Master - Thesis - - Catalogus Professorum...
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Zum Stellenwert der persönlichen Erfahrung in der
personenzentrierten Beratung
Master - Thesis
Masterstudiengang Beratung
Fachbereich Soziale Arbeit
Prüfer:
Prof. Dr. Roland Haenselt
Zweitprüfer:
Prof. Dr. Volker Kraft
Vorgelegt von: Norbert Reuß
urn:nbn:de:gbv:519-thesis2010-0077-1
Neubrandenburg,�10.01.2011�
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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung 3
2. Zur Relevanz subjektiver Erkenntnis 8
2.1. Ein Exkurs in die philosophische Epistemologie 8 2.2. Subjektive Erkenntnis in Beratung und Therapie 13
3. Entwicklungsphasen im Werk von Carl Rogers 15
3.1. Die nicht-direktive Phase 17 3.1.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse 17 3.1.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie 20 3.1.3. Wertschätzung oder Bedingungsfreies Akzeptieren 26 3.1.4. Fallgeschichte: Der Fall Herbert Bryan 28 3.1.5 Zusammenfassung der nicht-direktiven Phase 31
3.2. Die Klientenzentrierte Phase 32 3.2.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse 32 3.2.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie 35 3.2.3. Empathie oder Einfühlendes Verhalten 38 3.2.4. Fallgeschichte: Der Fall Miss Tir 40 3.2.5. Zusammenfassung der klientenzentrierten Phase 42
3.3. Die Personenzentrierte Phase 42 3.3.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse 42 3.3.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie 45 3.3.3. Kongruenz oder Authentizität 47 3.3.4. Fallgeschichte: Der Fall Gloria 49 3.3.5. Zusammenfassung der personenzentrierten Phase 50
4. Aspekte einer Klientenzentrierten Beratung 50
4.1. Warum „klientenzentriert“? 50
4.2. Zum Unterschied von Therapie und Beratung 53
4.3. Erste Erfahrungen mit klientenzentrierter Beratung 54
4.4. Eigene Erfahrungen mit dem Personenzentrierten Ansatz 56
4.5. Fazit und Ausblick 58
Literatur 62
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Zusammenfassung
Stellt das Leben und Werk von Carl R. Rogers (1902-1987) dar und diskutiert den gegenseitigen Einfluss von seinen persönlichen Erfahrungen und seinem theoretischen Werk. Quellen sind veröffentliche Biografien, persönliche Berichte, seine wissenschaftlichen Publikationen und Sekundärliteratur. Es gibt drei Phasen in dem Werk von Rogers. Das Menschenbild der Theorie und die Haltungen des Beraters sind hier jeweils unterschiedlich. Es werden Vor- und Nachteile des personenzentrieten Ansatzes besprochen und die Unterschiede von Therapie und Beratung erörtert.
Abstract
Outlines the life and work of Carl R. Rogers (1902-1987) and discusses the mutual influence of his personal experience und his theoretical work. Sources are published biographies, personal reports, his scientific publications and secondary literature. There are three phases in his work. Idea of man of the theory and the attitudes of counselor are different in each case. It also discusses the advantages and disadvantages of the “Personal-Centered-Approach” and the differences between therapy and counseling.
1. Einleitung
„Zum Stellenwert der persönlichen Erfahrung in der personenzentrierten Beratung“ – eine
Thematik, die sich so umfangreich und allgemein darstellt, dass es zunächst darum gehen
wird, sie einzugrenzen und zu konkretisieren.
Das soll hauptsächlich auf zwei Ebenen geschehen:
Zum einen auf inhaltlicher Ebene: Personenzentrierte Beratung ist bekanntlich eng mit dem
Namen Carl Rogers verbunden. Ich werde mich somit im Wesentlichen auf ihn beziehen,
wenn ich von personenzentrierter Beratung spreche. Rogers hat sein Werk im Laufe von fast
50 Jahren verständlicherweise weiterentwickelt. Wesentliche Elemente seiner Theorie sind in
dieser Zeit von ihm unterschiedlich gewichtet und benannt worden. Sabine Weinberger1 teilt
den Ansatz von Rogers daher in drei Phasen auf: Als Erstes die nicht-direktive Phase; die
zweite Phase nennt sie klientenzentriert und die dritte und letzte Phase in den 70er Jahren
������������������������������������������������������������1 Vergl. Weinberger S.22ff�
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bezeichnet sie als die personenzentrierte Phase2- eine, wie ich finde, sinnvolle Einteilung, die
zum besseren Verständnis unterschiedlicher Aspekte und Gewichtungen der Theorie von
Rogers beitragen kann. Weinbergers Einteilung wird von mir somit in diese Arbeit
übernommen.3 Es soll deutlich werden, dass sich die Entwicklung von Rogers Theorie nicht
„an sich“ oder gar ausschließlich in einem eigenen Gedankengebäude vollzog. Vielmehr fand
sie stets statt in der Auseinandersetzung mit anderen Theorien und gesellschaftlichen
Rahmenbedingungen, als auch mit seinen hierbei gemachten persönlichen Erfahrungen.
Rogers eigene Erfahrungen erhalten in der Darstellung und Bewertung vieler Fragestellungen
eine immer größere Gewichtung.
Exemplarisch wird dieser Prozess anhand zweier wesentlichen Kategorien erläutert: Zum
einen an den allseits bekannten Haltungen oder Einstellungen, auch bekannt unter
Therapeutische Variablen; zum anderen an dem damit eng verbundenen Menschenbild, das
gewissermaßen die philosophische und anthropologische Grundlage für seine Arbeit darstellt.
Die zweite Ebene ist die erkenntnistheoretische: Diese Arbeit enthält ein starkes subjektives,
scheinbar willkürliches Moment. Es geht in dieser Arbeit nicht primär um einen mehr oder
minder gelungenen Beitrag zur aktuellen Rogers-Forschung, sondern um eine
Standortbestimmung meiner Erfahrungen und Erkenntnisse und um eine Darstellung meiner
Erkenntnisentwicklung in Bezug auf für mich als wesentlich erachtete Kriterien für eine
sinnvolle Beratung.
Carl Rogers selbst hat besonders in seinen Spätwerken wichtige Themen im Zusammenhang
eigener Erfahrungen und Erlebnisse behandelt und immer wieder auf die Relevanz dieses
subjektiven Momentes hingewiesen.4
So heißt es in der Einführung von „Eine Theorie der Psychotherapie“:
������������������������������������������������������������2 Biermann-Ratjen et al. kommen zu einer ähnlichen Einteilung. Bezeichnen das Gesamtwerk von Rogers mit dem heute gängigen Begriff Gesprächspsychotherapie. Vergl. S.7ff. - Ein ähnlicher Ansatz findet sich bei Tausch und Tausch, vergl. S.26ff und Bommert, vergl. S.15ff �3 Wenn hier aber von personenzentrierter Beratung gesprochen wird, ist im Allgemeinen das Gesamtwerk von Carl Rogers gemeint; nicht nur die nach Weinbergers Einteilung dritte Phase. �4 Hierzu Groddeck, S.138: „Mit seinem Buch „On Becoming A Person“ überschreitet Rogers die engen Grenzen der psychologischen Fachliteratur und wendet sich als Mensch an eine allgemeine Öffentlichkeit, indem er das Thema zwischenmenschlicher Beziehung nicht nur im strengen Sinne fachpsychologisch behandelt, sondern in einer universalen menschlichen Dimension. Er erlaubt sich, von sich selber zu sprechen und lädt den Leser ein, an seinen Erfahrungen teilzuhaben bzw. angeregt von seinen Erfahrungen über die eigenen Lebenserfahrungen nachzudenken. Rogers betritt mit dieser Art der autobiographischen und selbstreflektierenden Schreibweise eine neue Dimension als Autor: Wie er als Therapeut in dem Schizophrenie-Projekt gelernt hat, dass Kontakt und Beziehung auch durch selbstöffnende Worte des Therapeuten ermöglicht werden können, so ermöglicht er nun durch Mitteilung seiner eigenen Erfahrungen einen persönlichen existenziellen Kontakt zwischen Leser und Autor.“ �
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„Keine Theorie kann ohne Kenntnis ihrer kulturellen und persönlichen Grundlage richtig verstanden werden.
Folglich liegt mir die gründliche Darstellung des Hintergrundes zu Beginn dieses Entwurfes am Herzen. Dies
bedeutet, dass ich den Leser und die Leserin mit autobiographischem Material konfrontieren muss; denn obwohl
die personenzentrierte Richtung in jeder Hinsicht zu einer Gemeinschaftsarbeit herangewachsen ist, trage ich als
Person beträchtliche Verantwortung für ihre Initiierung und für anfängliche Formulierung der Theorie. Ich werde
daher kurz einige kulturelle Einflüsse und persönliche Erfahrungen erwähnen, die möglicherweise Relevanz für
die Theorie selbst haben könnten.“5
Es mag womöglich anmaßend erscheinen, mich in diesem Zusammenhang zu nennen, aber
ich habe in dieser Arbeit auch etwas mitzuteilen – genauso wie ich unterstelle, dass im Prinzip
Jeder etwas zu erzählen hat, was für den Anderen von Interesse und Bedeutung sein könnte.
Barry Stevens schreibt hierzu in ein der Einführung zu ihrem gemeinsam mit Carl Rogers
verfassten Buch „Mensch zu Mensch“:
„Ich schreibe über meine eigene Erfahrung, weil ich die einzige Person bin, in deren innere Vorgänge ich
wirklich Einsicht habe; aber ich sehe diese Erlebnisse nicht als etwas Einzigartiges an, sondern als etwas, das,
wie mir scheint, für uns alle zutrifft.“6
Diese zutiefst humanistische Erkenntnis zieht sich durch das gesamte Werk von Carl Rogers:
Beratung im personenzentrierten Kontext gestaltet sich - und das soll an dieser Stelle schon
vorweg genommen werden – im Wesentlichen als eine Begegnung von Mensch zu Mensch, in
der das Einbringen persönlicher Erfahrungen eine unverzichtbare Konstante ist.
Das Einbeziehen von persönlichen Erfahrungen ist bei Rogers nicht beschränkt auf die
Darstellung seiner theoretischen und methodologischen Annahmen,7 sie sind darüberhinaus
kennzeichnend für das eigentliche therapeutische Verfahren. „Erlebnisorientiert ist dieses
Verfahren, da das Erleben des Patienten als ein unmittelbarer, präreflexiver und authentischer
Vorgang im Zentrum der therapeutischen Aufmerksamkeit steht.“8 Das Erleben
(„experiencing)9 des Augenblicks hat dabei eine zentrale Stellung und bezieht sich nicht
ausschließlich auf die Ansammlung vergangener Erfahrungen.10 Der Begriff Erfahrung
(„experience) ist bei Rogers sehr weit gefasst; bezeichnet er doch „nicht nur kognitive
Erlebnisinhalte, sondern alle Erlebnisse, die dem Bewusstsein zugänglich sind, wie
������������������������������������������������������������5 Rogers 2009, S. 14�6 Stevens/Rogers S.13�7 Hierzu Alterhoff, S.39: „Am Lebensweg Rogers´ lässt sich deutlich ablesen, dass bei ihm die Erfahrung vorder Theoriebildung steht. Seine theoretischen Ansätze sind eher induktiv als deduktiv.“�8 Finke 2004, S.1�9 ebenda�10 Vergl. Nykl, S.47�
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Wahrnehmung, Gedanken, Gefühle usw.“11 Alterhoff verweist auf die Schwierigkeit, die
Begriffe Erleben und Erfahrung voneinander zu unterscheiden und verwendet sie daher als
Synonyme. Er beruft sich dabei auf Rogers selbst, der unter „experience“ die Gesamtheit des
Erlebens zu einem gegebenen Zeitpunkt verstand.12
„Dieser Begriff beinhaltet all das, was sich innerhalb des Organismus in einem bestimmten Augenblick abspielt
und was potentiell der Gewahrwerdung zugänglich ist. Er schließt Ereignisse ein, deren sich das Individuum
nicht gewahr ist, ebenso wie Phänomene, die im Bewusstsein (consciousness) sind. (…) Der Begriff Erfahrung
schließt den Einfluss der Erinnerung und den vergangener Erfahrungen ein, sofern diese in einem bestimmten
Augenblick aktiv sind und so die Bedeutung verschiedener Stimuli verändern.“13
Somit beinhaltet diese Arbeit gleichsam mehrere Rahmungen bzw. Ebenen: Zu allererst wird
aufgezeigt, dass Carl Rogers selbst für die Darstellung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse
das Einbringen eigener persönlicher Erfahrungen zunehmend nutzte. Zweitens leite ich aus
dieser Erkenntnis für mich eine gewisse Berechtigung ab, in der Abfassung dieser Arbeit auch
persönliche Erfahrungen mit einfließen lassen zu dürfen. Und drittens soll daraus ihre hohe
Relevanz für die ganz konkrete Praxis in der personenzentrierten Beratung deutlich werden;
was - ohne dass an dieser Stelle schon detailierter auszuführen - wiederum zu Schwächen und
Gefahren für den Beratungsprozess und seiner theoretischen Implikationen führen kann.
Im folgenden Kapitel wird zunächst ein kurzer Blick auf die Entwicklung unseres
erkenntnistheoretischen Denkens geworfen, das durch die Ergänzung eigener Erfahrungen
eine sehr spezifische und subjektive Komponente erhält. Damit soll der Kontext verdeutlicht
werden, innerhalb dessen gerade Carl Rogers Ansatz für mich von Bedeutung geworden ist.
Ich nehme es hier schon vorweg und komme später noch ausführlicher drauf zurück: Anfangs
schien der Ansatz für mich als etwas fundamental Neues – hob er sich von vorher mir
bekannten eher deterministischen Ansätzen14 grundsätzlich dadurch ab, dass er den Menschen
als Subjekt und Gestalter seiner Möglichkeiten und Ressourcen betrachtete und ihn somit
nicht primär als tragisches Opfer seiner defizitären Entwicklung und von gesellschaftlichen
Bedingungen ansah. Erst heute wird mir zunehmend klar, dass dieses für mich scheinbar
������������������������������������������������������������11 Bommert, S.14 und ausführlicher an anderer Stelle: „Hierunter ist alles zu verstehen, was im Organismus zu jedem gegebenen Zeitpunkt vor sich geht, das dem Bewusstsein potentiell zugänglich ist, aber nicht bewusst sein muss, so dass Bewusstes wie Nichtbewusstes eingeschlossen ist. Es handelt sich hierbei um eine psychologische, nicht um eine physiologische Definition.“ (S.20/21) �12 Vergl. Alterhoff, S.59�13 Rogers 2009, S.27/28�14 Ohne an dieser Stelle ins Detail zu gehen, sind für mich hierunter die meisten soziologischen, materialistischen und psychoanalytischen Denkansätze subsumiert.�
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Neue schon früher in meinem Denken angelegt, aber noch nicht entfaltet war…15 Durch das
Aufzeigen der erheblichen Bedeutung einer gleichsam subjektivistischen Erkenntnistheorie
und Methodologie wird von mir implizit zudem der Anspruch abgeleitet, persönliche
Erfahrungen auch in einen wissenschaftlichen Kontext einbringen zu dürfen, ohne dabei
zugleich unter den pauschalen Verdacht der „Schriftstellerei“ zu geraten.
Eigentlicher Kern meiner Arbeit ist das dritte Kapitel. Hier soll es darum gehen, die drei oben
genannten Phasen der Theorie von Carl Rogers zu explizieren, indem zunächst auf seine
persönlichen Erfahrungen und Lernerlebnisse in dieser Zeit eingegangen wird. Hierbei wird
Wert auf ein gewissermaßen narratives Moment gelegt: Carl Rogers selbst wird
Biographisches erzählen und über „persönliche Lernerfahrungen“ und „philosophische
Einsichten“ berichten. „Ich spreche als Einzelner aus einem Kontext persönlicher Erfahrung
und persönlicher Lernerlebnisse.“16 Im zweiten Abschnitt wird anhand des Menschenbildes
erörtert, was gleichsam die anthropologische Grundlage seiner Persönlichkeitstheorie ist. Im
dritten Abschnitt befasse ich mich mit den allseits bekannten „Rogersvariablen“. Dabei wird
immer nur die Variable ausführlich besprochen, die meines Erachtens für die jeweilige Phase
von größter Bedeutung ist. Selbstverständlich sind alle drei therapeutischen Einstellungen
nachgewiesenermaßen eng miteinander verbunden. „Es sind vielleicht drei Dimensionen eines
elementaren Faktors.“17 Auf keine kann somit im Einzelnen verzichtet werden. Dennoch will
ich aufzeigen, dass die Gewichtung der einzelnen Elemente in den jeweiligen Phasen
unterschiedlich ist.
Das vierte Kapitel beleuchtet Aspekte der klientenzentrierten Beratung. Ich lege dar, warum
eine Beratung im Sinne von Carl Rogers klienten- und nicht personenzentriert benannt
werden sollte; gehe kurz auf zentrale Kriterien zur Differenz von Beratung und Therapie und
berichte über eigene Erfahrungen mit dem Ansatz von Rogers. Abschließend wird versucht
ein vorläufiges Resümee meines Verständnisses vom Rogers` Ansatz zu ziehen, was für
meine weitere praktische beraterische Tätigkeit dann hoffentlich auch bereichernd und
wertvoll ist.
������������������������������������������������������������15 Auf diesen von Hegel oft genutzten Begriff, der den Zusammenhang von Geist und Vernunft und Bewusstsein erschließt, soll hier nicht näher eingegangen werden. �16 Rogers 2009a, S.18 �17 Rogers 2007a, S.163�
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2. Zur Relevanz subjektiver Erkenntnis
2.1. Ein Exkurs in die philosophische Epistemologie
Beratung und Therapie18 finden nicht in einem ihr eigenen, gleichsam autonomen Raum oder
Rahmen statt. Sie sind vielmehr eingebunden in einen wissenschaftlichen Kontext bzw.
Diskurs. Zudem wird jeder, der auf diesem Gebiet tätig ist bzw. eine sozialwissenschaftliche
Arbeit oder Studie erstellt, - somit an dieser Stelle auch ich - mehr oder weniger mit der Frage
konfrontiert: „Was ist Realität bzw. Wahrheit; wie erkenne ich sie und wie bilde ich sie ab?“
Schon Sokrates forschte diesbezüglich nach sozusagen objektiven, allgemeingültigen und
verstandesmäßig überprüfbaren Normen.
„Das sokratische Philosophieren ist als ein vermittelter Neuanfang innerhalb einer geschichtlichen Strömung zu
verstehen, die als der Weg vom Mythos zum Logos beschrieben werden kann. (…) Philosophie ist für ihn die
Suche nach dem „besten Logos“. Das Entscheidende jedoch ist, dass diese Suche bei ihm über den Umweg des
Dialogs erfolgt. Sokrates entwickelt die Methode des philosophischen Dialogs.“19
Sokrates stritt darüber u.a. mit den Sophisten, die eher den pragmatischen Weg des subjektiv
Machbaren betonten.20 Im Grunde geht es hier um einen wissenschaftlichen Disput, der bis
heute anhält und meines Erachtens immer noch nicht endgültig entschieden ist: Ein Lager
geht darin von einer gegebenen objektiven Wahrheit aus. Es gelte diese zu erkennen und zu
erforschen. Zum einen durch logisches Nachdenken. Hegel - der Exponent dieses Denkens -
will „die Wahrheit zur Erscheinung bringen“.21 Später haben Soziologen wie Karl Mannheim
vom „notwendig falschen Bewusstsein“ gesprochen, das nicht in der Lage sei, die hinter
„seinem Rücken liegende Wahrheit“ aufgrund seiner „Seinsgebundenheit“ zu erkennen.
„Das will besagen: Die wissenssoziologische Analyse hat die Aufgabe, das wert, standort-, willensmäßig
gebundene Moment aus jeder konkret vorliegenden „Erkenntnis“ herauszuschälen, es als Fehlerquelle zu
beseitigen und so auch hier zu einem „wertfreien“, „übersozialen“, „überhistorischen“, Gebiet der „objektiv“
geltenden Gehalte zu kommen“.22
Die Kritische Theorie der Frankfurter Schule sprach von einem Waren-Fetischcharakter in
der Gesellschaft, der das eigentlich Wahre verschleiere. Th.W.Adorno prägte den berühmten
Satz: „Es gibt kein richtiges Leben im falschem!“
������������������������������������������������������������18 Auf den begrifflichen Unterschied von Beratung und Therapie komme ich später noch genauer zurück.�19 Pleger, S.8/9 Etwas später verweist Pleger auf die Entwicklung des philosophischen Dialogs über Schleiermacher hin zu Buber und Rosenzweig. �20 vergl. Stavemann, S.12ff�21 vergl. Hegel, Werke�22 Mannheim, S.163�
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Zum anderen sollte Wahrheit und Realität durch naturwissenschaftliche Forschungs-
methoden23 erkennbar werden. Für die Sozialforschung entwickelten sich die sogenannten
„quantitativen oder empirischen Sozialforschungsmethoden“. Hierin wird angestrebt, durch
objektive, standardisierte, von dem einzelnen Individuum unabhängige Methoden, Aussagen
über die Wirklichkeit zu erhalten, die jederzeit für jedermann verifizier- und überprüfbar
sind.24
Spätestens mit Kant entwickelte sich zum dem oben genannten gleichsam objektivistischen
Denken eine gegensätzliche Denkrichtung. Kant betont die Beschränktheit des menschlichen
Denkens, führt den Blick weg von einer objektiv gegebenen „Wahrheit an sich“ hin zu dem,
was an Erkenntnis für den Menschen in seiner „Bedingtheit“ möglich ist.25
Wenn dem so ist, dass es uns unmöglich sei, die „Wahrheit“ zu erkennen, liegt es nahe, sich
darauf zu beschränken zu erkennen, wie wir sie interpretieren. Hermeneutik und
Symbolischer Interaktionismus zielten ab auf Deutung und Interpretationen von subjektivem
Handeln, ohne dabei den Anspruch an eine allgemeine Wahrheit zu erheben.26
Diese Sichtweise führte wiederum zur anderen Extremform des Denkens, das des
konstruktivistischen Denkens: Es gibt keine objektive vom menschlichen Denken
unabhängige Wahrheit – zumindest ist die Frage danach unbedeutend. Entscheidend ist
vielmehr, was die Menschen über ihre Realität denken. Wirklichkeit ist somit nichts anderes,
als das von den Menschen selbst Konstruierte. Es ist müßig, eine Trennung von
Subjekt/Objekt oder Innen/Außen vorzunehmen. Wahrnehmung und Erkenntnis sind nichts
Endgültiges, sondern ein sich beständig verändernder Prozess.27
Paul Watzlawick schreibt, „dass der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, die gefährlichste
all dieser Selbsttäuschungen ist; dass es vielmehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen gibt, die
������������������������������������������������������������23 Erkenntnistheorie und Methodologie stehen m.E. in einem unmittelbaren Zusammenhang. Insofern wird in dieser grob umrissenen entwicklungsgeschichtlichen Darstellung auf eine exakte Trennung dieser Ebenen verzichtet. Mir kommt es hierbei gewissermaßen auf „Tendenzen“ und „Orientierungen“ an �24 Vergl. Friedrichs�25 vergl. Kant �26 Vergl. Bortz/Döring, S. 278ff�27 Heinz v. Foerster (1998, S.18ff) sagt hierzu: „ Erkennen bedeutet, dass innerhalb des Nervensystems, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Empfindungen hergestellt werden (…)Die gesamte Sensomotorik, die Muskeln und die Sinne, erzeugen ununterbrochen eine Wechselwirkung, in deren Verlauf Objekte kreiert werden (…) Das, was wir als Objekt bezeichnen, wandelt sich ständig. Man nimmt niemals ein und denselben Gegenstand, ein und dasselbe Glas, ein und denselben Würfel wahr.“�
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sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis von Kommunikation und nicht der
Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten sind.“28
Wer das so sieht, wird die Perspektive seiner wissenschaftlichen Praxis nicht so sehr auf vom
Subjekt unabhängige, objektivierbare „Wahrheiten“ legen. Vielmehr wird er Wert legen auf
eben diese „subjektiven Wahrnehmungen“ - auf das persönliche Erleben des Individuums -
möglichst in seiner „authentischen“ Lebenswelt. Er wird womöglich eher die „qualitativen
Forschungsmethoden“ bevorzugen, um erlebte individuelle Erfahrungen als legitimen
„Forschungsgegenstand“ zu erheben. Dies wird im ethnomethodologischen Begriff von
H.Garfinkel zum Ausdruck gebracht, der seinen Untersuchungsgegenstand sieht als „eine
Rekonstruktion derjenigen Methoden, mit denen die Mitglieder einer Gesellschaft in ihren
alltäglichen Handlungen die Wirklichkeit hervorbringen, in der sie handeln. Die
Ethnomethodologie begreift „soziale Wirklichkeit als Vollzugswirklichkeit. Sie tut dies
insofern in einer radikalen Weise, als ihrem Verständnis nach außerhalb sozialer Interaktion
soziale Wirklichkeit nicht existiert.29
Was für ein Gegensatz von anscheinend unversöhnlichen Positionen. Dieser spiegelt sich
auch mit meinen eigenen persönlichen Erfahrungen mit Wissenschaft und Forschung wieder:
Noch in den 70er/Anfang 80er Jahren war es am Soziologischen Institut an der Universität
Hamburg mehr oder weniger Konsens, dass Sozialforschung das Erheben von
objektivierbarem Datenmaterial mit standardisierten Methoden bedeutete. Begriffe wie
„Alltag“, „Lebensweltnah“ oder „Orientierung an der Subjektivität des Adressaten“ gehörten
für viele Professoren in kein soziologisches Seminar.
Vereinzelt gab es aber auch schon andere Auffassungen:
„Als Korrektiv gegenüber den Absolutheitsansprüchen sozialwissenschaftlicher Expertenkulturen (…) wird eine
stärkere Alltagsorientierung der sozialwissenschaftlichen Forschung angemahnt“.30
Besonders Frauen machten sich auf, dieses Verständnis von objektivierbarer Wissenschaft in
Frage zu stellen. Heute finde ich wieder, was damals nur wenige (Frauen) dachten:
������������������������������������������������������������28 Vergl. Watzlawick, 1976, S.7ff; sowie v. Foerster S.29: „Mein Ziel ist es vielmehr, den Begriff der Wahrheit selbst zum Verschwinden zu bringen. Er erzeugt die Lüge, er trennt die Menschen in jene, die recht haben, und jene, die – so heißt es – im Unrecht sind. Wahrheit ist, so habe ich einmal gesagt, die Erfindung eines Lügners.“�29 Vergl. Bohnsack et al., S.54ff. �30 Danzer, S.3�
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„Die feministische Kritik des herrschenden Wissenschaftsverständnisses impliziert eine Kritik der herrschenden
Methoden; und vorherrschend sind in der empirischen Sozialforschung am Prinzip der Standardisierung
orientierte, quantifizierende Verfahren“. 31
Ich denke auch an Frigga Haug, bei der ich meine Diplom-Arbeit schreiben durfte, die damals
Studentinnen das „Geschichtenschreiben von Euch über Euch“ lehrte; dies im Rahmen einer
kollektiven Erinnerungsarbeit. Für mich gilt dies schon als Klassiker, ohne seine Relevanz für
aktuelle Themen und Fragestellungen verloren zu haben:
„Um herauszufinden, wie das Leben der vielen im Einzelnen geschieht, müssten wir es besichtigen. Eine
Möglichkeit ist es, Geschichten zu schreiben, Alltagsskizzen und Jedermanns-Erlebnisse von uns aufzuzeigen.
Um zu vermeiden, dass so das Alltägliche begriffslos und vorurteilvoll bloß verdoppelt wird, gilt es, diese
Notizen kollektiv zu bearbeiten. Um die soziale Konstruktion, die Mechanismen, Verknüpfungen, Bedeutungen
unserer Taten und Empfindungen herausarbeiten zu können, müssen wir historisch vorgehen.(…) Die Betonung
liegt auf kollektiv, auf Erinnerung und auf Arbeit. Das Resultat ist eine notwendige, genussvolle, neue große
Empirie“.32
In meiner 25jährigen „Abstinenz“ von der Wissenschaft hat sich viel getan. Heute finde ich in
der Bibliothek der Hochschule Neubrandenburg zum Thema „Qualitativer Sozialforschung“,
„Erzählen“ und „Dialog“ eine Reihe von Büchern. Es scheint, vieles (alles?) hat heute seine
Berechtigung.
„Es ist, als ob das Interview (….) von einem geheimnisvollen Fluch geschlagen wäre: zwischen reich aber weich
und hart aber armselig scheint es unmöglich, das richtige Mittelmaß zu finden. Daher kommt es auch, dass der
Methodenkonflikt (…) wie ein Pendel, das die gerade aktuelle Mode anzeigt, hin und her schwingt: einmal zum
Weichen, dann wieder zum Harten hin“.33 (Kaufmann, 1999, S.23)
Ist das Pendel zur anderen Seite gekippt? Zählt die subjektive Erfahrbarkeit heute mehr als die
Suche nach den „wahren“ Gründen? Es scheint mir so.
Vielleicht sehe ich das zu dualistisch. Deutet sich doch auch in Vielem eine Entwicklung von
„Mischformen“ an, die die o.g. „reinen“ Theorien und Methoden in die „wissenschaftliche
Mottenkiste“ zu verdrängen scheinen. So versuchen Ethnomethodologen „Strukturen“,
„Regelmäßigkeiten“ oder „Verallgemeinerungen“ aus der Menge von erhobenem Material zu
entwickeln, die unabhängig vom jeweiligen Einzelfall existent sind.34
������������������������������������������������������������31 Behnke/Meuser 1999, S.12�32 Haug, S.46/47 �33 Kaufman 1999, S.23�34 vergl. Bergmann S.19ff�
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12
Ein Ansatz, der bereits 1959 von Carl Rogers analog artikuliert wurde:
„Forschung und Theorie sind m.E. gerichtet auf eine der Erfahrung innewohnenden Ordnung (…) Es ist das
beständige, disziplinierte Bemühen darum, eine Ordnung der subjektiven Erfahrungen zu entdecken.“35
Er warnt davor, die in den therapeutischen Sitzungen gewonnenen Erfahrungen als eine
Anhäufung mehr oder weniger isolierter Ereignisse zu belassen. „Man spürt, dass eine
Ordnung in diesen Ereignissen besteht.“36
Auch verdeutlicht der heute zunehmend im wissenschaftlichen Sprachgebrauch benutzte
Begriff der Triangulation, dass sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden idealerweise
miteinander kombiniert werden sollten:
„Vereinfacht ausgedrückt bezeichnet der Begriff Triangulation, dass ein Forschungsgegenstand von (mindestens)
zwei Punkten aus betrachtet – oder konstruktivistisch formuliert: konstituiert – wird.“37
„Triangulation kann sich auf die Verbindung verschiedener qualitativer Methoden beziehen (…), sie wird aber
auch in Bezug auf die Verbindung von qualitativen mit quantitativen Methoden relevant.“38
Zusammengefasst kann somit gesagt werden, dass Forschung und Erkenntnistheorie in den
letzten Jahrzehnten zunehmend eine Entwicklung weg von „objektiv Gegebenen“ und ihren
daraus resultierenden diagnostischen bzw. analytischen Verfahren, und hin zu einer Vielfalt
gleichsam „subjektiver“ und „relativistischer“ Ansätzen gemacht hat, die in der Regel auf
allgemeingültigen, „absoluten“ Bewertungen verzichten. Das mögen Einige bedauern, da die
„Sicherheit“ von allgemeingültigen Erkenntnissen kaum noch gegeben ist. Andere mögen
darin eine Chance für neue Formen wissenschaftlichen Handelns sehen, wenn hierdurch auch
die Gefahr des „anything goes“ bestehen könnte: Wenn (fast) Alles „irgendwie“ seine
Berechtigung hat, stellt sich zunehmend die Frage nach Entscheidungskriterien, die –wenn sie
sich nicht primär an intersubjektiver Vernunft und Inhalten orientieren – letztlich womöglich
auf individueller Willkür oder/und anonymer systemimmanenter Machtausübung beruhen
könnten.
������������������������������������������������������������35 Rogers 2009, S. 17�36 Ebenda; somit ist es nicht verwunderlich, wenn neben phänomenologisch-deskriptiven Auffassungen auch phänomenologisch-hermeneutische Interpretationen der Theorie von Rogers ihre Berechtigung haben. Hier wird Gewicht gelegt auf die Bedeutung des empirisch Gegebenen, auf seinen Sinn. (vergl.u.a.Finke 1994, S.13ff) Es wird m.E. an dieser Stelle schon deutlich, wie schwer es ist, Rogers Theorie eindeutig „wissenschafts-theoretischen Lagern“ zuzuordnen. �37 Flick, S.11�38 Ebenda, S.84�
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2.2. Subjektive Erkenntnis in Beratung und Therapie
Es verwundert jedoch nicht, dass das Primat der subjektiven Erkenntnis originär dort
vielfältig zu verorten ist, wo es um gleichsam individuell erfahrene Problematiken geht: In der
Therapie und Beratung.39 Subjektivistische Erkenntnistheorien und Methoden haben meines
Erachtens daher besonders für Beratungsansätze eine dreifache Bedeutung:
� Für sie ist in erster Linie die subjektive Befindlichkeit des Ratsuchenden bzw.
Klienten relevant. Es ist in der Regel unerheblich, inwieweit das subjektiv
Empfundene im Widerspruch zu objektiv gegebenen Wahrheiten steht. Entscheidend
ist nicht was ist, sondern was wahrgenommen wird.
� Ihr Blick betont signifikant das Machbare im „Hier und Jetzt“ und analysiert weniger
Vergangenes und Defizitäres in seiner Determiniertheit.40
� Der Berater ist nicht „außen vor“, sondern Teil dieses Prozesses. Seine eigene
subjektive Befindlichkeit kann - muss aber nicht – mit in die Arbeit und Darstellung
von „Wirklichkeit“ einfließen.
In den nächsten Kapiteln soll gezeigt werden, dass namentlich der Ansatz von Carl Rogers
exakt an dieser Stelle des oben aufgezeigten wissenschaftlichen Diskurses positioniert ist.41
Rogers gilt bekanntlich als Mitbegründer der Humanistischen Psychologie, die sich als
sogenannte „dritte Kraft“ neben Psychoanalyse und Behaviorismus etabliert hat.42
„In der Psychologie existieren bis heute zwei dominierende Menschenbilder. Die orthodoxe Psychoanalyse sieht
das Verhalten des Menschen durch die biologischen Grundlagen determiniert (biologischer Determinismus).
Kennzeichnend für dieses Konzept sind Begriffe wie Triebenergie, Mechanismen und Funktionen. Die
psychoanalytische Auffassung ist beeinflusst von den mechanistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts und
betrachtet den Menschen als hydraulisches System, dessen Triebenergie durch das Öffnen und Schließen von
Schleusen in einem Gleichgewichtszustand gehalten wird.
Der Behaviorismus ist sehr stark durch die naturwissenschaftliche und technologische Entwicklung geprägt
worden. Im Rahmen dieses Konzepts wird der Mensch als komplizierte Maschine gesehen, deren
������������������������������������������������������������39 Selbst Freuds Psychoanalyse, deren grundlegende Annahmen hinsichtlich einer subjektiven Erkenntnistheorie völlig „unverdächtig“ erscheinen, arbeitet zunächst mit der Technik des „Geschichtenerzählens“. Was sie aber nicht davon abhält diese dann gleichsam „diagnostisch“ und „analytisch“ zu bearbeiten �40 Vergl. Frankl 2009, S.40ff, der Freuds Psychoanalyse deterministischen „Psychologismus“ nennt. �41 Das soll nicht heißen, dass Rogers generell quantitative, gleichsam „objektive“ Forschungsmethoden abgelehnt hat. Im Gegenteil: Gerade in den 40er Jahren wurden zahlreiche quantitative Studien durchgeführt, die den Erfolg seines Ansatzes wissenschaftlich belegen sollten. In seiner eigentlichen beraterische Arbeit spielten sie und diagnostische Verfahren – soviel schon vorweg – eine untergeordnete Rolle. �42 Frenzel hat hierzu, konkret auf Rogers bezogen, die These: „Der PCA ist eine radikale Abkehr von einer mechanistischen, fremdbestimmten Vorgangsweise. Seine „Gegner“ im Bereich der „Behandlung“ sind von den Ursprüngen her die Psychoanalyse und der Behaviorismus gewesen.“ (S.12)�
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Gesetzmäßigkeiten man kennen muss, um sie zu verstehen. Menschliches Verhalten wird im Wesentlichen als
eine Funktion interner oder externer Stimulierung gesehen (S-R-Psychologie).“ 43
Auch wenn die genannte Auffassung etwas undifferenziert und pauschal erscheinen mag,
wird an ihr doch deutlich, um was es der Humanistischen Psychologie gehen muss, wenn sie
die oben genannten biologistischen und mechanistischen Vorstellungen überwinden will.
„Sie möchte an deren Stelle ein Menschenbild setzen, das der menschlichen Natur gerechter
wird.“44 Dabei konstatiert Ulrich Völker, dass das humanistische Menschenbild sich ebenso
wenig überprüfen lasse, wie die beiden anderen Modelle, weil es auf Annahmen beruhe, „die
weder beweisbar noch widerlegbar sind.“45 Er benennt hierzu vier grundlegende Annahmen,
die gewissermaßen eine Ontologie der menschlichen Natur skizzieren sollen.46
� Autonomie: Der menschliche Organismus ist bestrebt, sich selbst und seine Umwelt zu
beherrschen und dadurch unabhängig von äußerer Kontrolle zu werden. Der Mensch
ist für sich und sein Leben selbst verantwortlich und ist in der Lage dafür notwendige
Veränderungen an sich und seiner Umwelt vorzunehmen.
� Selbstverwirklichung: Durch ständigen Austausch mit seiner sozialen Umwelt ist der
Mensch in der Lage, sein Selbst zu entwickeln.
� Ziel- und Sinnorientierung: Das psychische Geschehen ist nicht purer Zufall, sondern
zielgerichtet und bedeutungsvoll. Diese zielgerichteten Tendenzen können bewusst
oder unbewusst ablaufen. Eine scharfe Trennung von bewussten und unbewussten
Prozessen ist nicht erforderlich.
� Ganzheit: Die Ganzheit des Menschen („Das Ganze ist mehr als die Summe der
Teile“) und die Einheit des Menschen mit seiner für ihn bedeutungsvollen Umgebung
werden zum Ausgangspunkt von Forschungs- und Beratungsprozessen gemacht.
Im Folgenden wird unter anderem dargelegt, dass die erkenntnistheoretischen und
methodologischen Positionen von Carl Rogers sehr eng mit den genannten vier Kriterien
verbunden sind; ihnen gleichsam „wesensverwandt“ sind.47
������������������������������������������������������������43 Völker, S. 15/16�44 ebenda�45 ebenda�46 Vergl. im folgenden: Völker, S.16ff �47 Vergl. Weinberger, S. 27ff, die ebenfalls die enge Verbundenheit von Rogers mit der Humanistischen Psychologie betont �
��
15
3. Entwicklungsphasen im Werk von Carl Rogers
Zunächst einige Bemerkungen zur Begriffsbestimmung: Rogers selbst benannte seine erstes
größeren Kreisen bekanntes Buch „Counseling and Psychotherapy“. In Deutschland übersetzt
mit „Die nicht-direktive Beratung“.48 An dieser Stelle wird schon angedeutet, dass Rogers die
Begriffe Beratung und Therapie nicht exakt voneinander unterscheidet. Eine Praxis, die den
gängigen Umgang in den USA mit diesen Begriffen widerspiegelt. Später sprach Rogers vom
„Person-Centered-Approach= PCA “49 – im deutschen Sprachraum übersetzt mit
„Personenzentrierter Ansatz = PZA.50 Gleichwohl existiert in Deutschland noch eine weitere
Bezeichnung, wenn es mehr darum geht, das „heilkundliche Verfahren“51 – also den
therapeutischen Aspekt – zu betonen: man spricht hier in der Regel von der
„Gesprächspsychotherapie (GPT)“ Dieser Begriff ist auf Reinhard Tausch zurückzuführen,
dem Berufskollegen bei Einführung des Verfahrens vorgeworfen hatten, er betreibe
unberechtigterweise „Psychotherapie“. Diese aber stehe in der Regel unter der Vorherrschaft
der medizinischen Profession und dürfe somit nicht ohne weiteres von einem
Psychologieprofessor gelehrt werden.52 Tausch benannte den Ansatz daher um in
Gesprächstherapie. Denn er ging folgerichtig davon aus, „dass Gespräche selbst in
Deutschland niemand verbieten könne“.53 Etwas später wurde aus der Gesprächstherapie die
bis heute geläufige Gesprächspsychotherapie (GPT).54
Bevor auf die Zeit eingegangen wird, die „den Rogers“ markiert, der über einschlägige Kreise
hinaus bekannt ist, soll kurz über Einstellungen und Erfahrungen des jungen Carl Rogers
berichtet werden. Er selbst hat sich als einen Menschen in den Kindheits- und Jugendjahren
bezeichnet, der „keinen engen Freund und nur oberflächlichen persönlichen Kontakt“55 zu
Gleichaltrigen hatte.
„Ich war ein völliger Außenseiter – ein Zuschauer in allem, was persönliche Beziehungen betraf. Mein intensives
wissenschaftliches Interesse am Sammeln und Aufziehen von Nachtfaltern war zweifellos Kompensation, Ersatz
für das Fehlen enger Bindungen. Es wurde mir zunehmend bewusst, dass ich eigenartig war, ein Einzelgänger,
dem es an Gelegenheiten fehlte, Menschen kennenzulernen. Meine sozialen Fertigkeiten waren kaum entwickelt,
������������������������������������������������������������48 Vergl. Rogers 2007�49 Vergl. Frenzel. S.7�50 Vergl. Kriz/Slunecko S. 7�51 ebenda�52 Ähnliches ist Rogers zu Beginn seiner Laufbahn auch widerfahren. Vergl. Rogers 1977, S.7�53 Kriz/Slunecko S.7�54 Vergl. GwG S. 38ff: Pavel betont hier die starke Akzentuierung der empirischen Forschung gegenüber „anthropologischen und persönlichkeitstheoretischen Überlegungen“, die die GPT durch Tausch in der BRD erfahren hatte. �55 Rogers/Rosenberg S.186�
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16
meine Phantasien in dieser Zeit, so nehme ich an, müssen absonderlich gewesen sein und wären von einem
Diagnostiker wahrscheinlich schizoid klassifiziert worden, aber zum Glück kam ich nie mit einem Psychologen
in Berührung.“56
Erst später, auf einem landwirtschaftlichen College, lernt er, was es heißt „Kameraden, und
sogar Freunde zu haben.“57 Er zeigt hier lebhaftes Interesse an Diskussionen über moralische
und ethische Fragen, aber auch an Gesprächen über persönliche Probleme. Letzteres war ihm
aus seinem Elternhaus völlig unbekannt.58 In dieser Zeit lernt er, Beziehungen und Bindungen
zu Menschen über Gespräche einzugehen. „Rückblickend wird mir klar, dass mein Interesse
am Gespräch und an der Therapie zum Teil wohl aus meiner früheren Einsamkeit
herrührte.“59 Er lernt hier zudem seine spätere Frau Helen kennen. Später absolviert er eine
Ausbildung in klinischer Psychologie. Danach „wusste ich – mit der Sicherheit eines frisch
Ausgebildeten – wie man mit Menschen professionell umging.“60
Jahre danach – 1972 – fasst er seine damalige Auffassung über den professionellen Umgang
mit einem Hilfebedürftigen wie folgt zusammen:
„Ich werde eine Riesenmenge Daten über diesen Menschen sammeln: seine Lebensgeschichte, seine Intelligenz,
seine besonderen Fähigkeiten, seine Persönlichkeit. Aus all diesem Material kann ich eine Diagnose erstellen,
ich kann die Ursachen seines augenblicklichen Verhaltens sowie seiner persönlichen und sozialen Ressourcen
aufzeigen und eine Prognose für seine Zukunft erstellen. Ich werde mich bemühen, all dies den verantwortlichen
Stellen, den Eltern und dem Kind – sofern es dies versteht – in einfacher Sprache zu erklären. Ich werde
vernünftige Vorschläge zur Verhaltensänderung machen, und ich werde die Bemühungen um Veränderung durch
häufigen Kontakt verstärken. Bei all dem werde ich versuchen, objektiv zu sein und nur dann meine
persönlichen Gefühle zu äußern, wenn dies zu Herstellung einer befriedigenden Beziehung notwendig ist.“61
Rogers wusste also, was zu tun war, als er nach Rochester ging. „Ich war mir meiner Sache so
sicher!“62 Seine wohl formulierten Vorstellungen von Therapie wurden jedoch schnell auf die
Probe gestellt. Er selbst beschreibt die Erfahrung - durch Erleben lernen, nicht hauptsächlich
durch Theorie – sehr anschaulich:
„Aber meine Anschauungen gerieten allmählich ins Wanken. Da ich in einer stabilen Gemeinde lebte, hatte ich
auch mit den Folgen meines Rates und meiner Empfehlungen zu leben – und sie führten nicht immer zum
Erfolg. (…) Ich war erstaunt, dass ein Junge mitunter sich weigerte, mich wiederzusehen, und zwar gerade
nachdem ich ihn tags zuvor in einem besonders „guten“ Gespräch alle Ursachen seines Fehlverhaltens gedeutet ������������������������������������������������������������56 Ebenda�57 Ebenda S.187�58 Vergl. ebenda S.185ff�59 Ebenda, S.189�60 Ebenda S. 190�61 Ebenda�62 Ebenda�
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17
hatte. So musste ich ihn zurückgewinnen, um herauszufinden, was fehlgelaufen war. Ich begann durch Erleben
zu lernen.“63
Sein umfangreiches theoretisches Wissen half im offenbar wenig, seine Klienten wirklich zu
verstehen.64 Mit seinen Diagnosen und guten Ratschlägen konnten seine Klienten nicht so
recht etwas anfangen; stammten sie oft zu sehr aus der Perspektive des Psychologen „und
nicht aus der Realität, wie sie sie erlebten.“65 Somit war notwendig, stärker als bisher, die
Sichtweise des Klienten in die Arbeit mit einzubeziehen.
3.1. Die nicht-direktive Phase
3.1.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse
Bevor „Counceling and Psychotherapy“ 1942 erschien, veröffentlichte Rogers ein Reihe von
Fachaufsätzen und schrieb 1937 sein erstes Buch mit dem Titel „The Clinical Treatment of
the Problem Child“.66 Rogers war zu dieser Zeit Leiter einer sozialpsychiatrischen
Beratungsstelle in Rochester und hatte viele „praktische Beratungsarbeit zusammen mit
Sozialarbeitern kennengelernt.“67
„Die (…) zwölf Jahre in Rochester waren außerordentlich wertvoll. Mindestens die acht ersten Jahre ging ich
vollkommen im praktischen psychologischen Dienst auf. Ich stellte Diagnosen für die straffällig gewordenen
und unterprivilegierten Kinder, die uns die Gerichte und die Fürsorge schickten, machte Pläne und in vielen
Fällen führte ich „Behandlungsgespräche“. Es war eine Periode relativer fachlicher Isolierung, in der meine
einzige Sorge darin bestand, möglichst noch effektiver mit unseren Klienten zu arbeiten. Wir mussten mit
unseren Misserfolgen wie auch mit unseren Erfolgen leben können, und so waren wir gezwungen, zu lernen. Es
gab nur ein Kriterium für die Methoden, mit diesen Kindern umzugehen: „Klappt es? Ist die Methode effektiv?“
Allmählich formulierte ich meine Ansichten immer mehr aus der tagtäglichen Arbeitserfahrung heraus.“68
In seinem ersten Buch versucht er „seine Erfahrungen theoretisch aufzuarbeiten“,69 setzt sich
zunächst mit den damals gängigen Behandlungskonzepten in der Sozialarbeit mit sogenannten
Problemkindern auseinander.70 Er plädiert in dieser Zeit für standardisierte Testverfahren, die
es erleichtern herauszufinden, „was nun gerade für dieses Kind oder für diese Familie ������������������������������������������������������������63 Rogers in: GwG, S.15/16�64 Vergl. Pörtner, S.23�65 Ebenda�66 Vergl. Groddeck S. 57ff�67 Alterhoff S.39�68 Rogers 2009a, S.26�69 Alterhoff, S.39 �70 Alterhoff resümiert an dieser Stelle: „Am Lebensweg Rogers lässt sich deutlich ablesen, dass bei ihm Erfahrung vor der Theoriebildung steht. Seine theoretischen Ansätze sind eher induktiv als deduktiv entstanden.“ S.39�
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18
geeignet sein könnte.“71 In den 30er Jahren wurden hierzu in den USA die ersten Methoden
individueller Fallarbeit (case work) entwickelt, die sich primär an den Möglichkeiten und
Fähigkeiten der Menschen orientierten und nicht so sehr an deren Defiziten, wie es noch in
den 20ern geschah.72 Das Prinzip „Hilfe zur Selbsthilfe“ war „bereits in die Praxis der
Sozialarbeit eingedrungen“,73 die Rogers in dieser Zeit kennengelernt hatte. Norbert
Groddeck führt in seiner Rogers-Biographie an, dass gerade die Vertreter der sogenannten
funktionalistischen Schule, „die von Otto Ranks „Beziehungs- und Willenstherapie“
maßgeblich beeinflusst war“,74 Rogers sehr ansprachen und hilfreich für seine weitgehende
pragmatische lösungsorientierte, aber dennoch zugleich wissenschaftsbezogene
Vorgehensweise waren.75 Rank, der bekanntlich zunächst als „Ringträger“ zum engsten Kreis
von Freud gehörte, sich später aber von ihm distanzierte, hatte Vorstellungen entwickelt, die
später von Rogers ähnlich formuliert wurden: Nicht das sogenannte Unbewusste ist das
Entscheidende in der Therapie, sondern die subjektive Realität des Patienten im „Hier und
Jetzt“ ist von Bedeutung. Nicht das Aufdecken von Verborgenem, sondern das Anerkennen
von Gefühlen, Gedanken und Erfahrungen des Patienten ist für den Heilungsprozess von
Relevanz.76
„Die funktionalistische Methode grenzte sich von der diagnostischen Methode dadurch ab, dass sie eine
Psychologie des Wachstums und der Persönlichkeitsentwicklung favorisierte und auf eine Diagnose von
Störungen und Krankheiten weitgehend verzichtete“.77
Rogers macht zunehmend die Erfahrung, „dass der Klient derjenige ist, der weiß, wo der
Schuh drückt, welche Richtungen einzuschlagen, welche Erfahrungen tief begraben gewesen
sind, und dass der vom Klienten gewählte Problemlösungsprozess meistens der günstigste
ist.“78
������������������������������������������������������������71 Groddeck S.67�72 Vergl. Rogers, 2007 S.20�73 Alterhoff S.39�74 Groddeck, S.70�75 Vergl. auch Rogers 2007, S.36�76 Vergl. Köhler-Weisker et.al. S.10ff. Sie weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in dieser Zeit viele „Theoretiker und Praktiker“ diese Richtung einschlugen (u.a. Perls, Moreno, Lewin und Horney). Rogers Ideen entstammen somit auch einem gewissen „Zeitgeist“, der nach neuen therapeutischen Formen und handlungsorientierten, pragmatischen Lösungen suchte. �77 Groddeck S.70�78 Christen, S.28�
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19
„Langsam merkte ich, dass, wenn ich es nicht nötig hätte, meine Cleverness und Gelehrsamkeit zu
demonstrieren, ich besser daran täte, mich auf den Klienten zu verlassen, was die Richtung des Prozessablaufs
anging.“79
In seinen Spätwerken schreibt Rogers an unterschiedlichen Stellen über „das für mich
entscheidendste Ereignis“80in dieser Zeit. Er berichtet über seine Arbeit mit einer Mutter,
„deren Junge ein rechter kleiner Teufel war.“81 In vielen Gesprächen, versuchte er ihr darin
zu helfen, „Einsicht in ihr Verhalten und die daraus folgenden negativen Auswirkungen auf
ihren Jungen zu gewinnen.“82 Sie kamen aber nicht so recht voran und Rogers schlug
schließlich vor, die Gespräche zu beenden.
„Als sie dabei war, den Raum zu verlassen, drehte sie sich um und fragte: „Beraten Sie auch Erwachsene?“
Verwirrt antwortete ich, dass dies manchmal der Fall sei. Woraufhin sie ihren Stuhl zurückkehrte, die
Geschichte ihrer Schwierigkeiten zwischen ihr und ihrem Mann hervorsprudelte und von ihrem großen
Bedürfnis nach Hilfe sprach. Ich war vollständig überwältigt. Was sie mir erzählte, ähnelte in keiner Weise der
glatten Geschichte, die ich ihr entlockt hatte. Ich wusste kaum, was zu tun sei, also hörte ich erst einmal zu (…)
Das war für mich eine Erfahrung von größter Bedeutung. Ich war ihr gefolgt, nicht sie mir. Ich hatte zugehört,
anstatt sie zu dem diagnostischen Verständnis zu bringen, das ich schon erreicht hatte.“83
Rogers macht die entscheidende Erfahrung: In dem Maße, wie die Frau sich durch die mehr
persönliche, als „professionelle“ Beziehung zu ihm zunehmend freier fühlte, nahmen sowohl
die Probleme in ihrer ehelichen Beziehung, als auch die Probleme ihres Sohnes ab.84
Allmählich wurde ihm in dieser Zeit bewusst, „dass ich offensichtlich etwas Neues (und
vielleicht sogar Originelles) über Beratung und Psychotherapie sagte.“85 Nicht der Therapeut,
sondern der Klient bestimmt letztendlich, was in der therapeutischen Beziehung geschehen
soll. Die neue Therapie ist somit weitgehend frei von therapeutischen Interventionen; sie ist in
diesem Sinne „nicht-direktiv“.
������������������������������������������������������������79 Rogers 2009a, S.28�80 Rogers/Rosenberg S.191�81 Rogers 2009a, S.27�82 Rogers Rosenberg S.191�83 Ebenda, S.191/192�84 Vergl. ebenda�85 Ebenda S.192�
��
20
3.1.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
Die grundlegende Hinwendung zu einer Überzeugung, „dass nämlich jedes Individuum die
Fähigkeit besitzt, seine eigene Problemlösung selbst zu finden“,86 kommt in „seinem
thematischen Erstlingswerk“87 sehr anschaulich zum Ausdruck. Es ist ein Aufsatz mit dem
Titel „The Process of Therapy“, den Rogers im Jahre 194088 im „Journal of Counseling
Psychology“ veröffentlichen ließ und auf den heftig reagiert wurde.89 Hier ist schon vieles
angelegt, was den Kern seines Ansatzes schon erahnen lässt. Groddeck zitiert hieraus einen
von Rogers skizzierten idealtypischen Therapieablauf in sechs Schritten, der schon die
„Grundlinien des nicht-direktiven Ansatzes“90 umreißt:
„1. Therapie solle einen guten menschlichen Kontakt zwischen Therapeuten und dem Klienten herstellen können, in dem der Klient sich sicher und akzeptiert fühlen kann. Der Therapeut müsse Balance finden zwischen Identifikation und Neutralität und sollte sich nicht scheuen, emotionale Wärme zu zeigen.
2. Der Klient solle sodann seine Gefühle frei ausdrücken und auch ausagieren können. Da dies im Liegen auf der Couch nicht möglich sei, lehnte er das klassische Setting der Psychoanalyse ab und empfahl stattdessen das Setting des Gespräches in der „face-to-face“-Situation.
3. Der Klient solle in einem Gespräch dann in den vom ihm erlebten Gefühlen sein spontanes Selbst erkennen und akzeptieren
4. Aufgabe des Therapeuten sei es, den Klienten anzuleiten, dass dieser verantwortliche Entscheidungen treffen kann.
5. Der Klient solle sodann zusammenfassende Einsichten aus der Arbeit gewinnen und formulieren (nicht der Therapeut!)
6. Am Ende dieser therapeutischen Erfahrung solle schließlich ein Erziehungsprozess oder auch Umerziehungsprozess stehen. D.h. der Therapeut stellt in dieser Phase unterstützende Information bereit, damit der Klient seinen Weg alleine weitergehen kann. Lange andauernde Therapien seien nicht nützlich (Rogers 1940)“.91
Erkennbar ist an dieser Stelle schon dass explizite Ablehnen einzelner psychoanalytischer
Elemente:92 Der Therapeut ist hier nicht mehr der neutrale und emotionslose Analytiker. Er
������������������������������������������������������������86 Groddeck, S.70�87 ebenda S.79�88 Rogers nahm in diesem Jahr seine erste Professur – an der Ohio State University – an, an der er fünf Jahre arbeitete. �89 Dazu Rogers 2009a, S.29: „Ich machte zum ersten Mal die Erfahrung, dass eine neue Idee von mir, die mir so voll glänzender und vielversprechender Möglichkeiten zu stecken schien, für einen anderen Menschen eine große Bedrohung darstellen kann. Es brachte mich aus der Fassung, bereitete mir Zweifel und Kopfzerbrechen, im Zentrum der Kritik mitten zwischen Pro und Contra zu stehen.“ �90 Groddeck, S.79�91 ebenda�92 Köhler-Weisker et.al. an anderer Stelle kommen zu einer anderen Bewertung, wenn sie über Rogers in den Anmerkungen schreiben: „Ganz allgemein bleibt Rogers´ Auseinandersetzung mit fremden Ansätzen eher kursorisch. Von einer ernsthaften Kritik der Psychoanalyse kann nicht die Rede sein. So bleibt seine Ablehnung der von ihm kritisierten „abgrenzenden“ bzw. „konfrontierenden“ Tendenzen, die er der „klassischen
��
21
begegnet dem Klienten von face-to-face – wir sagen heute auf Augenhöhe. Es ist der Klient,
der in einem Gespräch Einsichten und Erfahrungen gewinnt. Dabei spielen emotionale
Wärme und Akzeptanz eine wichtige Rolle. In diesem Kontext aber sind die später allseits
bekannten „Therapeutenhaltungen“ noch nicht voll entfaltet.
In seinem nächsten Werk jedoch, das ihn über einschlägige Kreise hinaus bekannt gemacht
hat93 bricht er mit vielen gängigen Vorstellungen und Selbstverständlichkeiten.
„Anfängliches Interesse an der Diagnose wich einem viel stärkeren Interesse am Prozess der Beratung und
Therapie“.94
Bereits in seinem Vorwort von „Counseling and Psychotherapy“ verdeutlicht Rogers, um was
es ihm in diesem Buch geht: Es gehe nicht primär um Analyse und Diagnose, denn das
Gewicht habe sich eindeutig „von der Diagnose auf die Therapie und vom Verstehen des
Individuums auf das Interesse an den Prozessen verlagert, durch die es Hilfe finden kann“.95
Es geht also im Wesentlichen um die Betrachtung von Prozessen, um „Beratung als
Prozess“.96
„Der Terminus „Beratung“ wird besonders im pädagogischen Bereich immer häufiger benutzt. Kontakte mit
dem Ziel der Heilung und Wiederherstellung kann man als „Psychotherapie“ bezeichnen; dieser Terminus wird
meistens von Psychologen und Psychiatern verwendet. Im vorliegenden Buch werden all diese Bezeichnungen
mehr oder weniger austauschbar verwandt werden, und zwar weil sie sich alle auf die gleiche grundlegende
Methode beziehen – auf eine Reihe direkter Kontakte mit dem Individuum, die darauf abzielen, ihm bei der
Änderung seiner Einstellungen und seines Verhaltens zu helfen. (…) Es lässt sich (...) nicht bestreiten, dass
intensive und erfolgreiche Beratung von intensiver und erfolgreicher Psychotherapie nicht zu unterscheiden ist.
Beide Begriffe werden deshalb benutzt werden, da beide in diesem Fachbereich allgemein üblich sind“97.
Die Begriffe Beratung und Therapie werden von Rogers also synonym verwandt.98 Zudem
wird in diesem Kontext darauf verwiesen, dass Beratung kein „Allheilmittel für sämtliche ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������Psychoanalyse“ (…) zuschreibt, bei der bloßen Etikettierung stehen und führt zu einer Reihe von Missverständnissen und Fehleinschätzungen.“ S.231 �93 Groddeck beschreibt es differenzierter: „Unter den praktizierenden helfenden Berufen wurde es rasch zum Bestseller. In der akademischen psychologischen Fachwelt fand es wenig Anklang und wurde von keiner der großen Fachzeitschriften besprochen.“ (S. 82/83) �94 Rogers 2007, S.13�95 ebenda�96 ebenda S.17�97 ebenda, auf die Problematik der begrifflichen Abgrenzung werde ich noch später zurückkommen. �98 Eine Praxis, die besonders in der Systemischen Therapie bzw. Beratung bekanntlich heute noch üblich ist, da z.B. der mit der „Therapie“ eng verbundene Krankheitsbegriff gerade hier häufig sehr kritisch betrachtet wird. In seinem Spätwerk „Kraft des Guten“ ist zur Begriffsbestimmung zu lesen: „Als man mir zu Beginn meiner Laufbahn vorhielt, dass es für einen Psychologen völlig ausgeschlossen sei Psychotherapie zu betreiben, weil dies die Aufgabe des Psychiaters sei, versuchte ich nicht, meine Auffassungen in einem Frontalangriff durchzusetzen. Stattdessen umschrieb ich unsere Arbeit zunächst mit dem Begriff „Behandlungsgespräch“. Später schien uns der Terminus „Beratung“ zutreffender.“ (Rogers 1977, S.7) �
��
22
Fehlanpassungen“99 sei, die wahllos überall angewendet werden könne. Beratung sei nur eine
Methode, „wenn auch wichtige Methode im Umgang mit den zahlreichen
Anpassungsproblemen, die das Individuum zu einem weniger nützlichen, weniger wirksamen
Mitglied seiner sozialen Gruppe werden lassen“.100 Rogers lehnt für gewisse Bereiche der
„Fehlanpassung“ – „im Fall des Kriminellen, des Psychopaten, des Defekten oder des
Individuums, das aus anderen Gründen außerstande ist, für sich Verantwortung zu
übernehmen“101 - auch mehr oder minder direktive „Behandlungen des Individuums durch
Manipulation seiner Umgebung“ nicht grundsätzlich ab, sofern sie „Einstellungen,
Verhaltensweisen und Anpassung des Individuums außerordentlich verändern“.102 Zu
beachten sei dabei, dass hierzu „sozial definierte und akzeptierte“ Zielvorstellungen
formuliert worden sind.
Obgleich es sehr einsichtig ist, dass jede Beratung auch ihre Grenzen hat, schwingt hier aber
ein Aspekt mit hinein, der meines Erachtens eher im Kontext ehemaliger traditioneller
Sozialarbeit zu verorten ist: das Individuum als Problem unzureichender gesellschaftlicher
Anpassung.103 Ein Aspekt, der offensichtlich die zeitliche Nähe zur Rogers langjähriger
Tätigkeit bei der „Rochester Society for the Prevention of Cruelty to Children“ in den 30er
Jahren aufzeigt, wo es in seiner Arbeit in erster Linie „um die Wiederanpassung der Kinder
und der Familien an das normale Leben ging“.104 Zumindest wird an dieser Stelle deutlich,
dass die Sicht des „späten“ Rogers, ganz die „Person als Mittelpunkt der Wirklichkeit“105 zu
sehen, zumindest an dieser Stelle noch nicht eindeutig und konsequent „klientenzentriert“
entwickelt ist.
Allerdings wird die „neuere Psychotherapie“ einige Seiten später wieder schärfer in ihrer
Abgrenzung zur Psychoanalyse umrissen: Rogers verweist hierbei auf „verschiedene Quellen,
die aufzuzählen nicht ganz einfach ist, “106 benennt dabei jedoch explizit Otto Rank, sowie die
„moderne Freudsche Analyse, die endlich ausreichend selbstsicher ist, um Freuds
������������������������������������������������������������99 Rogers 2007, S.23�100 ebenda, �101 ebenda, S.26�102 ebenda, S.25 �103 zur Problematik sozialer Benachteiligung, vergl. z.B. Galuske in: Chasse, S. 63ff�104 Groddeck, S.57�105 Vergl. Rogers/Rosenberg 2005�106 Rogers 2007 S. 36�
��
23
therapeutische Verfahren zu kritisieren und zu verbessern.“107 Bekannteste Vertreterin sei
Karen Horney.108
„Der neuere Ansatz unterscheidet sich von dem älteren dadurch, dass er ein grundlegend anderes Ziel hat. Er
zielt direkt auf die größere Unabhängigkeit und Integration des Individuums ab, statt zu hoffen, dass sich diese
Resultate ergeben, wenn der Berater bei der Lösung des Problems hilft. Das Individuum steht im Mittelpunkt der
Betrachtung und nicht das Problem. Das Ziel ist es nicht, ein bestimmtes Problem zu lösen, sondern dem
Individuum zu helfen, sich zu entwickeln, so dass es mit dem gegenwärtigen Problem und mit späteren
Problemen auf besser integrierte Weise fertig wird. Wenn es genügend Integration gewinnt, um ein Problem
unabhängiger, verantwortlicher, weniger gestört und besser organisiert zu bewältigen, dann wird es auch neue
Probleme auf diese Weise bewältigen.
Wenn dies alles etwas vage klingt, können wir es vielleicht deutlicher machen, indem wir noch genauer auf die
Unterschiede zwischen diesem neueren und dem alten Ansatz eingehen. Erstens stützt er sich viel stärker auf den
individuellen Drang zum Wachsen, zur Gesundheit und zur Anpassung. Therapie ist nicht etwas, das man dem
Individuum antut oder das veranlasst, etwas Bestimmtes für sich selbst zu tun. Therapie macht es vielmehr frei
für normales Wachsen und Entfalten, sie beseitigt Hindernisse, damit es sich wieder vorwärts bewegen kann.“109
An dieser Stelle wird somit formuliert, was wesentlich für das Menschenbild von Carl Rogers
in der ersten Phase ist: Das Individuum hat einen Drang zum Wachsen, zur Gesundheit und
zur Anpassung,110 es ist prinzipiell in der Lage, „sein eigenes Schicksal zu gestalten und seine
eigenen Gedanken zu denken.“111
„Rogers war (…) von Anfang an von der äußersten Rationalität dessen, was Individuen tun, beeindruckt. Seiner
Meinung nach reagiert jeder auf die Welt, wie er sie wahrnimmt. Der Klient handelt deshalb grundsätzlich
sinnvoll. Nur aus der Sicht eines Außenstehenden erscheint sein Verhalten irrational, dumm oder neurotisch.“112
Diese humanistische Auffassung menschlicher Existenz hat für Rogers zur Konsequenz, dass
dirigistische Interventionen nicht Aufgabe des Therapeuten sein können. Ratschläge und
Verhaltensanweisungen sind zu unterlassen.113 Vielmehr muss es darum gehen, den Klienten
in seinem Streben nach Wachstum und Entwicklung zu unterstützen. Dazu benennt Rogers
weitere Kriterien, die den Unterschied von älterer und neuerer Psychotherapie markieren:
������������������������������������������������������������107 ebenda�108Leider wird an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt, welche Inhalte darunter zu verstehen sind; was ein weinig die von Köhler/Weisker geäußerte Kritik der Etikettierung unterstreicht. (Vergl. Anm. 92) �109 Rogers 2007, S. 36/37 Viele Jahre später wird Rogers diese Stelle nochmals benennen, um seine im Jahre 1940 vollzogene „Wende in der Politik der Therapie“ (Rogers 1977, S.16) aufzuzeigen�110 Bommert, S.15: „Mit Anpassung ist nicht gemeint, dass das Individuum unkritisch die Forderungen von Autoritätspersonen oder Normen der Gesellschaft übernimmt, sondern dass es sich gewissermaßen an sich selbst anpasst, indem es seine Ziele auswählt, diesen Zielen entsprechend handelt und dazu fähig ist, Probleme und Schwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen.“�111 Barton, S.170�112 ebenda�113 vergl. Bommer, S.15 �
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24
� In der neueren Therapie überwiegen emotionale Elemente und Gefühlsausdrücke
gegenüber intellektuellen Aspekten: „Sie verwirklicht endlich die seit langem
vorhandene Erkenntnis, dass die meisten Fehlanpassungen keine Mängel des
Wissens sind, sondern dass Wissen unwirksam ist, weil es blockiert wird durch die
emotionalen Befriedigungen, die das Individuum durch seine gegenwärtigen
Fehlanpassungen erhält.“114
� In der neueren Therapie ist die derzeitige Situation, das „Hier und Jetzt“, wichtiger als
die Vergangenheit. „Vergangenes ist zum Zwecke der Forschung und zum
Verständnis der Genetik des menschlichen Verhaltens sehr wichtig. Für die
Therapie ist es aber nicht unbedingt wichtig.“115
� In der neueren Therapie wird die therapeutische Beziehung in ihrer Praxis als eine
Erfahrung von Entwicklung und Wachstum erlebt. „In ihr lernt das Individuum, sich
selbst zu verstehen, unabhängig zu entscheiden und sich erfolgreich und auf
erwachsenere Weise in Beziehung zu einer anderen Person zu bringen.“116
Damit ist gewissermaßen die neuere Psychotherapie schon grob wie folgt umrissen: Die nicht-
direktive Psychotherapie ist Resultat von Rogers´ eigenen erlebten persönlichen Erfahrungen
im beraterischen Kontext, als auch von seinen kritischen Überlegungen gegenüber der
orthodoxen Psychoanalyse. Erkenntnistheoretische Grundlage hierzu ist ein ähnlich wie bei
Otto Rank formuliertes Menschenbild, das vom Vermögen des Individuums ausgeht, seine
Probleme selbst bewältigen zu können bzw. zu wollen, da es über einen ihm immanenten
Drang nach persönlicher Entwicklung und Entfaltung verfügt.
Um sich gegenüber den „älteren Theorien“ behaupten zu können, ist Rogers in dieser Zeit
bestrebt, seinen Ansatz – sollte er nicht bloß hypothetisch-spekulativ erscheinen – mit
empirischer Forschung zu untermauern. Rogers gründet daher parallel zu seinen ersten
Veröffentlichungen auch eine „neue klinisch-psychologische Forschungseinrichtung“117
„Sie erhob zum ersten Mal in der Geschichte der Klinischen Psychologie den Anspruch, Psychotherapie mit den
Methoden der empirisch-psychologischen Forschung transparent zu machen. Das Neuartige dieses
Forschungsansatzes lag besonders in dem Versuch, Hypothesen zur Psychotherapie und den bis dahin
������������������������������������������������������������114 ebenda�115 ebenda�116 ebenda�117 Pavel in: GwG, S.25 �
��
25
weitgehend mystisch behandelten psychotherapeutischen Prozess der empirischen Erforschung zugänglich zu
machen und in ihrer Wirksamkeit zu überprüfen.“118
So wird beispielsweise begonnen, die größte Anzahl der therapeutischen Gespräche mittels
der neu entwickelten Tonbandtechnik aufzunehmen, um so eine Grundlage für differenzierte
Untersuchungen und Gesprächsanalysen zu haben. Die Auswertungen der Tonbandprotokolle
ergeben, dass „unterschiedliche Reaktionen des Therapeuten auf den Klienten stark
differierende Grade an therapeutischer Entwicklung nach sich zogen.“119 Aus den
beobachteten Phänomenen werden wiederum neue „theoretische Konstrukte abgeleitet, deren
Aussagegehalt durch empirische Forschung überprüft wird.“120 „Psychotherapie wird hier
verstanden als eine psychologische Methode, die durch die Mittel der psychologischen
Forschung transparent und überprüfbar gemacht werden soll.“121 In „Counseling and
Psychotherapy“ werden die ersten Untersuchungen veröffentlicht, die eine Vielzahl
unterschiedlicher Interventionen und Kennzeichen des Direktiven und des Nicht-direktiven
Ansatzes aufzeigen. Herbei gehen Rogers und seine Mitarbeiter im Wesentlichen
phänomenologisch vor; das heißt, sie beschreiben in der Regel den wahrnehmbaren Prozess
der Interaktion zwischen Therapeut und Klient; auf eine Analyse im Sinne Freuds wird
gänzlich verzichtet.122 Somit verwundert es nicht, wenn der Ansatz von Rogers in dieser
Phase als „Beratungs- und Therapiemethode“123 bezeichnet wird und die Anwendung von
„Beratertechniken“ in den Blick der Forschung gerät und dabei der Aspekt des „Nicht-
direktiven“ eine besondere Beachtung erfährt.
„Die wichtigste Technik besteht in der Ermutigung zum Ausdruck von Einstellungen und Gefühlen, bis sich das
einsichtige Verstehen spontan und von selbst einstellt. Einsicht wird häufig durch Bemühungen des Beraters, sie
hervorzurufen, verhindert und bisweilen unmöglich gemacht.“124
Damit benennt Rogers „zentrale Merkmale jeder Art von Therapie“, die zudem den Verlauf
des therapeutischen Prozesses beschreiben:125
-Katharsis: Der Berater ermutigt und unterstützt den Klienten, seine bis dahin unerkannten emotionalisierenden Einstellungen und Gefühle auszudrücken.
������������������������������������������������������������118 Ebenda�119 Rogers 2007a, S.18�120 Pavel in: GwG, S.25�121 Ebenda S.27�122 An dieser Stelle soll auch nicht darauf eingegangen werden, ob das von Rogers skizzierte Menschenbild als Annahme für seine Theorie von ihm hinreichend „bewiesen“ ist. Ich komme aber später darauf zurück. �123 Rogers 2007a, S.28 �124 Rogers 2007, S.177�125 Ebenda S.123; vergl. auch Christen S.74ff �
��
26
- Einsicht: Die Konsequenz von Katharsis ist die Einsicht. Sie ist eine neue Art der Wahrnehmung, in die angesammelte Erfahrungen integriert werden. Vorher unverstandene Tatsachen werden in ihren Zusammenhängen erkannt. Die eigene Persönlichkeit kann stärker angenommen und akzeptiert werden. Vertrauen in die eigene persönliche Entscheidungskraft entsteht.
- Positive Handlungen: Die durch die Einsicht neu gewonnenen Ziele werden in selbst-initiierte Handlungen umgesetzt. Sie stellen die wichtigste Art von Wachsen dar und erzeugen neues Vertrauen und Unabhängigkeit.
Was aber setzt diesen Prozess in Gang? Für Rogers ist es u.a. die „akzeptierende
Beratungsbeziehung“,126 die das auslösende Moment darstellt. Damit soll die erste der drei
therapeutischen Haltungen - das Bedingungsfreie Akzeptieren – im nächsten Abschnitt
ausführlicher erörtert werden.
3.1.3. Wertschätzung oder Bedingungsfreies Akzeptieren
Im ersten Kapitel von „Counseling and Psychotherapy“ formuliert Rogers zum Abschluss
seine „grundlegende Hypothese“: „Wirksame Beratung besteht aus einer eindeutig strukturierenden, gewährenden Beziehung, die es dem Klienten
ermöglicht, zu einem Verständnis seiner selbst in einem Ausmaß zu gelangen, das ihn befähigt, aufgrund dieser
neuen Orientierung positive Schritte zu unternehmen.“127
Mir kommt es hier nicht auf den etwas irreführenden Begriff „strukturierend“ an.128 Vielmehr
will ich den Blick lenken auf den Ausdruck „gewährend“. Er setzt etwas voraus, was ohne
jede Vorbedingung gegeben bzw. gewährt wird: Für Rogers ist es die therapeutische Haltung
des bedingungsfreien Akzeptierens.129 Es ist die „Anteilnahme und die Akzeptanz aller
Möglichkeiten, der Begabung und der Seinsweise einer Person (ohne Bedingung und ohne
Wertung).“130 Diese Haltung ist verbunden mit einer tiefen und echten Zuwendung, die frei
von Beurteilungen und Bewertungen der Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen des
Klienten ist. Der Klient erhält damit die Möglichkeit, sein jeweiliges momentanes Gefühl
ausleben zu können, ohne dass die Gefahr der Ablehnung besteht. Der Berater akzeptiert den
Klienten so, wie er ist und nicht, wie er sein sollte. „Ich bin in vielerlei Hinsicht leichtgläubig und akzeptiere meinen Klienten als den, der er zu sein behauptet,
ohne hintergründig zu argwöhnen, dass er vielleicht anders sein könnte.“131
������������������������������������������������������������126 Rogers 2007, S.195�127 Rogers 2007, S.28 �128 Gemeinhin könnte man annehmen, dass dabei eine aktivierende Intervention seitens des Beraters zu verstehen sei. M.E. meint Rogers hiermit eher eine Rahmung, das Schaffen einer gleichsam „angstfreien Atmosphäre“. (Vergl. Pavel in: GwG, S.27ff) �129 In “Counseling und Psychotherapy” ist dieser Begriff so noch nicht voll entfaltet. Rogers spricht hier vom „Achtung vor dem Individuum“ (S.222) als eine der „notwendigen Fähigkeiten eines guten Beraters“.(S.221) �130 Nykl, S.19�131 Rogers 2007a, S.155�
��
27
Die Haltung des Beraters ist in der Beziehung zu dem Klienten positiv, warm und
entgegenkommend. Diese positive Zuwendung ist vergleichbar „mit jener Gefühlsqualität, die
Eltern für ihr eigenes Kind empfinden, wenn sie es als Persönlichkeit, ungeachtet seines
augenblicklichen Verhaltens anerkennen.“132 Der Klient erfährt zunehmend diese echte
Zuneigung; fühlt sich umsorgt und macht in dieser gewährenden Beziehung eine neue
Erfahrung: „Ich fühle mich bei ihr frei, das zu sagen, was ich denke.“133
Ein Klient von Rogers hat das Gefühl des Angenommenseins ihm gegenüber einmal so
ausgedrückt: „Hier bei Ihnen kann ich immer einfach ich selbst sein. Ich mache mir nie Gedanken darüber, ob ich mich richtig
verhalte. Und wenn ich von hier fortgehe, fühle ich mich immer sehr viel kreativer – und dieses Gefühl dauert
hinterher an.“134
In diesem Klima der bedingungsfreien Akzeptanz kann der Klient sich somit frei fühlen, auch
unangenehme Aspekte seiner Person anzusprechen. Er kann beginnen, die innere Welt der
Gefühle zu erforschen – „ob es Wut, Verwirrung, Zorn, Mut, Liebe oder Stolz, Feindseligkeit
oder Zärtlichkeit, Auflehnung oder Fügsamkeit, Selbstvertrauen oder Selbstentwerten ist“135 -
ohne dabei Ablehnung oder Zurückweisung durch den Berater befürchten zu müssen.
Der Klient selbst wird aktiv diesen Weg bestreiten. Der Berater hat dabei in erster Linie eine
begleitende Funktion. Mit seiner Haltung der bedingungsfreien Akzeptanz, die Ausdruck
findet in seiner konkreten beraterischen Praxis – Anerkennen, Ermutigen und Solidarisieren136
- schafft er gewissermaßen den Rahmen für die Möglichkeit neuer Erfahrungen.137 Dabei hat
der Berater grundsätzlich alles zu unterlassen, was den Klienten von seinem selbstgewählten
Weg abbringen oder beeinflussen könnte.138 „Der Therapeut ist nun nicht mehr der Ursprung der Veränderung, sondern er erfüllt eine Art
„Hebammenfunktion“. Er legt die letzte Entscheidungsbefugnis in die Hände des Klienten, ob es um kleine
Dinge, wie die Richtigkeit einer Reaktion des Therapeuten, geht oder um schwerwiegende Entscheidungen, wie
die Bestimmung der Richtung des eigenen Lebens. Es ist nun ganz klar die Sache des Klienten, abzuwägen und
Entscheidungen zu treffen.“139
������������������������������������������������������������132 ebenda, S.281�133 Tauch, S.73 �134 Rogers 2007a, S.155�135 Nykl, S.19�136 Vergl. Finke 2004, S.15�137 Rogers 1978, S.21: „Die Forschungen haben ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Therapie um so größer ist, je stärker diese Einstellung bei dem Therapeuten ausgeprägt ist.“�138 Vergl. Weinberger S.71ff, die hierzu eine Reihe „nicht-adäquater Verhaltensweisen - wie Bagatellisieren, Diagnostizieren, Dirigieren, Examinieren, Interpretieren, Moralisieren und Intellektualisieren – aufzählt. �139 Rogers 1978, S.26�
��
28
Warum aber sollte der Klient diesen Weg beschreiten? Warum sollte er beginnen, neue
Erfahrungen machen zu wollen? Das geschieht nach Rogers nur dann, „wenn aus einem
Zustand der Unausgeglichenheit ein bestimmtes Maß an psychischer Not erwächst.“140 „Die Beratung und die Psychotherapie (…) können nur dann wirksam sein, wenn ein Widerspruch zwischen
Wünschen und Anforderungen besteht, der Spannung erzeugt und nach irgendeiner Lösung verlangt.
Grundsätzlich scheint folgende Darstellung der Situation am ehesten zuzutreffen: Beratung kann erst wirksam
sein, wenn die Spannungen die durch diese widersprüchlichen Wünsche und Forderungen verursacht werden, für
das Individuum schwerer zu ertragen sind, als der Schmerz und der Druck, den die Suche nach einer Lösung des
Konfliktes verursacht.“141 Zu der an anderer Stelle bereits formulierten Annahme von Rogers, das Individuum verfüge
über einen Drang zum Wachsen, zur Gesundheit und zur Anpassung muss somit noch eine
weitere Bedingung hinzukommen, um ein Bedürfnis nach Entwicklung und Veränderung
beim Klienten auszulösen: Der Klient muss ein Problem haben, das einen gewissen
Leidensdruck in ihm hervorruft. Erst dann wird er Schritte unternehmen, die ihn am Ende
dazu befähigen könnten, „sich völlig frei auszudrücken, wodurch er allmählich Einsicht in
seine Situation und sein Verhalten gewinnen und aufgrund dieser Einsichten effektiver
handeln kann.“142
Die Forderung eines nicht-direktiven Verhaltens seitens des Beraters, dessen wesentliche
Grundlage eine Haltung der bedingungsfreien Akzeptanz ist, wird von Rogers anschaulich
anhand einer Fallgeschichte erörtert.
3.1.4. Fallgeschichte: Der Fall Herbert Bryan
Im letzten Teil von „Counseling and Psychotherapy“ stellt Rogers einen vollständig
protokollierten Ablauf einer nichtdirektiven Beratung dar. Sie erfolgte in acht Sitzungen, die
Rogers als „Interviews“ bezeichnet. Seines Wissens „wird hiermit zum ersten Mal ein Fall in
allen Einzelheiten veröffentlich.“143
������������������������������������������������������������140 Rogers 2007, S.57�141 Ebenda, S.57/58 damit ist ein Konflikt zwischen „innen“ und „außen“ gemeint; somit nicht im Sinne Freuds, der Spannungen eher in innerpsychischen Instanzen vermutete. Rogers: „Wir haben allzu lange und weitgehend aufgrund der klassischen Freudschen Tradition den Konflikt als einen innerlichen und psychischen gesehen und nicht erkannt, dass alle Konflikte eine starke kulturelle Komponente enthalten, und ein Konflikt in vielen Fällen durch irgendeine neue kulturelle Anforderung verursacht wird, die einem individuellen Bedürfnis zuwiderläuft.“ (S.57) �142 Bommert, S.16�143 Rogers 2007, S.229�
��
29
Der Fall: Herbert Bryan ist ein junger Mann Ende Zwanzig, hochintelligent, der Hilfe sucht
aufgrund von Problemen, die er als tiefsitzend bezeichnete. „Seine Probleme sind die eines
Neurotikers, nicht die eines Kriminellen oder eines Studenten mit Berufsproblemen.“144
Im Folgenden ist eine längere Passage dieses dokumentierten Falles aufgeführt, die einen
Eindruck geben soll von dem, was Rogers unter „nicht-direktiv“ und „wertschätzend“
verstanden hat. Er selbst hat die beschriebenen Interaktionen in seinen Anmerkungen
besonders unter diesem Aspekt hin ergänzend kommentiert. „K 331: Wie sieht Ihre Theorie in Hinblick auf die Psychoanalyse aus? Sind der Schlüssel und das Umdrehen ein
und dasselbe, oder glauben Sie, die Psychoanalyse zeigt, wo der Schlüssel liegt, und das Individuum dreht ihn
um oder sollten wir uns damit heute nicht befassen?
B 331: Nun ich will jetzt sicherlich nicht auf psychoanalytische Theorien eingehen, aber ich glaube, unsere
gemeinsame Erfahrung zeigt, dass zur Auffassung des Schlüssels beide ihr Teil beitragen müssen. Den Schlüssel
umzudrehen ist dagegen ihre Sache.
K 332: Ja. Dann habe ich mir noch etwas überlegt: Gibt es diesen mystischen Schlüssel überhaupt? Ich meine,
habe ich vielleicht etwas gesucht, das gar nicht unbedingt da ist? Ich meine, liegt der Schlüssel vielleicht nicht
im intellektuellen Bereich, sondern in der emotionalen Entschlussfassung?
B 332 Richtig. Das heißt, ich glaube, es besteht kein Zweifel daran, dass Sie heute einen Schlüssel gefunden
haben – wobei der Schlüssel die Frage ist, was sie zutiefst und wirklich tun wollen – nicht nur die oberflächliche
Feststellung, was sie gerne möchten, sondern was…
K 333: Hm, ich hatte die Vorstellung, dass irgendwo ein Knopf verborgen lag, den ich übersehen hatte und den
ich bloß zu drücken brauchte. Ich wusste, dass ich dazu eine Motivation und Willenskraft brauchte, aber ich
hatte das Gefühl, dass ich ihn zuerst finden musste – jetzt fange ich an zu glauben, dass es diesen Knopf als
ideologisches Konzept an sich gar nicht gibt – dass es darauf hinausläuft, dass man sich sein derzeitiges Leben
ansieht und sagt: „so, was willst du jetzt tun – wie willst du reagieren?“ Und dass diese emotionelle
Entschlussfassung, die wir als Willensakt bezeichnen, die negativen Gefühle abschwächt, ohne dass man hinter
irgendein verborgenes Geheimnis oder dergleichen kommen muss.
B 333: Das glaube ich auch.
K 334: Das freut mich zu hören.
B 334: es besteht außer Zweifel, dass sie recht hatten, als Sie heute bei ihrem Kommen sagten, Sie hätten vieles
zu sagen.
K 335: ich wusste es. Ich meine, ich kenne mich ziemlich gut. Ich glaube, ich bin mir selbst gegenüber ziemlich
ehrlich.
B 335: Und Sie werden immer ehrlicher, würde ich sagen.
K 336: Hm. Ja. Ich glaube, das ist die wahre Funktion der Psychoanalyse – dass sie die Probleme eindeutig
klarstellt und genau umreißt, damit der Entschluss in die richtige Richtung gehen kann.
B 336: Letztes mal fragten Sie mich, ob ich der Auffassung sei, dass Sie Fortschritte machen. Ich glaube, heute
brauchen Sie diese Frage nicht zu stellen. (Lacht)
������������������������������������������������������������144 ebenda�
��
30
K 337: Nein. Ich werde jetzt nicht mehr nach irgendeinem geheimnisvollen Ereignis in meinem Leben suchen –
ich hatte bislang die Vorstellung, dass es vielleicht ein wichtiges Ereignis gab, das ich ins Unterbewusstsein
abgedrängt hatte und das ich für die Therapie wieder hervorholen musste. Aber ich sehe jetzt, dass…der
Ursprung ist unwichtig, diese Dinge wirken eben auch in der Gegenwart, und ihre derzeitige Funktion ist das,
was eigentlich wichtig ist.
B 337: Ich bin versucht zu sagen, da haben sie verdammt recht.“145 Rogers würdigt in seinen Anmerkungen, dass die in K 331 gestellte direkte Frage vom Berater
auf der konkreten Beziehungsebene beantwortet wurde: Der Berater bezieht den Klienten mit
ein, indem er auf „unsere gemeinsamen Erfahrungen“ verweist. Macht aber auch deutlich,
dass es der Klient – nicht der Berater – ist, der daraus die Schlüsse zu ziehen hat. Damit wird
zudem „eine unfruchtbare intellektuelle Diskussion“146 vermieden. Für Rogers ist die darauf
folgende Reaktion des Klienten „äußerst erstaunlich“, da dieser erkenne, „dass wirkungsvolle
Therapie eher auf emotionaler Entschlussfassung, denn auf intellektuellen Verstehen
basiert.“147 Rogers bewertet die vom Klienten in K 333 und K 337 getroffenen Feststellungen
als „derart ausgezeichnet“, „dass es kaum zu glauben ist, dass nicht der Berater, sondern der
Klient sie getroffen hat.“148 „Die therapeutische Erfahrung hat aus diesem Klienten offenbar einen Psychologen gemacht. Zu erkennen, dass
Symptome nicht wegen ihres in der Vergangenheit liegenden Ursprungs, sondern wegen ihrer derzeitigen
Bedeutung und Wichtigkeit werden, stellt eine tiefere Einsicht in menschliches Verhalten dar, als mancher
Psychologe sie besitzt.“149
Diese Anmerkung beinhaltet meines Erachtens mehrere interessante Aspekte:
� Erstens wird deutlich, dass der Klient die Erkenntnisse selbst zieht, wenn der Berater
ihm durch nicht-direktives und anerkennendes Verhalten nur den Raum dazu gibt.
� Zweitens wird ein „Seitenhieb auf die Psychoanalyse“150 erkennbar, der Rogers
offensichtlich unterstellt, sie befasse sich primär mit Symptomen, deren Ursprünge in
der Vergangenheit zu suchen seien. Entscheidend sei jedoch, wie die Dinge in der
Gegenwart wirken.151
� Damit wird jedoch drittens eine Schwierigkeit des nichtdirektiven Ansatzes markiert:
Der Berater weiß an dieser Stelle schon, was gleichsam „richtig“ und was „falsch“ ist.
Seine eigene Meinung dazu ist in dieser Frage offensichtlich. Er bewertet die
������������������������������������������������������������145 Ebenda S.296/297�146 Ebenda S.296�147 Ebenda�148 Ebenda �149 Ebenda�150 Köhler-Weisker et.al, S.106�151 Köhler-Weisker et.al. formulieren hierzu drastisch: „Rogers wendet sich hier gegen das Prinzip der weiterreichenden Analyse von Zusammenhängen und verharrt auf seiner recht beschränkten Vorstellung von Verstehen.“ (S.106)�
��
31
Vorstellungen des Klienten, indem er sie gutheißt. Es ist meines Erachtens somit nicht
ganz auszuschließen, dass der Klient damit vom Berater „auf den richtigen Weg
gebracht wird.“152
Der letzte Aspekt lässt erahnen, wie schwer im Einzelfall der beraterische Praxis erkennbar
ist, wann bedingungslose Akzeptanz zur subtilen Beeinflussung des Klienten gerät. Eine
Problematik, die Rogers offenbar in seinen Anmerkungen implizit erkennt, jedoch etwas
diffus aufzulösen versucht: „In B 332 und B 333 werden Vorstellungen gutgeheißen, deren Anerkennung vorzuziehen gewesen wäre. Auf
der anderen Seite findet sich in B 334 und B 336 die Art von Reaktion, die den Klienten ganz allgemein
ermutigt, ohne seine Ideen besonders zu billigen. Bei diesem Stand von Therapie scheint das von Nutzen.“153
Wer aber entscheidet an dieser Stelle, was „von Nutzen“ ist? Ist es der Klient, ist es der
Berater? Oder ist es Carl Rogers, der schließlich doch genau weiß, was „nützlich bei diesem
Stand der Therapie“ ist? Für mich ist der nichtdirektive Ansatz dann überzeugend, wenn er
wirklich offen ist: Ohne Vorgaben und Vorstellungen, wie der therapeutische Prozess
abzulaufen hat. Auch wenn dadurch die Gefahr besteht, das der therapeutische Prozess nicht
„vorankommt“, gleichsam nur auf der Stelle tritt, weil lediglich wiederholt wird, was der
Klient gesagt hat.154 Er wird dann problematisch, wenn zugunsten eines vermeintlichen
(kurzfristigen) therapeutischen Erfolges oder Nutzens doch therapeutische Interventionen
legimitiert werden. Denn es ist schließlich nach Rogers in erster Linie der Klient, der in
diesem Kontext sich ausdrückt, Einsicht gewinnt und handelt – nicht der Therapeut.
3.1.5. Zusammenfassung der nicht-direktiven Phase
Die erste Phase der Theorie von Rogers ist gekennzeichnet durch seine theoretische und
praktische Abgrenzung von der traditionellen Psychoanalyse. Eigene persönliche Erfahrungen
in seiner therapeutischen Arbeit mit sogenannten „Problemkindern“ lassen ihn zu dem
Schluss kommen, dass es letztendlich die Klienten selbst sind, die wissen, erkennen und
entscheiden können, wo ihre Probleme liegen und wie sie zukünftig damit umgehen wollen.
Ähnlich wie Otto Rank und andere moderne Psychoanalytiker geht Rogers von einer der dem
Individuum innewohnenden Tendenz aus, sich in Richtung Wachstum, Gesundung und
������������������������������������������������������������152 ebenda�153 Rogers 2007, S.296�154 Vergl. Pörtner, S.62�
��
32
Anpassung zu bewegen. Aufgabe des Beraters ist es somit nicht, dem Klienten Ratschläge zu
erteilen oder zu bestimmten Handlungen zu veranlassen. Vielmehr besteht seine Aufgabe
darin eine angstfreie entspannte Atmosphäre zu schaffen, in der sich der Klient in seiner
gesamten Persönlichkeit angenommen und akzeptiert fühlt.
Insofern erhält gerade die therapeutische Haltung des „bedingungsfreien Akzeptierens“ in
dieser Phase eine ganz besondere Gewichtung. Rogers selbst fasst seine Überzeugungen im
letzten Teil von „Counceling and Psychotherapy“ wie folgt zusammen: „Wenn der Klient die Freiheit erhält, seine Situation zu erforschen, ohne dabei in die Defensive gedrängt zu
werden, wenn der Berater sich relativ akzeptierend und nicht-direktiv verhält und wenn Berater und Klient
gemeinsam zu einer Klärung der Gefühle und der Einstellungen des Individuums gelangen, dann kommt es fast
mit Sicherheit zu einem allmählichen Wachsen der Einsicht, zum Erkennen der Entscheidungen, die getroffen
und der Schritte, die unternommen werden können. Das ist das faszinierende an der Therapie, dass die Kräfte
real und vorhersagbar zu sein scheinen und neue Ausblicke für weiteres Fortschreiten eröffnen.“155
Mit dieser sehr optimistischen Einschätzung soll übergeleitet werden in die zweite Phase, in
der die Persönlichkeit des Klienten stärker in das Blickfeld der therapeutischen Betrachtung
gerät.
3.2. Die Klientenzentrierte Phase
3.2.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse
Carl Rogers ging 1945 an die Universität in Chicago, an der er die Möglichkeit erhielt eine
neue Beratungsstelle zu eröffnen; „wobei ich selbst das Vorgehen bestimmen und das
Personal auswählen konnte.“156 Seine in Rochester und Ohio gemachten Erfahrungen mit dem
nicht-direktiven Ansatz sollten nicht nur in die Beratungspraxis, sondern auch in die tägliche
universitäre Lehr- und Verwaltungstätigkeit einfließen. „Ich bin dazu gekommen, Menschen zu vertrauen, ihrem Vermögen, sich selbst und ihre Schwierigkeiten zu
erforschen und zu verstehen, und ihrer Fähigkeiten, solche Probleme zu lösen. Voraussetzung ist nur eine enge,
andauernde Beziehung, in der ich ein wirkliches Klima der Wärme und des Vertrauens schaffen kann.“157
Rogers Vertrauen in die Entscheidungsfähigkeiten seiner Mitarbeiter und Studenten ließ ihn
in vielen Bereichen auf Leitungsfunktionen verzichten. So bestand er beispielsweise darauf,
nicht der „Director“, sondern lediglich der „Executive Secretary“ seiner Beratungsstelle zu
������������������������������������������������������������155 Rogers 2007, S.299�156 Rogers in: GwG, S.18 �157 ebenda�
��
33
sein.158 Er erhoffte sich ein Klima, „in jeder für das Handeln der gesamten Gruppe
verantwortlich ist und wo die Gruppe für jeden Einzelnen Verantwortung trägt.“159
Rogers hatte in dieser Zeit zudem „im Überfluss Gelegenheit“160 seine Erfahrungen und
Hypothesen in Forschungsprojekten zu überprüfen. Die Zahl seiner zu Forschungs- und
Ausbildungszwecken aufgezeichneten Interviews stieg von anfangs 4000 jährlich auf mehr als
11000 im Jahr 1957. Darüberhinaus führte er 7 -10 Beratungen die Woche selbst durch. Die
Fülle dieser Aktivitäten und Innovationen begründet vermutlich die These, die zwölf
Chicagoer Jahre seien die erfolgreichsten und kreativsten in der akademischen Karriere von
Carl Rogers.161 Er selbst kommt zu einer ähnlichen Einschätzung – „Chicago brachte mir
bedeutende Erfahrungen“162- wenn auch mit einer überraschenden Begründung: „Endlich wurde dies eine Periode wesentlichen Lernens in meinem persönlichen Leben. (…) Jetzt lernte ich, was
es bedeutet, an einem Tag eine erschreckende Woge neuer Einsichten zu verspüren, nur um am folgenden in
einer Welle der Verzweiflung alles zu verlieren.“163
Rogers bezieht sich hier eine „verpfuschte therapeutische Beziehung“164zu einem schwer
schizophrenen Mädchen, die ihn in eine tiefe innere Krise trieb. „Es ist eine lange Geschichte; ich war so fest entschlossen, dem Mädchen zu helfen, dass ich an den Punkt kam,
wo ich mein „Selbst“ nicht mehr von dem ihren trennen konnte. Ich verlor mein „Selbst“ im wahrsten Sinne des
Wortes. Die Bemühungen meiner Kollegen, mir zu helfen, blieben ohne Erfolg, und ich kam zu der
Überzeugung (vermutlich nicht ganz ohne Grund), dass ich wahnsinnig wurde.“165
Rogers wurde offenbar zunehmend Opfer seines eigenen nicht-direktiven Anspruches:166 Ein
nicht-direktive Berater muss jederzeit in der Lage sein, einer Klientin durch bedingungslose
positive Wertschätzung und verständnisvolle Zuwendung ein Beziehungsangebot zu machen,
das ihr ermöglicht, zunehmend selbständig und selbstverantwortlich handeln zu können.
� Was aber passiert, wenn die Klientin keinen Gebrauch von diesem Angebot macht, die
Freiheit der Wahl und der Selbstbestimmung nicht in Anspruch genommen wird?
� Was ist, wenn der Berater daraufhin zunehmend Ablehnungsgefühle, Mistrauen und
Zweifel in sich spürt; damit in Widerspruch zum Gebot der bedingungslosen
Akzeptanz gerät?
������������������������������������������������������������158 Vergl. Groddeck, S.92�159 Rogers in: GwG, S.18 �160 ebenda�161 Vergl. ebenda, S.89ff�162 Rogers in: GwG S.18�163 Ebenda, S.19 �164 Ebenda�165 Ebenda, S.31�166 Vergl. Groddeck, S.98ff �
��
34
Rogers hatte erhebliche Schwierigkeiten, sich diese negativen Gefühle einzugestehen,
geschweige denn, sie gegenüber der Klientin auszudrücken; passten sie doch nicht so recht in
sein Bild von einem wertschätzenden Berater. „Carl, der perfekte Zuhörer, konnte sich in
diesem Fall nicht „richtig“ abgrenzen.“167 Rogers fühlte sich zunehmend ausgelaugt und
benutzt.168 Er geriet zusehends in Panik und sagte schließlich zu seiner Frau Helen: „Ich muss
hier raus! Ich muss weg, weit weg!“169 Nach einem längeren Urlaub mit ihr „ging ich zu
einem Kollegen in die Therapie, was mir sehr half.“170 Dort arbeitete er an seinen
Kindheitserlebnissen und seiner tiefen Verletzbarkeit. „Hinzu kam die spezielle Problematik von Überforderung, Wertlosigkeit und Einsamkeitsgefühlen, die Rogers
als Mensch in seinem Leben erfahren und erlitten hatte, und seine Unfähigkeit, diese negativen Gefühle zu
kommunizieren.“171
Damit war Rogers in die Wirklichkeit der anderen Person der therapeutischen Beziehung
gelangt. Jetzt war er gleichsam der Mittelpunkt der therapeutischen Beziehung. Jetzt machte
er in erster Linie Erfahrungen über sich und mit sich selbst. „Ich erfuhr, dass ich nicht nur Klienten, Mitarbeitern und Studenten vertrauen kann, sondern auch mir selbst.
Langsam kam ich dahin, den Gefühlen, den Ideen, den Tendenzen zu trauen, die fortwährend in mir aufstiegen.
Dies war nicht leicht zu erlernen, aber höchst wertvoll, und es dauerte an. Ich spürte, wie ich freier wurde,
echter, tiefer verstehend, nicht nur in Beziehung zu meinen Klienten, sondern auch zu anderen Menschen.“172
Womöglich spielt diese persönliche Krisen- und Therapieerfahrung eine wesentliche Rolle,
wenn es um die veränderte Gewichtung einzelner therapeutischer Elemente geht:173 Verhielt
sich der Berater in der nicht-direktiven Phase eher passiv-zurückhaltend mit geringeren
„verbalinhaltlichen Anteilen“174 – und beschränkt sich eher auf die „kognitive Klärung und
������������������������������������������������������������167 Ebenda, S.99�168 Ebenda�169 Rogers 1984a,S.31�170 Ebenda, S.32 Rogers teilt hier zum Thema „Zusammenleben von Paaren und Ehepaaren“ eigene sehr persönliche Erfahrungen aus seinem Eheleben mit Helen mit und resümiert: „Jeder von uns hat dem anderen in kummervollen oder qualvollen Zeiten zur Seite gestanden.“ �171 Groddeck, S.99�172 Rogers in: GwG, S.19�173 So resümiert Rogers in „Client-Centered Therapy“ über die nicht-direktive Phase und seinen neuen eigenen Erfahrungen: „Ich habe schon früher die Anwendung von nicht-direktiven Techniken gesehen – nicht bei mir selbst. Damals waren die Techniken die dominierenden Faktoren, und ich war mit den Resultaten nicht immer zufrieden. Ein Ergebnis meiner eigenen Erfahrung als Klient ist die Überzeugung, dass die vollkommene Akzeptierung des Beraters, der Ausdruck seiner Einstellung, dem Klienten wirklich helfen zu wollen, und seine seelische Wärme, wie sie durch seine aufrichtige Hingabe an den Klienten in vollkommener Zusammenarbeit mit allem, was der Klient tut oder sagt, ausgedrückt wird, grundlegend sind für diese Art von Therapie.“ (S.49) �174 Alterhoff, S. 126: „Während sich Einfühlendes Verstehen“ inhaltlich im Wahrnehmen und Kommunizieren der Gefühle des Klienten durch den Helfer und Echtheit im Erkennen und Mitteilen der eigenen Gefühle des Beraters ausdrückt, bezieht sich Emotionale Wärme und Wertschätzung mehr auf die nichtsprachlichen Anteile des Beraterverhaltens.“ �
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Einsicht in die Problemlage des Klienten“175 - so erhält in der klientenzentrierten Phase die
selbstexplorative Auseinandersetzung des Klienten mit seiner Gefühlswelt eine immer
größere Bedeutung.176 Sie wird unterstützt durch einen Therapeuten, dessen Bemühen sich
darin gründet, diesen Prozess gleichsam „mitfühlend“ zu unterstützen und zu begleiten. „In dieser Phase (…) entwickelte sich das Therapeuten-Verhalten von einem anfänglich reinen Reflektieren der
offensichtlichsten wichtigen Gefühle hin zu einem umfangreicheren und subtileren Einfühlen in die Gefühls- und
Erlebniswelt des Klienten.“177
Das Konzept des Selbst tritt stärker in den Blick therapeutischer und theoretischer
Betrachtung.
3.2.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
Das 1951 erschienene Erfolgsbuch „Client-Centered Therapy“ kennzeichnet mit seinem
Namen die zweite Phase. Es gilt als qualitative Ergänzung und Erweiterung der Ansichten,
die Rogers in „Counseling and Psychotherapy“ ausgeführt hat.178 Anders als im ersten, erhält
dieser Band schon in seiner Einleitung eine gleichsam erkenntnistheoretische Note: Die
wahre, die echte und wirkliche Bedeutung eines Wortes lasse sich nie in Worten ausdrücken.
„Ich würde sofort auf alle Worte verzichten, wenn ich die Erfahrung, die Therapie ist, auf irgendeine Weise
zeigen könnte. Therapie ist ein Prozess, ein Ding an sich, eine Erfahrung, eine Beziehung, eine wirksame Kraft.
Therapie ist weder das, was dieses Buch, noch was irgendein anderes Buch über sie sagt, ebenso wenig wie eine
Blume die Beschreibung ist, die der Botaniker von ihr gibt. Wenn dieses Buch als Wegweiser zu einer Erfahrung
für unsere Sinne dient und bei einigen das Interesse weckt, dieses Ding an sich tiefer zu erforschen, dann hat es
seinen Zweck erfüllt.“179
Zweck dieses Buches ist es, einen Anreiz zu geben eigene sinnliche Erfahrungen zu machen –
offenbar eine Kategorie, die mit Worten und Begriffen alleine schwer zu erfassen ist. Diese
neue Form der Erfahrung kann nicht einfach gelernt werden. Somit darf das Buch nicht als
Anleitung oder Lehrbuch missverstanden werden. „Und wenn es aufs äußerste erniedrigt und zum Lehrstoff wird, wenn es in Form von toten Worten in die
Gehirne passiver Studenten eingetrichtert wird, die als lebendige Individuen die toten und sezierten Teile von
etwas mit sich herumtragen, das einmal lebendige Gedanken und Erfahrungen war, ohne sich auch nur bewusst ������������������������������������������������������������175 Pavel in: GwG, S.29�176 Vergl. ebenda�177 Ebenda�178 Vergl. Rogers 2009b, S.15�179 Ebenda; zur Thematik des „Zeigens“ als pädagogische Kategorie vergl. Prange �
��
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zu sein, dass all dies einmal erlebt worden ist – dann wäre es wahrhaft besser, dieses Buch wäre nie geschrieben
worden. Therapie gehört zum Wesen des Lebens, und so muss sie verstanden werden. Nur die überaus
unzureichende Fähigkeit des Menschen zur Kommunikation macht das Risiko erforderlich, das in dem Versuch
liegt, diese lebendige Erfahrung in Worte zu fassen.“180
Dieser sehr offene Ansatz lässt vermuten, auf was es Carl Rogers ankommt: Im Sinne seines
gleichsam nicht-direktiven Denkens will er kein Lehrmeister sein. Menschen sollen ihre
eigenen Erfahrungen machen und nicht vergessen, dass das bereits Gedachte selbst Ergebnis
von gelebten Leben ist. Damit wird implizit von einem Menschenbild ausgegangen, das den
Menschen in der Lage sieht, seine erlebten und gelebten Erfahrungen für sich konstruktiv zu
nutzten, ohne dass er generell darauf angewiesen ist, von anderen mittgeteilt zu bekommen,
was für ihn „gut“ und „richtig“ sei. Dieser Ansatz ist nicht neu bei Rogers; und steht zudem -
wir erinnern uns - in Kongruenz zu seinem eigenen nicht-autoritären Verhalten im
universitären Umfeld: Man muss Vertrauen haben zu seinen Mitmenschen und ihnen Räume
schaffen. Dann werden zunehmend Verantwortung übernehmen - für sich und für andere.
In „Client-Centered-Therapy“ entwickelte Rogers erstmalig eine „Theorie der Persönlichkeit
und des Verhaltens“181 – umrissen in Form von 19 Thesen – über die er in seinem Sinne
konsequenterweise sagt, sie sei etwas Vorläufiges - nichts Endgültiges. „Es geht um das Gefühl der Unbestimmtheit und Vorläufigkeit, mit dem wir diese Theorien vorbringen in der
Hoffnung, dass sie hier oder dort einen Funken entzünden, der dazu beiträgt, das ganze Gebiet besser zu erhellen
und deutlicher sichtbar zu machen.“182
Schlüsselbegriff seiner Persönlichkeitstheorie ist das sogenannte Selbstkonzept183 Die Struktur
des Selbst formt sich aus dem Erlebnis der individuellen Auseinandersetzung des
Individuums mit seiner Umwelt. Diese Umwelt ist gewissermaßen das „Erscheinungs- oder
Erfahrungsfeld“ (These I) des Individuums. Es reagiert auf dieses Erfahrungsfeld, je nachdem
wie es erfahren und wahrgenommen wird. Es ist sozusagen die subjektive „Realität“ des
Individuums (These II).184 Organische und psychische Bedürfnisse sind gleichsam
Teilaspekte des gesamten Organismus und streben danach sich selbst zu aktualisieren und zu
������������������������������������������������������������180 Ebenda, S.15/16 ich habe diese Sätze ausführlich zitiert, weil sie m.E. auch für die heutige Situation an Wahrheit nichts eingebüßt hat und zudem aufzeigt, dass die Theorie von Rogers nicht zur bloßen Methode oder gar Technik reduziert werden sollte. �181 Rogers 2009b, S.417�182 Ebenda, S.17�183 Vergl Pavel in: GwG, S.30f, auf den ich mich in dieser Darstellung im Wesentlichen beziehe. �184 Hierzu Rogers 2009b, S.419: „Ich reagiere nicht auf irgendeine absolute Realität, sondern auf meine Wahrnehmung dieser Realität. Diese Wahrnehmung ist meine Realität.“�
��
37
erhalten (These IV). „Verhalten ist grundsätzlich der zielgerichtete Versuch des Organismus,
seine Bedürfnisse, wie sie in dem wahrgenommenen Feld erfahren werden, zu
befriedigen“185(These V). Dieses zielgerichtete Verhalten wird begleitet und gefördert durch
Emotionen (These VI). Das Selbstkonzept wird weiter bestimmt sein durch unterschiedliche,
womöglich sich widersprechende Erfahrungen, die die ergeben können aus der Differenz von
momentanen Erlebnissen zu angestrebten Zielen und Werten (Idealkonzept). Diese Werte und
Ziele können von anderen introjiziert oder übernommen, aber auch in so verzerrter Form
wahrgenommen werden, als wären sie direkt übernommen worden (These X) Das Individuum
versucht, neue Erfahrungen mit seinem Selbstkonzept in Einklang zu bringen. Jede neue
Erfahrung aber, die mit dem Selbstkonzept nicht zu vereinbaren scheint, wird verzerrt
wahrgenommen oder schlichtweg ignoriert (These XI). Ansonsten wird sie als Angst
auslösende Bedrohung wahrgenommen, was zu potentiellen psychischen Spannungen führt
(These XIV). Das Individuum beginnt somit, scheinbar nicht zu integrierende Erfahrungen
gleichsam abzuwehren, sein Selbstkonzept wird immer starrer (These XVI). „Das Individuum kann nicht mehr in freier und angemessener Weise auf wichtige eigene Erfahrungen reagieren,
es entsteht Verhaltensunsicherheit und Angst, sowie das Gefühl, die eigene Erlebnis- und Handlungsweise nicht
mehr zu verstehen.“186
Es geht daher darum, Bedingungen zu schaffen, „zu denen in erster Linie ein völliges Fehlen
jedweder Bedrohung für die Selbst-Struktur gehört“187, die es dem Individuum ermöglicht,
neue Erfahrungen in ein gleichsam flexibleres Konzept zu assimilieren und zu integrieren
(These XVII). Gelingt dieser Schritt, wird das Individuum zudem verständnisvoller und
akzeptierender im Umgang mit anderen sein (These XVIII) und zunehmend in der Lage sein,
sein übernommenes Wertesystem - „das weitgehend auf verzerrt symbolisierten
Introjektionen beruhte“188 - durch ein flexiblen, permanent zu aktualisierenden
„Wertungsprozess“ zu ersetzen (These XIX).
Entscheidend ist somit – wir kennen das schon aus der nicht-direktiven Phase – die
Entwicklung eines möglichst sicheren und akzeptierenden Klimas, das es dem Klienten
erlaubt, sein starres und teils blind übernommenes Selbstkonzept in Frage zu stellen und in
Kongruenz mit sich zu gelangen.189
������������������������������������������������������������185 Ebenda, S. 424�186 Pavel in: GwG, S. 30�187 Rogers 2009b, S.445�188 Ebenda, S.449�189 Daher betonen einige Autoren an dieser Stelle nicht das Selbst, sondern die Kongruenz oder Inkongruenz (Finke 2004, S.15); andere wiederum die Aktualisierungstendenz (Alterhoff, S.44) als wesentliches Element in der Persönlichkeitstheorie von Rogers. �
��
38
„Alle Äußerungen des Therapeuten sollten daher frei sein von Interpretationen, die das Selbstkonzept bedrohen
könnten und damit Angst und Verteidigungshaltung auslösen können. Er sollte sich vielmehr einfühlen in die
Erlebniswelt des Klienten und versuchen, dessen Gefühle möglichst so genau zu verbalisieren, als ob er sie
selbst erleben würde.“190 Damit kommen wir zur zweiten notwendigen Haltung in der Beratung.
3.2.3. Empathie oder Einfühlendes Verstehen
In „Client-Centered Therapy“ verlässt Rogers das aus der nicht-direktiven Phase bekannte
Konzept der Einsicht und entwickelt das Konzept der Einfühlung.191 Es sei zu
„intellektualistisch“, wenn die Aufgabe des Beraters primär darin bestünde, den Klienten
darin zu unterstützen, seine Gefühle zu klären und zu objektivieren.192 Rogers spricht von
einem „feinen Unterschied zwischen einer erklärenden und einer einfühlenden Einstellung
von seiten des Beraters“193 und verweist selbstkritisch auf den bereits erwähnten Fall Herbert
Bryan, wo noch „letzte Reste direktiven Verhaltens“ allzu deutlich spürbar und erkennbar
waren.194 Dieses Intellektualisieren „kann dann bedeuten, dass nur der Berater weiß, welche
Gefühle der Klient hat.“195 „Wenn wir Verständnis dafür aufbringen können, wie der Klient sich in diesem Augenblick selbst sieht, dann
kann der Klient alles Übrige allein erledigen. Der Therapeut muss aufhören, sich mit der Diagnose zu
beschäftigen, er muss seinen diagnostischen Scharfsinn ruhen lassen und den Wunsch aufgeben, professionelle
Wertbestimmung vorzunehmen; er muss aufhören, genaue Prognosen stellen zu wollen, und der Versuchung
widerstehen, das Individuum insgeheim zu lenken; er darf sich nur auf ein Ziel konzentrieren: Zu tiefen
Verstehen und zur Akzeptierung der Einstellungen zu gelangen, die der Klient in dem Augenblick bewusst
einnimmt, in dem er Schritt für Schritt in das gefährliche Gebiet eindringt, dass er bislang seinem Bewusstsein
gegenüber geleugnet hat.“196
Womöglich mögen Rogers´ eigene Erfahrungen als Klient mit dazu beigetragen haben, sich
noch konsequenter auf die innere subjektive Erlebniswelt des Klienten zu beziehen, die damit
den Ausgangspunkt des beraterischen Handelns markiert: Der Berater muss ein unmittelbares
Gespür für die innere Welt des Klienten entwickeln. Er schlüpft gleichsam in die Haut des ������������������������������������������������������������190 Pavel in: GwG, S.30f�191 Vergl. Stipsits et al, S. 38 – Alterhoff weist auf ein weiteren Unterschied zur ersten Phase hin: „Als Rogers erstmals sein therapeutisches Konzept umfassend beschrieben und veröffentlich hat (1942), wählte er die Bezeichnung „reflecting of feeling“, die dann zu dem Missverständnis geführt hat, dass es sich um eine Technik des bloßen Wiederholens gefühlsbezogener Klientenäußerungen handle. Die Bezeichnung wie „Spiegelnde Methode“ oder „Reflektieren von Gefühlen“ sind auf Rogers´ ursprüngliche Bezeichnung zurückzuführen.“ (S.84)�192 Vergl. Rogers 2009b, S.40f�193 Ebenda S.41�194 Ebenda S.43�195 Ebenda S.41�196 Ebenda S.43�
��
39
Klienten, geht gewissermaßen in seinen Schuhen einige Schritte in seiner Erlebniswelt;197 und
nimmt damit an seiner „inneren Welt komplexer Sinngehalte“ teil.198 „Unter optimalen Umständen ist der Therapeut so sehr in der privaten Welt des anderen drinnen, dass er oder sie
nicht nur die Bedeutung klären kann, deren sich der Patient bewusst ist, sondern auch jene knapp unterhalb der
Bewusstseinsschwelle. Diese Art des sensiblen, aktiven Zuhörens ist äußerst selten in unserem Leben. (…)
Dennoch ist diese ganz besondere Art des Zuhörens eine der mächtigsten Kräfte der Veränderung, die ich
kenne.“ 199
Empathie ist für Rogers keine Technik, die man mechanisch anwenden könnte. Sie ist
gleichsam ein „Zustand einer Person, die das innere Bezugssystem eines anderen mit allen
emotionalen Komponenten und Bedeutungen genau wahrnehmen kann, als ob sie der andere
wäre, ohne aber diese „Als-ob-Qualität“ aufzugeben.“200 „Das bedeutet, Schmerz oder Freude des anderen zu empfinden, gerade so wie er empfindet, dessen Gründe
wahrzunehmen, so wie er sie wahrnimmt, jedoch ohne jemals das Bewusstsein davon zu verlieren, dass es so ist,
als ob man verletzt würde usw. Verliert man diese „als ob“- Position, befindet man sich im Zustand der
Identifizierung.“201
In „Client-Centered Therapy“ hat Rogers Einstellung und Prozess des Einfühlenden
Verstehens aus der Sicht eines Beraters sehr prägnant beschrieben: „Um Ihnen behilflich zu sein, stelle ich mich selbst – das Selbst der gewöhnlichen Interaktion – beiseite und
dringe so vollständig wie möglich in Ihre Wahrnehmungswelt ein. Ich werde in gewisser Weise ein zweites
selbst für Sie – ein alter ego Ihrer eigenen Einstellungen und Gefühle – eine ungefährliche Gelegenheit für Sie,
sich selbst wahrer und tiefer zu erfahren und signifikanter zu wählen.“202
Aus den schon benannten Thesen der Persönlichkeitstheorie lässt sich daraus folgender
idealisierter Entwicklungsprozess für den Klienten ableiten:
Der Klient fühlt sich auch in seiner inneren Welt beachtet, lernt „sich selber besser verstehen
und kann mehr von seinem aktuellem Erleben, das in ihm leibhaft (at a gut level) abläuft, in
seinem Bewusstsein zulassen. (…) Die Erfahrung, von jemandem verstanden zu werden, ist in
sich selbst ein machtvoller, die Entwicklung fördernder Faktor.“203 Der Klient kommt in einen
inneren Kontakt mit seinem Selbst. Er kann sich mit seinen Erfahrungen und mit seinem
������������������������������������������������������������197 Tausch S. 33�198 Vergl. Rogers 2007a, S. 23ff�199 Rogers 2007b, S.68�200 Alterhoff, S.84; vergl. auch Rogers 2007a, S.23 �201 Rogers 2009, S.44 – Finke 2004, weist auf den Unterschied von Einfühlen und Einsfühlen hin: „Beim Einsfühlen kommt es zu einer Gefühlsansteckung, zu einer Stimmungsübertragung, also gewissermaßen zu einer Art emotionaler Verschmelzung zwischen Therapeut und Patient.“ (S.29) �202 Rogers 2009b, S.47�203 Rogers 2007 a, S.24�
��
40
Fühlen zunehmend freier und ohne Angst auseinandersetzen. Anfänglich als bedrohlich
empfundene Erfahrungen können jetzt immer mehr zugelassen werden. Diese eigene aktive
Auseinandersetzung mit der inneren Welt bewirkt zudem eine Änderung der aktuellen
Wahrnehmungen. Zunehmend fühlt der Klient sich in der Lage, eigene Probleme lösen zu
können. Diese Erfahrung führt schließlich zu mehr Kongruenz mit seinem Selbst.204 „Diese Selbstexploration des Klienten wird durch das einfühlende Verstehen des Helfers gefördert ohne
bedeutsame Lenkung, ohne Ratschläge, Empfehlungen, Direktiven.“205
Abschließend soll an dieser Stelle auf den Aspekt der notwendigen „professionellen Distanz“
kurz eingegangen werden. Finke weist explizit auf diesen Punkt hin: „Um die „innere Welt“ des Patienten wirklich ausloten zu können, muss sich der Therapeut vom Erleben des
Patienten auch tangieren lassen, muss er ein Stück weit auch eine Gefühlsansteckung zulassen können, darf er
nicht jedes Verschmelzungserleben schon im Ansatz abwehren. Dass der Therapeut sich dabei nicht vom
Erleben des Patienten überfluten lassen darf, dass er immer wieder dann auch Distanz zu einem eigenen Erleben
finden muss, ergibt sich schon aus der Aufgabe der Einfühlung selber, macht aber auch ihre Schwierigkeit
aus.“206
Leicht lässt sich erahnen, wie schwierig es in jedem einzelnen Fall sein kann, ständig die
nötige Balance von Nähe und Distanz zu halten. Es setzt meines Erachtens einen hohen Grad
an permanenter Selbstreflexion seitens des Beraters voraus. Ansonsten führt die Haltung des
einfühlenden Verstehens womöglich zu einem Prozess des von Rogers oben erwähnten
Identifizierens.
3.2.4. Fallgeschichte: Der Fall Miss Tir
Im Zusammenhang von Übertragungs-Einstellungen stellt Rogers in „Client-Centered
Therapy“ den Fall Miss Tir vor. Miss Tir ist „in den Dreißigern“, alleinstehend und so tief
gestört, „dass sie in den Begriffen einer äußeren Wertung wahrscheinlich als psychotisch
bezeichnet worden wäre.“207 Der folgende Ausschnitt zeigt meines Erachtens anschaulich,
wie „einfühlendes Verstehen“ in der therapeutischen Praxis Ausdruck finden kann.
„Zwölftes Interview
K: (minutenlanges Schweigen. Beginnt dann mit monotoner Stimme, die ganz anders ist als sonst, zu sprechen.
Sieht den Berater nicht an. Vieles wurde wiederholt, aber der folgende Abschnitt gibt die wichtigsten Gedanken
������������������������������������������������������������204 Vergl. Tausch, S.43�205 ebenda�206 Finke 1994, S.61f�207 Rogers 2009b, S.198�
��
41
wieder) Sie meinen, ich käme gern, aber das stimmt nicht. Ich komme nicht mehr wieder. Es nutzt nichts. Ich
mag sie nicht. Ich hasse Sie. Ich wünsche, Sie wären nie geboren worden.
B: Sie hassen mich eben sehr.
K: Ich glaube, ich werfe Sie in den See. Ich werde Sie zerstückeln! Sie meinen, Leute wie Sie…aber das stimmt
nicht. Sie meinen, Sie wirken auf Frauen anziehend, aber das ist nicht wahr…Ich wünsche, Sie wären tot.
B: Sie verabscheuen mich und würden mich gern loswerden.
K: Sie, glauben, mein Vater habe üble Sachen mit mir gemacht, aber das hat er nicht getan! Sie meinen, er sei
ein schlechter Mensch gewesen, aber das war er nicht. Sie meinen, ich wollte Geschlechtsverkehr, aber das will
ich nicht!
B: Sie haben das Gefühl, dass ich ihre Gedanken vollkommen falsch interpretiere.
K: …Sie glauben, Sie können die Leute dazu bringen, dass sie zu Ihnen kommen und Ihnen alles erzählen und
dass sie denken, es würde ihnen geholfen, aber geholfen wird ihnen nicht! Es macht Ihnen einfach nur Spaß, sie
leiden zu lassen. Sie meinen, Sie können sie hypnotisieren, aber das können Sie nicht! Sie meinen, Sie wären
gut, aber das sind Sie nicht! Ich hasse Sie, ich hasse Sie, ich hasse Sie!
B: Sie haben das Gefühl, dass ich sie leiden lasse, dass ich Ihnen aber nicht helfe.
K: Sie glauben, ich würde nicht die Wahrheit sagen, aber ich habe es getan. Ich hasse Sie! Ich habe nur gelitten,
nichts als gelitten. Sie glauben, ich kann mein eigenes Leben nicht leiten, aber ich kann es. Sie glauben, ich kann
mich nicht wieder erholen, aber ich kann es. Sie glauben, ich hätte Halluzinationen gehabt, aber das stimmt
nicht. Ich hasse Sie. (Lange Pause. Stützt sich erschöpft auf den Schreibtisch) Sie glauben ich sei verrückt, aber
das bin ich nicht.
B: Sie sind überzeugt, dass ich glaube, Sie seien verrückt.
K: (Pause) Ich bin gefesselt, und ich kann einfach nicht loskommen! (Stimme klingt verzweifelt. Tränen) Ich
hatte eine Halluzination und ich muss sie loswerden! (Spricht weiter über ihre tiefen Konflikte und erzählt von
der Halluzination. Ihre Stimme klingt sehr angespannt, aber ihre Einstellung ist ganz anders als zu Beginn des
Interviews)208
In seiner Anmerkung weißt Rogers darauf hin, dass es unmöglich sei „den Hass und die
Verachtung in der Stimme der Klientin auf dem Papier mitzuteilen.“ Es sei auch unmöglich
einen Eindruck von der „Tiefe der Einfühlung“ zu vermitteln, die in den Antworten des
Therapeuten liegen. „Geschrieben wirken seine Worte unglaublich blass, aber in der Situation
waren sie voll von dem gleichen Gefühl, das die Klientin so kalt und tief ausdrückt.“209
Es lässt sich meines Erachtens dennoch gut erahnen, was Rogers mit diesem Hinweis meint:
Der Therapeut ist ganz im Gefühl der Klientin - er nimmt nur sie wahr - er reagiert nur auf das
Gefühl – er geht nur am Rande auf die Inhalte ein – er vermeidet damit jeglichen
intellektuellen „Schlagabtausch“, der dem entstehenden Prozess der Katharsis mit Sicherheit
abträglich gewesen wäre. In diesem einfühlsamen Klima fühlt die Klientin sich akzeptiert und
angenommen und ist dadurch in der Lage, selber tiefer über ihre Konflikte zu forschen.- Ein ������������������������������������������������������������208 Ebenda, S.199f �209 Ebenda�
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42
wie ich finde sehr anschauliches Bespiel für den Prozess der Selbstexploration; unterstützt
durch einen offenbar sehr einfühlsamen Berater.210
3.2.5. Zusammenfassung der klientenzentrierten Phase
In der zweiten Phase entwickelt sich Rogers Theorie weg von der Konzeption der Einsicht hin
zum Konzept der Einfühlung. Eigene Erfahrungen als Klient tragen dazu bei, das aktuelle
Gefühlserleben und die innere Welt des Klienten noch stärker in den Mittelpunkt der
therapeutischen Betrachtung zu stellen. Der Berater hat hierbei die Aufgabe, den Klienten in
seiner selbstexplorativen Auseinandersetzung mit seiner Gefühlswelt durch einfühlendes
Verstehen gleichsam als das alter ego zu begleiten. Erkenntnistheoretische Grundlage dieses
Prozesses ist das Selbstkonzept. Danach ist jedes Individuum bestrebt, seine organischen und
psychischen Bedürfnisse mit dem subjektiven Erfahrungsfeld abzugleichen und zu
aktualisieren. Durch potentielle Differenzen von aktueller Wahrnehmung und eines teilweise
übernommenen Idealkonzepts können psychische Spannungen erwachsen. In diesem
angstauslösenden Zustand werden scheinbar nicht zu integrierende Erfahrungen gleichsam
abgewehrt, um das immer starrer werdende Selbstkonzept nicht zu gefährden. In einem Klima
von Akzeptanz und Verständnis wird es dem Individuum zunehmend möglich, bisher nicht
wahrgenommene Gefühle zu erfahren und anzunehmen. Dieser Prozess führt zu mehr
Kongruenz im Selbstkonzept.
3.3. Die personenzentrierte Phase
3.3.1. Erfahrungen und Lernerlebnisse
Im Jahre 1957 wechselt Carl Rogers an die Universität in Wisconsin. Er glaubt, „dort die
Möglichkeit zu haben, sowohl in der psychologischen Abteilung wie auch in der
psychiatrischen Abteilung zu arbeiten.“211 Vier Jahre später erscheint sein drittes bekannteres
Buch „On Becoming a Person“. Der Inhalt des ersten Kapitels besteht aus persönlichen
Erfahrungen und viel „Biographischem“ zum Thema: „Das bin ich“.212
������������������������������������������������������������210 Ich möchte zumindest in dieser Anmerkung das Ende dieses Interviews festhalten, weil es ganz konkret aufzeigt, was Rogers unter „Entwicklung zu mehr Kongruenz“ meint: „K: Ich war mir darüber klar, dass ich dass irgendwo loswerden musste. Ich hatte das Gefühl, ich könnte zu Ihnen kommen und es Ihnen sagen. Ich wusste, dass sie es verstehen würden. Ich konnte nicht sagen, dass ich mich selbst hasse. Das ist wahr, aber ich konnte es nicht sagen. Deshalb habe ich mir all die hässlichen Dinge ausgedacht, die ich stattdessen zu Ihnen gesagt habe. B: Die Dinge, die Sie zu sich selbst sagen wollten, aber nicht konnten, und die Sie dann zu mir sagen konnten. K: Ich weiß, dass wir auf felsigen Grund kommen… (S.200)�211 Groddeck, S.125�212 Vergl. Rogers 2009a, S.19ff�
��
43
„Carl, der zurückhaltende und scheue Mensch, der perfekte klienten-zentrierte Zuhörer, beginnt in diesem
Lebensabschnitt (…) den Focus auf seine eigenen Erfahrungen zu legen und die Kommunikation mit anderen
Menschen dadurch zu suchen, indem er von sich spricht. (…) Er erlaubt sich, von sich selber zu sprechen und
lädt den Leser ein, an seinen Erfahrungen teilzuhaben bzw. angeregt von seinen Erfahrungen über die eigenen
Lebenserfahrungen nachzudenken. “213
Diese selbstreflektierende und autobiographische Schreibweise ist in diesem Maß neu für ihn.
Er betritt hierdurch eine „neue Dimension als Autor.“214 Rogers erörtert in diesem Buch zwölf
eigene „wichtige Lernerfahrungen“, deren erste und „wichtigste“ sich sogleich mit der
Thematik Kongruenz befasst: „In meinen Beziehungen zum Menschen habe ich herausgefunden, dass es auf lange Sicht nicht hilft, so zu tun,
als wäre ich jemand, der ich nicht bin. Es hilft nicht, ruhig und freundlich zu sein, wenn ich eigentlich ärgerlich
bin und bedenken habe.“215 Und ergänzend hierzu formuliert er Lernerfahrung Nummer zwei: „Mir scheint, ich erreiche mehr, wenn ich mir selbst zustimmend zuhören kann, wenn ich ganz ich selbst sein
kann.“216
Dieses „Man-Selbst-Sein“, erleichtere es, lebendige und bedeutungsvolle Beziehungen
einzugehen.217
Rogers hat zu dieser Zeit an der Universität erhebliche Schwierigkeit im Kollegenkreis.
Aufgrund seiner nicht-autoritären Arbeitsweise hatte er einer großen Arbeitsgruppe „Autorität
und Verantwortung der Gruppe“218 übergeben. Die Gruppe war aber noch nicht so weit. Denn
es fehlte das dafür notwendige Klima offener und interpersonaler Kommunikation. Es kam zu
Krisen. Rogers reagierte mit der Zurücknahme seiner Maßnahmen. „Rebellion und Chaos war
verständlicherweise das Ergebnis.“219 „Das war eine der schmerzlichsten Lehren, die ich jemals empfangen habe; eine Lehre, wie man
partnerschaftliche Leitung eines Unternehmens nicht handhaben sollte.“220
Diese Krise führt schließlich neben anderen Schwierigkeiten und Streitigkeiten dazu, dass er
1964 nach La Jolla, Kalifornien geht. Hier an einem privaten Forschungsinstitut macht er
„viel günstigere Erfahrungen“221 Eine „Gruppe Gleichgesinnter“222 hatte sich zu sehr
������������������������������������������������������������213�Groddeck,��S.137f�214�Ebenda,�S.138�215�Rogers�2009a,�S.32�(Hervorh.�im�Original)��216�Ebenda,�S�33�217�Vergl.�ebenda�218�Rogers�in:�GwG,�S.19��219�Rogers�2005,�S.�194�220�Rogers�in:�GwG,�S.19f�221�Ebenda,�S.20�
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44
unterschiedlichen Forschungsvorhaben auf der Basis vermehrter Gruppenarbeit
zusammengeschlossen. Rogers ist von diesem lockeren Zusammenschluss (jeder ist finanziell
für sich allein verantwortlich), aber dennoch engen Form der Zusammenarbeit (intensive
gegenseitige Unterstützung) beeindruckt:223 „Es gibt nichts, was uns zusammenhält – außer unserem gemeinsamen Engagement für Würde und Potential der
Menschen und außer der bleibenden Gelegenheit zu tiefer und echter Kommunikation miteinander. Für mich ist
es ein großartiges Experiment, eine lebendige Gruppe (wirklich eine „Nicht-Organisation“), die gänzlich auf die
Kraft zwischenmenschlichen Teilhabens baut.“224
Rogers beginnt seine Erkenntnisse aus der Einzeltherapie auf die Arbeit mit Gruppen zu
übertragen und dabei die Interaktion der Gruppenmitglieder – der Begegnung - untereinander
intensiver zu erforschen.225 Es kommt in dieser Zeit vermehrt zur Gründung sogenannter
Encounter-Gruppen, die sich aus Menschen aller gesellschaftlichen Gruppierungen
zusammensetzen; damit nicht notwendig dem therapeutischen oder beraterischen Umfeld
zuzuordnen sind. „In einer solchen Gruppe lernt das Individuum sich selbst und jeden anderen umfassender kennen, als dies
gewöhnlich in der gesellschaftlichen Beziehung möglich wäre. Es lernt die anderen Mitglieder und sein eigenes,
inneres Selbst kennen, jenes Selbst, das meist hinter einer Fassade verborgen ist. Daher fällt es ihm innerhalb der
Gruppe und später im alltäglichen Situationen leichter, Beziehungen zu anderen herzustellen.“226
Die schnelle Verbreitung der Encounter-Gruppen ist nicht nur auf Rogers´ gleichsam „basis-
demokratischen“ Ansatz zurückzuführen, sondern hat auch mit den damaligen
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zu tun.227 In der in den 60er-Jahren vorhandenen
Aufbruchsstimmung war es gewissermaßen „in“, neue Formen des menschlichen Umgangs
auszuprobieren.228 Rogers - bekanntermaßen im menschlichen Umgang eher scheu, wenn der
therapeutische Raum fehlte - macht neue persönliche Erfahrungen durch die Leitung und
Teilnahme an diesen Gruppen. Er beginnt, sich auch außerhalb des therapeutischen Rahmens
zu „öffnen“ und beschließt, diese neuen Erfahrungen auch in eine „Theorie der Begegnung“
einfließen zu lassen.
������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������222�Rogers�2005,�S.194�223�Vergl.�ebenda�224�Rogers�in:�GwG,�S.20�225�Vergl.�Groddeck,�S.145ff�–�Rogers�selbst�verweist�auf�die�Anfänge,��sogenannte�T�Gruppen,�1947�durch�Kurt�Lewin�;�nennt�aber�auch�seine�Arbeit�mit�Gruppen��von�Kriegsopfern�in�dieser�Zeit�(vergl.�Rogers�1984,�S.8ff���226�Rogers�1984,�S.16�227�Vergl.�Groddeck,�S.143ff�228�Ich�will�an�dieser�Stelle�nicht�weiter�der�Frage�nachgehen,�inwieweit�eine�Gewisse�Form�von�„Schwärmerei“�nicht�auch�zu�einer�„Verwässerung“�der�Theorie�von�Rogers�beigetragen�hat.���
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45
3.3.2. Menschenbild und Persönlichkeitstheorie
Rogers benennt - neben seinen Erfahrungen mit Encounter-gruppen - „einen weiteren Einfluss
auf mein Lernen“229, der ihn veranlasst hat, seine grundlegenden Annahmen über das
menschliche Verhalten zu erweitern. In einem persönlichen Brief wurde er darauf
hingewiesen, dass sein „Denken und Handeln eine Art Brücke zwischen östlichem und
westlichen Denken zu sein scheine.“230 Dieser für ihn zunächst überraschende Gedanke
gründet sich auf gewissermaßen wesensverwandte Aussagen „zwei meiner liebsten
Denker“231: Martin Buber ( „In das Leben der Dinge eingreifen, bedeutet, ihnen wie sich
Schaden zuzufügen…Wer sich jemanden auferlegt, hat die geringe, sichtbare Macht; wer sich
nicht auferlegt, hat die große, verborgene Macht.“232) und Laotse, der in diesem Kontext von
Rogers ausführlich mit einem Spruch – „mir vielleicht der liebste“233 - zitiert wird: „Wenn ich vermeide, mich einzumischen, sorgen die Menschen für sich selber.
Wenn ich vermeide, Anweisungen zu geben, finden die Menschen selbst das rechte Verhalten.
Wenn ich vermeide, zu predigen, bessern die Menschen sich selber.
Wenn ich vermeide, sie zu beeinflussen werden die Menschen sie selbst.“234
Beide Zitate verweisen wieder auf zwei Kernelemente im Menschenbild von Carl Rogers, die
meines Erachtens für sein Gesamtwerk prägend sind: Ein aktives Eingreifen in die Belange
eines Anderen ist zu vermeiden, da schädigend. Denn der Mensch ist selbst am besten in der
Lage, für sich zu sorgen und zu seinem „Selbst“ zu gelangen.
Rogers befasst sich in dieser Zeit ausführlich mit existentialistischen Denkweisen. Und es ist
Sören Kierkegaard, dessen bekannte Forderung „das Selbst sein, das man in Wahrheit ist“, zur
Grundlage der Persönlichkeitstheorie von Rogers wird.235 Dabei geht es ihm nicht mehr
primär um die Betrachtung des therapeutischen Kontextes, sondern um „eine noch
weiterreichende Hypothese über alle zwischenmenschlichen Beziehungen“:236 „Es gibt allen Grund anzunehmen, dass die therapeutische Beziehung nur einen Fall zwischenmenschlicher
Beziehungen darstellt, und dass die gleiche Gesetzmäßigkeit alle sozialen Beziehungen regelt.“237
„(…) gleichgültig, ob ich von meiner Beziehung zum Klienten, zu einer Gruppe von Studenten oder Kollegen,
oder von meiner Beziehung zu meiner Familie oder meinen Kindern spreche.“238
������������������������������������������������������������229�Rogers�in:�GwG,�S.20�230�Rogers�2005,�S.195�231�Rogers�in�GwG,�S.21�232�Ebenda�233�Ebenda�234�Ebenda�S.21f����235�Vergl.�Stipsits�in:�Stipsits/Hutterer,�S.�11��236�Rogers�2009a,�S.�50�237�Ebenda�238�Ebenda,�S.52�
��
46
Rogers will „weg vom Eigentlich-sollte-ich, weg vom Erfüllen kultureller Erwartungen, weg
davon anderen zu gefallen.“239 Er will hin zu einer Persönlichkeit, die sich in der Begegnung
mit Anderen zu einem kongruenten Selbst entwickelt. Es ist wiederum Martin Buber, der mit
seinem Begegnungsansatz Rogers Denken entscheidend beeinflusst: Es reicht nicht, den
Einzelnen in seiner Existenz zu betrachten. Der Einzelne – das „Ich“ – definiert sich
grundsätzlich über den Anderen – dem „Du“ ( ich kann nur Ich sein, wenn es ein Du gibt“ ).
In der Begegnung mit anderen Menschen macht das Individuum in der Regel seine
Erfahrungen über sich selbst. Der Aspekt der Beziehung erfährt daher in der
personenzentrierten Phase eine besondere Bedeutung. Der Mensch soll und darf in der
Beziehung zum Anderen gleichsam ungeniert Mensch sein, um so mehr er Selbst zu werden
zu können.240 Diese Begegnung von Person zu Person ermöglicht die Entwicklung der
Persönlichkeit und wird in „On Becomming a Person“ abschließend wie folgt beschrieben: „Wenn ich eine Beziehung herstellen kann, die auf meiner Seite so charakterisiert ist:
Authentizität und Transparenz, ich zeige mich in meinen wirklichen Gefühlen;
Warmes Akzeptieren und Schätzen des anderen als eigenständiges Individuum;
Einfühlung, die Fähigkeit, den anderen und seine Welt mit seinen Augen zu sehen;
Dann wird der anderen in dieser Beziehung:
Aspekte seines Selbst, die er bislang unterdrückt hat, erfahren und verstehen;
Finden, dass er stärker integriert ist und eher in der Lage sein, effektiv zu agieren;
Dem Menschen, der er sein möchte, ähnlicher werden;
Mehr Selbständigkeit und Selbstbewusstsein zeigen;
Mehr Persönlichkeit werden, einzigartiger und fähiger zum Selbstausdruck;
Verständiger, annahmebereiter gegenüber anderen sein;
Angemessener und leichter mit den Problemen des Lebens fertig werden können.“241
Dieser nach Rogers auf fast alle Lebenslagen anwendbare Ansatz zeigt selbst in dieser sehr
allgemein gehaltenen Formulierung auf, dass die drei schon bekannten Haltungen die
entscheidenden Voraussetzungen sind, um den oben beschriebenen Prozess initiieren zu
können. Für den speziellen Rahmen der Therapie und Beratung ergibt sich hieraus
folgerichtig als erstes die Forderung an den Berater: „Lerne Menschsein, und behindere dabei
nicht andere, Mensch zu sein!“242 Neben dem Aspekt des Nicht-direktiven erhält somit die
������������������������������������������������������������239�Stipsits�in:�Stipsists/Hutterer,�S.11�240�Vergl.�ebenda,�S.�13�241�Rogers�2009a,�S.51f�242�Stipsits�in:�Stipsits/Hutterer�S.13�
��
47
Forderung nach Authentizität und Person in der interpersonellen Begegnung eine besondere
Bedeutung; unpersönlich Theoretisches ist dabei nur hemmend: „Ich darf sogar die Hypothese wagen, dass die jeweilige Theorie des Therapeuten unmittelbar in der Beziehung
selbst unerheblich ist und, falls sie dem Therapeuten in jenem Augenblick gerade bewusst ist, der Therapie sogar
abträglich ist. Ich will damit sagen, dass die existentielle Begegnung wichtig ist. Unmittelbar im Augenblick der
therapeutischen Beziehung ist für theoretisches Bewusstsein kein gedeihlicher Platz.
Man kann auch sagen, dass wir in eben dem Maße, in dem wir in der Beziehung theoretische Gedankengänge
nachhängen, zum Zuschauer werden und nicht mehr selber mitspielen – aber erfolgreich sind wir nur als
Mitspieler.“243
3.3.3. Kongruenz oder Authentizität
In einem seiner späteren Aufsätze im schreibt Rogers über Echtheit oder Kongruenz: „Dies ist die grundlegendste unter den Einstellungen des Therapeuten, die den positiven Verlauf einer Therapie
fördern. Eine Therapie ist mit größter Wahrscheinlichkeit dann erfolgreich, wenn der Therapeut in der
Beziehung zu seinem Klienten er selbst ist, ohne sich hinter einer Fassade oder Maske zu verbergen.“244
Für Rogers ist es wichtig, dass ein vertrauensvolles Verhältnis in der Begegnung von
Therapeut und Klient entstehen kann.245 Voraussetzung hierfür ist, dass der Klient den Berater
in seiner Echtheit wahrnehmen kann. Der Berater muss er selbst sein. Das Gesagte steht nicht
im Widerspruch zu dem, was er gerade fühlt.246 Der Berater zeigt dem Klienten offen seine
Gefühle und Einstellungen. Er macht sich dadurch gegenüber dem Klienten „transparent“.
Der Klient wird nicht mit bewährten Phrasen, ausgeklügelten Wendungen oder einer
professionellen Haltung abgespeist.247 Denn Menschen erkennen in der Regel intuitiv, ob der
Andere es wirklich so meint, wie er es ausdrückt. Ist dem nicht so, glauben sie im nicht.248
Das hätte für die therapeutische Beziehung fatale Folgen: Der Klient wird sich auf die
Beziehung nicht richtig „einlassen“ können. Er wird mit dem ihm vertrauten Muster reagieren
und abwägen, ob es „richtig“ ist, wie er sich verhält. Die Sicherheit und Verlässlichkeit einer
bedingungsfreien akzeptierenden Beziehung wird sich nicht entwickeln können. War Rogers
in der nicht-direktiven Phase noch der Meinung „die wichtigste Voraussetzung für einen
������������������������������������������������������������243�Rogers�2007a,�S.200�244�Ebenda,�S.30f��245�Ebenda�S.�151ff�246�Pörtner�weist�aber�darauf�hin,�dass�dies�nicht�bedeuten�muss,�dass�er�dem�Klienten�das�Gefühlte�auch�ständig�mitteilen�muss.�(vergl.�Pörtner,�S.28)�247�Vergl.�Rogers�2007a�,S.151ff�248�Vergl.�Rogers�2009a,�S.276ff��
��
48
guten Berater ist die Fähigkeit, menschlichen Beziehungen gegenüber feinfühlig sein zu
können“249, so bewertet er dies in den 70er Jahren anders. „Im Augenblick bin ich der Meinung, dass von den drei Einstellungen, die der Therapeut besitzen sollte,
Echtheit oder Kongruenz die grundlegende ist. Als Therapeut muss ich sehr starkes Einfühlungsvermögen
erwerben, um die therapeutische „Arbeit“ erfüllen zu können. Ein solches Gespür für das augenblicklich „Sein“
einer anderen Person setzt aber voraus, dass ich diese andere Person akzeptiere und ihr einige Hochschätzung
entgegenbringe. Diese Haltungen sind jedoch nur dann von Bedeutung, wenn sie wirklich sind, und deshalb
muss ich in der therapeutischen Beziehung zuallererst integriert und echt sein.“250
Der Aspekt der Kongruenz hat bei Rogers gleichsam einen Doppelcharakter: Einerseits ist er
notwendige grundlegende therapeutische Haltung, um besonders am Anfang einen
Entwicklungsprozess beim Klienten zu initiieren. Andererseits ist er gewissermaßen auch
„Ziel“ dieser Entwicklung. Der Klient erfährt mehr Kongruenz zu seinem Selbst. Rogers
selbst weist zudem auf ein paradoxen Aspekt dieser Haltung hin: „Je mehr ich einfach gewillt bin, inmitten dieser ganzen Komplexität des Lebens ich selbst zu sein, um je mehr
ich gewillt bin, die Realitäten in mir selbst und im anderen zu verstehen und zu akzeptieren, desto mehr scheint
Veränderung in Gang zu kommen. Es ist eine sehr paradoxe Sache – in dem Maße wie jeder von uns gewillt ist,
er selbst zu sein, entdeckt er, dass er sich verändert, und nicht nur das: Er findet auch, dass sich andere
verändern, zu denen er Beziehung hat. Dies ist zumindest ein sehr lebendiger Teil meiner Erfahrung und eine der
tiefliegenden Erkenntnisse, die ich in meinem persönlichen und beruflichen Leben gewonnen habe.“251
Rogers verweist in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Aspekt: Kongruenz hat im
Wesentlichen mit eigenen Erfahrungen zu tun: Ein authentischer Mensch ist sich darüber
sicher, dass seinen Erfahrungen trauen kann.252 Erfahrungen sind für Rogers die „höchste
Autorität“. Sie sind in der Regel nichts ausschließlich Geistiges, denn „ich habe gelernt, dass
das Gefühl, mit dem mein ganzer Organismus eine Situation wahrnimmt, verlässlicher ist als
mein Intellekt.“253 Dieses Vertrauen, sich selbst und seinen persönlichen Erfahrungen trauen
zu können, ist vermutlich der Schlüssel zu einem kongruenten Leben - mit sich und mit
anderen. Diese Vertrauen zu sich selbst und seinen eigenen Erfahrungen erklärt vermutlich
Rogers´ Aversionen gegen Autoritäten und vorgegebenen Lehrmeinungen. Denn: „Weder die Bibel noch die Propheten, weder Freud noch die Forschung, weder die Offenbarungen Gottes noch
des Menschen können Vorrang vor meiner direkten Erfahrung haben.“254 ������������������������������������������������������������249�Rogers�2007,�S.221�250�Rogers�2007a,�S.162�251�Rogers�2009a,�S.37��252�Vergl.�Ebenda,��S.38ff�253�Ebenda,�S.38�254�Ebenda,�S.39�
��
49
Wenn es aber so ist, dass ein Berater seine echte Person in die therapeutische Beziehung
einbringt und sich zudem „natürlich und spontan verhält“255, dann erhalten damit auch
„Therapietechniken“ wie Konfrontieren, Beziehungsklären und Selbsteinbringen256eine
gewisse Relevanz, die meines Erachtens zumindest mit einem streng nicht-direktiven Ansatz
schwer zu vereinbaren sind. Die Forderung nach einem authentischen Verhalten des
Therapeuten hat somit zu Folge, dass die Gewichtung des nicht-direktiven Aspektes
zugunsten eines aktiveren Beraterverhaltens verlagert wird.
3.3.4. Fallgeschichte: Gespräch mit Gloria
Zunächst eine Bemerkung zum Auswahlverfahren. Trotz einiger Bemühungen ist es mir nicht
recht gelungen, eine geeignete Fallgeschichte zum Aspekt „Authentizität“ in Rogers´ Büchern
zu finden. Denn die bereits oben aufgeführten „Therapietechniken“ sind nach meiner
Kenntnis in den dokumentierten Gesprächen kaum auffindbar. Allerdings lässt der Anfang
des oft zitierten „Gesprächs mit Gloria“ erahnen, was unter der therapeutischen Haltung
„Kongruenz“ zu verstehen ist. Rogers führt mit Gloria, „einer attraktiven dreißigjährigen
Frau“, ein halbstündiges Gespräch, das „alle charakteristischen Merkmale der
klientenzentrierten Psychotherapie enthält.“257
„Th.: Guten Morgen. Ich bin Dr. Rogers, und Sie sind sicher Gloria.
K.: Ja, das bin ich.
Th.: Wollen Sie sich setzen? Nun wir haben also eine halbe Stunde miteinander, und ich weiß tatsächlich nicht,
was wir daraus machen können, aber ich hoffe, wir werden etwas daraus machen. Ich bin an allem interessiert,
was Sie angeht.
K.: Nun ich bin im Augenblick etwas nervös, aber die Art, wie Sie so leise mit mir sprechen, macht mich
ruhiger; auch hab` ich nicht das Gefühl, dass Sie grob zu mir sein werden. Doch…
Th.: Ich höre das Zittern in ihrer Stimme…“
K.: Nun ja, worüber ich vor allem mit Ihnen sprechen möchte, ist Folgendes: …“ 258
Dieser kurze Ausschnitt macht meines Erachtens schon deutlich, wie achtsam sich Rogers in
dieser Anfangsphase verhält. Er umschreibt die zeitliche Rahmung und verdeutlicht sein
Interesse „an allem, was Sie angeht.“ Dies könnte auch floskelhaft wirken - wir kennen seine
Stimme nicht. Dennoch wirkt es meines Erachtens in diesem Kontext echt. Denn Rogers weiß
tatsächlich nicht, was wir daraus machen können. Rogers bemüht sich hier nicht, den ������������������������������������������������������������255�Rogers�2007a,�S.�199�256�Vergl.�Finke�1994,�S.31ff�257�Rogers�2007a,�S.�166�258�Ebenda�
��
50
Experten zu spielen, der schon weiß, wo es lang geht. Er ist völlig offen für diese Situation, in
der wir – also beide – die Gestalter dieser Begegnung von Person zu Person sein werden. Es
verwundert somit nicht, dass Gloria sich sogleich von Rogers angenommen und akzeptiert
fühlt und bereit ist – wenn auch anfangs mit zittriger Stimme – über ihre Probleme zu reden. -
Ein wie ich finde anschauliches Beispiel dafür, wie ein zwangloses und dennoch interessantes
Gespräch durch eine authentische und emphatische Haltung begonnen werden kann.
3.3.5. Zusammenfassung der personenzentrierten Phase
Carl Rogers verlässt den ihm vertrauten universitären Rahmen von Forschung, Therapie und
Beratung und wendet sich gleichsam „offeneren“ Arbeitsweisen zu. Durch das Erleben
menschlicher Begegnungen in Encounter-Gruppen macht er neue persönliche und berufliche
Erfahrungen, die es ihm ermöglichen, auch außerhalb des therapeutischen Kontextes als
Person kongruenter zu sein. Das Einbringen eigener persönlicher Erfahrungen spielt jetzt in
seinen Büchern eine noch größere Rolle. Durch die Beschäftigung mit existentialistischem
und fernöstlichem Denken kommt er zu der Einschätzung, sein Ansatz sei auf fast alle
Bereiche des menschlichen Daseins anwendbar. Der Beziehungsaspekt in der Begegnung der
„Person zur Person“ erhält eine größere Gewichtung. Rogers tritt ein für eine Entwicklung des
Individuums weg von vorgegebenen gesellschaftlichen Erwartungen hin zu mehr Kongruenz.
Damit erhält auch die Rolle des Beraters im therapeutischen Kontext eine andere Gewichtung.
Der Berater ist nicht nur professioneller Helfer, sondern auch „Person und Mensch“ mit
einem größerem Anteil an persönlicher Authentizität in der Beziehung zum Klienten.
4. Aspekte einer klientenzentrierten Beratung
4.1. Warum „klientenzentriert“?
Im vorherigen Kapitel ist dargelegt worden, dass Carl Rogers´ persönliche Erfahrungen
mittelbar und unmittelbar in seine theoretische und beraterische Arbeit einflossen. Dieser
enge Zusammenhang erklärt womöglich, dass zuletzt kaum noch unterschieden wurde
„zwischen Rogers´ persönlicher Entwicklung und der Entwicklung der Psychotherapie.“259
������������������������������������������������������������259 Pörtner, S.18�
��
51
Im Folgenden werden zunächst einzelne Entwicklungslinien seiner Theorie noch einmal
zusammenfassend dargestellt:
� Überwog im ersten bekannten Buch „Counseling and Psychotherapy“ noch stark der
kritische Akzent gegenüber der traditionellen Psychoanalyse - dessen Ergebnis dann
eine „neuere Psycho-Therapie“ war, die in erster Linie ausdrückte was sie nicht sein
wollte, nämlich direktiv – wurde Rogers´ Ansatz zum Schluss immer universeller und
spiritueller; was beispielsweise Ausdruck fand in seiner „Konzeption der
menschlichen Persönlichkeit und der Welt.“260
� War anfangs der Blick eher auf den jeweiligen einzelnen Klienten gerichtet, spielten
später Beziehungen, Gruppen und selbst die gesamte Menschheit in seinen Themen
eine immer größere Rolle.
� Beschränkten sich die Themen zunächst auf die beraterische bzw. therapeutische
Ebene, wurden später geradezu alle Lebensbereiche erfasst.
� War die nicht-direktive Phase noch von einem gewissen „Intellektualismus“ geprägt,
in der emotionale Erlebnisse nicht die entscheidende Rolle spielten, änderte sich
dieses im Laufe der Entwicklung grundsätzlich hin zur einen gefühlsbetonten und
erlebnisorientierten Ansatz.
� Hatten die ersten Bücher eher einen traditionellen wissenschaftlichen Anspruch mit
der Darstellung von empirisch abgesicherten Forschungsergebnissen, wurde später
zunehmend Wert auf eine gleichsam qualitative Forschung und Darstellung gelegt.
� Spielte das Einbringen eigener persönlicher Erlebnisse in der ersten Phase eher eine
untergeordnete Rolle, wurden später viele Themen von Rogers mit seinen
persönlichen Erfahrungen eingeleitet bzw. untermauert
� Hatte der Berater im therapeutischen Kontext zunächst primär eine
„Hebammenfunktion“, wurde seine gesamte Persönlichkeit besonders unter dem
Gesichtspunkt der Authentizität im Laufe er Entwicklung immer wichtiger.
Der anfängliche spezifisch neue individualistische Psychotherapeutische Ansatz von Rogers
vollzog somit eine Entwicklung hin zu einer gleichsam universellen Gesellschaftstheorie.
Meines Erachtens hatte diese Entwicklung mehrere Gründe:
� Erstens liegt es im „Wesen“ dieses Ansatzes: Er ist immer sehr „offen“ gewesen.
Wenig wurde vorgegeben. Jede Person sollte ihre eigenen Erfahrungen machen.
������������������������������������������������������������260 Rogers 2007b, S.180 �
��
52
Rogers wollte nie ein Lehrer sein. Verwahrte sich immer, seine Bücher als
Anleitungen oder gar Lehrbücher zu sehen. Insofern war es aus seiner Sicht nur
konsequent, nie die Gründung einer eigenen Schule anzustreben.
� Es hat zweitens mit der Person Rogers zu tun: Im Laufe seines Lebens entwickelte sich
Rogers von einem schüchternen jungen Psychologen - der mit sich, seinen Umfeld und
der vorherrschenden Psychoanalyse haderte - hin zu einem „Weltbürger“, der auf
seine eigenen Fähigkeiten vertraute und an die Kraft zur Veränderung einer
bedrohlichen Weltlage glaubte.
� Und drittens entsprach sein offener und humaner Ansatz sehr den Bedürfnissen einiger
gesellschaftlicher Gruppen, die besonders ab den 60er-Jahren nach neuen,
demokratischen Formen des menschlichen Zusammenlebens suchten.
Damit fällt es schwer, diesen nicht ganz griffigen Ansatz in dieser Allgemeinheit zu
beurteilen. Sein mir sympathischer offener und universeller Charakter ist meines Erachtens
auch gleichzeitig seine Schwäche: Wenn die Theorie von Rogers auf fast alle Lebenslagen
„irgendwie“ von „Jedermann“ anzuwenden ist, verliert sie auch ihre Schärfe: Allzu
Allgemeines verwässert leicht zur Beliebigkeit261 - obgleich ich mir persönlich wünschen
würde, dass Haltungen und Menschenbild einen wichtigeren Stellenwert haben in unserem
alltäglichen zwischenmenschlichen Umgang.
Somit ist es meines Erachtens erforderlich, erneut einige Begriffsunterschiede und
Abgrenzungen zu benennen; denn:
„Wo alle Unterschiede verwischt sind, können auch die Gemeinsamkeiten nicht erkannt werden. Diese
Vernachlässigung der Unterschiede gefährdet die klientenzentrierte Psychotherapie ebenso wie den
personenzentrierten Ansatz.“262
Wenn also im Kontext allgemeinen menschlichen Umgangs oder/und gesellschaftlicher
Fragen von Rogers Theorie die Rede ist, halte ich den Begriff personenzentriert durchaus für
angebracht. Wenn es aber darum geht, Rogers´ Ansatz in einem therapeutischen oder
beraterischen Rahmen zu behandeln, ist es meines Erachtens sinnvoller, von klientenzentriert
zu sprechen. Eine Person, die sich rat- oder hilfesuchend an eine für sie zuständige
������������������������������������������������������������261�Hierzu�Hutterer�in:�Stipsits�et.al,�S.4:�„Eine�unreflektierte�Universalisierung�des�Personenzentrierten�Ansatzes�birgt�jedoch�die�Gefahr�einer�theoretischen�Verwässerung�und�des�praktischen�Scheiterns.“��262 Pörtner, S.132�
��
53
professionelle Person oder Institution begibt, wird in der Regel Klient genannt.263 Es müsste
weiter zu klären sein, wann die Begriffe Beratung und Therapie ihre Berechtigung haben.
4.2. Zum Unterschied von Therapie und Beratung
Allein die aktuell geführte Diskussion um das Thema „Beratung“ zeigt auf, wie schwierig es
ist, hierzu zu eindeutigen und allgemeingültigen Erkenntnissen zu gelangen. Denn auf die
Frage, „was ist eigentlich Beratung?“ erhält man im „Handbuch der Beratung“ gleich auf den
ersten Seiten eine „einfache und gleichzeitig komplizierte Antwort:“264 Beratung ist
einerseits „eine uns allen vertraute Kommunikationsform“, die in den meisten
gesellschaftlichen Bereichen eingebunden ist; denn „irgendwie“ war jeder schon mal sowohl
„Berater“ als auch „Ratsuchender“. Andererseits „verbietet es sich nahezu im Singular über
Beratung zu sprechen.“265
„Die Breite des Begriffes, insbesondere seine Verortung im Professionellen, Semiprofessionellen aber auch im
alltäglich Unprofessionellen, macht ihn schwierig – und das mit spürbaren Konsequenzen. So versieht z.B. die
Alltäglichkeit, mit der wir Beratung assoziieren, auch das professionelle Beratungsangebot mit Nähen zu
unserem alltäglichen Leben – Beratung wird schwellenniedrig anbietbar.“266
Damit sind Kriterien genannt, die eine Abgrenzung zur Psychotherapie – zumindest
theoretisch – erlauben:267
� Beratung ist näher am Alltag verortet: In der Regel hat der Ratsuchende ein
bestimmtes, sachliches oder inhaltliches Problem, für das er eine Lösung sucht. Er
wendet sich damit an eine Person, von der er sich erhofft, dass sie ihm einen Rat
erteilt, der seine Entscheidungsfindung erleichtert und zur Problemlösung beiträgt.
- Anders in der Therapie: Hier geht es primär um heilkundliche Aspekte, die die
Person als „ganzes“ im Blick hat – bis hin zur Thematik
Persönlichkeitsveränderung.
� Beratung blickt mehr auf äußerliche Dinge, ist lösungsorientiert: Welche
Möglichkeiten und Ressourcen hat der Klient, um sein Problem zu beheben? -
������������������������������������������������������������263 Auf die spezifischeren Begriffe „Mandant“ – für den administrativen-juristischen – und „Patient“ – für den ärztlichen Bereich will ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen. �264�Nestmann�et.al,�S.34���265�ebenda�266�ebenda�267�Vergl.�Pörtner,�S.99ff�
��
54
Therapie schaut eher nach innen: Welche psychischen Konflikte bzw. Hemmnisse
beeinträchtigen den Klienten in seiner Entscheidungsfindung?
� Beratung kann strukturiert werden: Ein bestimmtes Problem ist eher eingrenzbar.
Thema ist häufig das Fokussieren auf mehrere Lösungsmöglichkeiten. – In der
Therapie wird eine Eingrenzung auf ein bestimmtes Problem selten angestrebt.
� Beratung ist kurzfristig: Wenn eine Lösung für das bestimmte Problem gefunden
scheint, ist der Beratungsprozess zu Ende. – Anders in der Therapie: Sie ist
langfristiger, weil innere Konflikte in der Regel nicht sofort „heilbar“ sind.
� Beratung ist niederschwellig: Die Nähe zum Alltag, erleichtert es dem Klienten in
der Regel, sich in eine Beratungssituation zu begeben. Sich beraten zu lassen ist
nichts Verwerfliches. – Anders in der Therapie: Wer sich in Therapie begibt gilt
gemeinhin als krank. Die Nähe zur Psychiatrie wird oft assoziiert. Die Gefahr der
Stigmatisierung ist wesentlich größer.
An dieser Stelle soll nicht weiter darauf eingegangen werden, dass diese theoretischen
Unterscheidungen in der Praxis oft nicht so eindeutig sind: Kann sich doch hinter einem
vermeintlich äußerlichen Problem ein schwerer psychischer Konflikt verbergen. Auch
gegenteilige Fälle sind in der Praxis möglich. Insofern haben die am Prozess beteiligten
Professionellen die Aufgabe, ständig ihren beruflichen Rahmen und ihre Zuständigkeit zu
hinterfragen. Nicht jeder „Fall“ gehört in die Therapie und nicht jedes „Problem“ gehört in die
Beratung.
Gemeinsamkeit ist, dass die bereits erörterten Haltungen verbunden mit einem „Vertrauen in
die potentiellen Fähigkeiten des Individuums zum Lösen von Problemen, zum Lernen, zur
Veränderung“268 in beiden Bereichen notwendige Voraussetzung sind.
4.3. Erste Erfahrungen mit klientenzentrierter Beratung
In meiner Biographie gibt es ähnliche und gegensätzliche Erfahrungen zu denen von Carl
Rogers. Ebenso wie er stamme ich aus einem Elternhaus, das nicht geprägt war von einem
liebe- und verständnisvollen Umgang untereinander; ging es meinen Eltern doch primär
darum, uns Kindern an die gesellschaftlichen Normen anzupassen. Es wurde wenig geschaut,
wer wir wirklich waren, die Entwicklung unseres Selbst wurde wenig unterstützt. Vielmehr
������������������������������������������������������������268�Pörtner,�S.102�–�Sie�spricht�später�von�„Prätherapie“,�die�den�Kontakt�zum�Klienten�eröffnet.�(vergl.S.115)�
��
55
ging es immer darum, uns zu lehren, was „gut und richtig“, was „normal“ ist. Ähnlich wie
Carl Rogers hatte ich Schwierigkeiten, mich in diesem autoritär geprägten Klima an andere
Menschen zu binden, fühlte mich als Außenseiter, der „irgendwie“ anders war. Ebenso wie er,
hatte ich in jungen Jahren Probleme, tiefergehende Beziehungen zu Frauen und Männern
einzugehen.
Ich habe später eine ganz andere berufliche Entwicklung genommen, was zur Folge hatte,
dass meine Sichtweise von einer befriedigenden Kommunikation zwischen Menschen sich
erheblich von seiner Entwicklung hin zu immer mehr Authentizität unterschied. Durch meine
fast 20-jährige Tätigkeit in der Baubranche, war ich es gewohnt, gewissermaßen sehr
authentisch269 zu kommunizieren. Man sagte in der Regel gerade heraus, was einem nicht
passte. Die Sprache war knapp und prägnant. Inhaltlich wurde sich „an der Sache“ orientiert;
persönliche Ansichten spielten eine untergeordnete Rolle. Als Zimmerermeister und
Betriebsinhaber war ich davon überzeugt, dass die Erfahrung in der gemeinsamen Arbeit
wichtiger sei, als irgendwelche persönliche Befindlichkeiten. Einfühlendes Verstehen und
bedingungslose Akzeptanz war in meiner Haltung meinen Kollegen gegenüber schlichtweg
nicht vorhanden. Authentisches Auftreten dagegen umso mehr. Mit dieser Einstellung, so
dachte ich, könne ich auch mit sogenannten „schwer erziehbaren“ Jugendlichen in
„sozialpädagogischer Einzelbetreuung“ umgehen. Wurde doch in diesem Setting immer die
Forderung nach einem wohl durchstrukturierten Alltag mit einer möglichst authentischen
Lebenswelt gestellt. Schnell aber stieß ich mit meiner allzu authentischen Haltung an meine
Grenzen. Es waren die Jugendlichen, die mir durch ihr Verhalten klarmachten, dass in dieser
Arbeit mehr dazu gehörte als authentisches Auftreten und „sinnvolles Arbeiten mit Holz“. -
Es kam zu einer persönlichen und beruflichen Krise. Ich erkannte, dass Lernen keine
Einbahnstraße ist. Wollte ich die Arbeit gut machen, musste ich mich mit ihnen wirklich
befassen. Ich musste zunächst lernen sie zu verstehen und nicht umgekehrt. - Unser
Supervisor verwies auf Carl Rogers…
Von Rogers lernte ich, dass Grundlage einer befriedigenden menschlichen Kommunikation
eben diese drei Haltungen seien; und zwar nicht nur auf der Ebene des therapeutischen und
beraterischen Settings, sondern auf eigentlich jeder Ebene menschlicher Existenz. - Ich
glaube, er hat damit Recht! Ohne diese Erkenntnis hätte ich nie meine Arbeit bei einem
Bildungsträger machen können. Hier erfuhr ich schnell, dass zunächst eine grundsätzliche
������������������������������������������������������������269 Damit ist an dieser Stelle nicht der tiefergehende Begriff wie Kongruenz gemeint, hier meine ich es einfacher: im Sinne von „einfach raus lassen, was ich denke “�
��
56
Akzeptanz der sich in der Arbeitslosigkeit befindlichen Teilnehmer notwendig ist. Wenn
diese Akzeptanz nicht rüberkommt, geht gar nichts; es gibt nur Abwehr und Widerstand. Erst
ein Klima grundsätzlicher Akzeptanz – ich will an dieser Stelle nicht von „bedingungsloser
Akzeptanz“ sprechen – ermöglichte es vielen Teilnehmern, sich ein wenig mir, aber auch
ihren Problemen gegenüber zu öffnen. Dabei war darüberhinaus „einfühlendes Verstehen“
von meiner Seite nötig. Die Teilnehmer mussten sich von mir nicht nur geachtet, sondern
auch verstanden fühlen. Ansonsten wurde mit Rückzug reagiert. Der Prozess zu einer
größeren Offenheit entwickelte sich aber erst, wenn sie wahrnahmen, dass ich ihnen nichts
vorspielte: Ich bin auch ein Mensch, habe auch meine Probleme, bin auch nicht unfehlbar.270
Erst dann war eine „Begegnung von Mensch zu Mensch“ möglich. Es zeigte sich immer
wieder, dass Menschen in der Lage sind, in diesem Klima ihre Probleme anzugehen – wenn
auch häufig nur in ganz kleinen Schritten. Insofern kann ich Carl Rogers beschriebenen
Entwicklungsprozess hin zu etwas mehr „Reife“ und Kompetenz uneingeschränkt bestätigen.
Selbst in meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Telefonseelsorger – hier findet eine Begegnung
bekanntermaßen in einem zeitlich und örtlich sehr eingeschränkten Rahmen statt – mache ich
immer wieder die Erfahrung, dass gute Gespräche in erster Linie davon abhängig sind,
inwieweit es mir gelingt, die oben genannten Bedingungen wirklich zu realisieren. Gelingt
mir dies, ergeben sich daraus oft Gespräche, die für beide Seiten wertvoll sind. – Mehr ist in
der Regel nicht nötig.
4.4. Eigene Erfahrungen mit dem Personenzentrierten Ansatz
Alleine diese Erfahrung, dass nicht viel dazu gehört – eine Haltung von Akzeptanz, Empathie
und Kongruenz, sowie der Glaube an die Fähigkeit in jedem Menschen, zu wachsen und sich
weiterzuentwickeln - um einen intensiveren und befriedigenderen Umgang mit Menschen zu
erhalten, macht Carl Rogers und sein Werk so wertvoll. Er hat mich zudem darin bestärkt, zu
meinen Erfahrungen zu stehen und sie wichtig zu nehmen. Denn sie sind ein Teil von mir;
und darüberhinaus – und das ist eigentlich das Erstaunliche – in vielen Fällen auch wertvoll in
meiner Begegnung mit dem Anderen.
Für mich persönlich habe ich durch Carl Rogers´ Ansatz auch viel Elementares gelernt.
Besonders seine Theorie des Selbstkonzepts scheint mir für die Praxis sehr hilfreich zu sein.
������������������������������������������������������������270 Daher half es mir oft, von meinen „desaströsen“ Erfahrungen mit meinen Jugendlichen zu berichten.�
��
57
Ich selber mache gewissermaßen die Erfahrung der Selbstexploration. Ich bin dabei in
meinem Denken und Fühlen wieder offener und neugieriger geworden; muss mich nicht mehr
so „verpanzern“. Ich bin mutiger geworden, meine „Leichen im Keller auch mal
anzuschauen“, mir einzugestehen, dass ich auch viele Seiten an mir habe, die mir nicht so
gefallen. Heute bin ich in der Lage, sie als Teile meines „Selbst“ ein wenig mehr akzeptieren
und annehmen zu können. Das nimmt Druck und gibt mir bisweilen eine gewisse
Gelassenheit und ein Gefühl von Dankbarkeit, das mir manchmal etwas „unheimlich“
erscheint. Denn es hat gleichsam etwas mit einer Haltung von Demut zu tun. Ich weiß, das
sind große Worte. Dennoch bin ich froh, dass ich es so spüren darf. Es nimmt auch das Gefühl
von Einsamkeit, weil ich in der Begegnung mit anderen Menschen erfahren konnte, dass ich
mit meinen Erlebnissen und Erfahrungen häufig gar nicht alleine dastehe. Denn ich bin zwar
Ich, aber zugleich auch ein Teil von Ihnen.
Hierzu will ich zunächst Erich Fromm zitieren - und schlage damit zugleich den Bogen
zurück zur professionellen Ebene. Die „humanistische Prämisse meines therapeutischen
Arbeitens“ hat er einmal wie folgt skizziert:
„Es gibt nichts Menschliches, was mir fremd wäre. Alles gibt es in mir. Ich bin ein kleines Kind, ich bin ein
Erwachsener, ich bin ein Mörder und ich bin ein Heiliger. Ich bin narzisstisch und ich bin destruktiv. Es gibt
nichts im Patienten, was es nicht auch in mir gibt. Und nur in dem Maße, als ich jene Erfahrungen, von denen
mir der Patient indirekt und ausdrücklich berichtet, in mir wiederfinden kann, so dass sie in mir entstehen und
sich in mir wiederspiegeln kann, kann ich verstehen, wovon der Patient spricht und kann ich ihm das, wovon er
spricht, zurückgeben. Dann kommt es auch zu der eigenartigen Erfahrung: der Patient wird nicht das Gefühl
haben, dass ich über ihn rede oder dass ich zu ihm herab spreche; vielmehr wird der Patient spüren, dass ich von
etwas spreche, das wir beide teilen. “271
Carl Rogers hat diesen Aspekt menschlicher und therapeutischer Begegnung prinzipiell
ähnlich beschrieben:
„Ich habe kein euphorisches Bild von der menschlichen Natur. Ich weiß, dass Individuen aus Abwehr und
innerer Angst sich unglaublich grausam, destruktiv, unreif, regressiv, asozial und schädlich verhalten können. Es
ist dennoch einer der erfrischendsten und belebendsten Aspekte meiner Erfahrung, mit solchen Individuen zu
arbeiten und die starken positiven Richtungsneigungen zu entdecken, die sich auf den tiefsten Ebenen bei ihnen
wie bei uns allen finden.“272
������������������������������������������������������������271 Fromm, S. 114 Die Stelle verdeutlicht, wo sich Psychoanalyse und PZA treffen können: In ihrer humanistischen Einstellung. �272�Rogers�2009a,�S.�42���daher�ist�es�auch�falsch,�Rogers�als�jemanden�darzustellen,�der�ausschließlich��an�die�„Kraft�des�Guten“�glaubt.�
��
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Für diese Erkenntnis, dass sowohl positive als auch negative Aspekte menschlicher Natur in
jedem von uns sind, bin ich diesen beiden großartigen Männern äußerst dankbar. Denn es ist
für das Verständnis menschlicher Kommunikation sehr hilfreich, das andere „Du“ nicht in
polarisierenden Kategorien von „gut - böse“, „richtig – falsch“ oder „entweder – oder“ zu
kategorisieren, sondern ihm vielmehr mit einer Haltung des „Sowohl- als-Auch“ zu begegnen.
4.5. Fazit und Ausblick
Die wesentlichste Erkenntnis meiner Beschäftigung mit der Theorie von Rogers ist: Vieles hat
seinen Sinn und seine Bedeutung, ohne dabei den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben
zu müssen. Dieses gleichsam hermeneutische Denken macht mich in der Bewertung vieler
Inhalte milder und gelassener. Der Anspruch auf allgemeingültige Wahrheiten führt oft zu
einem dogmatischen Denken - gewissermaßen zu einem starren Selbstkonzept.
Bevor aber sogleich der Vorwurf eines relativistischen oder konstruktivistischen Denkens
erhoben wird, will ich an dieser Stelle daher zunächst auf kritische Aspekte der Theorie von
Rogers eingehen. Denn ihre erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen, als auch
lerntheoretischen Schwächen werden erkennbar, wenn sie mit einem gewissen analytischen
und ideologiekritischen Blick näher betrachtet wird.
1. Erkenntnistheoretisch:
� Rogers´ Schlüsselbegriff des „Selbst“ in seiner Persönlichkeitstheorie ist ein
theoretisch konstruierter, der empirisch so nicht nachweisbar ist. „Es ist festzuhalten,
dass das Selbst hier als Konstrukt aufgefasst wird, also eine theoretische Modellfigur
darstellt. Konstrukte kann man nicht beobachten, sind sie doch transphänomenal.“273
� Das „Selbst“ existiert im empirischen Sinne als eigenständiges Phänomen somit gar
nicht, folglich kann es auch kein sinnlich erfahrbares wahres oder eigentliches Selbst
geben.274 Der Begriff und andere damit im Zusammenhang stehende Begriffe wie
beispielsweise Kongruenz und Aktualisierungstendenz bleiben folglich schwammig
und sinnlich nicht konkret erfahr- und fassbar.275
� Wenn jedoch zwischen der Konstruktion eines Begriffes und einer von diesem davon
möglicherweise unabhängig existierenden Realität oder Wahrheit nicht mehr
������������������������������������������������������������273�Kropf,�S.�58���274�Ebenda�S.61�275�Vergl.�Bommert,�S.44ff��
��
59
unterschieden wird, erhält jenes einen „Wahrheits- bzw. Realitätsanspruch“, das im
gesellschaftlichen Kommunikationsprozess als Konsens zu gelten hat. Anderes
dagegen erhält gleichsam den Status der willkürlichen und subjektiven Beliebigkeit.
2. Gesellschaftstheoretisch:
� Rogers geht von der Vorstellung aus, das Individuum habe das individuelle Potential
und die gesellschaftliche Freiheit, sein Leben autonom und selbständig zu
gestalten.276 Diese Vorstellung ist insofern idealistisch und subjektivistisch, weil sie
dabei die realen gesellschaftlichen Machtverhältnisse vernachlässigt, die es in vielen
Situationen und Fällen eben nicht gestattet, gleichsam „freie“ Entscheidungen treffen
zu können. „Die Annahme, dass das Individuum durch eine positive therapeutische
Beziehung völlige Entfaltungsmöglichkeit erhält, kann nur so lange Gültigkeit haben,
als sie nicht mit der objektiven gesellschaftlichen Realität kollidiert.“277
� Die starke Betonung emotionaler Anteile in Rogers´ Ansatz und das empirisch nicht
nachweisbare Konzept des Selbst laufen Gefahr, „Haltungen wie Irrationalismus,
Mystizismus, Antiintellektualismus und damit in weiterer Folge Fatalismus und
Passivität auf Kosten einer (auch gesellschaftlich) notwendigen Entwicklung hin zur
größtmöglichen „Subjekthaftigkeit“ zu begünstigen. Diese Gefahr ist in der heutigen
gesellschaftlichen Situation besonders groß.“278 Wenngleich diese Entwicklung von
Rogers vermutlich nicht beabsichtigt war, so halte ich eine Vernachlässigung von
kognitiven und geistigen Fragen und Inhalten für problematisch, weil sie für mich
auch elementare Bestandteile menschlicher Existenz darstellen. Eine allzu einseitige
Fokussierung auf die „Gefühlswelt“ führt meines Erachtens letztendlich zu jenen
Dogmatismus, gegen den sich Rogers aussprach, wenn er der traditionellen
Psychoanalyse „Intellektualismus“ vorwarf.
3. Lerntheoretisch:
� Auf das Paradox, das ein nicht-direktiver Ansatz einen authentischen, gleichsam
„aktiven“ Berater zur Voraussetzung hat, ist schon an anderer Stelle eingegangen
worden. Ein konsequent nicht-direktives Konzept scheint in der Praxis nicht machbar.
Denn wenn es nach Watzlawick nicht möglich ist „ nicht zu kommunizieren, dann
������������������������������������������������������������276�Vergl.�Köhler�Weisker�et.al.�S.�106ff�277�Bommert,�S.45�278�Frenzel�in:�Stipsits�et.al.,�S.68�–�sowie�Hutterer�in:�Stipsits,�S.5:�„Der�personenzentrierte�Ansatz�will�auch�einer�Kultur�des�Misstrauens�und�der�Kälte,�der�Fassadenhaftigkeit�und�Verständnislosigkeit�eine�Kultur�der�Sensibilität,�des�Vertrauens�und�der�Unverfälschtheit�entgegensetzen.�Er�will�ferner�persönliche�Freiheit�und�Verantwortung�kultivieren�in�einer�Gesellschaft,�in�der�wir�täglich�lernen�können,�Macht�und�externe�Kontrolle�zu�ertragen�und�auch�als�Entschuldigung�zu�benutzen.“��
��
60
spricht vieles dafür, dass es in letzter Konsequenz als Berater auch nicht möglich ist,
nicht direktiv zu agieren. Denn die Ausdrucksformen verbaler und non-verbaler
Kommunikation sind derartig vielfältig, dass meines Erachtens immer die Gefahr
direkter und indirekter Beeinflussung durch den Berater besteht. „Es klingt paradox:
Um eine nicht-direktive Haltung zu verwirklichen, ist es notwendig, sich der
direktiven Anteile klar bewusst zu sein. Nur so können sie verantwortungsvoll
gehandhabt und auf ein Minimum beschränkt werden.“279
� „Therapeutische Beziehungen, pädagogische Beziehungen, Partnerbeziehungen sind
nicht alles dieselben Beziehungen“280 Rogers´ Ansatz, die Theorie von der
therapeutischen Beziehung auf fast alle anderen Lebensbereiche zu übertragen, ist
mindestens in einem Punkt problematisch: Wenn man auch davon ausgehen kann,
dass partnerschaftliche Beziehungen in der Regel von Menschen gewissermaßen auf
„Augenhöhe“ geführt werden, stellt sich eine therapeutische Beziehung in der Regel
anders dar. Es ist der Berater, der durch eine kongruente, empathische und
akzeptierende Haltung den Prozess der Selbstaktualisierung beim Klienten auslösen
soll. Der Berater ist es, der gleichsam in „Vorgabe“ geht. Er ist der „Experte“; er ist
es, der sozusagen in die Haut des Klienten schlüpft, nicht umgekehrt. Die
therapeutische Beziehung ist keine klassische partnerschaftliche Beziehung, sondern
in erster Linie eine einseitige Beziehung mit unterschiedlichen Rollen und Aufgaben.
Eine Therapeutin beschreibt den Unterschied: „In der Psychotherapie verpflichte ich
mich zu etwas, was ich in keiner anderen Beziehung tue: Solange ich Therapeutin bin,
richte ich, soweit ich dazu fähig bin, ausschließlich auf den Klienten aus. Ich erlaube
mir nicht, geistig abzuschweifen oder mich ablenken zu lassen. Das erfordert sehr viel
Disziplin, Konzentration und Bewusstheit.“281
Diese aufgeführten theoretischen Schwächen veranlassen mich jedoch nicht, meine
Sympathie für den klientenzentrierten Ansatz auch nur einen Deut aufzugeben. Im Gegenteil:
Dieser Ansatz, der mir verholfen hat, meine beruflichen und privaten Begegnungen mit
anderen Menschen befriedigender zu gestalten, hat trotz seiner theoretischen Defizite für mich
einen immer noch sehr hohen Stellenwert. Zeigt er mir doch wieder einmal, das offenbar
keine Theorie und kein Denken alle Fragen und Probleme zufriedenstellend beantworten
kann. Gerade die ideologiekrtischen Aspekte haben vom Inhalt her sicher ihre Berechtigung.
������������������������������������������������������������279�Pörtner,�S.74�280�Ebenda,�S.�75�281�Ebenda,�S.76�
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Gewiss ist der Anspruch des späten personenzentrierten Ansatzes idealistisch und
problematisch, die Welt verändern zu können, ohne dabei im ausreichenden Maße die realen
Machtverhältnisse zu berücksichtigen. Aber anders herum: Was bleibt, wenn man sich immer
auf die Dominanz gesellschaftlicher Machtverhältnisse beruft? Was nützt es, wenn man
theoretisch „recht“ mit seiner Gesellschaftanalyse hat, und letztendlich darüber seine eigene
Machtlosigkeit wahrnehmen muss? Kann sich nicht die Utopie von einer besseren Welt zur
realen gesellschaftlichen Kraft entwickeln, wenn viele Menschen den Mut und den Glauben
daran haben? Ist dieser Glaube an eine bessere Welt nicht wesentliches Element menschlicher
Existenz? Ist nicht auch viel Wahres dran, wenn wir sagen: „Glaube versetzt Berge“? Ich
denke an Victor Frankl, dessen Glaube an einen Sinn und an die Zukunft dazu beitrug, vier
Konzentrationslager zu überleben…
Fragen bleiben, denn es gibt offenbar kaum endgültige Antworten.
Vermutlich begründet die theoretische Schwäche von Carl Rogers Ansatz auch dessen Stärke;
besonders, wenn er in seinem originär therapeutischen und beraterischen Kontext zu verorten
ist: Der Ansatz ist und hat nichts Fertiges, er muss sich jederzeit in der Praxis gleichsam neu
entfalten. Seine offene und flexible Anwendung koaliert mit einem notwendig kongruenten
Berater, der es anhand seiner eigenen persönlichen und beraterischen Erfahrungen gelernt hat
und weiterhin lernen muss, sich immer wieder aufs Neue auf eine Begegnung mit einem
hilfebedürftigen anderen Menschen wirklich einzulassen. Diese Anforderung bewahrt vor
Selbstgefälligkeit und Ignoranz und begünstigt eine Haltung zur Einsicht in die eigenen
Schwächen und Unvollkommenheiten. Sie anschauen zu können und daran nicht zu
verzweifeln ist – so scheint mir – eine Kunst, die dem Selbstkonzept von Carl Rogers schon
recht nahe zu kommen scheint.
Abschließen will ich mit einem Zitat, das vieles Erörterte - wie ich finde - in wenigen Zeilen
sehr prägnant zusammenfasst:282
„Erfahrung ist für mich die höchst Autorität. Der Prüfstein für Gültigkeit ist meine eigene
Erfahrung. Keine Idee eines Anderen und keine meiner eigenen Ideen ist so maßgeblich für
meine Erfahrung. Ich muss immer wieder zur Erfahrung zurückkehren, um der Wahrheit, wie
sie sich mir als Prozess des Werdens darstellt, ein Stück näher zu kommen.“
Carl Rogers
������������������������������������������������������������282�Zitiert�von�Beuthel�in:�Rogers�2005,�S.VII�
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Erklärung
Hiermit versichere ich, dass ich diese Arbeit selbständig verfasst und keine anderen als die
angegebenen Quellen und Hilfsmittel benutzt habe.
Neubrandenburg, 10.01.2011
Norbert Reuß