Karls Ball

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031.1216.1 Yves Baer Karls Ball Turicensia « «Wer möchte nicht Karl dem Grossen, diesem legendären Staatsmann und ersten Einiger des modernen Europas, gegen- überstehen? Jedoch klangen die Schrie weiterhin verdächtig nach High Heels. Sollte etwa Karl der Grosse in Stöckelschuhen zum Ball laden?» — Wer in Zürich durch Nacht und Wind stöckelt, wird in«Karls Ball» aufgelöst. «Bei Vollmond steigt Karl der Grosse von seinem Hochsitz am Südturm des Grossmünsters hinab und lädt zum Ball, um die Huldigungen seines bunten Hofstaates entgegenzunehmen und sich über die Entwicklung seiner Stadt Bericht erstaen zu lassen. ‹Karls Ball› ist ein neodadaistisches Spektaktel und eine Liebesgeschichte der drien Art. Auf dieser erzählerischen ‹Magical Mystery Tour› durch Zürich lernen selbst gebürtige Zürcher ihre Stadt neu kennen. Manchmal gar, wie in ‹Kam- blis Weltreise›, eine Nacherzählung jenes skurrilen Banküberfalls an Ostern 2011, übertri die Realität die Fiktion und man meint Friedrich Dürrenma selig herzhaſt aus dem Jenseits lachen zu hören. Jean-Pierre Hugentobler über «Karls Ball» — »

Transcript of Karls Ball

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Yves BaerKarls Ball

Turicensia

««Wer möchte nicht Karl dem Grossen, diesem legendären Staatsmann und ersten Einiger des modernen Europas, gegen-überstehen? Jedoch klangen die Schritte weiterhin verdächtig nach High Heels. Sollte etwa Karl der Grosse in Stöckelschuhen zum Ball laden?» — Wer in Zürich durch Nacht und Wind stöckelt, wird in«Karls Ball» aufgelöst. —

«Bei Vollmond steigt Karl der Grosse von seinem Hochsitz am Südturm des Grossmünsters hinab und lädt zum Ball, um die Huldigungen seines bunten Hofstaates entgegenzunehmen und sich über die Entwicklung seiner Stadt Bericht erstatten zu lassen. ‹Karls Ball› ist ein neodadaistisches Spektaktel und eine Liebesgeschichte der dritten Art. Auf dieser erzählerischen ‹Magical Mystery Tour› durch Zürich lernen selbst gebürtige Zürcher ihre Stadt neu kennen. Manchmal gar, wie in ‹Kam-blis Weltreise›, eine Nacherzählung jenes skurrilen Banküberfalls an Ostern 2011, übertrifft die Realität die Fiktion und man meint Friedrich Dürrenmatt selig herzhaft aus dem Jenseits lachen zu hören. — Jean-Pierre Hugentobler über «Karls Ball» —»

Nicht nur im Dachstock des Grossmünsters können Sie sich auf Facebook mit anderen Le-sern und Yves Baer über dessen Schreibe aus-tauschen. Auf Slideshare finden Sie die Hefte «Elefanten nagen», «L’oiseau bleu» und die beliebten «Strandkorbgeschichten». Und selbst die Statue von Karl dem Grossen hat Yves Baers repräsentative McCartney-Playlist von vzfb.ch auf ihrem iPod programmiert.

www.twitter.com/vzfbwww.facebook.com/yvesbaerhttp://de.slideshare.net/yvesbaerwww.vzfb.ch

Yves BaerKarls Ball

«Leonards Schuh» widme ich Leonard Cohen, «Stück vom Himmel» dediziere ich meinem Sänger- und Wanderfreund Werner Steinert, der während des Nachtessens Zeuge wurde, wie ich nach dem Musenkuss sogleich die Geschichte notieren musste und «Karls

Ball» eigne ich mit tanzenden Fingern auf der Tastatur meiner langjährigen Testleserin Beate Steininger zu.

Impressum«Karls Ball» © 2007 – 2016 VzfBSämtliche Illustrationen und Fotos sind von Yves Baer © 2014 – 2016 VzfB«Züri West» erschien 1987 auf «Sport & Musik»«Boogie Street» von Leonard Cohen erschien 2001 auf «Ten New Songs»«Auf dem See», Johann Wolfgang Goehte, verfasst in Zürich am 15. Juli 1775 Jegliche Weiterverwendung und Publikation ist nur mit der schriftlichen Genehmigung des Verlages erlaubt.Yves Baer’s Verlag zum froehlichen Baeren VzfBRiedhofstrasse 60CH-8049 Zü[email protected] | www.vzfb.ch© dieses Heftes 2016

Nobile Turegum multorum copia verum. Nobles Zürich, vieler Könige Reichtum.Grammatisch inkorrekte Inschrift über einem Zürcher Stadttor im Frühmittelalter.

Turegum nobilissimum sueviae opidum. Zürich, die noble schwäbische Stadt.Kaiser Friedrich 1 Barbarossa über Zürich, gemäss seines Biografen Otto von Freising.

U wenn i z’Bärn am Fäschter staa ud Sunne grad im Meer versinkt, u mis einsame Härz schmärzt so fescht, de dänken i a di un es zieht mi schwär zu dir nach Züri.

Züri West – «Züri West», 1987; Text: Kuno Lauener, Musik: Züri West

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Inhalt von Dürrenmatt überholt 6Leonards Schuh 7Kamblis Weltreise 10Karls Ball 16Woody Allen 33Stück vom Himmel 34 Wie «die Nacht der Schaufensterpuppen» zu «Karls Ball» wurde 36Stadtplan 37literarische Sehenswürdigkeiten in Zürich 38Diese und weitere Turicensia… 39

von Dürrenmatt überholtFriedrich Dürrenmatt überholt mich. Für eine kurze Zeit sind wir gleichauf, dann steige ich über eine Rampe in die Höhe, während er mir zunächst noch folgt, bevor er sich unter mir hindurch meines Blickes entzieht. Sofort spielt mir mein Kopfkino die Bilder von Dürren-matts Kurzgeschichte «der Tunnel» ab. Mit einem Grinsen auf den Stockzähnen erinnere ich mich an den Zug, der in einem Tunnel immer schneller und schlussendlich von der Dun-kelheit verschlungen wird. Den Scheitelpunkt der Rampe erreichend, stehe ich auf und bege-be mich zum Ausgang. Durch das Fenster in der Tür schauend, erblicke ich den Intercity «Friedrich Dürrenmatt» nach Biel, Neuchâtel, Lausanne, Genf aus dem Erdinneren auftau-chen und beschleunigen, während die bremsende S9 die Rampe verlässt und die Europabrü-cke unterquerend in den Bahnhof Altstetten einfährt.

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Leonards SchuhNach all den Jahren hielt ich wieder diese Ausgabe des «Rolling Stone» in der Hand, un-schlüssig, ob ich sie mit den anderen, die ich Jahre lang auf dem Estrich gelagert hatte, entsor-gen sollte. Auf dem Titel war jenes Foto von Leonard, das ihn im Arrangement eines Ukiyo-e Holzschnittes in der Hocke an einem Strand zeigte: Über ihm der blaue Himmel, unter ihm der goldene Sand, auf der Bildlinken zu Leonards Rechten der graublaue pazifische Ozean, dessen Wellen sich auf der Höhe seines Ellenbogens brachen. Die unscharfe weissgraue Ku-lisse einer Vergnügungsmeile nahm hinter seinen Schultern die Komposition wieder auf und verlieh dem Bild optisch Tiefe. Kaum breiter als eine feine Linie, trennten dort blaugrün be-waldete Hügel den Himmel von der Erde. Neben Leonards linker Schulter ragte anstelle des erhabenen schneebedeckten Gipfels des Fuji ein Riesenrad einem Pickel gleich in den Him-mel. Herausfordernd schaute Leonard in die Kamera, das Foto für ihn merkbar mehr Pflicht denn Freude. Leonard, der grosse, alte Dichter unter den Songwritern, trug ein weisses Hemd, das er mit einem Anzug konterkarierte, der so kleidsam und schwarz war wie seine Depressionen. Ich erinnerte mich, dass Leonard damals von einem Berg hinabgestiegen war. Die fünf Jahre bevor dieses Foto aufgenommen worden war, hatte er in einem Kloster zwei-tausend Meter oberhalb der Stadt der Engel auf dem Mount Baldy verbracht, um seinem Freund und Zen-Meister Kyozan Joshu Sasaki zu dienen. Dort hatte er versucht, Ruhe zu finden vor der Boogie Street, war dem Lärm des städtischen Molochs entflohen und wollte mit Meditation der Kunst abschwören. Ich schüttelte lächelnd den Kopf: Der Kunst abzu-schwören… Als ob es Leonard nicht besser wusste.

Nach all den Jahren übte das Titelbild noch immer die gleiche Faszination auf mich aus. Das Foto dokumentierte die Rückkehr des Silberschopfes mit der goldenen Stimme, der aus dem Kloster zehn neue Lieder mitgebracht hatte, darunter jenes über die Boogie Street, diesem harten Pflaster namens Leben. Bei der neuerlichen Bildbetrachtung versuchte ich die seither vergangenen Jahre auszublenden: Leonards weitere Alben, das beeindruckende Konzert im

Das dreizehnjährige Magazin, dessen Titelgeschichte Leonard gewidmet war, behielt ich, die anderen Ausgaben band ich erneut zusammen und deponierte sie endgültig zur Entsorgung am Strassenrand.

Zurück in meiner Wohnung setzte ich mich auf mein Sofa. Während ich Leonards verträum-ten Gesang über die Boogie Street lauschte, studierte ich das Foto, entschlossen, das Geheim-nis des fehlenden Schuhs zu lösen. So als ob ihn alles nichts anginge, kauerte Leonard unver-ändert am Strand, über ihm der blaue Himmel, neben ihm der blaugraue Pazifik, unter ihm der goldene Strand. Zum ersten Mal fielen mir die Altersflecken auf Leonards Händen auf, etwas später bemerkte ich das weisse Zifferblatt seiner silbernen Uhr, die er am linken Hand-gelenk trug. Je länger ich das Foto betrachtete, desto mehr schien es mir, dass nicht ich neu-gierig auf die abgebildete Person schaute, sondern dass Leonard mich vom Titelbild aus stu-dierte. Bei eingehender Betrachtung war sein Blick düster, melancholisch und entgegen der Ruhe, die das Bild ausstrahlte, durchdringend. Leonard hatte trotz eines angedeuteten Lä-chelns seine Stirn in Falten gelegt. Ganz so, als ob er sich fragen würde, wer ihn da auf dem Titelbild anstarrte. Wer das sei, der ihn von seiner Stube aus taxierte. Und bestimmt fragte er sich, ob der Betrachter beide Schuhe trüge oder aber barfuss wäre. Und so wich ich Leonards forschendem Blick aus… und entdeckte des Rätsels Lösung: Leonards zweiter Schuh be-fand sich auf dem Foto. Er war schon all die Jahre über dagewesen. Er trug ihn am rechten Fuss und wurde beinahe ganz durch den Schuh, den er in der linken Hand hielt, verdeckt.

Ich lächelte Leonard zufrieden an und betrachtete das Foto ein letztes Mal. Dieses Rätsel hat-te ich gelöst, dafür hielt mir das Bild ein weiteres bereit: Im Sand waren keine Fussspuren zu sehen und Leonard sank auch nicht darin ein. So, als ob er noch immer ein wenig der Welt entrückt im Kloster auf dem Mount Baldy wäre.

Hallenstadion sieben Jahre nach diesem Foto und das Wissen um seine tragische Lebensge-schichte, in der ihn seine Managerin um sein Vermögen betrogen hatte und trotz Schuld-spruch das Geld verschwunden geblieben war. Von all dem noch nichts wissend, steckte auf dem Bild Leonards goldene Sonnenbrille in seiner rechten Hand, die er auf dem Knie ab-stützte. In der linken hielt er einen schwarzen Strandschuh, der den rechten Fuss verdeckte. Leonard war barfuss. Immer wieder schaute ich mir seine Füsse an. Wo war der zweite Schuh? War der Fotograf zu schnell gewesen und Leonard konnte nur den einen mitneh-men? Oder hatte er ihn gleich daneben mit seinen persönlichen Sachen, dem guten Buch, dem Portemonnaie und dem Notizbuch mit Kugelschreiber zurückgelassen? Oder hatte er ihn irgendwo vergessen? Hätte Leonard aus dem Foto gesprochen, ich hätte ihn nach dem Verbleib des Schuhs gefragt und mich nach dem Sinn seiner stummen Aussage erkundigt. War er noch immer mit einem Fuss im Kloster? War er dort in himmlische Gefilde aufgebro-chen und nur noch mit einem Fuss in unserer schnöden Welt mit ihrem Lärm und dem Schmutz der Boogie Street? Ich schaute Leonard mit Nachdruck an: Gut sah er aus, beinahe schon unverschämt. Die Jahre der Absenz schienen wie ein Jungbrunnen auf ihn gewirkt zu haben. Das Klosterleben hatte ihn, wie später bekannt werden sollte, von seinen Depressio-nen befreit.

Schlussendlich legte ich das Heft mit Leonards Foto auf die restlichen «Rolling Stone»-Aus-gaben des Jahrgangs, band diese zusammen und trug das Bündel zur Strasse hinab. Noch immer kauerte Leonard auf einem Strand an der Pazifikküste bei Los Angeles. Jedoch nun ordentlich gebündelt unter einem adrett gestutzten Stachelgebüsch an einer ruhigen Strasse in einem gepflegten Zürcher Aussenquartier. Er schaute mich unverändert herausfordernd aus dem Foto an, während er gleichzeitig stoisch seiner Reziklierung als Wellpappe, Zei-tungs- oder Klopapier entgegenblickte. Zurück in meiner Stube legte ich eine CD auf und liess Leonard seine poetischen Lieder singen. Seiner voluminösen Bassstimme lauschend, studierte ich über dessen fehlenden Schuh auf dem Foto nach. Schlussendlich ging ich zur Strasse hinab und holte das Bündel mit Leonards «Rolling Stone»-Ausgabe wieder hoch.

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Kamblis WeltreiseAm Gründonnerstag 2011 war es sonnig mit Temperaturen bis gegen 20 Grad. Der Kalender zeigte den 21. April an, als Kambli die Filiale der Kantonalbank im Zürcher Aussenquartier Seebach betrat. Kambli, Doktor phil. und Gymnasiallehrer im Ruhestand, war barfuss, trug ein buntes Hemd und kurze Hosen, vielleicht waren es auch nur bunt bedruckte Boxershorts. Kambli führte einen Rollkoffer mit sich. «Das ist ein Überfall!», sagte er bedrohlich zu Ana Vescovic, der schwarzhaarigen Frau mit den Rehaugen und einer weissen Bluse hinter dem Schalter. «Ich brauche eine Million – Aber für den Anfang reichen auch 400 000 Franken.» Ana erschrak heftig und konnte nicht mehr reagieren, weshalb Kambli bedrohlich rief: «Geben Sie das Geld her, sonst passiert et-was.» Er begann am Rollkoffer herumzufummeln, während er die am ganzen Körper zittern-de junge Frau nicht aus den Augen liess. Vor zwanzig Jahren, als sie ein kleines Kind gewesen war, waren ihre Eltern mit der ganzen Familie vor den Kriegsgräueln in Kroatien in die Schweiz geflohen. Ana, vor Angst gelähmt, konnte weder den Typ in seinem seltsamen Auf-zug auslachen noch den stummen Alarm auslösen. «Was, wenn er nun eine Waffe aus seinem Koffer holt?», fragte sie sich. «Besser, ich tu’, was er sagt…» Mit zitternden Fingern tippte sie ihren Code für die Kasse ein. Doch das verfluch-te Ding blieb verschlossen. Sie tippte ihren Code ein zweites Mal ein und hörte, dass der Alte seinen Koffer öffnete. «Lieber Gott, mach dass er keine Waffe mit dabei hat! Und dass sich diese verdammte Kasse öffnen lässt…» Erneut musste sie sich beim Tippen vertan haben, der Deckel blieb zu. Ver-zweifelt schaute sie den Alten an, der bedrohlich eine Waffe über seinem Kopf hielt. «Eine Bratpfanne…», schoss es ihr erschrocken durch den Kopf, «das tut weh, wenn man damit eines übergezogen kriegt.» Ihr Herz klopfte ihr bis zum Hals hoch. «Warum lässt sich diese blöde Kasse nicht öffnen? Nach drei Fehlversuchen sollte sie aus Sicherheitsgründen verschlossen bleiben…» Dies würde Ana zusätzlichen Ärger mit ihrem Chef einhandeln, weil der Kasse ein neuer Code einprogrammiert werden musste, da war sie sich sicher. «Was tun?», fragte sie sich desperat. Ihre Stirn war schweissnass. «Denk nach,

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Ana», zwang sie sich. Sie schaute auf ihre zitternden Hände, dann kam ihr der rettende Ge-danke: «Soviel habe ich nicht hier. Bitte kommen Sie mit mir in den Tresorraum, dort gebe ich Ihnen so viel Sie wollen», sagte sie mit überraschend fester Stimme. Kambli folgte ihr, den Rollkoffer hinter sich herziehend. Ana öffnete den Tresorraum und begann ihm unter Tränen das Geld abzuzählen. Im Tresor war noch mehr, doch der Alte schien mit den ver-langten 400 000 Franken zufrieden zu sein.«Sie müssen doch nicht weinen», sagte er beinahe väterlich und begann die Notenbündel in seinem Koffer zu verstauen. Sie kehrten in die Schalterhalle zurück, wo Kambli direkt zur Eingangstüre weitermarschierte. Dort angelangt, drehte er sich um, schaute in das rot ange-laufene und verweinte Gesicht Anas und verspürte Mitleid mit ihr, während er theatralisch mit der Bratpfanne fuchtelnd rief: «Ich werde das Geld wieder zurückzahlen!»

Nun musste Kambli noch ein paar Besorgungen machen, dann wäre alles gut. Zu Fuss ging er zum Bahnhof Oerlikon, verreisen wollte er, das ging am besten mit dem Generalabonne-ment der SBB. Damit konnte man einfach in den Zug sitzen und während eines Jahres gratis durch die Schweiz fahren. Auf der Schaffhauerstrasse nahm niemand von ihm Notiz und am Bahnhof fiel ein älterer Herr in kurzer Hose, buntem Hemd und Rollkofer nicht weiter auf. So kaufte sich Kambli am Bahnschalter ein Generalabonnement für rund 4000 Franken. Und ja, eine Weltreise hatte er schon immer machen wollen. Die buchte er auch gleich mit. Die Anzahlung dafür über 100 Franken kam ihm weder günstig noch teuer, sondern vernünf-tig vor. Dass er beides bar bezahlte, fiel nicht weiter auf. Senioren bezahlten auch dieser Tage grössere Beträge bar.

Kambli stand vor dem Bahnschalter und überlegte sich, wie er fort käme. Die Züge in die weite Welt fuhren nicht von Oerlikon aus, von hier konnte man höchstens bis nach Baden, Schaffhausen, St. Gallen, Winterthur oder Singen fahren. Letzteres war zwar in Deutschland, doch viel zu nahe an der Schweizer Grenze gelegen. Die weite Welt war per Direktzug vom

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«Afrika», dachte Kambli, «das ist ein gutes Etappenziel. Am Hauptbahnhof werde ich mir ein Billett nach Afrika kaufen.» Nach wenigen Minuten hielt der Elfer an der Haltestelle Bad Allenmoos. In Gedanken sah sich Kambli im Freibad an der Sonne liegen. «So gerne ich hier gewesen bin, was ist die Liegewiese im Allenmoos schon gegen einen Pal-menstrand in Afrika?» Das Tram fuhr weiter, die nächste Haltestelle war beim Radiostudio. «Ob sie im «Regionaljournal» über meinen Banküberfall berichten werden?», fragte er sich. Vom Bucheggplatz an, diesem gigantischen Verkehrsknotenpunkt auf dem Milchbuck, gekrönt mit der Spinne genannten roten Fussgängerpasserelle, dem Schnittpunkt zwischen Zürich- und Käferberg sowie dem Limmat- und Glattal, schaute Kambli nur noch aus dem Fenster: Die Häuser verloren ihre vorstädtisch biedere Tristesse und gewannen an urbaner Grandezza, je mehr sich der Elfer dem Hauptbahnhof näherte. Schlussendlich wand sich das Tram vom Stampfenbachplatz her zwischen den Bauten der kantonalen Verwaltung mit ih-rer Sandsteinfassade entlang, ehe es nach einer scharfen Rechtskurve die Limmat über die Walchebrücke überqueren würde. Es musste jedoch am Lichtsignal beim steinernen Löwen vor der kantonalen Finanzdirektion warten. Der Verkehr auf dem Neumühlequai hatte Vor-tritt. Doch das störte Kambli nicht. Zu seiner Rechten sah er hinter den mächtigen Kastanien am Limmatufer das Landesmuseum, zu seiner Linken den Hauptbahnhof und etwas in der Ferne die Altstadt mit dem Lindenhof und den beiden Kirchen St. Peter und Fraumünster. Ein Tram fuhr über die benachbarte Bahnhofbrücke, dahinter befand sich heute ein «Coop» im ehemaligen Globus Provisorium, wovor Kambli 1968 als Student protestiert hatte und jäm-merlich vom Wasserwerfer und den Schlagstöcken der Polizisten maltärtiert worden war. Die Nacht hatte er in einer Zelle in der Uraniawache verbringen müssen. Der Elfer setzte sich wieder in Bewegung.

An der Haltestelle Bahnhofstrasse/Hauptbahnhof stieg Kambli aus. Er staunte über all die Menschen, die unterwegs waren. Von überall her schienen sie zu kommen, er erkannte Ame-rikaner, Chinesen und Afrikaner, Sikhs trugen Turbane, Türkinnen Kopftücher und Perse-rinnen Nikab. Kambli hörte Englisch, Französisch, Hochdeutsch, Holländisch und Tamil.

Hauptbahnhof aus erreichbar: Barcelona, Berlin, Hamburg, Mailand, Rom, Paris oder Wien. Damit er aber seinen Zug auch wirklich erwischen würde, musste er sich noch eine Uhr kau-fen. Am besten nähme er gleich noch eine zweite, wer weiss, ob er am Ziel noch in derselben Zeitzone wie in Zürich sein würde? Ja, so eine Reise wollte doch gut geplant sein, nicht wahr? Kambli zog den Koffer hinter sich her, als er dem Perron No. 1 folgte und in der Unterführung verschwand, die ihn direkt in den «Neumarkt Oerlikon» bringen würde, wo es ein Uhren- und Schmuckgeschäft gab. Würde er dort keine Uhr finden, die ihm gefiele, könnte er immer noch mit dem Lift in die «Migros» hoch fahren und dort eine Uhr kaufen. Doch Kambli wurde im Uhrengeschäft schnell fündig. Die beiden Armbanduhren kosteten zusammen 360 Franken. Kurz darauf trat er auf die Schulstrasse. Obwohl er eine Million benötigen wür-de, war er mit seinen 400 000 Franken abzüglich des Generalabonnements, der Anzahlung für die Weltreise und den beiden Armbanduhren noch immer gut unterwegs. Stellte sich bloss die Frage, wie er nun zum Hauptbahnhof kommen würde. Er konnte den Zug nehmen, ein Tram besteigen oder sich mit einem Taxi hinfahren lassen. Kambli entschied sich für den öffentlichen Verkehr, obwohl er an einem wartenden Taxi vorüberging. Er wollte haushälte-risch mit seinem Geld umgehen. Mit seinem Generalabonnement konnte er nun gratis mit der S-Bahn und dem Tram fahren. «S-Bahn», dachte er, «das klingt doch schon internatio-nal.» Er beschloss mit der nächsten S-Bahn in den Hauptbahnhof zu fahren. So würde das Umsteigen auf den Fernzug schneller gehen.

Kambli überquerte die Strasse und ging unter der Laube des «Swissôtels» hindurch. Ge-bannt schaute er über die Hofwiesenstrasse zum Bahnhof hinüber, die leise weisse Eleganz eines in Richtung Hauptbahnhof durchfahrenden ICE erregte seine Aufmerksamkeit. Wo er wohl herkam, von Stuttgart oder weiter? Kambli bog um die Ecke und sah an der Station zwischen «Burger King» und «Pestalozzi Bibliothek» einen Elfer warten. Mit etwas Glück würde er das Tram noch erreichen. Kaum war er eingestiegen und hatte sich gesetzt, fuhr es los. Der Elfer schien ihm der richtige Start für eine Weltreise zu sein, schliesslich hatte ihn Franz Hohler in einer Kurzgeschichte als «Tram nach Afrika» beschrieben.

Der Bahnhof Oerlikon mit dem Swissôtel und dem Neumarkt sowie den Geleisen der Tram-linie 11, Franz Hohlers «Tram nach Afrika».

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Schlussendlich kamen Anwalt Brechbühl, Staatsanwältin Inderbitzin und Richter Künzli zum selben Schluss: Dass es ihm schon viel besser ging, seit er regelmässig seine Pillen nahm. So verkündete Richter Künzli gegen Mittag das Urteil: Kambli durfte nach Hause zurück-kehren. Eine ambulante Massnahme würde reichen. Schliesslich sorgte Frau Leibundgut, sein Beistand, dafür, dass er einmal die Woche zu Doktor Robert ging. Und die Pfleger von der «Spitex» würden am Morgen und Abend bei ihm vorbeikommen, ihm seine Pillen ge-ben und im Haushalt zur Hand gehen.Ob er alles verstanden habe, wollte Richter Künzli wissen. Und obwohl Kambli nickte, er-klärte er ihm noch einmal das Urteil: «Es war Raub gewesen. Doch das Gericht hat Sie frei-gesprochen, weil es Ihnen zum Zeitpunkt der Tat an Schuldfähigkeit gefehlt hat. Man kann Ihnen nichts vorwerfen.» «Ich wusste schon immer, dass man mir nichts vorwerfen kann», antwortete Kambli. «Da die angeordnete Behandlung Erfolg zeigt und Sie für niemand mehr eine Gefahr sind, dürfen Sie wieder nach Hause gehen.»«Ich bin noch nie für jemand eine Gefahr gewesen», entgegnete Kambli indigniert. Richter Künzli schüttelte seinen Kopf und griff unter den Tisch, um einen Migros-Sack her-vorzuholen. Er entnahm daraus eine Bratpfanne – die Tatwaffe – Kamblis Bratpfanne. «Die gibt Ihnen das Gericht zurück», erklärte Richter Künzli. «Da bin ich aber froh», entgegnete Kambli erleichtert, «die hätte mir nämlich in der Küche gefehlt und eine gute gusseiserne Bratpfanne ist teuer.» Kambli stand in seinem dunkeln Anzug, gebügelten weissen Hemd und einer karierten Sei-denkrawatte hinter dem Tisch, an dem er dem Prozess beigewohnt hatte und wartete gedul-dig, bis ihm ein Gerichtsdiener die Bratpfanne mitsamt Migros-Sack übergab. Nach einer kla-ren, tiefgefrorenen Nacht war es ein sonniger Tag mit Bise und Hochnebel über dem Mittelland und rekordverdächtigen 23 Grad im Süden geworden.

Man konnte vom Hauptbahnhof aus nicht nur in die weite Welt fahren, die weite Welt kam hierher. Ja, sogar Polizisten… Kambli dachte sich nichts weiter, als ihn ein Polizist freundlich auf Züridtüsch ansprach und seinen Pass zu sehen verlangte. Kambli reichte dem Polizisten seinen Ausweis. Dieser prüfte ihn, während ein weiterer Polizist und eine Polizistin hinzuka-men. Der erste Polizist behielt seinen Pass und bat ihn, ihnen zu folgen, was Kambli ohne Wiederrede tat. Sie brachten ihn auf den Posten der Kriminalpolizei neben dem «Coop» im ehemaligen Globus Provisorium. Die Polizei beschlagnahmte seinen Koffer mitsamt der Bratpfanne und dem Geld, es waren noch 395 540 Franken übrig. Kambli wurde zunächst in eine Gefängniszelle und danach mit einer Ambulanz ins «Burghölzli», die psychiatrische Universitätsklinik, überstellt.

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Als die Gerichtsverhandlung stattfand, zeigte der Kalender Dezember 2011. Natürlich gab Kambli alles zu. Und er war froh zu hören, dass das Gericht das restliche Geld der Kantonal-bank hat zurückerstatten lassen. Ana Vescovic und die Bank liessen sich durch ihre Anwälte vertreten. Dass ihn Richter Künzli für schuldig befunden hat, verstand Kambli, dessen Be-merkung aber, dass er an einer Psychose leiden würde, befremdete ihn. Schliesslich war er nicht krank, er hatte nur unter Druck gestanden. Zudem befand er sich seit seiner Verhaftung in ärztlicher Behandlung und nahm zweimal täglich seine Pillen. Bestätigten nicht alle, dass es ihm besser ging? Sein Verteidiger, Anwalt Brechbühl, schilderte seine Fortschritte so gut, dass Richter Künzli auf die Urteilsverkündigung verzichtete und stattdessen ein zweites me-dizinisches Gutachten anforderte, das Aufschluss darüber geben sollte, ob er weiterhin im Burghölzli bleiben müsse, oder aber unter ärztlicher Aufsicht nach Hause entlassen werden konnte. Kambli vermisste seine Wohnung sehr.

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Der Kalender zeigte den 11. März 2012 an als Kambli zum zweiten Mal vor Gericht stand. Seit seinem Banküberfall war schon fast ein Jahr vergangen. Geduldig hörte er den Plädoyers zu.

Karls BallOft geht mein Blick zu Karl dem Grossen hoch, der auf seinem steinernen Hochsitz trohnt und von dort aus das emsige Treiben der Stadt überblickt, während ich auf dem Limmatquai am Grossmünster vorübergehe. So muss es auch an jenem Sommertag gewesen sein, dem ein denkwürdiger Abend folgen sollte. Mein vorabendlicher Weg führte mich vom Haupt-bahnhof kommend über die Schipfe, Gemüsebrücke und die Riviera an den See. Beim Zü-richhorn schnatterten Stockenten miteinander auf den Wellen schaukelnd, während majes-tätische Schwäne stolz dem Ufer entlang paradierten und der weisse Raddampfer Stadt Zürich vor der märchenhaften Kulisse der rotglühenden Glarner Alpen am nahen Horizont vorüber stampfte. Bekiffte Rastafaris lungerten zwischen dem sich sonnenden Volk auf der Wiese vor dem chinesichen Kaisergarten namens Drei Freunde im Winter und Jean Tinguelys Automatenplastik Heureka herum, derweil Jogger und Rollerblader ihre Runden drehten. Mit ein paar Freunden besuchte ich das Openair-Kino beim Zürichhorn, wo wir in eine bun-te Fantasiewelt mit Johnny Depp eintauchten.

Nach diesem inspirierenden Bilderreigen liessen wir den Abend im Nägelihof bei «Mère Catherine» mit einer Flasche Sancerre und einem Zino Brasil ausklingen. Es war gegen Mit-ternacht, als mich mein Heimweg über verwinkelte Gassen durch das Niederdorf führte, um noch möglichst viel vom süssen Parfüm des verwelkenden Feierabends mitnehmen zu kön-nen, bevor mich spätestens zuhause, alleine unter der Bettdecke schlummernd und nichts Böses ahnend, der fiese graue Alltag überwältigen würde… Beim Cabaret Voltaire bog ich in die Spiegelgasse ein und folgte ihr über den darunter verborgenen nacheiszeitlichen Morä-nenhügel. Kurz darauf erreichte ich den Napfbrunnen. Dahinter sassen vor dem Restaurant «Turm» eine Hand voll angeheiterter Leute um einen Gartentisch und rauchten grölend mit ihren Gläsern in der Hand, derweil hinter ihnen unbemerkt ein Schatten vorbeihuschte und danach die Spiegelgasse hochsauste. Es war ein Stadtfuchs, der aus der Oberen Zäune gekommen war. Ob er zuvor im Garten zwischen den ehemaligen Amtswohnungen von Huldrich Zwingli und Heinrich Bullinger vergebens versucht hatte, den Kaninchenstall der

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vier Kinder des heutigen Grossmünsterpfarrers zu knacken? Ich folgte Meister Reinecke und schwor vor der Nummer 12, worin Georg Büchner elend an Typhus verendet war, den Hüt-ten Frieden und den Palästen Krieg, um anschliessend vor den Schaufenstern von Nummer 14 die «Internationale» summend meine linke Faust in die Luft zu strecken. Damit glaubte ich die seit einer doppelten Ewigkeit in einem Schaufenster stehenden Lenin-Buchstützen angemessen gegrüsst zu haben, die zusammen eine rotgrüne Büste ergäben, wenn sie nicht durch einen Spiegel voneinander getrennt worden wären. Eine der Altstadt-Glocken schlug Mitternacht und begrüsste bimmelnd den neuen Tag. Nach der Nummer 16 mündete von rechts die Untere Zäune vom Obergericht kommend in die Spiegelgasse. Mein Weg neigte sich über den Leuenplatz, der 1938 durch das Abtragen einer Häuserzeile entstanden war, dem Neumarkt entgegen. In Gedanken versunken warf ich im Vorübergehen einen Blick in das erleuchtete Schaufenster der «Kleidermanufaktur SNE» am Eck zu meiner Linken. Ich liebte dieses Schaufenster, die drei Schaufensterpuppen darin wirkten im gedimmten orange-nen Licht eines Spots täuschend lebensecht. Doch hatte sich nicht eben etwas im Laden be-wegt? Ich schaute die Spiegelgasse hoch. Sie war menschenleer, nicht einmal eine Katze war auf der Jagd. Bloss der Vollmond stand seeseitig über den Häusern mit den geraden Num-mern und beleuchtete die Stadt mit seinem fahlen Licht. Ich trat an die gläserne Ladentür und schaute ins Innere, die Schaufensterpuppen konnte ich über Eck von hinten sehen. Im Laden schien alles in Ordnung zu sein. Eine langhaarige und eine kurzhaarige Schaufenster-puppe standen vor einer dritten, langhaarigen Puppe, die lässig auf einem weissen «USM-Haller»-Möbel flätzte. Plötzlich bewegte sich etwas im Ladenlokal und ehe ich blinzeln konnte waren die Puppen aus dem Schaufenster auf den Leuenplatz davor gesprungen. Sie klatschten einander triumphierend ab und lachten dabei schauerlich. Es war kein menschli-ches Lachen, es erinnerte mehr an das Kreischen einer Säge oder an das Bellen einer Hyäne. Eine der beiden langhaarigen Frauenpuppen entdeckte und zeigte auf mich, dabei stiess sie wie-der ihr seltsames Lachen aus. Die Kurzhaarige stand im nächsten Augenblick vor mir und fasste mich an der Hand. «Komm mit», sagte sie liebevoll.

«Wohin denn?», fragte ich verwirrt und versuchte mich von ihrem Griff zu befreien.«Zu Karls Ball.»«Danke für die Einladung. Aber ich bin müde und möchte nach Hause», wehrte ich ab.«Und ich möchte, dass du mich begleitest. Du gefällst mir.»«Danke, du gefällst mir auch. Du wirkst so lebensecht», entgegnete ich verwirrt.«Aber ich lebe doch!», entgegnete sie pikiert. «Weisst du denn nicht, dass Schaufensterpup-pen zur Geisterstunde zum Leben erwachen?»«Nein, das wusste ich nicht», entgegnete ich.«Er weiss es nicht!», lachte die eine Langhaarige und sagte dann: «Wir haben dich schon oft gesehen, wie du an unserem Schaufenster vorbeigegangen bist.» «Jedes Mal schaust du hinein, bist mehrmals davor stehen geblieben und hast uns betrach-tet», ergänzte die zweite langhaarige Puppe.«Du hast uns und nicht die Kleider, die wir tragen, angeschaut», fuhr die Kurzhaarige fort. «Und weil du mir gefällst, habe ich dir jeweils gewinkt. Hast du das nicht bemerkt?» Das war also der vermeintliche Schatten, den ich vorhin gesehen habe. Heute war es nicht das erste Mal, dass ich eine Bewegung im Schaufenster wahrgenommen habe. Wenn ich es mir recht überlege, so hatte ich in den letzten Jahren oft das Gefühl gehabt, dass sich die kurz-haarige Puppe bewegt hätte.«Ich habe manchmal gemeint, eine Bewegung gesehen zu haben. Aber für Menschen ist es unvorstellbar, dass sich Schaufensterpuppen von alleine bewegen und so hielt ich es für eine Täuschung oder einen Lichtreflex», versuchte ich mich herauszuwinden.«Ätsch, er hat dich gesehen…», neckte die erste langhaarige Puppe aufgedreht.«Er hat dich gesehen!», ätzte auch die zweite. Für dass es sich um Puppen einer Designerin handelte, die schlichte, unaufgeregte Mode entwarf, waren sie ziemlich aufgekratzt.«Wie heisst du?», fragte die Kurzhaarige. Ich nannte meinen Namen. «Möchtest du denn nicht wissen, wie wir heissen?», fragte die neckende Langhaarige. «Doch, das möchte ich gerne», antwortete ich leicht verlegen. Auf die Idee, dass Schaufens-terpuppen Eigennamen trügen, bin ich nicht gekommen.

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«Ich bin K127.45.349 S» sagte die Kurzhaarige. «Das S steht für mein schwarzes Haar.»«Und wir sind L127.45.350 B. Das B steht für unser schönes braunes Haar.»«Aber Simone und die Verkäuferinnen nennen uns Vreni, Petra und Annika», ergänzte die zweite Langhaarige.«Ich habe mir oft gewünscht, dich näher kennenzulernen», sagte Annika verträumt. «Und heute ist die Gelegenheit dazu.»«Weil heute Karl zum Ball lädt», ergänzte Vreni kichernd.«Welcher Karl?», fragte ich und erwartete die Beschreibung einer durchgestylten Schau-fensterpuppe aus dem «PKZ» oder dem «Globus» an der Bahnhofstrasse. Doch weit ge-fehlt, eine solch erstaunliche Antwort habe ich niemals erwartet: «Weisst du denn nicht, dass Karl der Grosse bei Vollmond um Mitternacht von seinem Kirchturm hinabsteigt und zum Ball auf dem Münsterhof lädt?», erkundigte sich Petra.«Nein, das wusste ich nicht», entgegnete ich erstaunt und stellte mir vor, wie die Karlsstatue vom Kirchenturm kletterte.«Das kannst du auch nicht wissen, es ist ein Geheimnis», meinte Annika. «Ein gut gehütetes Geheimnis», ergänzte Petra und lachte ihr Hyänenlachen. «Kommst du mit?», fragte Annika und schaute mir treuherzig in die Augen, während sie nach meiner zweiten Hand griff. Mit Karl dem Grossen hatte sie mein Interesse geweckt. Und so sagte ich: «Ja, ich begleite dich.»

Einen Augenblick später befanden wir auf dem menschenleeren Münsterhof. Wie wir dort-hin gekommen sind, konnte ich nicht sagen. Der Münsterhof war trotz der nächtlichen Stun-de so belebt wie zu den besten Tageszeiten. Allerdings wurde er wohl von der verwunder-lichsten Gesellschaft bevölkert, die ich bisher in meinem Leben getroffen habe. Irgendwie kannte ich fast jeden, schliesslich sah ich sie täglich, wenn ich durch die Gassen der Altstadt zur Arbeit ging. Sie waren alle da, die Figuren von den Brunnen, den Häusern und den Kir-chen. Von allen Seiten strömten weitere Schaufensterpuppen auf den Platz. Sie trugen die Reliefs und Büsten von den Ballustraden und Fassaden der repräsentativen Bürgerhäuser

Petra, Annika und Vreni in ihrem Schaufenster.

Annika beobachtet das Stadtleben.

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und Kirchen der Altstadt unter dem Arm. Einige fanden es lustig, sich eine Büste oder ein Kapitell vor den Kopf zu halten, um mit dieser steinernen Maske die anderen zu erschrecken, ehe sie in ihr Furcht erregendes Lachen ausbrachen, das von den Fassaden um den Münster-hof herum als Echo hallte. Wieder andere führten Kronen, Tiere und die anderen Gegen-stände, welche die Altzürcher an ihren Häusern abgebildet hatten, mit sich. Und so beobach-tete ich amüsiert, wie sich die Schabernack treibenden Puppen mit der Messingbretzel von «Vohdin», der 1626 gegründeten Bäckerei im Oberdorf, gegenseitig unterjochten, indem sie kichernd und kreischend versuchten, sich damit einzufangen und sich dabei die Bretzel um den Hals zu legen. Jedoch begann ich beinahe Mitleid mit einer hellblauen Schaufensterpup-pe aus dem «Grieder» zu empfinden, die vor Schreck zu weinen begann, als eine sonst ge-schniegelte männliche Puppe sich den Kindlifresser aus dem Grossmünster-Kreuzgang vor das Gesicht hielt – eine allegorische Raubkatze, aus deren Mund bloss noch der nackte Kinderhintern und die Beine ragten – und fürchterlich «Buh!» rief. Ich brauchte kaum noch Fantasie, um vor meinem geistigen Auge die nackten Beinchen verzweifelt im Mund stram-peln zu sehen, ehe das Monster ein letztes Mal kräftig zubeissen würde… Zweifellos würde ich das schauerliche Lachen der anderen Puppen, dessen Spektrum nun um Pferdewiehern ergänzt wurde, über die Tränen der zartbesaiteten Schaufensterpuppe in schlechter Erinne-rung behalten.

A propos Wiehern, auch die Denkmäler waren mittlerweile lebendig geworden. Hans Wald-mann war von seinem Sockel vor dem Stadthaus hinabgestiegen und tränkte sein Ross aus dem Brunnen des Münsterhofes. «Aus dem Brunnen fliesst Wein», sagte Annika bedeutungsvoll.«Aber nicht in den Trog, woraus das Pferd trinkt», entgegnete ich lapidar. «Du hast recht, der Wein ist nicht im grossen Trog, hierfür ist Karl zu knausrig. Der Brunnen hat zwei Leitungen und zwei Tröge», erwiderte Annika. «Wie beim Sechseläuten, da fliesst der Wein auch aus dem kleinen Brunnenrohr», sinnierte ich. «Hast du Durst? Ich bringe dir Wein.» Ehe ich etwas sagen konnte, war Annika beim Brun-

nen und stand artig hinter einem guten Dutzend weiterer Puppen für Wein an. Ich glaubte sowohl die gesichtslosen weissen aus der Edelboutique «Trois Pommes» als auch die etwas stärker profilierten aus den internationalen Billigmodeketten wie «H&M» zu erkennen. Und so schaute ich zum Grossmünster hinüber, um mich zu vergewissern, dass wenigstens Karl der Grosse auf seinem Hochsitz am Südturm sitzen würde. Es überraschte mich jedoch in dieser sonderbaren Nacht nicht weiter, dass unterdessen auch sein Thron verwaist war. Ich liess meinen Blick über die illustre Gesellschaft auf dem Münsterhof schweifen. Irgendwo musste der Gastgeber doch sein…Während ich mich nach Karl dem Grossen umschaute, erschrak ich heftig, als es auf einmal neben mir Furcht erregend knurrte. Kapitän Haddocks berühmtberüchtigte hunderttausend heulenden und jaulenden Höllenhunde schienen da-gegen nur noch Kinderkram zu sein, es war mir tatsächlich so, als ob ich den heissen Atem hungriger Bestien im Nacken fühlte. Ich drehte mich vorsichtig in Richtung des Knurrens um und erwartete einen Hund, mindestens eine dänische Dogge, wenn nicht gar einen Wer-wolf, zu sehen. Doch als ich in das steinerne Antlitz eines Löwen schaute, erschrak ich noch einmal. Wenn es sich denn bloss um einen einzigen Löwen gehandelt hätte… doch ich blickte in die zähnefletschenden Gesichter eines steinernen Löwenrudels. Natürlich hatte ich die Viecher schon gesehen, nicht auf dem Münsterhof, sondern auf dem Dach des Leuen-hofs, dem Hauptsitz der ehemaligen «Bank Leu», drüben an der Bahnhofstrasse. «Du fürchtest dich doch nicht etwa vor dem Zürileu?», fragte Petra und lachte schauerlich.«Du bist doch Zürcher?», schickte Vreni hastig nach.«Das bin ich, schon mein ganzes Leben lang…»«Dann hast du nichts zu befürchten. Der Zürileu frisst nur…»«Ich höre etwas!», unterbrach Vreni alarmiert.«… Aargauer, Basler, Berner und Innerschweizer… Garniert mit bedäpperten Touristen aus Deutschland, Russland, den USA und China», wollte ich die Menükarte des städtischen Wappentieres zitieren, doch dann hörte ich es auch. Es klang nach Schritten. Und die Gesell-schaft auf dem Münsterhof benahm sich auch so, als ob im nächsten Moment ungebetene Gäste wie beispielsweise das Überfallkommando der Stadtpolizei den Platz einnehmen wür-

Der Brunnen auf dem Münsterhof (2016), aus dem gleichzeitig Wein und Wasser fliessen kann.

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den. Ich horchte und vernahm den Klang von Stöckelschuhen. Und so hörte ich noch einmal hin. Das Geräusch kam weder von den Hufen eines Pferdes, da sich Hans Waldmanns Ross unterdessen mit Blumen aus einem Kübel beim «Café Presse Club» schadlos hielt, noch von einem über den Boden gestossenen Stuhl, damit sich Kaiser Karl auf einen improvisier-ten Thron setzen konnte, um standesgemäss Hof zu halten, es waren eindeutig Stöckelschu-he, die über den nächtlichen Asphalt klapperten. Je lauter die Schritte hallten desto nervöser wurden die Schaufensterpuppen und Figurinen. Bestimmt gehörte dies zum majestätischen Auftritt von Karl dem Grossen, der feierlich vom Grossmünster herkommend über die Münsterbrücke schreiten und auf dem Münsterhof im Nachtschatten des Fraumünsters ein-ziehen würde, um von seinem närrischen Hofstaat den gebührenden Respekt einzufordern, während dieser die Nacht zum Tag machte. Und so blickte ich erwartungsvoll und seltsam ergriffen zur Münsterbrücke hinüber: Wer möchte nicht Karl dem Grossen, diesem legen-dären Staatsmann und ersten Einiger des modernen Europas gegenüberstehen? Jedoch klan-gen die Schritte weiterhin verdächtig nach High Heels. Sollte etwa Karl der Grosse in Stöckel-schuhen zum Ball laden? Die Schritte kamen aus der Fraumünsterstrasse und ich kann nicht sagen, was zuerst geschehen war, vielleicht ereignete sich auch alles miteinander. Ein Paar kam vom Paradeplatz, ging Hand in Hand dem Fraumünster entlang und verschwand da-nach um die Ecke in Richtung Stadthaus. Kurz darauf sah ich ein gelbliches Blinken hinter dem Fraumünster hervorleuchten. Dann hörte ich einen Motor starten und wenig später bog ein dunkler Siebener BMW auf die Münsterbrücke ein. Zugleich fand ich mich alleine auf dem leeren Münsterhof stehend wieder, der schwarzen Limousine nachschauend, die beim Helmhaus ins Limmatquai einbog und dahinter in der Nacht verschwand.

Tief die laue Nachtluft einatmend, fragte ich mich, ob ich geträumt hatte und schaute zum Denkmal von Hans Waldmann hinüber. Er ritt hoch zu Ross an Ort und Stelle auf seinem Sockel, so als ob nichts gewesen wäre. Und dann war dieser plötzlich leer. Im selben Moment stand Annika vor mir, so lebensecht wie in ihrem Schaufenster bei Nacht, strahlte mich an und streckte mir ein Glas Wein entgegen. Ich bedankte mich und nahm verwirrt das Glas.

«Wie konntest du so schnell sein?», wunderte ich mich, als ich vor dem Brunnen eine War-teschlange, länger als zuvor, sah.«Im Gegensatz zu all den anderen, die bei menschlichen Schritten an ihren Platz in den Schaufenstern und an den Hausmauern zurückkehren, habe ich mich hinter den Brunnen geduckt, so wurde ich bei der Rückkehr der anderen als erste bedient», erzählte Annika stolz und lächelte mir dabei schelmisch zu.«Das hat sie gut gemacht!», lobte Vreni.«Lass uns anstossen. Ich habe Durst. Seit dem letzten Vollmond habe ich nichts mehr ge-trunken», verlangte Petra. Wir stiessen miteinander an und tranken. Zumindest in meinem Glas befand sich Weisswein, der mich im Geschmack an den offiziellen Zürcher Stadtwein erinnerte, einen Riesling-Silvaner, der am Kirchenhügel im heutigen Aussenquartier Höngg, einem ehemaligen Lehen des Grossmünsters, oberhalb der heutigen Europabrücke wuchs, und mit dem ich als Höngger zu genüge an Quartieranlässen angestossen hatte. Es verwun-derte mich nicht weiter, dass Karl der Grosse – von dessen Skelett die Zürcher im Hochmit-telalter einen Finger als Reliquie aus Aachen haben kommen lassen und diesen bis zur Refor-mation mindestens ebenso sehr verehrt hatten wie die Schädel ihrer frühchristlichen Stadtheiligen Felix und Regula – dass also sein sonst am Grossmünster-Turm thronendes steinerne Abbild bei seinem Vollmondball für sein bizarres Volk den offiziellen Stadtwein aus dem ehemaligen Kirchengut aus dem Brunnen auf dem Münsterhof fliessen liess. Was den modernen Zünften am Sechseläuten recht war, sollte offenbar Karl dem Grossen billig sein. «Du hast dich hinter dem Brunnen versteckt?», fragte Vreni erstaunt.«So ist es», antwortete Annika stolz.«Du verwegenes Biest», kommentierte Petra, was Vreni ihr an das Kreischen einer Metallsä-ge erinnerndes Lachen entlockte. Meine drei Begleiterinnen stiessen lachend auf diesen püppischen Akt der Tollkühnheit an.«Und wenn nun jemand vom «Zeughauskeller» kommend den Platz überquert und dich entdeckt hätte?», fragte Vreni auf einmal vorwurfsvoll.«Dann hätte sie unser Geheimnis verraten», lachte Petra hässlich und trank einen Schluck.

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«Ich wäre wie eine vergessene Schaufensterpuppe neben dem Brunnen gestanden, schliess-lich bin ja auch eine. Zudem vergessen die Menschen dauernd etwas. Erinnert ihr euch noch an den Typ, der letzte Woche beim Bezahlen den Code seiner Kreditkarte vergessen hatte?» Während die Bemerkung über das menschliche Vergessen meinen Widerspruch herausfor-derte, stiessen die drei Puppen hyänenlachend miteinander an. Doch bevor ich protestieren konnte, begann das Wort «Er kommt» die Runde zu machen. Sämtliche Puppen versteiften sich und vergassen den Schabernack, den sie bis anhin noch getrieben hatten. Ehe ich michs versah, herrschte nach dem heillosen Durcheinander auf dem Münsterhof peinlich genaue Ordung. Sämtliche Figurinen standen nach ihrer Herkunft beieinander. So erkannte ich vom Grossmünster die angebundenen Affen, die Jogafrau und König David, der zwei Zürileuen einen Psalm fiedelte. Zu ihren Füssen lagen säuberlich aufgereiht die Köpfe der Kapitelle. Dasselbe wiederholte sich mit den Figurinen des Fraumünsters, zuvorderst lag der wunder-schöne Madonnenkopf, den jüngste archäologische Grabungen wiederentdeckt hatten, dem vor einem halben Millennium von religiösen Fundamentalisten und ebensolchen Kunstba-nausen während des Bildersturmes der Reformation die Nase abgehackt worden war, ehe er verstümmelt und entleibt in einer Abfallgrube zum zeitweiligen Vergessen verurteilt worden war. Durch den Auftritt von Karl dem Grossen hatten sich selbst die albernsten Schaufenster-puppen ordentlich nach Geschäft und Boutique aufgeteilt, so fand ich mich unversehens in einer kleinen Gruppe mit Vreni, Petra und Annika wieder. Letztere hielt zärtlich meine Hand und flüsterte bedeutungsvoll: «Nun kommt Karl der Grosse. Bist du bereit?»«Was für eine Frage!», dachte ich. Seit Jahr und Tag schaute ich zu Karl an seinem Turm hoch, an dem er seit Jahrhundert und Jahrzehnt hing. «Ja, ich bin soweit», antwortete ich und erwiderte mit meinem Daumen ihr zärtliches Strei-cheln über meine Hand. Ich schaute Annika von der Seite an, sie schwelgte im siebten Him-mel, und dies nicht, weil sie gleich Karl dem Grossen gegenüberstehen würde. Im Licht der Strassenlaternen kam sie mir erneut so wirklich, so lebensecht vor. Doch mein Daumen strich über eine harte, kalte Plastikhand. So sehr ich es mir in diesem Moment gewünscht

hätte, die Hand einer Annika aus Fleisch und Blut zu halten, so kam ich mir auf einmal blöd vor, mit einer Schaufensterpuppe auf dem Münsterhof Händchen haltend auf die Ankunft einer Statue von Karl dem Grossen zu warten.

Dann stand er ohne Vorwarnung vor uns, der leibhaftige, aber dennoch bloss steinerne Karl der Grosse mit dem verhältnismässig zu grossen Kopf und musterte uns von Angesicht zu Angesicht. Ich zählte jedes einzelne seiner Barthaare, um nicht in seine glühenden Augen schauen zu müssen. Zudem spürte ich das Zittern von Annika, während sie Hilfe suchend meine Hand drückte. Ich hätte schwören können, dass die sonst kecke Schaufensterpuppe plötzlich Handschweiss gekriegt hatte, als wir Aug in Aug mit Kaiser Karl gestanden hatten. Und doch war es ein erhebendes Gefühl und es fiel mir spontan kein zweiter Staatsmann ein, der bei mir ähnliche Emotionen ausgelöst hätte. Vielleicht noch Kaiser Friedrich II. von Ho-henstaufen, der im 13. Jahrhundert den Urnern und Schwyzern die Reichsfreiheit verliehen hatte, auf die sich 1291 die schweizerischen Gründerväter beim Rütlischwur bezogen hatten. Doch welcher heutige Politiker hatte ähnliches Format?

Kaiser Karl sprach ein paar Worte zu Annika, die leer schluckte, meine Hand losliess und am ganzen Körper zitternd, sich «sehr wohl, Majestät» murmelnd verbeugte. Karl der Grosse hielt ihr seine rechte Hand hin. Annika ergriff sie scheu, führte sie an ihre Lippen und küsste demütig die steinerne Hand. Petra und Vreni zitterten derweil nicht weniger und verbeugten sich, einander an Respekterheischung überbietend. Das ganze kam mir lächerlich vor, der steinerne Karl der Grosse als Kaiser über devote Schaufensterpuppen aus Plastik. Ich hätte beinahe mit Lachen begonnen, wenn mir nicht zu allem Überdruss das steinerne Löwenru-del vom Leuenhof um die Beine gestrichen wäre und sich neben mich gesetzt hätte. Für ei-nen Moment kreuzten sich Karls und mein Blick und ich fragte mich, wem nun die gesamte Szene dadaistischer vorkam: Dem steinernen Kaiser Karl, Aug in Aug mit mir Mensch ste-hend, oder mir, umgeben von steinernen Löwen und Kotau machenden Schaufensterpup-pen vor einer Respekt heischenden Statue Karls des Grossen.

Die Jogafrau (links) und die gebundenen Affen bzw. Dämonen (oben) aus dem Grossmüns-terkreuzgang. König Da-vid und die beiden Lö-wen vom Hauptportal (nächste Seite).

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Ein Raunen ging durch die Menge und wir vernahmen den Klang von Schritten. Seltsam dumpf klingenden Schritten. Karl der Grosse drehte seinen Kopf und blickte zur Münster-brücke hinüber, woher die Schritte kamen. Ich folgte seinem Blick: Das Zwingli Denkmal kam über die Brücke geeilt, ohne Bibel und ohne Schwert. Nach all den Merkwürdigkeiten an diesem verschrobenen Abend glaubte ich, dass mich nun wirklich nichts mehr überra-schen konnte. Doch kaum hatte Zwingli den Münsterhof betreten, machte Karl der Grosse zwei Schritte ihm entgegen und breitete dabei seine Arme aus, derweil sich das Löwenrudel erhob und freudig auf den Neuankömmling zuging. Die Statue und das Denkmal umarmten sich herzlich und klopften einander anerkennend auf die Schultern, so als ob sie die besten Freunde wären, dabei lagen zwischen den Lebenszeiten von Karl dem Grossen und Huld-rich Zwingli sieben Jahrhunderte. Ob die beiden Bildnisse Sichtkontakt hatten? Und wenn ja, was besprachen sie den lieben langen Tag miteinander? Ich beschloss, beim nächsten Mal auf dem Grossmünsterturm nicht nur das Panorama über die Stadt zu geniessen, sondern zur Wasserkirche hinabzuschauen, um die Frage mit dem Sichtkontakt zu klären. Während ich zuschaute wie der Leitlöwe an Zwingli hochsprang, dessen Backen ableckte und sich vom Reformator die prächtige Mähne kraulen liess, bemerkte Vreni spitz: «Er kommt spät.»«Wer kommt spät?», fragte ich überflüssigerweise.«Zwingli», antwortete Petra gar nicht amüsiert. «Er kommt immer als letzter, dann erst kann der Ball beginnen», erklärte mir Vreni.«Wieso kommt er immer als letzter?», schob ich nach.«Weil sich Zwingli mit dem letzten Glockenschlag des Mitternachtsläutens, wenn wir uns alle auf dem Münsterhof versammeln, zunächst zum Kunsthaus begibt und mit seinem Schwert das Höllentor von Rodin verschliesst. Und damit ja kein dunkler Geselle die Pforte der ewigen Finsternis überschreitet, legt er zur Sicherheit noch die Bibel vor das Tor. »«Damit wir Schaufensterpuppen die einzigen Pajasse an Karls Ball bleiben», ergänzte Petra, worauf sich die beiden Puppen anschauten und kichernd die Hände abklatschten. Einzig An-nika stand etwas verloren daneben.

«Was hast du auf einmal, Liebes?», fragte Vreni besorgt und trat zu ihr hin. Sie griff nach ihrer Hand. Auch Petra trat zu Annika und streichelte ihr zärtlich über die Wange, während sie fragte: «Warum bist du plötzlich so traurig, Schätzchen?»«Ich bin nicht traurig», sagte sie leise. «Ich muss Karl Bericht erstatten! Dabei weiss ich doch nicht, was sagen. Statt nach der Stadtentwicklung schaue ich lieber hübschen Jungs nach…»«Du arme», zischte Petra. «Wir helfen dir», ergänzte Vreni. Sie umarmten die unglückliche Annika. Diese lächelte et-was verlegen, und dann erblickte sie mich: «Und dass du dich nicht verbeugt hast, macht meine Situation nicht besser!», giftete sie mich an. Auf einmal schauten mich drei künstliche, aber nicht minder erboste Augenpaare an.«Weisst du denn nicht, dass man sich vor Karl dem Grossen zu verbeugen hat? Er ist Kaiser, hat das Grossmünster gestiftet und ist unser grosszügiger Gastgeber», fragte Vreni aggressiv.«Und du bist mein Gast!», empörte sich Annika.«Was weisst du denn überhaupt?», doppelte Petra giftig nach. Nun war für mich der Zeitpunkt gekommen, um diesen vorlauten Schaufensterpuppen ihr verrücktes Weltbild zurechtzurücken, denn sie enervierten mich allmählich.«Natürlich weiss ich, wer Karl der Grosse gewesen ist. Doch ich lebe 1200 Jahre nach ihm. Seit seinem Tod ist die Schweiz entstanden, und als freier Eidgenosse verbeuge ich mich nur vor dem Herrgott, denn die Schweiz ist eine Demokratie, da sind alle einander gleichge-stellt.» Eigentlich wollte ich noch anfügen, dass ich mich als Mensch nicht vor menschge-machten Geschöpfen verbeugen würde, doch Annika unterbrach meine Rechtfertigung, in-dem sie zu mir hintrat, meine Hände griff und mich aufrichtig interessiert bat: «Bitte erzähl mir noch mehr davon, wie es ist, wenn alle einander gleichgestellt sind. Ich möchte frei sein.»«Ja bitte, erzähl uns mehr davon», sagte Petra, sie war unterdessen hinter Annika getreten.«Ich habe es so satt, jeden Vollmond diesem Steinkaiser huldigen zu müssen», ergänzte Vreni, legte mir ihre Hand auf die Schulter und fragte:«Muss sich Karl dann seine Berichte selbst zusammenstellen?»«Grosser Gott, was habe ich nun wieder angerichtet?», fragte ich mich verzweifelt und war

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froh, dass Posaunen und Trompeten, wenn auch ziemlich falsch tönende, zu meiner Rettung bliesen, während die anderen ausgelassen miteinander zu tanzen begannen. Auch Verni und Petra wogen ihre Körper im Rhythmus der Musik, einzig Annika und ich standen im Schat-ten des Fraumünsters und schauten dem nächtlichen Reigen zu. Ich hatte in der Altstadt Häuser mit daran abgebildeten Instrumenten gesehen und so überraschte es mich nicht, dass verschiedene Schaufensterpuppen mit einer an die Fastnacht erinnernden Kakophonie auf-spielten. Allen voran Zwingli, der gut gelaunt in eine Posaune blies. Ich wusste, dass er zwölf Instrumente gespielt und Lieder getextet und komponiert hatte. Heute Abend improvisierte er in der Art eines Jazzvirtuosen über eine Melodie, die stark an den Sechseläutenmarsch er-innerte. Jenen Marsch, den Jean Baptiste Lully komponiert hatte und der von Friedrich II. von Preussen zu einem Jagdmarsch umgedeutet worden war, ehe russische Soldaten unter General Suworow zu dieser Melodie durch halb Europa marschiert waren, um sich in Zürich mit den revolutionären Franzosen die Köpfe einzuschlagen. Es sollte danach fast ein Jahr-hundert dauern, ehe 1882 die Dragonermusik aus dem damals preussischen Colmar den Marsch erstmals am Sechseläuten Umzug gespielt hatte. Drei Jahre später war das Zwingli Denkmal errichtet worden und hatte seither mehr als genug Zeit, sich dessen Melodie einzu-prägen, denn Jahr für Jahr zogen am Zürcher Frühlingsfest unter den wachsamen Blicken von Karl dem Grossen und Huldrich Zwingli Zunft um Zunft den Sechseläutenmarsch spie-lend das Limmatquai in Richtung Bellvue hinauf, um auf dem Sechseläutenplatz im Kreis um den auf einen Scheiterhaufen verbrennenden Böögg herumzureiten, derweil das feiern-de Volk darauf wartete, dass es dem symbolischen Schneemann den Kopf mit den darin ein-gearbeiteten Böllern verjagte. Zwingli führte eine ausgelassene Polonaise rund um den Münsterhof an, danach reihten sich die Puppen und Denkmälre wieder nach Herkunft ge-ordnet ein.

Nach diesem Tanz trat eines der diversen Karl-Doubles aus der Altstadt zu Annika hin und sprach mit ihr. Hilfe suchend schaute sich die bemittleidenswerte um und folgte ihm. Unter-dessen sass der Grossmünter Karl mit Schwert und Reichsinsignien auf seinem Thron, hinter

ihm standen die beiden Gipsmodelle von Otto Münch aus den 1930er-Jahren, die sonst auf der Empore neben der Orgel ihr Schattendasein fristeten, sowie die Karlsstaute aus dem Mit-telalter, vom sauren Regen zerfressen und mit all ihren Reparaturbolzen an Frankensteins Monster erinnernd, die seit achtzig Jahren in der Grossmünster-Krypta sass. Zur Rechten des zeitgenössischen Turm-Karls stand Zwingli, zu seiner Linken sass Hans Waldmann auf sei-nem Pferd. Das Zürcher Nachtschattenregime wurde durch die Zähne fletschende Phalanx Zürileuen abgeschirmt, die einen Halbkreis davor bildeten. Annika wurde bis zu den Tieren geführt, danach verbeugte sie sich. «Wer bist du?», fragte Karl der Grosse.«Annika, aus der Spiegelgasse, Majestät.»«Du beobachtest unsere Stadt?»«Täglich, Majestät, aus meinem Schaufenster. Ich sehe schöne Menschen, Senioren, spielen-de Kinder, Touristen aus aller Welt, Ratten, streunende Katzen und jagende Stadtfüchse.»«Dann wirst du uns bestimmt Bericht darüber erstatten können, ob in unserer Stadt alles seinen gewohnten Gang nimmt.»«Wie Majestät wünschen», murmelte Annika unsicher. Das Rudel Zürileuen rückte zur Sei-te, um den weiteren Karl-Doubles aus der Stadt Platz zu machen. Diese trugen Tafeln und Schilder. Der vorderste Karl, die Statue vom Restaurant «Karl der Grosse» neben dem Grossmünster, hielt Annika eine Tafel hin. «Bitte, wir sind ganz Ohr», herrschte der Grossmünster Karl.«Zum Loch: Karl der Grosse nahm hier der Sage nach Quartier», las Annika ab.«Was heisst der Sage nach?», donnerte Karl, «Wir erinneren uns noch genau daran, wie wir neben dem Kirchlein, das wir gestiftet hatten, Hospiz genommen haben…»Restaurant-Karl hielt Annika eine neue Tafel hin, von der sie las: «Grossmünster: Grabkirche der Stadtpatrone Felix und Regula und Mutterkirche der Reformation Huldrych Zwinglis.»«Stimmt das?», herrschte Karl mit seiner tiefen, alles durchdringenden Stimme Annika an. «Das ist korrekt, Majestät. Ihr selbst habt, nachdem Ihr die Gräber von den heiligen Felix und Regula gefunden habt, das Grossmünster gestiftet.»

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«Alles scheint in unserem Zürich seinen geordneten Lauf zu nehmen», antwortete Karl der Grosse zufrieden. «Doch der Schein mag trügen. Man zeige ihr eine weitere Tafel.» Restau-rant-Karl legte vorerst die blauen Blechtafeln des Denkmalschutzes zur Seite und hielt Anni-ka eine grosse, steinerne Gedenktafel hin, wovon sie ablas: «In diesem Haus wohnte von 1741–1778 Joh. Caspar Lavater. Hier besuchte ihn 1775 Goethe.»«Nackt gebadet, gejauchzt bis zwölf…», murmelte ich und beantworte die von Karl dem Grossen ungestellte Frage darüber, was Goethe sonst noch in Zürich getan hatte. Doch An-nika musste bereits von einer kunstvoll gestalteten weiteren Gedenktafel ablesen: «In diesem Haus wurde am 5. Februar 1916 das Cabaret Voltaire eröffnet und der Dadaismus begründet.»In Gedanken zitierte ich Hugo Ball mit: «Gadji beri bimba glandridi laula lonni cadori.»«Was ist Dadaismus?», erkundigte sich Karl der Grosse.«Ich…», stammelte die am ganzen Körper zitternde Annika. «Das ist eine Kunstform», sagte ich leise.«Da… Dada… Das ist eine Kunstform», stammelte Annika. «Dann spiele man uns am nächsten Ball dadaistisch auf», verfügte der Kaiser.«Eine hervorragende Idee, Majestät», befliesste sich Annika beizupflichten.«Wirklich eine sehr gute Idee», rühmten die anderen Karlsstatuen. Doch Restaurant-Karl hielt Annika bereits eine weitere Tafel bereit, die Karl der Grosse nach der Lekütre kommen-tieren sollte. So ging es während einer halben Stunde. Ich wusste gar nicht, dass es in der Alt-stadt so viele Tafeln gab und so sind mir von dieser gründlichen, aber nicht minder sonder-baren Berichterstattung nur wenige in Erinnerung geblieben: «Hier wohnte v. 21. Februar 1916 bis 2. April 1917 Lenin der Führer der russischen Revolution», las Annika – mitsamt Kommafehler.«Versteht man heute unter Revolution dasselbe wie zu unseren Lebzeiten», erkundigte sich Karl der Grosse. Die überforderte Annika stammelte unzusammenhängend während sie nach meiner Hand griff. Doch woher sollte ich wissen, was man im achten Jahrhundert unter einer Revolution verstanden hat. In der Hoffnung, recht zu haben, raunte ich Annika einige Worte zu.

«Keine Umdrehung, Majestät. Eine Revolution ist ein Aufstand», antwortete sie hastig.«Ein Aufstand? In unserer Stadt?», donnerte Karl der Grosse aufgebracht.«Aus meinem Schaufenster habe ich keinen erkennen können, Majestät. Auf der Tafel steht russischen geschrieben. Ich weiss aber nicht, wo das ist», ergänzte Annika.«Wir mögen keine Aufständischen. Wenn Lenin wieder in die Stadt kommt, soll er ergriffen werden.» Die anderen Karlsstatuen wiederholten den Befehl einhellig und die Zürileuen knurrten bedrohlich, Hans Waldmanns Pferd scharrte mit den Hufen und das Nashorn vom ZKB-Hauptsitz, das sich unterdessen zu uns gesellt hatte, schnaubte verächtlich.

Nach der letzten Tafel war der Berichtsreigen nicht etwa vorbei, sondern es kamen die Brun-nenfiguren, Plastiken und Denkmäler an die Reihe. Jedem stellte Karl der Grosse eine Frage und würdigte danach dessen Beitrag zum Wohlergehen der Stadt. «Haben uns alle berichtet?», fragte er schlussendlich.«Nein, Majestät. Zwei fehlen noch», antwortete Annika demütig.«Sie sage uns, von wem sie spreche.»«Von Hans Waldmann, Majestät.» Das Hans Waldmann Denkmal winkte von der Zeremo-nie ermüdet ab, doch Karl der Grosse bat: «Bitte, lasst uns von ihm hören.»«Sehr wohl, Majestät», entgegnete Annika, während zwölf männliche Schaufensterpuppen den steinernen Denkmalsockel vor ihr hinstellten. Annika trat einen Schritt zurück und las davon ab: «Bürgermeister Hans Waldmann. Feldherr u. Staatsmann. † 1489.» Neugierig wandte sich Karl der Grosse an Hans Waldmann: «Welche Schlachten habt Ihr geschlagen?»«Murten, Majestät, und Nancy. Gegen die Burgunder. Die Eidgenossen haben unter mei-nem Regiment Herzog Karl den Kühnen bekämpft. Am Ende waren wir siegreich.»«Dann erinnert man sich zurecht an Sie, Ritter Hans Waldmann. Ihr müsst mir unbedingt beim nächsten Ball mehr von Euren Heldentaten erzählen. Uns geht heute leider die Zeit aus.»«Sehr wohl, Majestät», gelobte das Denkmal. Die zwölf Schaufensterpuppen hoben unter Ächzen und Stöhnen den Sockel des Waldmanndenkmals hoch und trugen ihn zurück zur

Otto Münchs Gipsfigu-ren auf der Empore (oben), die mittelalterli-che Statue in der Gross-münsterkrypta (rechts).

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Woody AllenBetrete diese Bar in New York. Nachdem ich meinen Drink an der Theke geholt habe, setzte ich mich an einen Tisch am Rand und schaue mich um. Die Wände sind in bleichem Pfirsich gestrichen, goldene Wandlampen bestrahlen die Decke und tauchen die Bar in ihr schumm-rig indirektes Licht. Die Theke ist in einem dunklen Holz gehalten, ihre Ränder sind mit Mes-singbeschlägen verstärkt. Auch die Tische sind aus dunklem Holz, das Platten aus künstli-chem Marmor einrahmt. Ich trinke einen Schluck und beginne die Menschen zu beobachten, wie sie miteinander reden, gestikulieren, die Zeitung lesen, auf ihrem iPhone wischen oder einfach nur vor sich hin starrend etwas trinken. Mein Blick durchquert den Raum, bis ich am Nachbartisch Woody Allen entdecke. Er wirkt so zerknittert wie immer und trägt einen bor-deauxroten Pullover, seinen beigen Trenchcoat hat er über die Lehne des nächsten Stuhls gelegt.«Hier drin fehlt es an blau!», denke ich. Und dass es kühl ist. Ich erwache fröstelnd, es zieht. «Das war doch Woody Allen?», denke ich aufgeregt, während ich mich zudecke und zur Sei-te drehe. «Das war er», denke ich schlummernd und bin zurück im Traum. Nun befinde ich mich in Zürich und schaue mir bis dass der Wecker klingelt zu, wie ich jedem, der es hören möchte, erzähle, dass ich von Woody Allen geträumt habe.

Münsterbrücke. Derweil brachten andere Puppen den Sockel des Zwinglidenkmals.«Und wen ehren wir nun?», fragte Karl.«Ulrich Zwingli MCDLXXXIV…» trug Annika vor. Da sie der römischen Ziffern unkundig war, las sie diese als Buchstaben ab. Danach wandte sich Karl der Grosse an Zwingli: «Erin-nert man sich in unserer Stadt korrekt an Sie, alter Freund?»«Was hier steht, entspricht den Tatsachen, Majestät», antwortete dieser.«Ich sehe, dass in Zürich alles seinen geordneten Gang nimmt. Wir sind zufrieden», sagte Karl der Grosse. Er wandte er sich an Annika: «Sie hat gut rapportiert. Wir sind zufrieden ihr.» Danach klatschte er in seine Hände. Doch ehe jemand reagieren konnte, brachte eine angeheiterte Schaufensterpuppe ein Verkehrsschild mit der Aufschrift Rapperswil, Seefeld →. Für einen Moment schwiegen alle perplex oder peinlich berührt. Karl der Grosse richtete sich auf seinem Thron auf, doch dann schlug es ein Uhr.

Ich spürte, wie mich Plastikhände fassten und fand ich mich beim Verklingen der Glocken vor der Glastüre der Kleidermanufaktur an der Spiegelgasse wieder. Im Innern war es dunkel, nur die Schaufensterpuppen waren von Spots beleuchtet. Petra räkelte sich im künstlichen Licht auf dem weissen «USM-Haller»-Möbel als ob nichts gewesen wäre und Vreni mimte die Unschuld aus der Boutique, teilnahmslos aus dem Schaufenster auf die Leuengasse bli-ckend. Es war, als ob ich Karls verwunderlichen Ball bloss geträumt hatte. So schaute ich An-nika von hinten an und hoffte, dass sie sich bewegen würde – oder auch nicht. Ich hätte dann Gewissheit. Annika drehte sich zu mir um, lächelte und blinzelte mir vielsagend zu, ehe sie mir eine Kusshand zuwarf. Ich winkte zurück und ich könnte schwören, dass Annika rote Ba-cken gekriegt und ich ein hyänenartiges Kichern aus dem Ladeninnern vernommen hatte. Ich wandte mich ab. Doch bevor ich mich auf den Heimweg machte, warf ich einen letzten Blick die Spiegelgasse hoch. Sie war noch immer menschenleer, nicht einmal ein Igel querte im Schutze der Nachtschatten die Gasse. Einzig der Vollmond war unterdessen weiter ge-wandert und leuchtete nun stadtseitig über den Häusern mit den ungeraden Hausnummern.

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Stück vom HimmelSonntagnachmittag im Juli, suche mit den Kindern nach dem Zürifäscht etwas Abkühlung und spaziere dem Schanzengraben entlang. Jérôme nimmt dies allzuwörtlich und belässt es nicht nur mit dem Füssebaden im kühlen Nass, sondern steigt ins Wasser. Als er eine Forelle vorbeischwimmen sieht, versucht er diese mit blossen Händen zu fangen. Nun werden zu-hause Vater und Sohn, in umgekehrter Reihenfolge natürlich, etwas zu hören kriegen…

Die gute Stimmung ist durch eine väterliche Standpauke geknickt wie ein Schilfrohr am Zü-richsee nach einem Hitzegewitter. Silvia weiss nicht, ob sie über das Missgeschick ihres Bru-ders lachen, sich nach meinem Wutausbruch möglichst klein machen oder sich mit Jérôme gegen ihren alten Herrn solidarisieren soll. Und so biegen wir mehr oder weniger betreten schweigend beim «Hochhaus zur Palme» in die Pelikanstrasse ein. Am Strassenrand steht ein Warndreieck mit der Aufschrift Dacharbeiten. «Was steht da?», möchte Silvia wissen. Ich sage es ihr. Sie fragt: «Wieso steht dieses Dreieck hier?»«Damit die Passanten gewarnt sind, falls ein Ziegel vom Dach runterfällt», antworte ich.«Heute ist Sonntag, da arbeitet niemand. Zudem ist das ein Flachdachhaus», müffelt Jérô-me, hörbar verstimmt. Von kindlicher Logik überlistet, verdrehe ich die Augen. «Sonntags arbeitet auch niemand auf dem Hochhaus», erwidere ich. «Unser aller Dach ist der Himmel von Zürich. Und damit es heute Abend nicht regnet, wenn wir im Garten mit den Meienbergers grillieren, reparieren nun die Engel ein Loch im Himmel.» Glücklicherweise scheinen die Kinder ob der Vorfreude auf die bevorstehende Grillade und das Herumtollen mit den Nachbarskindern vergessen zu haben, dass es letzte Woche am Stück durchgeregnet hat und scheinen meine Erklärung zu akzeptieren.«Aber vom Himmel fallen doch keine Ziegel… oder?», druckst Jérôme nicht restlos über-zeugt herum.«Sicher nicht, du Esel, da fällt ein Stück Himmel hinab!», entgegnet Silvia.

Wenn Blicke töten könnten, so hätte nun mein Sohn seine kleine Schwester umgebracht, weshalb ich ihr argumentativ zu Hilfe eile und anfüge: «Und Leuten, denen ein Stück Him-mel auf den Kopf fällt, werden ihr Leben lang glücklich sein.»«Dann warte ich hier», entgegnet Jérôme entschlossen und setzt sich neben das Warndreieck.

Stadtplan

von Dürrenmatt überholt

Werke-Katalog No. 752 | 12. November 2016Zuerst erschienen am 5. August 2011 im VzfB-Blog | Werke-Katalog No. B 157Gelesen im Rahmen der Mammut-Lesung des Zürcher Schriftstellerinnen und Schriftstellerverbandes ZSV am 13. November 2016

Leonards Schuh

Werke-Katalog No. 678 | 3. & 26. Januar 2014Inspiriert durch das «Rolling Stone»-Magazin 9/2001

Kamblis Weltreise

Werke-Katalog No. 732 | 27./28. März 2016Nacherzählung eines Prozessberichtes aus dem «Tages-Anzeiger» vom 12. März 2012

Woody Allen

Werke-Katalog No. 751 | 12. November 2016Zuerst erschienen am 20. August 2011 im VzfB-Blog | Werke-Katalog No. B 163Gelesen im Rahmen der Mammut-Lesung des Zürcher Schriftstellerinnen und Schriftstellerverbandes ZSV am 13. November 2016

Karls Ball

Werke-Katalog No. 501 | August 2007 / Winter & Frühling 2016 /17., 19., 23. Juni / Juli & August 2016 / 24., 25. September / 18., 19. Oktober / Mitte November 2016/ 3., 4., 10. – 13., 18. – 21., 25. & 28. Dezember 2016Verfasst in Zürich und Flims

Stück vom Himmel

Werke-Katalog No. 735 | 3. Juli 2016Veröffentlicht im Rahmen der Mammut-Lesung des Zürcher Schriftstellerinnen und Schriftstellerverbandes ZSV am 13. November 2016

Der Geschichte liegen zwei Erinnerungen an den Sommer 2007 zu Grunde: Damals habe ich pro Woche zwei bis drei Velotou-ren unternommen. Eine Feierabend-Route führte mich dem Käferberg entlang über den Bucheggplatz und via Universität hi-nab ins Seefeld und über die Altstadt, Aussersihl und Altstetten zurück nach Höngg. Eines Abends pausierte ich auf dem Gross-münsterplatz und blickte während einer halben Stunde über die Limmat hinüber. Die zweite Erinnerung fusst auf einem meiner Wege durch die Altstadt: die Spiegelgasse hoch, am «Comics- Shop» in der Froschaugasse vorbei und über die «Zentralbiblio-thek» weiter zum Central. Eines Nachts spazierte ich auf dieser Route nach Hause, als mir auf der Höhe von Lenins Wohnhaus an der Spiegelgasse eine Gruppe Frauen auffiel, die sich hundert Me-ter weiter unten im Schaufenster der «Kleidermanufaktur SNE» aufhielt. Als ich mich näherte, erkannte ich, dass es sich um Schau-fensterpuppen handelte. So trat ich ans Schaufenster und bestaun-te die Puppen, die im gelblichen Licht eines Spots auf den ersten Blick lebensecht wirkten. Und ich könnte schwören, dass ich im Ladeninnern einen Schatten wahrgenommen habe. In diesem Mo-ment küsste mich meine Muse: Vor meinem geistigen Auge sah ich, wie die drei Puppen aus ihrem Schaufenster auf den Leuenplatz sprangen und ich ihnen folgen würde. Wohin? Das wusste ich noch nicht. Doch ich hatte den Titel der neuen Geschichte: «die Nacht der Schaufensterpuppen».

Und so wälzte ich Ideen ohne auf eine erzählenswerte Geschichte zu kommen. Das Leben ging weiter, nach unzähligen Geschichten und Gedichten, einem Theaterstück und einem Roman drohte «die Nacht der Schaufensterpuppen» in die ewigen Jagdgründe

Wie «die Nacht der Schaufensterpuppen» zu «Karls Ball» wurde

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der Schublade der ungenutzten literarischen Geistesblitze einzu-gehen. Doch jedes Mal, wenn ich am Schaufenster vorüberging, wurde ich von den drei sensationellen Puppen an die unvollendete Geschichte erinnert.

Am 12. Oktober 2015 startete ich am Kantorat vom Grossmünster als Assistent. Nun spazierte ich drei Mal pro Woche an besagtem Schaufenster vorbei. Nach acht Jahren begann ich mich wieder zu fragen, wohin die Puppen wohl ausbrechen würden. Auf meinen Spaziergängen betrachtete ich auch die Figurinen an den Häusern der Altstadt. Eines Morgens im Januar 2016, als ich im Vorüberge-hen meine Schaufensterpuppen grüsste, verspürte ich den erneuten Musenkuss: Immer bei Vollmond um Mitternacht klettert Karl der Grosse von seinen Hochsitz am Grossmünster hinab und geht… Wohin? Das wusste ich ebensowenig wie das Ziel der Puppen, aber ich hatte ein Bild vom kletternden Karl vor Augen. «Er lädt zum Ball», riefen mir die Puppen zu. Ich drehte mich zum Schaufenster um, winkte ihnen und wusste, dass ich endlich das Ende für die Geschichte gefunden hatte. Was ich damals nicht wusste, war dass die Niederschrift noch-mals den Rest des Jahres in Anspruch nehme würde. Ich brauchte fast zehn Jahre für das Erzählen der «Nacht der Schaufensterpup-pen» Am Ende gab ich ihr einen neuen Namen, der mir nicht besser gefällt, aber treffender zu sein scheint: «Karls Ball».

Am 12. März 2012 berichtete der «Tages-Anzeiger» über Kam- blis Prozess. Die Namen und das meiste in den Biografien ist in meiner Nacherzählung erfunden, auch wo er am Bahnhof Oerlikon seine Uhren gekauft hat und wie er von dort an die Bahnhofstrasse gekommen ist. 1295 wurde in Seebach bei Oerlikon erstmals ein Kambli urkundlich erwähnt. Yves Baer, 13. Juli und 28. Dezember 2016

Diese und weitere Turicensia…

… von Yves Baer finden sich auf seiner Webseite ww.w.vzfb.ch. Darunter die Kurzgeschichte «die Busfahrt» über eine Fahrt im 46er, «Hamans Klon» über Dieter Haman, der sich im fernen Jahr 2046 im Humangenetischen Zentrum Zürich klonen lässt oder Miragets Ermittlungen zu einem inter-nationalen Kunstraub, die zu einer «Razzia» während einer Schallplatten-börse im Volkshaus führen. Im Song «Ciao Sepp» beschreibt Yves Baer Hans Mosimann, der dem 46er und dem darin vorüberfahrenden Leben winkt. Im seinem Blog in der Form des literarischen Tagebuchs gedenkt Yves Baer diesem freundlichsten Winker der Stadt nach dessen Tod und es herrscht Pfarrerstochteralarm. Im journalistischen Teil berichtet Yves Baer über einen Videodreh von Sir Paul McCartney im Hallenstadion Zürich. Und all dies geschieht im jahrezeitlichen Takt der russischen Möwen, die bei der Europabrücke überwintern.

literarische Sehenswürdigkeiten

Leonards SchuhWoody Allen

von Dürrenmatt überholt: Bahnhof Altstetten

von Dürrenmatt überholt: EuropabrückeKarls Ball: Kirchenhügel Höngg

Karls Ball: Annika, Petra & Vrenis Schaufenster

Karls Ball: Kunsthaus; Höllentor von Rodin

Karls Ball: Openair Kino am Zürichhorn

Karls Ball: Münsterhof

Karls Ball: Grossmünster

Kamblis Weltreise: Burghölzli

Kamblis Weltreise: kantonale Finanzdirektion

Kamblis Weltreise: Globusprovisorium | Kriminalpolizei

Kamblis Weltreise: Hauptbahnhof

Kamblis Weltreise: BahnhofstrasseKamblis Weltreise: Bezirksgericht

Stück vom Himmel: SchanzengrabenStück vom Himmel: Hochhaus zur Palme

Kamblis Weltreise: ZKB Filiale Seebach

Kamblis Weltreise: Bahnhof und Neumarkt Oerlikon

Kamblis Weltreise: Freibad Allenmoos

Kamblis Weltreise: BucheggplatzKamblis Weltreise: Radiostudio