Interview Alexandre Jollien (deutsche Fassung)

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18 7 | 2014 via Erleben Interview Alexandre Jollien «Ich versuche, in meinen Büchern so konkret wie möglich zu sein.»

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Erleben Interview Alexandre Jollien

«Ich versuche, in meinen Büchern so konkret

wie möglich zu sein.»

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Sie sind ein angesehener Autor und veranstalten Konferenzen in der Schweiz und in Frankreich. Wie lebt es sich als bekannte Persönlichkeit? Zunächst einmal mit der Einsicht, dass meine Be-kanntheit die Wunden der Vergangenheit nicht heilen

kann. Dabei denke ich an meine Erfah-rungen im Heim, in dem ich gelebt habe, und an die mangelnde Zuneigung dort. Dann gibt es all diese Missverständ-nisse über das Berühmtsein: Kennt man mich in der Öffentlichkeit für das, was ich tatsächlich bin? Durch meine Be-kanntheit habe ich aber auch das grosse Glück, viele Menschen kennenzulernen, und ich bin Zeuge einer Geisteshaltung geworden, die für die Freude und für Ausgegrenzte einsteht. Ich habe eine grossartige Plattform, die ich als Ge-schenk, gleichzeitig aber auch als Ver-antwortung betrachte.

Zurzeit leben Sie in Südkorea. Warum sind Sie ins Ausland gegan-gen? Und was finden Sie dort, das Sie in der Schweiz nicht haben?Seit bald einem Jahr bin ich nun schon hier in Korea. Mir wurde bewusst, dass es die Einfachheit ist, die die Menschen wirklich verbindet. Hier habe ich Freun-

de. Da die Sprachschwierigkeiten das Kommunizie-ren ein bisschen schwieriger machen, ist der Kontakt eher physischer Natur – ein Blick, ein Händedruck …

Und vor allem: Der Kontakt geht über das Herz und wird zu einer körperlichen Erfahrung. Es beeindruckt mich zum Beispiel sehr, wie ganz konkret die Nahrung die Verbindung zum Körper wie-derherstellt, wenn die Sprache fehlt. Es tut gut, irgendwo fremd zu sein und für die kleinsten Dinge auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. So hinterfragt man manches, das man als selbst-verständlich betrachtet. Das Reisen verlangt von uns, aus uns herauszukommen. Zu entdecken, was andere uns beibringen können.

Auf Ihrer Webseite veröffentlichen Sie unter anderem einfache Überlegungen aus dem tägli-chen Leben. Ihre philosophischen Betrachtungen verfolgen dabei meist einen «praktischen» Zweck. Ist das Absicht?Die Zen-Philosophie hat mir aufgezeigt, dass nicht Ideen oder Gedanken heilend sind, sondern vielmehr die Erfahrung, der enge Kontakt mit der Wirklichkeit der Dinge. Daher versuche ich auch, in meinen Bü-chern so konkret wie möglich zu sein.

Kann man so sein Leben am besten in den Griff bekommen?Ich finde, dass uns heutzutage eher Orientierungs-punkte als Dogmen weiterbringen. Wir brauchen spi-rituelle Praktiken, damit wir uns nicht in der Trost- und Mutlosigkeit und im Vergleich mit den anderen

Sein Start ins Leben war denkbar unglücklich. Aber Autor Alexandre Jollien hat sich nicht unterkriegen lassen: Trotz Behinderung studierte der Walliser Philosophie und fand für sich den Weg zu einer erfüllten Existenz. Text: Sylvie Castagné; Fotos: Raphaël Bourgeois

«Wir müssen herausfinden, was uns guttut»

Zur Person

Alexandre Jollien kam 1975 in Sierre (VS) mit einer Körper-behinderung auf die Welt und lernte erst mit acht Jahren gehen. Im Alter von drei Jahren kam er in ein Sonderheim, wo er 17 Jahre verbrachte. Sein ständiger Kampf um ein autonomes Leben und persönliche Weiterentwick-lung führte ihn ans Gymnasium in Sitten und später an die Universität Freiburg, wo er Philosophie studierte. Zurzeit weilt er in Südkorea. Jolliens erstes Buch war «Lob der Schwachheit». Er ist Vater von drei Kindern und arbeitete als Konferenzveranstalter in Genf. alexandre-jollien.ch

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«In Südkorea ist es die Einfachheit, die

die Menschen wirklich verbindet.»

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verlieren. Persönlich schöpfe ich Kraft aus dem Zen, obwohl ich Christ bin. Die Praxis des Zen bedeutet, ganz zur Einfachheit zurückzukehren. Es ist aber sehr schwierig, die Einfachheit und Spontaneität eines Kindes zu leben, das ganz im Hier und Jetzt ist. Bei uns Erwachsenen ist die Perspektive «verschoben»: Wir schauen uns selbst beim Leben zu.

Wie schaffen Sie es, immer positiv zu denken?Das Leben ist schwer und bitter und voller Unzufriedenheit, und am Ende kommt der Tod. Ist man sich dessen bewusst, kann man der Depression ver-fallen. Daher scheint es mir wichtig zu sein, die Freuden des Alltags zu «sammeln», ohne die Tragik der Existenz zu verdrängen. Wir sollten versu-chen, jeden Tag in den einfa-chen Dingen die Freude zu fin-den. Das ist alles andere als banal. Es entsteht eine Art Ge-wöhnung, die uns unglücklich macht. Vieles wird selbstver-ständlich. Und dann gibt es

noch den gesellschaftlichen Druck, der uns drängt, uns zu vergleichen und Erfolg haben zu müssen. Die Einfachheit, die Fähigkeit, im Hier und Jetzt zu sein, kommt uns dabei abhanden.

In einem Ihrer Bücher schreiben Sie, dass Sie als Lebensziel bedingungslose und ganzheitliche

Matthieu Ricard, offizieller Französisch-Übersetzer des Dalai Lama, und Alexandre Jollien: Mit der Philosophie des Ostens den Realitäten der Welt begegnen.

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«Man sollte sich fragen: ‹Was ist heute mit den

jetzt verfügbaren Ressourcen möglich?›»

Freude erreichen möchten. Wie erklären Sie einem privilegierten Schweizer Jugendlichen diese doch recht abstrakte Idee?Bedingungslose Freude ist überhaupt nichts Abstrak-tes. Vielmehr soll man sich fragen: «Worüber kann ich mich unter den gegebenen Umständen freuen?» Wir müssen herausfinden, was uns guttut. Das klingt ein-fach, aber für die Mehrheit der Menschen ist es nicht selbstverständlich, in ihrem Leben zu erkennen, was ihnen wirklich Freude bereitet. Das ist das Wesent- liche. Täglich Schritte auf dem Weg der Freude zu un-ternehmen, das befreit. Das habe ich von Zen gelernt.

Ist das die Haltung, mit der Sie Ihre drei Kinder erziehen?Bei Kindern muss man zunächst Vorbild sein und zei-gen, dass man ungeachtet der Umstände zufrieden sein und sich freuen kann. Und man muss sich nach einem Fehler bei ihnen entschuldigen. Man darf ihnen nicht das Bild vermitteln, sie müssten perfekt sein, um geliebt zu werden. Und muss ihnen zeigen, dass man als Eltern fehlbar, aber liebevoll ist.

Wie geht man mit Wut und Frustration um?Wut und Frustration gehören zum Leben. Man sollte sich nicht von Frustrationen und Verletzungen leiten

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lassen. Das beginnt im Kleinen: Ich habe den Zug verpasst und kann mich nun über den Zug aufregen oder zur Situation zurückkehren und die Dinge unter einem ande-ren Blickwinkel betrachten. Das braucht Übung. Auch hier geht es nicht um den Vergleich, sondern man sollte sich fragen: «Was ist heute mit den jetzt verfügbaren Ressourcen möglich?»

Sie scheinen einen unerschütterlichen Optimis-mus zu haben. Es gibt aber doch sicher Dinge, die Ihnen Mühe bereiten ...Die Ungerechtigkeit! Man hätte die Mittel, um vor al-lem in Afrika gewisse Krankheiten und den Hunger zu besiegen, aber dennoch fehlt es am Durchsetzungs-willen. Das macht mich traurig.

Sie wissen noch nicht, wann Sie in die Schweiz zurückkehren. Haben Sie denn noch andere Pro-jekte, die Sie in Korea realisieren möchten?Ich werde sicher ein Buch über meine Erfahrungen in Korea verfassen. Und in zwei Jahren ein Filmdrehbuch für eine französische Produktion schreiben. Darauf freue ich mich sehr. ■