fini par sentir que quelqu’un me tapait sur l’épaule,
ça m’a pris un peu de temps parce que j’étais très concentrée, et dans ce cas‐là un mammouth pourrait se
rouler sur mes baskets, je ne m’en rendrais pas compte. Je me suis retournée.
— T’as pas une clope ?
Elle portait un pantalon kaki sale, un vieux blouson troué aux coudes, une écharpe Benetton comme celle que
ma mère garde au fond de son placard, en souvenir de quand elle était jeune.
BUCHDATEN
Delphine De Vigan
No et moi
Roman. Ausgezeichnet mit dem
Prix des Libraires 2008
ISBN: 225312480X
2009, 248 Seiten, Maße: 11 x 17,7
cm, Taschenbuch, Französisch.
32
— Non, je suis désolée, je ne fume pas. J’ai des chewing‐gums à la menthe, si vous voulez.
Elle a fait la moue, puis m’a tendu la main, je lui ai donné le paquet, elle l’a fourré dans son sac.
— Salut, je m’appelle No. Et toi ?
— No ?
— Oui.
— Moi, c’est Lou… Lou Bertignac. (En général, ça fait son petit effet, car les gens croient que je suis de la
famille du chanteur, peut‐être même sa fille, une fois quand j’étais au collège, j’ai fait croire que oui, bon après
ça s’est compliqué, quand il a fallu que je donne des détails, que je fasse signer des autographes et tout, j’ai dû
avouer la vérité.)
Cela n’a pas eu l’air de l’émouvoir. Je me suis dit que ce n’était pas son genre de musique. Elle s’est dirigée vers
un homme qui lisait son journal debout, à quelques mètres de nous. Il a levé les yeux au ciel en soupirant, a
sorti une cigarette de son paquet, elle l’a attrapée sans le regarder, puis elle est revenue vers moi.
— Je t’ai déjà vue ici, plusieurs fois. Qu’est‐ce que tu fais ?
— Je viens pour regarder les gens.
— Ah. Et des gens, y’en a pas par chez toi ?
— Si. Mais c’est pas pareil.
— T’as quel âge ?
— Treize ans.
— T’aurais pas deux ou trois euros, j’ai pas mangé depuis hier soir ?
J’ai cherché dans la poche de mon jean, il me restait quelques pièces, j’ai tout donné sans regarder. Elle a
compté avant de refermer sa main.
— T’es en quelle classe ?
— En seconde.
— C’est pas l’âge normal, ça ?
— Ben… non. J’ai deux ans d’avance.
— Comment ça se fait ?
— J’ai sauté des classes.
— J’ai bien compris, mais comment ça se fait, Lou, que t’as sauté des classes ?
J’ai trouvé qu’elle me parlait d’une manière bizarre, je me suis demandé si elle n’était pas en train de se
moquer de moi, mais elle avait un air très sérieux et très embêté à la fois.
33
— Je ne sais pas. J’ai appris à lire quand j’étais à la maternelle, alors je ne suis pas allée au CP, et puis après j’ai
sauté le CM1. En fait je m’ennuyais tellement que j’enroulais mes cheveux autour d’un doigt et je tirais dessus,
toute la journée, alors au bout de quelques semaines j’ai eu un trou. Au troisième trou, j’ai changé de classe.
Moi aussi j’aurais bien voulu lui poser des questions, mais j’étais trop intimidée, elle fumait sa cigarette et me
regardait de haut en bas et de bas en haut, comme si elle cherchait un truc que je pourrais lui donner. Le
silence s’était installé (entre nous, parce que sinon il y avait la voix synthétique dans le haut‐parleur qui nous
cassait les oreilles), alors je me suis sentie obligée d’ajouter que maintenant, ça allait mieux.
— Ça va mieux quoi, les cheveux ou l’ennui ?
— Ben… les deux.
Elle a ri. Alors j’ai vu qu’il lui manquait une dent, je n’ai même pas eu à réfléchir un dixième de seconde pour
trouver la bonne réponse : une prémolaire.
Depuis toute la vie je me suis toujours sentie en dehors, où que je sois, en dehors de l’image, de la
conversation, en décalage, comme si j’étais seule à entendre des bruits ou des paroles que les autres ne
perçoivent pas, et sourde aux mots qu’ils semblent entendre, comme si j’étais hors du cadre, de l’autre côté
d’une vitre immense et invisible.
Pourtant hier j’étais là, avec elle, on
aurait pu j’en suis sûre dessiner un
cercle autour de nous, un cercle dont
je n’étais pas exclue, un cercle qui
nous enveloppait, et qui, pour
quelques minutes, nous protégeait
du monde.
Je ne pouvais pas rester, mon père
m’attendait, je ne savais pas
comment lui dire au revoir, s’il fallait
dire madame ou mademoiselle, ou si
je devais l’appeler No puisque je
connaissais son prénom. J’ai résolu le
problème en lançant un au revoir
tout court, je me suis dit qu’elle
n’était pas du genre à se formaliser sur la bonne éducation et tous ces trucs de la vie en société qu’on doit
respecter. Je me suis retournée pour lui faire un petit signe de la main, elle est restée là, à me regarder partir,
ça m’a fait de la peine parce qu’il suffisait de voir son regard, comme il était vide, pour savoir qu’elle n’avait
personne pour l’attendre, pas de maison, pas d’ordinateur, et peut‐être nulle part où aller.
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À LA GARE D’AUSTERLITZ (PIÈCE)
NO : Dégage! Regarde ailleurs. Tu veux ma photo? Est ce que j´ai quelque chose
de particulier? Mon nom est Nora, c´est un nom courant, en province. So what? Je vis dans
la rue depuis 10 ans LUCAS : T´as quel âge? NO Ça te regarde pas. Je vends le journal des sans‐abris „Réverbère“. Il coute 1
euro 60. La moitié est pour le projet, l´autre pour moi. Je n´achèterai pas de boissons alcoolisées, seulement un repas chaud et une chambre pour cette nuit. Est ce que quelqu’un aurait un peu d´argent ou voudrait acheter un journal? Quand j´aurai vendu celui‐ci, j´aurais rempli mes obligations et je pourrais me payer un repas chaud...
LUCAS Hep. NO montrant le chapeau au sol. Si tu veux me parler, tu dois jeter quelque chose la dedans. LUCAS Le claquage de dents est un peu abusé. NO Il fait super froid. LUCAS Personne ne te croit quand tu dis que tu n´achèteras pas d´alcool. Et au vue
de ta situation tout le monde peut comprendre. LOU en front de scène. La consommation de drogues est un moyen pour les sans‐abris de
surmonter le quotidien. L´alcool peut, pour un certain temps, adoucir, éloigner, la peur, virgule, le dégout, virgule, la frustration, virgule, la colère et le désespoir.
NO Merci! De la pitié... LUCAS Et comme ça, ils ont fait leur B.A. Au fait ils s´en fichent de toi. C´est une
forme particulière d´ignorance: ils te donnent 1 euros, et ils ont bonne conscience.
NO sors un euro de sa poche. Dégage. Merde. C´est peut‐être un chien dont j´ai besoin. Comme ça je pourrais dire: J´ai besoin d´aide pour moi et mon ami à quatre
pattes. LUCAS Mais il aura aussi besoin de soins. Depuis combien de temps tu fais ça? NO Un an ….bon, deux mois. LOU Maintenant c´est le moment ou on rappe. No devrait normalement rapper. NO On a coupé cette scène, c´était trop gênant. LUCAS Tu dors ici?
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NO Ici ou là. LOU Un livre à la main. Elle apprend une définition par cœur, cela attire l´attention
de No. On appelle cerveaux la partie centrale du système nerveux. Il est protégé par la boite crânienne et est constitué en majeure partie de tissu nerveux.
NO Où se trouvent les sentiments? LOU Quoi? NO Les sentiments, où se trouvent‐ils? J´aimerais bien le savoir. LOU Dans le système lymphatique? NO regarde Lou d´un air de défi. LOU la structure du système lymphatique/ NO / est constituée d´un anneau double autour des glandes basales et du
thalamus. Elle est constituée des parties phylogénétiques du cerveau principal et des structures néocorticales.
LOU Oui. NO Mais qu´est‐ce que tu crois? Ce n´est pas important de savoir où ils sont
situés. C´est important de savoir qu´on a des sentiments. Est‐ce‐qu´ils ne pourraient pas nous apprendre quelque chose dont on a réellement besoin? Glucose? Fructose? Division cellulaire.
T´as une clope? LOU secoue la tête J´ai des chewing‐gums à la menthe. Si vous voulez. NO elle prend le paquet en grimaçant de dégout. Elle veut. Trouve une cigarette et veut l´allumer. LUCAS Il est interdit de fumer dans l´ensemble de la gare.
No allume son briquet
LUCAS Interdiction de fumer. Théâtre! LOU conciliante Fais semblant! NO si tu parles si bas, à cette distance, personne ne peut comprendre ce que tu
as à dire. LOU tu peux t´approcher. NO tu sais à quel point je pue? LOU sourie NO je m´appelle No, en fait Nora, mais je préfère No comme non.
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LUCAS : Oh un statement. NO Une affirmation. Si tu comprends ce que je veux dire LOU Lou Bertignac NO Je n´ai pas entendu un seul mot, bien que je me sois lavé les oreilles. LOU très fort
JE M´APPELLE LOU BERTIGNAC NO maintenant tout le monde le sait. LOU ‐ NO Tu n´aurais pas par hasard deux ou trois euros? Ça fait un bout de temps
que je n´ai rien mangé. LOU Lui donne les pièces qu´elle trouve dans la poche de son pantalon. Tu veux
boire un chocolat chaud? NO se met debout d´un saut et prend sa valise. LOU Je veux dire … pas tout de suite … NO Vas te faire foutre ! Froidement Au revoir Lou Bertignac. LOU Je dois aller à l´école NO T´es en quelle classe? LOU En seconde NO T´as quel âge? LOU Treize ans. NO C´est pas normal pour ton âge. LUCAS Elle a deux ans d´avance. NO Comment ça? LUCAS Elle a sauté deux classes. NO Je ne suis pas débile. Pourquoi tu as sauté deux classes? LOU Défaut de fabrication. Imagine que tu sois une voiture et que tu ais plus de
fonctions que la plupart des voitures, tu irais plus vite et tu serais plus performante.
NO Question simple, réponse simple? LOU Parce que je sais que la dent qu´il te manques est une prémolaire, voilà
pourquoi.
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NO Je serais impressionnée, si tu pouvais me dire pourquoi ma prémolaire me manque.
LOU Je ne sais pas, pourquoi? NO Ça te regarde pas. LOU C´est mon train NO Attends.
Elle prend un vieux saucisson dans un sac plastique et en coupe un bout pour Lou. Elle donne un coup de pied à sa bière qui vole au dessus du quai.
ALORS ON DANSE (STROMAE)
Alors on danse
Alors on danse
Alors on danse
Qui dit étude dit travail.
Qui dit taf te dit les thunes.
Qui dit argent dit dépenses
Qui dit crédit dit créance.
Qui dit dette te dit huissier.
Oui dit assis dans la merde.
Qui dit Amour dit les gosses,
dit toujours et dit divorce.
Qui dit proches te dis deuils, car les problèmes ne viennent pas seul.
Qui dit crise te dis monde dit famine dit tiers‐ monde.
Qui dit fatigue dit réveille encore sourd de la veille.
Alors on sort pour oublier tous les problèmes.
Alors on danse, Alors on danse
Alors on danse, Alors on danse
Alors on danse, Alors on danse
Alors on danse, Alors on danse
Alors on danse!
Et la tu t'dis que c'est fini car pire que ça ce serait la mort.
Qu'en tu crois enfin que tu t'en sors quand y en a plus et ben y en a encore!
Ecstasy dis problème les problèmes ou bien la musique.
Ca t'prends les trips ca te prends la tête et puis tu prie pour que ça s'arrête.
Mais c'est ton corps c'est pas le ciel alors tu t'bouche plus les oreilles.
Et là tu cries encore plus fort et ca persiste...
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Alors on chante; Lalalalalala, Lalalalalala!
Alors on chante; Lalalalalala, Lalalalalala!
Alors on chante, Alors on chante!
Et puis seulement quand c'est fini, alors on danse.
Alors on danse, Alors on danse.
Alors on danse, Alors on danse.
Alors on danse, Alors on danse.
Alors on danse.
Et ben y en a encore, Et ben y en a encore
Et ben y en a encore, Et ben y en a encore
Et ben y en a encore.
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12. Armut – was ist das?
„Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet.“
Jean Ziegler
ARMUT UND EXKLUSION
Armut ist ein politisch‐normativer Begriff, der sich schwer und nicht ein für alle Mal definieren lässt. Es
herrscht kein Grundkonsens aller Gesellschaftsmitglieder darüber und es existieren je nach sozialer Stellung,
Weltanschauung, Religion, Herkunft und Umfeld unterschiedliche bis hin zu gegensätzlichen Auffassungen
dazu. Man unterscheidet allgemein zwischen absoluter und relativer Armut. Armut in Industrieländern ist in
der Regel relative Armut, da es nicht um das physische Überleben (wie in vielen Entwicklungsländern) geht,
sondern um ein menschenwürdiges Leben. Armut ist in jedem Fall mehrdimensional: es ist nicht nur ein
ökonomisch‐materielles, sondern gleichzeitig auch ein soziales, kulturelles und psychisches Phänomen.
Zur Messung von Armut bedienen sich die Sozialwissenschaften verschiedener Instrumente. So lässt sich
Armut durch den Ressourcenansatz untersuchen, der lediglich monetäre Ressourcen berücksichtigt. In den
letzten Jahren berücksichtigt man aber auch weitere Defizite in Lebensbereichen wie z. B. Bildung und
politische Teilhabe. Während man in früheren Ungleichheitsforschungen immer von Armut als das Problem
der sozialen Frage gesprochen hat, wird seit den 1990er Jahren häufig der der Begriff der Exklusion (oder auch
in Deutschland soziale Ausgrenzung) gebraucht. Exklusion wurde zum Schlagwort der Kommission der
Europäischen Gemeinschaft 1993: „Poverty was no longer the right word. The phenomenon was not simply
related to material wealth, or lack of fit, but involved a complicated interaction between – wealth, certainly – but
also access to social rights, attachment to the labor market, the strength of informal networks […] a situation
involving several dimensions of deprivation; a kind of poverty built into the structures of society, and not simply
relevant to a residual minority of the population.”
DIE FOLGEN DER ARMUT
Die Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut werden hier stets sozial bestimmt, sind also auf Teilhabe oder
Ausschluss bezogen. Heinz Bude
formuliert das wie folgt: „Soziale
Exklusion (…) ist weder auf
gesellschaftliche Benachteiligung zu
reduzieren noch durch relative Armut
zu erfassen. Sie betrifft vielmehr den
Platz im Gesamtgefüge der
Gesellschaft. Sie entscheidet darüber,
ob Menschen das Gefühl haben, dass
ihnen Chancen offenstehen und dass
ihnen ihre Leistung eine hörbare
Stimme verleiht, oder ob sie glauben
müssen, nirgendwo hinzugehören, und
dass ihnen ihre Anstrengung und
Mühe niemand abnimmt.“
40
Lang andauernde Arbeitslosigkeit kann bei den Betroffenen zu einer Abwärtsspirale führen, die den Abstieg in
immer mehr Lebensbereichen mit sich bringt. Das Wohnen in städtischen Randgebieten, die ausschließlich
von sog. sozial Schwachen bewohnt werden, führt zu einer Stigmatisierung und Ausgrenzung, die die
Arbeitssuche und gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Während bei anhaltender Arbeitslosigkeit die
Inklusion der Betroffenen in ein staatliches System der Hilfsempfänger erfolgt, ist diese bei Verlust der
Wohnung wiederum gefährdet. Ohne Wohnung wird es ungleich schwerer, die Hilfsangebote zu erhalten
und Zugang zu Gesellschaftssystemen zu erlangen.
Obdachlose und Wohnungslose markieren die unterste Stufe der sog. sozialen Deklassierung und sind,
gemessen an einem monetären Armutsbegriff, in der Regel die am Stärksten von Armut betroffenen
Menschen. Die Bedeutung von Wohnung als elementare Grundlage für ein gesichertes, menschenwürdiges
Leben ist schwer greifbar, solange man den Verlust derselben nie erlebt hat. Die Situation in der sich
Wohnungslose befinden, entspricht keiner anderen: Wohnungslos zu sein bedeutet oftmals gleichzeitig der
Ausschluss oder zumindest erschwerter Zugang zu den wichtigsten Bereichen und Systemen des
gesellschaftlichen Leben.
Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist ohne festen Wohnsitz sehr erschwert und ein Abrutschen in illegale
oder kriminelle Milieus somit gefördert.
Anspruch auf staatliche Unterstützung nach dem SGB II besteht, wird aber oft in Tagessätzen
ausgezahlt. D.h. der/die Obdachlose muss sich mitunter das Tagesgeld täglich abholen.
Ausreichende medizinische Versorgung ist schwierig, nicht nur weil sie häufig – gewiss nicht immer ‐
eine schlechte Akzeptanz bei Ärzten haben. Obdachlose haben das Recht auf Krankenversicherung, die
für sie kostenlos ist, wenn sie Arbeitslosengeld II beziehen. Die ersten 80€ pro Jahr müssen sie aber für
Rezeptgebühren (früher auch Praxisgebühren) bezahlen, bevor sie von weiteren Zuzahlungen befreit
werden. Das bedeutet außerdem auch, dass sie die Belege dafür zu sammeln und der Krankenkasse
vorlegen müssen.
Die Funktionssysteme unserer Gesellschaft, Wohnung,
Familie, Arbeitsplatz, politisches System, sind für
Wohnungslose schwer erreichbar. Wohnungslose sind
nach dem Grundgesetz mit allen anderen Menschen
gleichgestellt. Dennoch sind sie durch vorhandene
Strukturen, ob absichtlich oder nicht, exkludiert, werden
nicht in alle gesellschaftlichen, sozialen und poltischen
Prozesse eingebunden und im politischen System nicht
repräsentiert.
41
OBDACHLOSIGKEIT UND DIE WAHRNEHMUNG DER GESELLSCHAFT
Historisch betrachtet wurde Obdachlosigkeit durch die Gesellschaft völlig unterschiedlich wahrgenommen: Im
Mittelalter war die Gabe von Almosen an Bettler eine verbreitete und angesehene Geste, mit der man sich
quasi eine Vergebung der Sünden erkaufte. Im Absolutismus wurden Bettler geächtet und verfolgt,
Almosen standen unter Strafe. Ein Wirtschaftssystem das auf Leistung und materiellem Verdienst aufgebaut
war, begründete eine gesellschaftliche Moral, die Arme als Plage und zunehmend auch als Asoziale, die mit
Gefängnis und Zwangsarbeit umerzogen werden mussten, betrachtete. Mit der Bauernbefreiung im frühen
19. Jh. verbesserte sich die Situation der Obdachlosen wieder etwas und kirchliche Einrichtungen
beherbergten sie gegen Arbeit.
Tatsächlich existierte zu Beginn des 20. Jh.
eine Theorie, die manchen Menschen eine
Erbkrankheit, ein sog. Nomadengen
unterstellte, welches sie daran hindere,
sesshaft zu sein. In der Folge wurden
Landstreicher zwar nicht mehr verurteilt,
aber der Ansatz, dies als psychologische
Krankheit zu betrachten, verhinderte eine
Auseinandersetzung mit den tatsächlichen,
strukturelle Probleme und Ursachen.
Heute widerfährt Wohnungslosen mitunter
eine besondere Stigmatisierung, da
mitunter angenommen wird, dass „im
Sozialstaat Deutschland kein Mensch
ohne Dach über dem Kopf leben muss“.
Somit muss ihre Notsituation „selbst
verschuldet“ sein oder aber sie leben
„freiwillig“ auf der Straße. Es existiert aber
auch die gegenteilige Meinung, dass man
nicht von Natur aus „arm“ ist, sondern von
der Gesellschaft bzw. den Mechanismen des ökonomischen Systems oder durch konkrete politische
Handlungen oder Nicht‐Handeln dazu gemacht wird. Hilfe muss den Bedürftigen entsprechend angepasst
sein. Ist sie das nicht, kann sie sich für diese nachteilig auswirken.
QUELLEN UND LITERATURVORSCHLÄGE:
Christoph Butterwegge (2009): Armut in einem reichen
Land: wie das Problem verharmlost und verdrängt wird
Heinz Bude (2008): Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom
Traum einer gerechten Gesellschaft.
Rainer Geissler, Thomas Meyer (2006): Die Sozialstruktur
Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit
einer Bilanz zur Vereinigung.
Martin Kronauer (1996): "Soziale Ausgrenzung" und
"Underclass": Über neue Formen der gesellschaftlichen
Spaltung.
Jean Ziegler (2011): Der Aufstand des Gewissens: Die
nicht gehaltene Festspielrede 2011
42
13. Simulation einer Podiumsdiskussion
„Die Welt wird nicht bedroht von den Menschen,
die böse sind, sondern von denen, die das Böse zulassen.“
Albert Einstein
Simulationen sind eine schöne Alternative zu den üblichen Referaten: Nicht nur die Redekompetenz wird
geübt, auch Begründung und Untermauerung eines bestimmten Standpunktes, Fairness im Umgang mit
anderen im Podium, Rücksichtnahme und Toleranz gegenüber anderen Meinungen. Darüber hinaus wird
ein Thema, hier: Obdachlosigkeit, intensiv bearbeitet. Wir haben eine ähnliche Simulation in der ersten
Probenwoche, der „Konzeptionswoche“ mit dem Team durchgeführt. Natürlich eignet sich eine solche
Simulation am Besten im Fach Politik und Wirtschaft, aber auch in Religion und Ethik können alle von solch
einer Methode profitieren.
Die SchülerInnen werden in drei gleichgroße (und am besten sprachlich gleichstarke) Gruppen eingeteilt
und erhalten die Aufgabe, für Ihr „Projekt“ Geld von einem fiktiven Investor zu erhalten, der mit 3000 € das
Team sponsern will, welches zum Thema Obdachlosigkeit das überzeugendste Projekt durchführen will.
Lassen Sie die SchülerInnen selbst überlegen, was mögliche Projekte sein können. Wenn Anregungen
gebraucht werden, dann geben Sie Beispiele vor: Ein Begegnungshaus für Obdachlose und Nichtobdachlose,
eine regelmäßige Armenspeisung per Bus weil Essen die wichtigste Grundlage ist, ein Kunstprojekt mit
Obdachlosen, eine Aufklärungskampagne durch neue Medien … Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Die Gruppen erhalten genügend Zeit zur Vorbereitung. Zusätzlich zu den angefügten Positionspapieren
kann entweder durch eigene Literarturrecherche oder mit ausreichend Empfehlungen vom Lehrer
angereichert werden. Die Positionen unterscheiden sich grundlegend und die damit verbundenen Projekte
entstehen auf diesen Positionen.
Alle drei Positionen sind legitim, keine ist besonders radikal oder politisch extrem. Es sollen Argumente
für das eigene Projekt und Gegenargumente gegen die anderen gefunden werden, mit denen der Investor
überzeugt wird. Die Position sollte ehrlich vertreten werden, die SchülerInnen sollen sich hineinversetzten
und die für sich selbst stimmigen und positiven Aspekte und Meinungen hervorheben und die anderen
argumentativ aushebeln – nicht verurteilen oder polemisch werden!
Die folgenden Positionspapiere dienen als Grundlage und sollten mit dem Lehrer durchgesprochen
werden. Sie enthalten verschiedene Aussagen, subjektive Äußerungen, Zitate und, am Ende, ein
Projektziel, welches helfen sollen, eine Position zu behaupten. Die (zum Teil) fiktiven Sätze sind bewusst zum
Teil provokant um eine (fiktive) Position einnehmen zu können. (Selbstverständlich spiegelt keine dieser
Position oder Aussagen die Meinung des Teams oder der Landesbühne dar.)
Ändern Sie die Inhalte (der Positionspapiere) und Anregungen nach Ihren Vorstellungen und passen Sie,
wo es nicht passt, alles Ihrem Unterricht an!
43
Positionspapier
ROMANTISIERUNG & ABLEHNUNG DER NORM
Name des Projektes: …………………………………………………………………………………………..
„Mit welchem Recht wird Obdachlosen vorgeschrieben, dass Sie unter einem Dach leben und
sich anpassen müssen, um normal zu sein? Warum glauben wir, dass unser Leben das bessere
ist? Was ist normal – und mit welcher Legitimation? Das Leben auf der Straße ist grausam –
aber das sogenannte „normale“ Leben kann ebenfalls grausam sein. Wir glauben, dass
Obdachlos – Sein ein alternatives Lebenskonzept bedeuten kann! Und das ist es wert, es zu
unterstützen.“
Argumente:
Niedriglohnsektor:
„2010 verdienten 1,383 Millionen Menschen in Deutschland so wenig, dass sie als sogenannte
Aufstocker zusätzlich Arbeitslosengeld II bezogen um die Grundsicherung zu erreichen.“
„Alleinerziehende Mutter mit 3 Jobs: In Deutschland keine Seltenheit.“
Burn Out:
„Die Europäische Agentur für Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz schätzt die
volkswirtschaftlichen Folgekosten des Burnout‐Syndroms in der EU auf rund 20 Milliarden Euro
jährlich.“
Glücksforschung:
„Lt. einer Statistik ist zwischen 1973 und 2000 das pro Kopf Einkommen um 55% gestiegen. Im
gleichen Zeitraum sank die durchschnittliche „Lebenszufriedenheit“ um 10%. Geld allein macht
nicht glücklich.“
PROJEKTZIEL: Mehr Akzeptanz und Respekt vor anderen Lebensformen, Sichtbarkeit von
Obdachlosen, menschenwürdiges Leben AUF der Straße ohne den Zwang der Anpassung an
ein sog. normales Leben.
44
Positionspapier
ENTLARVUNG & STRUKTURWANDEL
Name des Projektes:..…………………………………………………………………………………………..
„Das Thema Armut wird, zum Beispiel in den Medien, emotional verhandelt und dramatisiert.
Auf diese Weise wird Armut nicht beseitigt: man muss es rational und nüchtern betrachten.
Außerdem verdienen Wohlfahrtsverbände Geld damit und haben ein Interesse, sich selbst zu
erhalten. Das System funktioniert – aber nicht zugunsten der Armen. Man muss effizienter
herangehen und Ursachen bekämpfen.“
Argumente:
Das Geschäft mit der Armut:
„Wohlfahrtsverbände, Sozialamt (staatliche Bürokratien), Armutsforschung und Medien
„verdienen“ durch Verstärkung des unguten Gefühls der „dramatisch wachsenden Armut“ – oder
haben zumindest ein Interesse daran, sei es wegen Spendengelder oder um das System zu
erhalten.“
Wohlstand in Deutschland:
„Aktuell haben wir in Deutschland die wohlhabendste Gesellschaft, die es je gab und der
Kapitalismus im Modus der sozialen Marktwirtschaft ist das erfolgreichste Wirtschafts‐ und
Gesellschaftsmodell, das wir je hatten.“
Keine Lösung für tatsächliche Probleme:
„Die Verringerung der relativen Armut wurde bislang verfehlt – die bisherigen Ansätze waren
erfolglos. Monetäre Mittel wie Spenden decken das Problem zu und verhindern die nüchterne und
emotionslose Auseinandersetzung mit den Ursachen.“
Abwärtsspiralen:
„Wo Armut herrscht, verfestigt sie sich, Exklusion verschärft sich und damit verringern sich die
Chancen. Konkrete Forderungen sind: Zugang zu Kinderkrippen, Bildung, Arbeitsmarkt,
medizinischer Versorgung, Kultur. Chancengleichheit!“
PROJEKTZIEL: Effizientes Einsetzen von Geldern, politische Innovation, Strukturwandel,
Ursachen bekämpfen statt Problem verdecken. Politisches Umdenken, Radikale
Nüchternheit, Aufklärung. Rational, effektiv, effizient!
45
Positionspapier
BETROFFENHEIT & BARMHERZIGKEIT
Name des Projektes:..………………………………………………………………………………………….
„Wir können nicht in unserem Wohlstand leben und Wegsehen. Armut in Deutschland geht
uns alle an. Unsere Gesellschaft, unsere Moralvorstellungen beruhen u. A. auf christliche
Nächstenliebe und Humanismus. Es ist eine Pflicht, abzugeben und Menschen, die weniger
haben, zu unterstützen. Verteilungsgerechtigkeit!“
Nächstenliebe:
„Brich mit den Hungrigen dein Brot, und die so im Elend sind, führe ins Haus; so du einen nackt
siehst, so kleide ihn, und entziehe dich nicht deinem Fleisch und Blut.“ Jesaja 58,7
Verteilungsungerechtigkeit:
„Über 60% des Nettoeinkommens verteilen sich auf die oberen 10% der Haushalte.“
Spendenaufruf:
„Um der Armut der Kinder Einhalt zu gebieten, ist die Initiative und Hilfe von uns Allen gefordert.
Helfen Sie den Kindern mit einer Spende gegen die Armut.“
Beispiel Die Tafel:
„Die möglichen Folgen von relativer Armut sind Mangelernährung, hohe Krankheitsanfälligkeit,
soziale Isolation, Suchtprobleme. Die Tafeln treten dafür ein, die negativen Folgen der Armut in einem
Land des Überflusses etwas zu lindern – und den Betroffenen damit ein Stück Lebensmut und Kraft zu
verleihen, um ihre Lebenssituation zum Positiven zu verändern.“
Gerechtigkeit:
„Wir leben im Luxus. Wir geben Geld für Dinge aus, die wir nicht brauchen!“
Lou aus NO UND ICH:
„Wir sind imstande, Raketen ins All zu schicken, eine Tomate zu züchten, die im Kühlschrank drei
Monate lang völlig faltenfrei bleibt oder Millionen Infos auf einem Mikrochip zu speichern.“ „Wie
können wir gleichzeitig Menschen im Winter auf der Straße sterben lassen?“
PROJEKTZIEL: Spenden! Direkte Hilfe für die ärmsten der Armen, Essen, Kleidung, Wärme,
Schutz.
46
14. Interviews als Forschungsmethode
„Der Unterschied zwischen dem was wir tun und dem was wir in der Lage wären zu tun
würde genügen um die meisten Probleme der Welt zu lösen.”
Mahatma Gandhi
Vielleicht wurden manche Ihrer SchülerInnen durch das Stück angeregt, eigenständig Forschung zu
betreiben und ein bestimmtes Thema nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch zu erarbeiten. Sicher: das
ist eine anspruchsvolle Aufgabe und je nach Thema brauchen die ForscherInnen mehr oder weniger Ihre
Unterstützung. Aber vielleicht haben Sie selbst schon einmal empirisch gearbeitet oder wissen um die
erstaunlichen Resultate, die Motivation und den großen Lerneffekt den es hat, wenn Wissen auf diese
Weise erarbeitet wurde? Das Thema und Unterrichtsfach ist dabei fast Nebensache: so gut wie jedes Thema
hat empirische Phänomene, die es zu erforschen gilt. Außerdem lässt sich prima fächerübergreifend arbeiten:
Statistik in Mathematik macht bestimmt mehr Spaß, wenn man die Statistik selbst erhoben hat!
Im Folgenden finden Sie eine kleine Hilfestellung für eine eigene, von den SchülerInnen durchgeführte sog.
Erhebung (in den beiden Kästen). Je nach Aufgabe, Thema, Erfahrung der Forschenden und Ihrer LehrerInnen
sowie vorhandene Ressourcen und InterviewpartnerInnen können quantitative oder qualitative Interviews
sinnvoll sein. Erörtern sie zunächst den Unterschied.
QUANTITATIVE INTERVIEWS, die zur Erstellung von Statistiken notwendig sind, brauchen große
Datenmengen um glaubwürdig zu sein. Klar: Fragt man im Juli zehn Menschen in der Nordseepassage ob sie
lieber Eis oder Schokolade mögen und neun antworten „Eis“, kann man hinterher nicht behaupten 90 Prozent
aller Deutschen essen lieber Eis als Schokolade.
Dies ist übrigens ein gutes Beispiel für die Möglichkeit, mit Statistiken zu lügen. Erklären Sie Ihren Schülern
worauf man achten kann, will man sich nicht veräppeln lassen.
Kritisch bleiben und hinterfragen! Zum Beispiel: Wer wurde befragt? Ist die Auswahl der Befragten
repräsentativ? Was macht Repräsentativität aus? Wie
erreicht man, dass eine Gruppe Menschen repräsentativ für
die Bevölkerung Deutschlands ist? Wer wird ein‐ oder
ausgeschlossen, wenn man
a) in der Fußgängerzone
b) im Internet
c) per Post
d) im Wartezimmer beim Arzt
eine Umfrage macht? Wann fand die Befragung statt? Wie
viele Menschen wurden befragt?
Eine Aufgabe kann nun sein, einen Fragebogen zu
erarbeiten, eine Befragung durchzuführen und die
Ergebnisse auszuwerten (siehe Kasten).
QUELLEN UND
LITERATURVORSCHLÄGE:
Uwe Flick (Hg.) (2008): Qualitative
Sozialforschung. Eine Einführung
Barbara Friebertshäuser, Annedore
Prengel (Hg.) (2003): Handbuch
qualitative Forschungsmethoden in
der Erziehungswissenschaft
47
QUALITATIVE INTERVIEWS sollen ermöglichen, Lebenswelten aus der Sicht der handelnden
Menschen zu beschreiben. Damit sollen sie zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeiten beitragen
und auf Abläufe, Deutungsmuster und Strukturmerkmale aufmerksam machen. Hier braucht man etwas
Vorbereitung: Literatur über das Thema sowie erste Beobachtungen „im Feld“ bringen Hintergrundwissen und
sollen helfen, eine exakte Fragestellung zu formulieren.
Im Kasten finden Sie eine Idee und Anregung für SchülerInnen, die sich dem Thema nähern wollen.
Einer der anstrengendsten Teile eines Interviews ist die Abschrift und die Auswertung. Legen Sie am besten
vorher eine Methode fest, die verhindert, dass die SchülerInnen sich verzetteln. Die Literatur gibt hierzu
genügend Möglichkeiten, suchen Sie diejenige aus, die für Ihre Zwecke am geeignetsten scheint.
Eine Hilfestellung kann der Hinweis sein, bei dem Ergebnis zu beginnen, welches am spannendsten erscheint:
Welches Phänomen wurde herausgefunden? Wo sind die Ergebnisse besonders überraschend?
UNTERRICHTSANREGUNG
Quantitativer Fragebogen
1) Findet ein Thema, welches Euch interessiert und zu dem es verschiedenen Meinungen geben kann.
2) Formuliert drei bis fünf Fragen zum Thema.
3) Entscheidet Euch für eine Form der Antworten: Noten von 1 bis 6? Oder sind es Fragen, die man mit ja und nein beantwortet kann? In jedem Fall muss es für alle Fragen die gleichen Antworten geben. Vergesst dabei nicht, dass nicht immer alle Fragen beantwortet werden. Die Antwort „keine Antwort“ oder „ich weiß nicht“ darf nicht fehlen!
4) Nun könnt ihr losziehen und Personen mit Eurem Fragebogen befragen. Das heißt in der Fachsprache: Man geht „ins Feld“. Überlegt Euch vorher, wen ihr fragen wollt: Fremde, oder Mitschüler? Diese Info ist später wichtig, wenn ihr alles auswertet.
5) Damit hinterher alles ordentlich verläuft und nachvollziehbar ist, solltet ihr ein Forschungstagebuch schreiben: Wann habt ihr das Interview durchgeführt, wer waren die Interviewer, wer waren die Befragten, gab es irgendwelche komischen Vorfälle oder Besonderheiten?
6) Nun habt ihr es fast geschafft und müsst nur noch auswerten. Eure Mathelehrer könnten Euch nun tolle Sachen zeigen, was man mit den Ergebnissen alles machen kann! Zunächst müsst ihr einfach zählen und daraus Aussagen ableiten: Soundsoviele Personen von soundsovielen Befragten haben auf die Frage XY mit JA geantwortet. Und so weiter. Eure Lehrer können Euch nun helfen, aus diesen Ergebnissen interessante „wissenschaftliche Erkenntnisse“ zu formulieren, beispielsweise „17% aller Besucher der Nordseepassage wünschen sich verlängerte Öffnungszeiten“ Oder einfacher: „Mehr als die Hälfte der Befragten mögen lieber Eis als Schokolade“
7) Das alles schreibt ihr in Euren Abschlussbericht – plus die wichtigen Informationen aus dem Forschungstagebuch. Daraus kann nun ein Vortrag werden, oder eine Präsentation oder einfach ein Bericht. Fügt alle Informationen zusammen (zum Beispiel: Klimaanlage war ausgefallen, 30 Grad Hitze in der Nordseepassage; 13 Leute wurden befragt, es war 15 Uhr nachmittags = viele Schulkinder waren unter den Befragten, über 50 Prozent wollten lieber Eis) und macht die Ergebnisse interessant!
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Vergessen Sie bei der Vorbereitung und Auswertung auf keinen Fall die sog. Intervieweffekte:
Was ist das für eine Situation, wenn zum Beispiel ein 15jähriger einen 50jährigen zu Themen aus den
Bereichen Politik/Familie/Beruf etc. befragt?
Wie war das bei Lou und No? Welchen Effekt hatten Lous Kleider, ihre „gut geschnittene Frisur“?
Was bedeutet Wahrheit in diesem Zusammenhang – und was lässt sich alles an Verzerrungen vermuten,
wenn man zum Beispiel wohnungslose Menschen befragt?
Die Ergebnisse lassen sich auf vielfältige Weise präsentieren: Referat, Powerpoint, Präsentation mit
anschließender, angeleiteter Diskussion.
UNTERRICHTSANREGUNG
Qualitative Leitfragen
1) Findet ein Thema, welches Euch interessiert und zu dem es verschiedenen Meinungen geben kann. Überlegt, ob ihr das Interview aufzeichnen könnt oder ob ihr Euch Stichpunkte mitschreibt.
2) Formuliert zwei Fragen zum Thema: Diese Fragen sollten erzählgenerierend nicht wertend nicht suggestiv sein Zum Beispiel könnte man No fragen, wie ihr Leben verlaufen ist, nachdem sie Ihre Mutter zum letzten Mal gesehen hat. Schwieriger ist es zu fragen „Wie bist Du auf der Straße gelandet“. Auch wenn man solche Fragen vorsichtig stellt, kann man damit ehrliche Antworten verhindern, wenn sich der oder die Befragte komisch fühlt oder vermutet, ihr wertet ihre Situation herab.
3) Die Beschreibung des Feldes, Eure Interviewpartner, die Situation und Umgebung ist hier sehr wertvoll und sollte so detailliert wie möglich in‘s Forschungstagebuch. Überlegt selbst, was Euch Informationen bringen könnte. Manchmal merkt man erst hinterher, dass sich viel mehr abgespielt hat als man zunächst wahrnimmt. Achtet auf Störungen: Sind andere Menschen dabei, wie verhalten sie sich? Reflektiert Euch selbst: Seid ihr unsicher, wie tretet ihr auf?
4) Seid bei der Befragung ehrlich und vertrauenswürdig, nicht nur auch dann, wenn es um heikle Themen geht. Sagt, wer ihr seid, warum ihr fragt, was ihr mit den Interviews macht (auch, wenn es nur für ein Referat vor der Klasse ist).
5) Natürlich ist es schön, wenn jemand viel erzählt. Wenn ihr das Gespräch aufzeichnet, solltet ihr hinterher wissen, welchen Teil ihr verwendet um nicht zu viel Material durcharbeiten zu müssen… Unterschätzt das nicht! Wenn ein Interviewpartner nach Eurer Frage nicht viel erzählt, dürft ihr nachhelfen. Erklärt mit anderen Worten, was Euer Interesse ist.
6) Ein Beispiel für die Auswertung: Aus allem, was ihr nun gesammelt habt, sucht ihr Euch Eure Erkenntnisse heraus. Diese müssen nicht zwingend Antworten auf Eure Fragen sein, aber es wäre natürlich gut. Diese Aussagen, die ihr gewonnen habt, könnt ihr nun untermauern: Ihr fangt mit einem Satz aus dem Interview an (z.B. „Das Leben auf der Straße ist anstrengend“) und überprüft den Satz, findet „Beweise“ und untermauert mit anderen Sätzen aus dem Interview („Man muss jeden Tag weit laufen um etwas zu Essen zu bekommen“). Darüber hinaus könnt ihr Stellen aus der Literatur hinzuziehen und die Interviewsituation beschreiben. Was unterstreicht das, was ihr herausgefunden habt? Wo gibt es Kontroversen? Was ist sonst noch alles relevant? Entstanden etwa neue Fragen? Nun könnt ihr eure Ergebnisse zum Beispiel in einem Referat vortragen. Erzählt dabei auch die Begebenheiten der Interviewsituation, wie ihr vorgegangen seid und was es für Schwierigkeiten gab – für eure Lehrer und Mitschüler ist das sicherlich ebenso spannend.