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Interkulturelle Pflege: alles Paletti?
Notwendigkeiten und Herausforderungen
Prof. Dr. Maria Wasner, M.A. (1) Katholische Stiftungsfachhochschule München (2) Koordinationsstelle Kinderpalliativmedizin, LMU
München
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Hintergrund
zunehmende soziokulturelle Diversität und Vielfalt von Lebenswelten
ältere Menschen mit Migrationshintergrund sind die am stärksten wachsende Bevölkerungsgruppe
wachsender Bedarf an professioneller Pflege und ehrenamtlicher Begleitung
wachsender Anteil von Pflegekräfte mit Migrationshintergrund in stationären Alten- und Pflegeeinrichtungen
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Ergebnisse aus der Migrationsforschung I
Menschen mit Migrationshintergrund häufiger arbeitslos
z.T. mangelnde Sprachkenntnisse häufiger kein Schulabschluss oder
berufsqualifizierender Abschluss höheres Armutsrisiko, niedrigere Rente
(vgl. Knipper & Bilgin 2009, S. 6)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
schlechterer Zugang zu Angeboten im
Gesundheitssystem geringere Nutzung von Angeboten zur
Gesundheitsvorsorge und Prävention (vgl. Knipper & Bilgin 2009, S. 6)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Ergebnisse aus der Migrationsforschung II
Arbeitsmigranten der ersten Generation hohen
gesundheitsgefährdenden Belastungen ausgesetzt
Tätigkeiten häufig verbunden mit schwerer körperlicher Arbeit, Akkord- und Schichtarbeit, Anhäufung von Mehrarbeitsstunden,…
häufig schädigenden Einflüssen wie Lärm und Giftstoffen ausgesetzt
Folge: erhöhtes Krankheitsrisiko im Alter (vgl. RKI 2008, S. 100; Palecek, 2009, S. 27)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Ergebnisse aus der Migrationsforschung III
traditionelle Familienvorstellungen, wonach
Pflege durch Angehörige zu leisten ist religiöse Prägung: Erkrankung als gottgewolltes
Schicksal traditionelle Frauenrolle (Wünsche und
Forderungen „unschicklich“) Scham, externe Dienste hinzuziehen andere Vorstellungen von Kranksein und
Gesundsein
Ergebnisse aus der Migrationsforschung IV
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Die Konstruktion von Fremdheit
Der eigene (unhinterfragte) Maßstab als Orientierungsgröße – zur Abgrenzung
Implizite Vorstellungen über „das richtige“
Handeln bzw. Verhalten Implizite Vorstellungen über „das Normale“
(Gesundheit, Krankheit, Behinderung, …) Implizite Vorstellungen über „das richtige“ Altern Implizite Vorstellungen über die Welt (Diesseits –
Jenseits; Zwischenwelten)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Was sind Grenzen?
Nationalstaatliche Grenzen
Kulturelle Grenzen (Sitten, Bräuche)
Religiöse Grenzen (Gebote und Verbote)
Soziale Grenzen (Verhaltensweisen, Statusgrenzen)
Biografische Grenzen (eigene Einstellungen, Lebensphasen oder -abschnitte)
Körpergrenzen (Amputationen, künstliche Zugänge)
…
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Beispiel: Grenzerfahrung Krankheit und Körperlichkeit
• Bettlägerigkeit Orientierung im Raum (Standpunktveränderung) Selbst-Ver-Ständlich-Keiten
• Infauste Prognose Bedeutung der bisherigen Lebenserfahrung Sinn
• Konfrontation mit dem Tod Näher rückendes Lebensende Sterben von Bekannten, Freunden, Gleichaltrigen
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Beispiel: Grenzerfahrung Migration
Überschreitung nationalstaatlicher Grenzen Überschreitung sozialer, biografischer und kultureller
Grenzen
bedeutet: veränderte Familienstrukturen unumgängliche Mehrsprachigkeit Erfahrung von verschiedenen Lebenswelten Infragestellen des eigenen bislang Gewohnten und
für richtig Befundenen alltägliche Fremdheitserfahrungen Neuorientierung, zu einer Minderheit zu gehören
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Zwischenfazit I
Nichtberücksichtigung von Spezifika der Migrationssituation kann Pflege schwieriger machen, Pflegefehler produzieren oder Zusatzkosten mit sich bringen
Überprüfung der eigenen Selbstverständlichkeiten
Krankheit = Grenzerfahrung, manchmal auch existentielle Bedrohung ) (nach Uzarewicz 2006:147ff)
Schulungsbedarf zur Begleitung von Menschen mit anderem kulturellen Hintergrund
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Interkulturelle Kompetenz…
„…zeigt sich in der Fähigkeit, kulturelle Bedingungen und Einflussfaktoren im Wahrnehmen, Urteilen, Empfinden und Handeln bei sich selbst und bei anderen Personen zu erfassen, zu respektieren, zu würdigen und produktiv zu nutzen, im Sinne einer wechselseitigen Anpassung, von Toleranz gegenüber Inkompatibilitäten und einer Entwicklung hin zu synergieträchtigen Formen der Zusammenarbeit, des Zusammenlebens und handlungswirksamer Orientierungsmuster in Bezug auf Weltinterpretation und Weltgestaltung.“ (Thomas, 2003, S. 143)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
essentialistischer Kulturbegriff: „Kulturen“ als klar von einander abgegrenzte Wesenheiten
Betonung der Begegnung zwischen zwei
„Kulturen“
mögliche Reibungsflächen
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Schulungen zur interkulturellen Kompetenz
im Mittelpunkt Wissensvermittlung über unterschiedliche religiöse und kulturelle Gruppen
z.B. Leiningers Buch „Culture Care Diversity and Universality: A Theory of Nursing” (1991): Beschreibung von 23 verschiedenen Gruppen Angloamerikaner, Afroamerikaner, nordamerikanische Indianer, Amerikaner mexikanischer, haitianischer, philippinischer, japanischer, vietnamesischer, südostindischer und chinesischer Herkunft, Gadsup Akuna, arabisch-amerikanische Moslems, Amerikaner der Amish People alter Ordnung, Appalachen-Kultur sowie die polnisch-, deutsch-, italienisch-, griechisch-, jüdisch-, litauisch-, schwedisch-, finnisch- und dänisch-amerikanische Kultur
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Effekte von Schulungen zur interkulturellen Kompetenz
(mehr) Wissen über unterschiedliche Kulturen bzw. Religionen
Sensibilisierung für Andersartigkeit mehr Sicherheit im Umgang mit Menschen
anderer Kulturen
z.T. keine Effekte durch Schulung positive Effekte für Menschen anderer
Kulturen?
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Renzaho et al., 2013, 261-269
Schwächen des Konzepts I
15% der Einwanderer aus der Türkei ordnen sich keiner Religion zu
(vgl. Haug/Müßig/Stichs 2009, S. 95ff.)
nicht alle Angehörigen einer bestimmten Religion
teilen dieselben theologischen Ansichten Kultur eines Menschen hängt nicht nur von seiner
Religionszugehörigkeit und seinem Herkunftsort ab, sondern auch von angeborenen, erworbenen und gesellschaftlichen Umständen wie Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Bildung, Schichtzugehörigkeit und Wohlstand
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Schwächen des Konzepts II
Gefahr der Abgrenzung und Ausgrenzung
Gefahr der Hierarchisierung
Gefahr der Stereotypisierung
Kultur als Erklärungsprinzip für alles Unerklärliche und Fremde
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Normativität der Fremdheit
Auf was achte ich bei Begegnung mit Fremden? Warum ist das so? Wie kann ich meinen Fokus verändern? Welche Konsequenzen hat das für mein Handeln?
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Zwischenfazit II
(meist) positive Effekte durch Schulungen in interkultureller Kompetenz für Professionelle
Effekte für Menschen unterschiedlicher Kulturen?
Reicht interkulturelle Kompetenz angesichts der bekannten Schwächen aus?
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Fallbeispiel
43 Jahre, Mamma-Ca, Erstdiagnose vor einem Jahr mit folgender Mastektomie, Rezidiv-OP vor zwei Monaten
Hartz IV-Empfängerin; dauerhaft arbeitslos nach zahlreichen Versuchen; wenige Kontakte (Bruder, Freunde)
Ablehnung einer Chemotherapie aus spirituellen Gründen, da sie nicht aus ihrer „spirituellen Welt“ in die „chemische Welt“ wechseln will und der Körper nur auf „seelische Prozesse reagiere“.
Spirituell geprägt von Vorträgen und Meditationsformen (Meditationszentrum)
Spiritualität als Faktor für Pflege- & Therapieplanung Spiritualität als Ressource
Leben in /mit Vielfalt nach Milton Bennett (2002)
Verleugnung des Unterschieds Fehlen von Unterscheidungskategorien, ignorante, stereotype oder übertriebene Aussagen Abwehr von Unterschieden Erkennen von Differenz gepaart mit negativen Bewertungen und Ethnozentrismus Minimalisierung der Differenz Erkennen und Akzeptieren von oberflächlichen Differenzen, Betonen der Gemeinsamkeiten Akzeptieren der Differenz Erkennen und Wertschätzen von Differenz Kultur als relative Variable
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Anpassung an Unterschiede Kommunikationsfähigkeiten ermöglichen effektiven Austausch Begriffe, die Grenzen bezeichnen, werden durchlässiger Integration der Unterschiede Verinnerlichung bikultureller und multikultureller Referenzsysteme lebenslange Lernprozesse Sowohl-als-auch-Identitäten
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
„…die Beschreibung heutiger Kulturen als Inseln bzw. Kugeln ist deskriptiv falsch und normativ irreführend. Unsere Kulturen … sind weitgehend durch Mischungen und Durchdringungen gekennzeichnet. Diese neue Struktur der Kulturen bezeichne ich als transkulturell.“ (Welsch, 1998, S. 51)
Transkulturalität stellt, im Unterschied zu den Begriffen multikulturell und interkulturell, „…nicht das Zwischen oder das Nebeneinander, sondern das über das Kulturelle Hinausgehende, Grenzüberschreitende und somit wieder Verbindende und Gemeinsame ins Zentrum“ (Domenig, 2007, S. 172)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Transkulturalität statt Interkulturalität
„… ist die Fähigkeit individuelle Lebenswelten in der besonderen Situation und in unterschiedlichen Kontexten zu erfassen, zu verstehen und entsprechende angepasste Handlungsweisen daraus abzuleiten. Transkulturell kompetente Fachpersonen reflektieren eigene lebensweltliche Prägungen und Vorurteile, haben die Fähigkeit die Perspektive anderer zu erfassen und zu deuten und vermeiden Kulturalisierungen und Stereotypisierungen von bestimmten Zielgruppen. “ (vgl. Domenig 2007, S. 174)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Transkulturelle Kompetenz
Betonung der Gemeinsamkeiten Gegenseitige Fremdheit Interesse am Gesundwerden Unsicherheiten in Bezug auf das richtige Verhalten Kommunikation verbal oder nonverbal Leiblichkeit der Menschen Aufeinandertreffen von individuellen Lebenswelten und Lebenserfahrungen
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Säulen der transkulturellen Pflege
Selbstreflexion
Hintergrundwissen und Erfahrung
Narrative Empathie
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
(Domenig, 2001)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Selbstreflexion
… bezieht sich auf einen Prozess, in dem das Selbstverständliche in Frage gestellt wird.
Transkulturell kompetent Pflegende müssen in der Lage sein, ihre eigene Lebenswelt, das was für sie gemeinhin selbstverständlich und wirklich ist, zu erkennen und in Frage zu stellen. Nur dadurch wird es möglich, den je eigenen Maßstab zu erkennen und zu relativieren, der dem Handeln und Verhalten, den alltäglichen Be- und Verurteilungen zugrunde gelegt ist. Es geht um die Erforschung des eigenen Weltbildes, wie überhaupt des Zugangs zur Welt. Das vermeintlich Fremde kann dabei als Spiegel des Eigenen dienen.
Hintergrundwissen und Erfahrung
… bezieht sich auf eine konzeptionelle Ebene, die es gestattet, die verschiedenen Wissens- und Sinnordnungen, Lebenserfahrungen und neuen Situationen kennen zu lernen und zu entschlüsseln, z.B. Verständnis von Gesundheit und Krankheit.
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
theoretisches Hintergrundwissen über Kultur, Migration und Schichtzugehörigkeit
medizinethnologische Konzepte für das Verstehen des Krankheitsprozesses
angepasste Kommunikation Kenntnisse über spezifische Lebenswelten,
Rassismus und Diskriminierung Kenntnisse über Ursachen von Armut und
psychische Erkrankungen Kenntnisse über die Unterschiede in der sozialen
Organisierung
(vgl. Domenig, 2007, S. 176-177)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
… bedeutet Neugier und Aufgeschlossenheit für `Andersartiges, (...), das für uns nicht sofort verständlich und einfühlbar ist
Geduld, Interesse und Engagement nötig, wenn man den Anderen verstehen und begreifen will
Akzeptanz, dass Andere anders sind und Eingeständnis, dass man nicht alles versteht
„Es bleibt eine Spannung zwischen mir und dem anderen.`“ (Leyer 1994)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Narrative Empathie
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Fallbeispiel
43 Jahre, Mamma-Ca, Erstdiagnose vor einem Jahr mit folgender Mastektomie, Rezidiv-OP vor zwei Monaten
Hartz IV-Empfängerin; dauerhaft arbeitslos nach zahlreichen Versuchen; wenige Kontakte (Bruder, Freunde)
Ablehnung einer Chemotherapie aus spirituellen Gründen, da sie nicht aus ihrer „spirituellen Welt“ in die „chemische Welt“ wechseln will und der Körper nur auf „seelische Prozesse reagiere“.
Spirituell geprägt von Vorträgen und Meditationsformen (Meditationszentrum)
Spiritualität als Faktor für Pflege- & Therapieplanung Spiritualität als Ressource
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Transkulturelle Pflegeanamnese
„Geschichten geben der Problemlage des Patienten Bedeutung, Kontext und Perspektive. Sie erklären, wie, warum und auf welche Art er krank ist. Sie eröffnen uns, kurz gesagt, die Chance auf ein Verständnis, wie wir es auf andere Weise nicht erwerben können.“
Greenhalgh, 2005
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Ziele
Perspektive des/ der PatientIn erfassen ganzheitlicher Ansatz kontext- und situationsbezogen biographiezentriertes Vorgehen
ermöglicht einen individuellen Behandlungs-, Pflege- und Therapie- bzw. Begleitungsprozess, der die PatientInnenperspektive berücksichtigt. (Domenig, Stauffer, Georg, 2007)
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Erfassen der PatientInnen- Perspektive
individuell, biographiezentriert, systemorientiert
Kommunikation Muttersprache? Kenntnis lokale Sprache? Fremdsprachenkenntnisse? Lesen und Schreiben? Kommunikationsregeln? Bedeutung von körperlichen Berührungen, Nähe und Distanz Ausdruck von Emotionen Wunsch nach Übersetzung Informationsmaterial in der Muttersprache Ansprechperson seitens Angehörige
Lebens- und Migrations- Geschichte
Soziales Netz
Gesundheit und
Krankheit
Schmerz
Religion
Pflege
Schicht
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Möglichkeiten und Grenzen
Schwerpunkte setzen Welche Themenbereiche muss ich zwingend jetzt
ansprechen? Welche kann ich verschieben? Welche Fragen sind sinnvoll in Bezug auf die
Umsetzungsmöglichkeiten in der Pflegeplanung? Was bietet die Institution an Unterstützung? Existiert ein Dolmetscherservice? Kann gleichgeschlechtliche Pflege geleistet werden? Gibt es Räume für eine größere Anzahl von Besucher? Gibt es Räumlichkeiten für religiöse und spirituelle
Rituale und Praxen? Besteht eine Vernetzung mit religiösen Gemeinschaften? ...
Zusammenfassung
Symposium Interkulturalität & Pflege_ Linz 2015
Interkulturelle Kompetenz in der Pflege unverzichtbar, aber nicht ausreichend
Transkulturelle Kompetenz notwendiger nächster Entwicklungsschritt
zu wenig Beachtung von Transkulturalität innerhalb eines Teams
Umsetzung oft erschwert durch Rahmenbedingungen der Institutionen und der Kostenträger