Inhalt und Abstracts der Workshops - ph-freiburg.de · bzw. als gesellschaftliches Ordnungsmuster...
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Inhalt und Abstracts der Workshops
Inhaltsverzeichnis
Michael Zander & Josefine Heusinger (beide Berlin): Das Alter ist kein Leveler:
Altersklassen zwischen „Ageism“ und „Gerontokratie“ S.2
Claudia Rademacher (Bielefeld) & Stefanie Schröder (Hamburg): Intersektionalität
und die Theorie sozialer Praxis S.9
Anna Amelina (Bielefeld) & Carola Bauschke‐Urban (Duisburg‐Essen): The sciences
as a transnational field: Bourdieus field theory and intersectionality S.10
Gernot Saalmann (Freiburg): Von Kasten zu Klassen? Eine Analyse der indischen
Sozialstruktur aus bourdieuscher Perspektive S.15
Oliver Berli (Trier) & Michael Parzer (Wien): Distinktionspraktiken im Wandel – Zur
Transformation symbolischer Ordnungen in der Gegenwartsgesellschaft S.16
Thomas Höhne (Hamburg): Bildung zwischen relativer Autonomie und Heteronomie
– Zum Verhältnis von Bildung, Staat/Politik und Ökonomie/Arbeit und zu den
Möglichkeiten einer neuen politischen Ökonomie der Bildung S.24
Heinrich W. Schäfer (Bielefeld): Religion und soziale Ungleichheit: zur Analyse
religiöser Praxis S.30
Alexander Lenger, Florian Schumacher (beide Freiburg) & Christian Schneickert
(Berlin): Globale Sozialstrukturanalyse – Globaler Raum versus globale Felder S.35
Uwe H. Bittlingmayer, Barbara Peter, Rainer Wohlfahrt (alle Freiburg): Vom
asketischen Aristokratismus zur neoliberalen Fitness – zum Wandel von Kultur,
Körperlichkeit und symbolischer Herrschaft S.40
Tomke König & Ulle Jäger (beide Basel): Bourdieus Theorie der symbolischen
Herrschaft und die multidimensionale Analyse von Ungleichheit S.45
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WS 1 (Raum KG IV-106)
Das Alter ist kein Leveler: Altersklassen zwischen „Ageism“ und
„Gerontokratie“
Michael Zander & Josefine Heusinger (beide Berlin)
„Alter“ als gesellschaftlich interpretiertes Merkmal wurde in der an Bourdieu
anknüpfenden Forschung bisher nur wenig berücksichtigt. Dabei spielt es in
Bourdieus Klassentheorie eine zwar unterschätzte, aber zentrale Rolle; denn die
Klassenposition eines Individuums wird nicht nur durch das Vermögen an
verschiedenen „Kapitalsorten“ bestimmt, sondern auch durch die Zusammensetzung
des Kapitals „in der Zeit“, also in der „Laufbahn“ (Bourdieu 1997, 107). Innerhalb des
Lebenslaufs vollziehen sich die Ansammlung bzw. der Verlust von ökonomischem,
kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital und damit Prozesse
gesellschaftlichen Auf- oder Abstiegs bzw. des Positionserhalts. Außerdem ist „Alter“
ein soziales Merkmal neben anderen, wie etwa der sozialen Klasse oder dem
Geschlecht. So kann von „Altersklassen“ im Zusammenhang mit formalen
„Grenzziehungen“ gesprochen werden, die „einen bestimmten Stand der
gesellschaftlichen Auseinandersetzungen fixieren, d.h. einen bestimmten Stand der
Verteilung von Vorrechten und Pflichten: Recht etwa auf Sondertarife und auf
Pensionierung, Schul- und Wehrpflicht“ (Bourdieu 1982, 743). Damit nimmt Bourdieu
die Theorie des „institutionalisierten Alters“ (Kohli 1985, 2003) vorweg, die die
gesellschaftliche Strukturierung des Alters untersucht. Sie bietet eine Grundlage, auf
der sich einerseits positive oder negative Zuschreibungen im Hinblick auf das Alter
erklären lassen, und die andererseits Segregationen alter Menschen, etwa aufgrund
von altersbedingter Pflegebedürftigkeit, kritisch abbilden kann.
Das Ziel des Workshops ist es, den zu ermitteln, welchen Ertrag die Anwendung
analytischer Konzepte wie „Klassen“, „Kapitalsorten“, „Felder“, „Habitus“ und
„symbolische Gewalt“ auf das Thema „Alter“ einbringt. Folgende Aspekte sollen
dabei eine Rolle spielen:
a) Die Bedeutung der Kategorie „Alter“ für die Klassenanalyse: Auch das hohe
Alter ist, anders als früher vermutet wurde, kein „Leveler“, der soziale
Ungleichheit einebnen würde (Kent 1971, Dowd & Bengtson 1978), vielmehr
setzen sich Klassenunterschiede im Alter fort.
b) Alter als Stigma oder als Zeichen von Autorität: Die öffentlichen Bewertungen
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des Alters schwanken, nicht zuletzt abhängig vom sozialen Feld. Die einen
rufen zum Kampf gegen Altersdiskriminierung (ageism), die anderen zum
Widerstand gegen die „Gerontokratie“. Was bedeutet Alter in
Auseinandersetzungen um symbolische Herrschaft? Sind die „Alten“ dabei
soziale und politische Akteure (z.B. Sanjek 2009) oder nur Projektionsfläche?
c) Pflegebedürftigkeit gehört zu den Risiken des Alters und ist doch kein bloßes
biologisches bzw. medizinisches „Schicksal“: Welche Rolle spielen Klassen-,
Milieu- und Geschlechtszugehörigkeit bei Erkrankung und Eintritt von
Hilfebedürftigkeit, beim Zugang zu öffentlichen Gesundheits- bzw.
Unterstützungsleistungen und beim Umgang mit der Pflegesituation (Bauer &
Büscher 2008, Behrens 2008, Heusinger & Klünder 2005, Zander & Heusinger
2010)? Lässt sich Pflege als „soziales Feld“ im Sinne Bourdieus konstruieren
(Schroeter 2008, Roth 2007)?
Programm
Michael Zander, Berlin
Das Alter ist kein Leveler: Altersklassen zwischen „Ageism“ und „Gerontokratie“. Zur
Einführung in den Workshop
Regina Brunnett, Hamburg
Prekäres Kapital des Alters – symbolische Gesundheit und Alter in postfordistischen
Verhältnissen
Ludwig Amrhein, Vechta
Alter ist nur ein Wort. Über das alter(n)ssoziologische Potenzial einiger verstreuter
Aussagen von Bourdieu und ihre Erweiterung zu einem Modell der gesellschaftlichen
Konstruktion des Alter(n)s
Klaus R. Schroeter, Kiel
Alter als symbolisches Kapital?
Günter Roth, München
Politische Repräsentation des Alters und Alterssozialpolitik
Helen Kohlen, Vallendar
Kommentar
Moderation: Josefine Heusinger, Berlin
3
Michael Zander (Berlin)
Das Alter ist kein Leveler: Altersklassen zwischen „Ageism“ und
„Gerontokratie“. Zur Einführung in den Workshop
Zentrale Begriffe der bourdieuschen Theorie – z.B. Klassen, Kapital oder Habitus -
sind Kürzel, in denen idealerweise eine bestimmte Herangehensweise an den
Forschungsgegenstand verdichtet ist. Sie sind folglich nicht als Synonyme
herkömmlicher Termini wie sozioökonomischer Status, Einkommen oder Einstellung
zu verstehen, sondern als spezifische Instrumente der empirischen Forschung.
Deshalb ist es wichtig, sich über ihre Bedeutung zu verständigen, um sie möglichst
produktiv auf neue Untersuchungsgegenstände anwenden zu können. Bezogen auf
das Thema Alter, Pflege und soziale Ungleichheit stellt der Beitrag folgende Thesen
zur Diskussion: 1. Soziale Klassen – seien es „Klassen auf dem Papier“ oder
„mobilisierte Klassen“ – sind nicht alterslos, sondern weisen eine Altersstruktur auf.
2. Daraus folgt, dass auch im Alter Klassenunterschiede nicht nivelliert werden, sie
behalten vielmehr ihre Wirkmächtigkeit. Das Alter ist kein Leveler. 3. „Gerontokratie“
und „Ageism“ bezeichnen als zuweilen polemisch eingesetzte Termini
unterschiedliche zugeschriebene oder reale Machtpositionen älterer Menschen.
Mittels der Begriffe des sozialen Feldes und des sozialen Raumes lassen sich diese
umkämpften Positionen analysieren.
Regina Brunnett (Hamburg)
Prekäres Kapital des Alters – symbolische Gesundheit und Alter in
postfordistischen Verhältnissen
Der Wandel der Arbeit, Transformationen des Staates und die Pluralisierung von
Lebensstilen führen seit den 1980er Jahren zu tief greifenden Transformationen der
Gesundheitskulturen der westlichen Industrieländer. Das „medikalisierte
Gesundheitsverständnis“ der 1970er Jahre wurde abgelöst durch eine „neue Kultur
von Gesundheit“, in der Konsum, Lebensstile und der symbolische Wert von
Gesundheit aufs Engste miteinander verzahnt sind. Damit einher gehend hat
Gesundheit eine Aufwertung erfahren: Sie ist einer der höchst individuellen Werte
und zugleich eine treibende symbolische, subjektive, ökonomische und soziale Kraft
(vgl. Brunnett 2010; Kickbusch 2006).
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Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Fragen nach dem Wert des Alters im
Spannungsfeld zwischen einer Gesundheitskultur und den Strukturbedingungen
postfordistischer Gesellschaften.
Es wird mit Bezug auf das Bourdieusche Konzept des Kapitals die These vertreten,
dass Gesundheit in gegenwärtigen Gesellschaften zugleich einen symbolischen,
ökonomischen, sozialen wie auch einen subjektiven Mehrwert entfaltet, der in einer
doppelten Bewegung expandiert wie seine Aneignung begrenzt wird.
Unter diesen Bedingungen, so wird weiter diskutiert, lösen sich tradierte
altersbezogene Grenzziehungen – wie auch die krankheitsbezogenen Vorrechte und
Pflichten – sukzessive auf. Entlang der Maßgabe ökonomischer Produktivität wird die
Aneignung des Mehrwerts restringiert und der Wert des Alters wird prekär.
Brunnett, Regina (2010): Die Hegemonie symbolischer Gesundheit. Eine Studie zum
Mehrwert von Gesundheit im Postfordismus, Bielefeld: transcript.
Kickbusch, Ilona (2006): Die Gesundheitsgesellschaft. Megatrends der Gesundheit
und deren Konsequenzen für Politik und Gesellschaft, Gamburg: Verlag für
Gesundheitsförderung
Ludwig Amrhein (Vechta)
Alter ist nur ein Wort. Über das alter(n)ssoziologische Potenzial einiger
verstreuter Aussagen von Bourdieu und ihre Erweiterung zu einem Modell der
gesellschaftlichen Konstruktion des Alter(n)s
Bourdieu hat an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes Aussagen zu „Alter“ als
einer sozial konstruierten Ordnungskategorie getroffen, ohne diese jedoch zu einem
expliziten Beitrag zur Soziologie des Alter(n)s zu verdichten – anders als bei der
analogen Kategorie „Geschlecht“, wo seine Auffassungen in eine systematische
Analyse der „männlichen Herrschaft“ mündeten. Die relativ ergiebigste Fundstelle ist
ein Interview mit dem bezeichnenden Titel „Jugend ist nur ein Wort“, das im Band
„Soziologische Fragen“ dokumentiert wird. Zwar stehen hier jugendsoziologische
Fragen im Mittelpunkt, aber Bourdieus Feststellung, dass „man immer der Alte oder
der Junge für irgend jemanden“ ist und deshalb „die Schnitte nach Altersklassen oder
Generationen völlig variabel und manipulierbar sind“, bietet auch einen geeigneten
Ausgangspunkt für weiterführende alter(n)ssoziologische Überlegungen. Das höhere
Alter als eigenständige Lebensphase und seine interne soziale Strukturierung lag
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allerdings nicht im Fokus des Bourdieuschen Werkes, entsprechend undifferenziert
sind seine wenigen Aussagen hierzu (Alter gleich sozialer Abstieg und Machtverlust).
In meinem Vortrag rekonstruiere ich zunächst die innere Logik der verschiedenen
Äußerungen Bourdieus zu Alter(n)sfragen und stelle seine alter(n)sziologischen
Potenziale wie auch Leerstellen heraus. Auf dieser Basis skizziere ich dann
konzeptionelle Bausteine einer „bourdieusianischen Alter(n)ssoziologie“, in der „Alter“
als symbolisches Machtmittel zur Herstellung und Legitimierung von Einschlüssen in
bzw. Ausschlüssen aus soziale Felder und „Altern“ als sozialer Auf- oder
Abstiegsprozess innerhalb spezifischer sozialer Felder und im sozialen Raum
insgesamt definiert werden. Schließlich stelle ich ein Mehrebenenmodell der
gesellschaftlichen Konstruktion des Alter(n)s vor, das politökonomische,
diskurstheoretische, interaktionistische und phänomenologische Ansätze der
Alter(n)ssoziologie integrieren und damit der bourdieuschen Prämisse von der
unauflösbaren Dialektik und Zirkularität von sozialen und mentalen Strukturen
gerecht werden möchte.
Klaus R. Schroeter (Kiel)
Alter als symbolisches Kapital?
„Alter“ ist ein unscharfer Begriff, weil darunter sowohl Altersphasen als auch
Altersgruppen, sowohl ein Zeitraum über eine verstrichene Zeitdauer (z.B.
Lebenszeit) als auch Lebensabschnitte als temporale und transitive Abschnitte im
Lebensverlauf verstanden werden. Das Alter ist keine prä-kulturelle Erscheinung,
sondern eine auf unterschiedlichen Ebenen sozial konstruierte Kategorie – eine
Reifikation!
In der Alterssoziologie wird das Alter als Status und soziales Strukturierungsprinzip
bzw. als gesellschaftliches Ordnungsmuster verstanden, durch welches zugleich der
Zugang zu und der Ausschluss von sozialen Teilnahmechancen geregelt und soziale
Beziehungen hergestellt, erleichtert, erschwert oder unterbunden werden.
Der Beitrag versucht aus einer sozialkonstruktivistischen Perspektive aufzuzeigen,
wie das Alter
a) in einem umfassenden symbolischen Verweisungszusammenhang konstruiert wird,
b) sich in der sozialen Organisation gesellschaftlichen Handelns als ‚objektive’ Struktur realisiert,
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c) sich in der Somatisierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse materialisiert und
d) zugleich in seiner sinnlich empfundenen Qualität als Bestandteil subjektiver Realitäten konstituiert.
Insofern wird von individuell und kollektiv viel Arbeit in das Altern und Altern
investiert, sodass Sozialgerontologen immer häufiger auch von einem ‚erfolgreichen’
und ‚produktiven’ Altern sprechen (wobei das angeblich ‚nicht-erfolgreiche’ oder gar
‚gescheiterte’ bzw. das ‚nicht-produktive’ oder gar ‚destruktive’ Altern auffällig
unthematisiert bleibt).
In einer strukturellen Homologie zur Bourdieuschen Kapitaltheorie, in der das
symbolische Kapital die sozial wahrgenommene Form der anderen Kapitalarten
(ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital) darstellt, soll hier der Versuch
unternommen werden, Alter als symbolisches Kapital zu lesen, das die sozial
wahrgenommenen Erscheinungsformen des Alterns zum Ausdruck bringt. Diese
Formen sind biologisch/ korporal, kalendarisch/ chronologisch, sozial/ funktional/
formal, psychologisch/ kognitiv.
Günter Roth (München)
Politische Repräsentation des Alters und Alterssozialpolitik
Pierre Bourdieu betont die Willkürlichkeit von Altersabgrenzungen im Rahmen der
Kämpfe um Klassifikation, Vorrechte und Macht. Dabei scheinen ihm Klassen und
Milieus, Ökonomie und Bildung, wichtigere Gegensätze zu begründen als das Alter,
jedoch übersieht er auch nicht die mit dem Alter, sowohl in Relation dazu wie auch
unabhängig davon, verbundenen Machteinbußen, die (früher oder später) zum
Tragen kommen. Insofern käme es im Anschluss an Bourdieu darauf an, die
Reproduktionsbedingungen und Kämpfe auf unterschiedlichen Feldern im
Zusammenhang mit der Altersfrage näher zu betrachten, was anhand des – wenig
untersuchten – Feld des Politischen und insbesondere der Alterssozialpolitik
versucht werden soll. Dabei fällt auf den ersten Blick eine, bei allen
widersprüchlichen Alterszuschreibungen überwiegend negativ konnotierte und stark
abnehmende öffentliche und politische Repräsentation Älterer auf, vor allem
Hochaltriger und gesundheitlich eingeschränkter Hilfebedürftiger sowie jenen mit
geringem kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapital. Dabei kommt ‚der
Altersfrage’ aber durchaus eine wachsende öffentliche und politische Bedeutung zu
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und viele (vor allem angelsächsischer und ökonomischer Provenienz) proklamieren
die These einer übergroßen, wachsenden politischen Macht von Senioren sowie
ihrer Interessenorganisationen, mit zunehmenden ‚Generationenkonflikten’ zulasten
der (im Zuge des demographischen Wandels zahlenmäßig relativ weniger
werdenden) Jüngeren (auch als Frage der ‚Zukunftsfähigkeit’ oder ‚Nachhaltigkeit’
akzentuiert). In diesem Zusammenhang darf erneut der Klassenkonflikt und der
Kampf um die von liberal-konservativer Seite verfochtene wohlfahrtsstaatliche
‚Krisen- und Reformpolitik’ mit der Tendenz der ‚Rekommodifizierung’ nicht
vergessen werden.
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WS 2 (Raum KG IV-301)Intersektionalität und die Theorie sozialer Praxis
Claudia Rademacher (Bielefeld) & Stefanie Schröder (Hamburg)
Der Workshop hat zum Ziel, die Erklärungskraft der Forschungssystematik, wie sie
aktuell unter dem Begriff der Intersektionalitätsanalyse verhandelt wird, vor dem
Hintergrund der Bourdieuschen Theorie sozialer Praxis auszuloten. Dazu wird im
Einführungsreferat von Prof. Dr. Claudia Rademacher und Stefanie Schröder, M.A.
auf der konzeptionellen Ebene gezeigt, wie die Überschneidung (intersection) und
Verwobenheit von Ungleichheitsachsen in Bourdieus Praxeologie grundgelegt ist.
Durch seinen Zugriff auf Verhältnisse der big three (Klasse, Geschlecht und
Ethnizität /'race') überwindet Bourdieu immer schon die unproduktiven
Frontstellungen von Haupt- und Nebenwiderspruch sowie von Gesellschafts(-
theorie), Herrschaftsanalyse und Praxis.
Im zweiten Teil des Workshops soll die Ebene der Methodologie im Mittelpunkt
stehen. Prof. Dr. Gabriele Winker (Hamburg) wird in einem zweiten Input-Referat ihr
gemeinsam mit Nina Degele entwickeltes Konzept der „Intersektionalen
Mehrebenenanalyse“ darstellen und dessen Forschungssystematik erläutern.
Gemeinsam mit den Teilnehmer*innen soll die Stärke einer praxeologischen
Fundierung von Intersektionalität anhand eines Beispiels aus der aktuellen
Auswertungspraxis erarbeitet werden.
Mit Hilfe der Integration aus Bourdieus Theorie sozialer Praxis und der
intersektionalen Mehrebenenanalyse (Degele/Winker) lässt sich eine bisher in
anderen Theorien und Konzepten lediglich postulierte Verknüpfung von sozialen
Ungleichheiten empirisch einholen.
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WS 3 (Raum KG IV-108)
The sciences as a transnational field:
Bourdieus field theory and intersectionality
Anna Amelina (Bielefeld) & Carola Bauschke‐Urban (Duisburg‐Essen)
The sciences can be analyzed as an increasingly transnationalised field. On the
macro‐level, transnational economisation becomes dominant and a severe increase
of transnational structures and networks in the sciences can be observed. These
processes are connected with a transnationalisation of the lifes of scientists who
develop transnational patterns of work and transnational social ties. The workshop
“The sciences as a transnational field: Bourdieus field theory and intersectionality”
will take into account the neo‐liberal restructuring of higher education institutions and
examine with three empirical studies on transnational mobile scientists the question
how the fields of the sciences and the transnational field intersect. We will further
look at the effects of a transnationalized field of the sciences for the perceptions of
class, gender, culture, ethnicity and discuss if (and if so, how) intersectionality is a
theoretical concept with a potential to go beyond Bourdieu’s field theory. In the
context of the field of the sciences and the field of transnationalisation, we will look at
the question if the concept of intersectionality can be seen as an extension of
Bourdieu’s theory. 1.) We seek to analyze the fields of transnationalisation and the
field of the sciences with three empirical studies, taking Bourdieu’s concept of the
homo academicus into account as well as intersecting relations of social inequalities
such as class, gender, ethnicity and world regional origin. 2.) We will embed a
theoretical reflection on the field of the (transnationalized) sciences and discuss
commons, contradictions and challenges when bringing together Bourdieus field
theory and the concept of intersectionality. The aim of the workshop is to shed light
on multidimensional social inequalities and complex boundary makings in the
sciences as a transnational field.
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Programme
Introduction to the workshop
Anna Amelina & Carola Bauschke-Urban
Bourdieus field theory and intersectionality
Empirical talk 1:
Anna Amelina (Bielefeld)
Scientists geographic mobility between Russia, Ukraine and Germany. An
intersectional approach to inequality of social positions within the transnational field
of science
Empirical talk 2:
Helena Pettersson (Umea, Sweden)
A Bourdieu’s field perspective to academic mobility and the transnational laboratory
(AT)
Empirical talk 3:
Carola Bauschke-Urban (Duisburg-Essen)
Re-Reading Bourdieu from a transnational perspective: Mobility of scientists and
intersectionality
Discussant 1
Kyoko Shinozaki (Mainz)
Highly skilled migrants and intersectionality
Discussant 2:
Sandra Beaufays (Hamburg)
The field of the sciences, symbolic power and inequality of social positions
Conclusions and final discussion
Anna Amelina (Bielefeld)
Analyzing Scientists’ Geographic Mobility between the Russia, the Ukraine and
Germany: Pitfalls of Social Inequality Research in the Context of Transnational
Migration
The paper presents results of author’s current research on geographic mobility of
natural scientists between the Ukraine, the Russia and Germany. Building on semi-
structured interviews it addresses the issue of social inequality formation in the
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context of transnational migration of highly skilled people. In doing so, it relates to the
Bourdieu’s field approach to science as well as to the intersectionality approach. In
sum, the paper addresses geographic mobility of scientists within Europe from social
inequality perspective. First, it questions the strength of brain drain thesis. Second, it
relates to the concept of transnational brain circulation, which indicates inequality
effects due to mobility of highly skilled people in both the sending and the receiving
countries. Third, it additionally highlights advantages of the transnational field
approach, which disconnects the research of scientists’ geographic mobility from the
framework of a nation state. In contrast, social inequality is analyzed by looking at
mobile scientists’ memberships in scientific organizations of both the sending and the
receiving country, which influence their access to financial and organizational
resources as well as to the power of definitions within the transnational scientific field.
The author does not only apply Bourdieu’s concept of social field, but also goes
beyond by analyzing how social positions of scientists within this field are structured
by categories of gender, ethnicity and class.
Helena Pettersson (Umea, Sweden)
Framing of Culture and Mobility?
Dilemmas and possibilities when using the capital concept as a tool of analysis
In recent studies of mobility and global migration of knowledge workers, the use of
Bourdieu’s concept of capital - cultural, social, and economic - is widely referred to.
Individuals or groups on the move are important subjects of analysis when studying
how values, identities and knowledge are transferred through different national and
global contexts. The data is collected from ethnographic fieldwork with deep
interviews and following observations among plant scientists in Sweden.
The aim with my paper is to discuss symbolic capital in relation to transnational
scientists. I will analyze how my informants navigate between on one hand a national
identity and on the other, their identity as scientists. Identity work among the
scientists operates on both individual and institutional basis.
In current Swedish debate on research policy, internationalization among scientists is
defined as a crucial activity and an important step when pursuing their career. In
order to develop their scientific skills, the scientists navigate between on one hand
the scientific culture with its values and system of merits. On the other, the scientists
are highly affected by their private life, with eventual family and partner. Both the
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professional and the private context offer assets important to their ability to move
between the research sites e.g. their academic/cultural and social capital, together
fused into symbolic assets.
Besides discussing how the scientist’s assets are to be understood in relation to the
capital concepts, I wish to problematize pros and cons of using the capital concepts.
Are they useful tools of analysis, or do they create a line of predictable arguments?
Carola Bauschke-Urban (Duisburg-Essen)
Re-Reading Bourdieu from a transnational perspective:
Mobility of Scientists and Intersectionality
The globalization of higher education creates a restructuring of careers within the
sciences. Transnational mobility within, into and out of Europe reshapes the
landscape of higher education and becomes increasingly important especially at the
early stages of scientific careers. The paper proposes an intersectional and
transnational perspective on the constructions of individual biographies of women
scientists who have chosen strategies of mobility to shape their doctoral and
postdoctoral qualification paths. It is asked how a highly mobile homo academicus is
shaping and constructing her habitus as a globalized actor. In addition, it is taken into
account that processes of transnational migration of scientists intersect with multiple
inequalities in higher education such as gender, ethnicity, citizenship and world
regional origin of the mobile individuals.
The paper is based on a grounded theory research on the biographies of
transnational mobile women scientists (doctoral students and postdocs) from
Germany/Turkey, Poland, Ex‐Yugoslavia, India, Bangladesh and Morocco, who
where temporary fellows at various European higher education institutions in
Germany, Italy and the UK. The scientists of the sample performed multiple mobilities
in the processes of their career buildings to and from universities in other countries,
including higher education institutions in Asia, Africa and the US.
The research perspective seeks to combine Bourdieus concept of habitus in the field
of the sciences with the feminist concept of intersectionality. The paper discusses the
transnational biographical constructions of mobile scientists and includes an
intersectional perspective on the question how we can perceive the rise of a
transnational habitus of the homo academicus in a changing and mobilized academic
world. It is based on the study “Im Transit. Transnationalisierungsprozesse in der
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Wissenschaft” (Transit. Processes of Transnationalisation in the Sciences);
Bauschke‐Urban, Carola (2010); Wiesbaden, VS (Reihe Geschlecht und
Gesellschaft).
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WS 4 (Raum KG IV-109)
Von Kasten zu Klassen?
Eine Analyse der indischen Sozialstruktur aus bourdieuscher Perspektive
Gernot Saalmann (Freiburg)
Ein Sechstel der Weltbevölkerung lebt in Indien. Sprechen Soziologen über Klassen,
kommt die Situation in Indien selten in den Sinn – allzu sehr verbindet man diese mit
einer Sozialstruktur, die auf Kasten beruht. Aus zwei Gründen ist es an der Zeit,
diese Sicht zu hinterfragen:
1) Indologen haben ausführlich belegt, dass ein festes Kastensystem nicht überall in
Indien gleichermaßen vorliegt und dass es vor allem eine koloniale Konstruktion ist,
die gestützt auf die Ideologie der Brahmanen von den nach westlichen Maßstäben
erzogenen Mittelstands-Bürgern im Austausch mit Kolonialbeamten als dominantes
Deutungsmuster der sozialen Realität etabliert worden ist. Als solches wurde es auch
im Westen allzu unhinterfragt übernommen.
2) Mit dem Modernisierungsschub nach der Unabhängigkeit des Landes 1947 und
erst recht seit der wirtschaftspolitischen Wende 1991 bilden sich in Indien immer
deutlicher Klassen heraus. Alle reden von der rasch wachsenden Mittelschicht, die
sehr schwammig definiert wird.
Mit der Theorie von Pierre Bourdieu nun steht ein Analysewerkzeug zur Verfügung,
mit dem nicht nur die ältere Kastengesellschaft, sondern auch der Wandel zur neuen
Klassengesellschaft begriffen werden kann. Für Bourdieu besteht ein enger
Zusammenhang zwischen Klasse und Klassifikation (und damit auch symbolischer
Macht) und er macht deutlich, dass es bei Klassen in der sozialen Praxis immer und
vorwiegend um Status geht. Klassifikation und Status sind aber auch zwei
grundlegende Kennzeichen des Denkens in Kasten.
Im Workshop soll geprüft werden, ob sich das Versprechen von Bourdieus Theorie
erfüllt oder nicht, bzw. wenn ja, wie weit.
Programm
Gernot Saalmann (Freiburg): Einführung
Murray Milner (Charlottesville, Virginia): Status as a Common Denominator of Caste
and Class (Statement, vorgetragen von Gernot Saalmann)
Florian Stoll (Darmstadt): Eine mehrdimensionale Analyse sozialer Milieus in nicht-
westlichen Sozialformationen. Ausgeführt am Bsp. Brasiliens, mit Blick auf Indien.
Gernot Saalmann (Freiburg): Prestigegewinne und wertende Klassifikationen:
Gemeinsame Grundlagen von Kasten und Klassen
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WS 5 (Raum KG III-005)
Distinktionspraktiken im Wandel – Zur Transformation symbolischer
Ordnungen in der Gegenwartsgesellschaft
Oliver Berli (Trier) & Michael Parzer (Wien)
Spätestens seit Ende der 1980er-Jahre häufen sich zeitdiagnostische Analysen, die
ihren Blick auf die Erosion traditioneller symbolischer Ordnungen richten: Beobachtet
werden die Brüchigkeit soziokultureller Grenzziehungen (z.B. die zwischen Hoch-
und Popularkultur) sowie ein Verlust des distinktiven Potentials des ehemals
„legitimen“ Geschmacks. Der Konsum von „Kultur“ wird nicht zuletzt angesichts
steigender Mobilität und Bildungsexpansion als weitgehend abgekoppelt von der
sozialstrukturellen Basis gesehen, die „Vererbung“ kultureller Dispositionen sowie die
Transmission kulturellen Kapitals durch die Herkunftsfamilie werden nur mehr
bedingt für die Reproduktion sozialer Ungleichheit verantwortlich gemacht. Darüber
hinaus wird die lange Zeit angenommene Homogenität von (nationalstaatlich
konzeptualisierten) Distinktionsordnungen unter den Bedingungen zunehmender
Transnationalisierung und vielfältiger Migrationsbewegungen in Frage gestellt. Diese
Befunde fordern Bourdieus analytische Perspektive auf das Verhältnis von Klasse,
Kultur und symbolische Herrschaft in mehrfacher Hinsicht heraus: Zu fragen gilt
insbesondere, inwiefern vor dem Hintergrund dieser Transformationsprozesse die
Annahme eines „Klassenkampfes in der Sphäre der Kultur“ überhaupt noch
Gültigkeit besitzt.
Vieles spricht dafür, dass klassenspezifische Habitusformen an Bedeutung verlieren
und „Kultur“ in der Gegenwartsgesellschaft ihr distinktives Potential einbüßt.
Möglicherweise täuschen diese Diagnosen aber auch darüber hinweg, dass es nicht
zu einer Auflösung traditioneller symbolischer Ordnungen, sondern lediglich zu einer
Modifikation des Koordinatensystems soziokultureller Grenzziehung in der
Gegenwartsgesellschaft gekommen ist: So identifizieren zeitgenössische Studien
neue distinktive Praktiken, die sich von großer Bedeutung für die Perpetuierung
symbolischer Herrschaft erweisen. Dazu zählen die im Rahmen der US
-amerikanischen Kultursoziologie identifizierte „demonstrative Toleranz“ der so
genannten „Cultural Omnivores“ ebenso wie die subtilen Exklusionsmechanismen im
Bereich der Popularkultur und im Feld der zeitgenössischen Kunst.
Der Workshop Distinktionspraktiken im Wandel – Zur Transformation symbolischer
Ordnungen in der Gegenwartsgesellschaft möchte der Frage nach dem Wandel von
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soziokulturellen Distinktionspraktiken nachgehen: Ziel ist es, die Beschaffenheit,
Funktionsweise und Reichweite von aktuell beobachtbaren Distinktionsordnungen
vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse zu beschreiben und
hinsichtlich deren Implikationen für die Theorie sozialer Ungleichheitsverhältnisse in
den Blick zu nehmen. Ausgehend von dieser Problemstellung möchten wir uns
folgenden Fragekomplexen widmen:
1. Feldspezifische Transformationsprozesse
Welche Veränderungen in den Distinktionspraktiken gehen aus feldspezifischen
Transformationsprozessen hervor?
Wie verhält sich die zeitgenössische bildende Kunst, die sich selbst gerne als
demokratisierend wähnt, in Hinblick auf die Aufrechterhaltung bzw. Etablierung von
neuen Distinktionspraktiken?
Welchen Einfluss hat die zunehmende Ausdifferenzierung im Feld der populären
Musik auf die Etablierung von neuen Grenzziehungen jenseits traditioneller
Dichotomien zwischen „Kunst“ und „Kommerz“?
2. Transformationsprozesse des sozialen Raums
Wie verändern sich Distinktionspraktiken angesichts eines erhöhten Zugangs zu
kulturellem Kapital durch Transformationen im Bildungssektor? Welchen Einfluss hat
zunehmende soziale Mobilität (nach oben und nach unten) auf die Kontinuität, aber
auch Modifikation von traditionellen Distinktionsordnungen?
Welchen Wert besitzt „kulturelles“ Kapital in der Gegenwartsgesellschaft? Und
welchen Einfluss hat der diagnostizierte Legitimationsverlust der Hochkultur auf
bestehende Distinktionsordnungen?
Inwiefern verändert sich durch die schwindende Bedeutung der Herkunftsfamilie die
Tradierung klassenspezifischer Dispositionen? Was bedeutet dies für Bourdieus
Vorstellung eines „Klassenhabitus“?
Welche Rolle spielt die demonstrative Toleranz und Offenheit der „kulturellen
Allesfresser“ für die Konstitution neuer Distinktionsordnungen?
Wie verändern sich bestehende Distinktionsordnungen unter den Bedingungen der
Transnationalisierung? Welche neuen Distinktionsordnungen sind durch
Transnationalisierungsprozesse entstanden oder (möglicherweise) gerade im
Entstehen?
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Programm
Oliver Berli (Trier) & Michael Parzer (Wien)
Zur Einführung
Lars Schmitt (Düsseldorf)
„Witzigkeit kennt kein Pardon“ – Humor und Symbolische Gewalt
Rosa Reitsamer (Wien)
Distinktionspraktiken von DJs im Kontext der Transnationalisierung
jugendkultureller Musikszenen
Nina Tessa Zahner (Leipzig)
Inklusion und Exklusion von Publika im Kunstfeld der Gegenwart
Simone Pape (Zürich)
Distinktion im Feld des Weinkonsums.
Konsummuster und deren soziale Strukturierung
Oliver Berli (Trier) & Michael Parzer (Wien)
Zur Einführung
Zahlreiche aktuelle Befunde der soziologischen Ungleichheitsforschung fordern
Pierre Bourdieus analytische Perspektive auf das Verhältnis von Klasse, Kultur und
symbolische Herrschaft heraus: Beobachtet werden die voranschreitende Erosion
klassenspezifischer Handlungsschemata sowie eine zunehmende Brüchigkeit
soziokultureller Grenzziehungen (z.B. die zwischen Hoch- und Popularkultur). Der
Konsum von „Kultur“ wird nicht zuletzt angesichts steigender sozialer Mobilität und
Bildungsexpansion als weitgehend abgekoppelt von der sozialstrukturellen Basis
gesehen, die „Vererbung“ kultureller Dispositionen sowie die Transmission kulturellen
Kapitals durch die Herkunftsfamilie werden nur mehr bedingt für die Reproduktion
sozialer Ungleichheit verantwortlich gemacht.
Vor dem Hintergrund dieser Transformationsprozesse stellt sich die Frage, inwiefern
Bourdieus Distinktionstheorie, die auf der Annahme eines „Klassenkampfes in der
Sphäre der Kultur“ beruht, in der Gegenwartsgesellschaft überhaupt noch Gültigkeit
besitzt. Es mag sein, dass klassenspezifische Habitusformen an Bedeutung verlieren
und (Hoch)Kultur in der Gegenwartsgesellschaft ihr distinktives Potential einbüßt.
Gleichzeitig kann allerdings gezeigt werden, dass in vielen gesellschaftlichen
18
Bereichen symbolische wie soziale Abgrenzungspraktiken nach wie vor eine wichtige
Rolle spielen. Identifiziert werden darüber hinaus neue Formen von Distinktion, dazu
zählen die im Rahmen der US-amerikanischen Kultursoziologie diskutierte
„demonstrative Toleranz“ der so genannten „Cultural Omnivores“ ebenso wie die
subtilen Exklusionsmechanismen im Bereich der Popularkultur. Am Beispiel zweier
Forschungsprojekte zur Rolle des Musikgeschmacks in Distinktionsprozessen soll
verdeutlicht werden, dass es nicht zu einer Auflösung traditioneller symbolischer
Ordnungen, sondern lediglich zu einer Modifikation des Koordinatensystems
soziokultureller Grenzziehung in der Gegenwartsgesellschaft gekommen ist.
Für eine ungleichheitsanalytische Kultursoziologie ergeben sich aus unserer
Perspektive mindestens zwei Aufgaben: Erstens sollte sie den Wandel von
symbolischen Ordnungen sowie gegenwärtige Distinktionspraktiken und deren Rolle
für die Reproduktion soziale Ungleichheitsverhältnisse empirisch wieder stärker in
den Blick zu nehmen. Zweitens sollte sie ausgehend von aktuellen Befunden
versuchen, ihre theoretischen Fundamente zu erneuern und zu stärken. Dazu könnte
es notwendig sein, sich von lange mitgeführten Annahmen zum Zusammenhang von
sozialer Position und kulturellen Verhaltensweisen zu distanzieren, um der
beobachtbaren Komplexität der empirischen Phänomene gerecht zu werden.
Lars Schmitt (Düsseldorf)
„Witzigkeit kennt kein Pardon“ – Humor und Symbolische Gewalt
Nach unten treten, nach oben kuschen – so ließe sich pauschal ein übliches
Distinktionsmuster mittlerer Positionen im Sozialraum charakterisieren. Ein Sich-
lustig-Machen über „Türken-Slang“ oder über „Unterschicht-Inszenierungen“ in RTL
II-Formaten erfüllt möglicherweise genau diese Funktion. Humor kann abgrenzen,
ausgrenzen, aber (oder: und deshalb) auch gruppenspezifisch inkludieren. So eignet
er sich nicht nur, um soziale Ungleichheitskonflikte gleichsam verschleiert
auszutragen und damit die Reproduktion sozialer Ungleichheit zu gewährleisten,
sondern eine Analyse von Humor kann somit selbst zur Analyse sozialer
Ungleichheitsverhältnisse beitragen. Diese kann über eine Momentaufnahme
hinausgehen, da sich Hypothesen des Wandels formulieren lassen. Eine
vermeintliche Verschiebung von Kabarett – wo Macht mehr oder weniger offen
thematisiert wird – zu Comedy etwa könnte als ein Indikator der zunehmenden
Verschleierung von Machtverhältnissen begriffen werden.
19
Mit dem Beitrag soll eine Folie zur Analyse sozialer Ungleichheitskonflikte vorgestellt
werden. Verschiedene Humorbeispiele werden sodann mit diesem Ansatz von
Habitus-Struktur-Konflikten analysiert und damit Fragen zu Distinktionspraktiken
sowie ihrem Wandel aufgeworfen.
Rosa Reitsamer (Wien)
Distinktionspraktiken von DJs im Kontext der Transnationalisierung
jugendkultureller Musikszenen
Auf Basis meiner qualitativen Studie zu ökonomisch erfolgreichen Do-It-Yourself-
Karrieren von DJs der beiden Wiener Musikszenen Techno und Drum‘n‘Bass widmet
sich der Vortrag den Distinktionspraxen und Selbstpräsentationsstrategien dieser
DJs vor dem Hintergrund zunehmender Transnationalisierung jugendkultureller
Musikszenen.
Die ausgewählten Musikszenen Techno und Drum‘n‘Bass lassen sich als lokal
verankerte Felder der kulturellen Produktion (Bourdieu 1999) beschreiben, deren
(Musik-)Stile von Szene-Akteur/innen in einem Dialog mit global zirkulierenden
Moden, Stilen und Musiken ausgehandelt werden. Charakteristisch für diese
Musikszenen ist u.a. ihr Netzwerkcharakter: Soziale Szene-Netzwerke formieren sich
vor Ort und entwickeln sich allmählich von geographischen Kriterien unabhängig zu
transnationalen Netzwerken (Hitzler et. al. 2005). DJs nutzen diese Netzwerke für die
Akkumulation von sozialem und kulturellem Kapital; zusätzlich sind für eine
ökonomisch erfolgreiche DJ-Karriere auch die Selbstpräsentationen der DJs, ihre
fortwährende Selbstvermarktung (u.a. durch die intensive Nutzung von Web 2.0)
sowie die aktive Selbstgestaltung ihrer Werdegänge ausschlaggebend.
Eingeschrieben in ihre Praxen der Selbstpräsentation und Selbstvermarktung sind
heterogene Distinktionspraktiken, die teilweise geschlechtsspezifische
Ausprägungen erfahren.
Meine Ergebnisse zeigen, dass sich die „Logik der Distinktion“ nicht nur, wie von
Pierre Bourdieu angenommen, im Gegensatz vom „Luxusgeschmack“ der
herrschenden Klassen und dem „Notwendigkeitsgeschmack“ der unteren Klassen
manifestiert, sondern auch innerhalb der Felder populärkultureller Produktion
stattfindet. Durch die Analyse der Selbstpräsentationen und der Distinktionspraktiken
der befragten und beobachteten DJs wird deutlich, dass der „Gegensatz von Kunst
20
und Geld“, den Bourdieu entlang von Heteronomie und Autonomie als
strukturierende Prinzipien der kulturellen Felder beschreibt, aufbricht und die
Akkumulation von sozialem Kapital nicht länger auf die Reproduktion sozialer
Beziehung abzielt; vielmehr akkumulieren DJs soziales Kapital durch die Produktion
und Aufrechterhaltung lokaler, transnationaler und globaler Off- und Online-
Netzwerke.
Nina Tessa Zahner (Leipzig)
Inklusion und Exklusion von Publika im Kunstfeld der Gegenwart
Das Publikum von Kunstausstellungen zeichnet sich durch eine ausgeprägte
bildungselitäre Zusammensetzung aus. Dies wirft die Frage nach den Mechanismen
der Inklusion und Exklusion in die Praxis des Besuchs von Kunstausstellungen auf:
Warum ist das Publikum von Kunstausstellungen derart bildungselitäre
zusammengesetzt, wie kommt es dazu, dass vor allem die Hochgebildeten
Kunstausstellungen besuchen? Einen sowohl methodisch als auch theoretisch
elaborierten Ansatzpunkt zur Untersuchung dieser Fragestellung liefern die
Besucherstudien und Kunstfeldstudien Pierre Bourdieus. Sie beinhalten eine
anspruchsvolle Theorie zur Inklusion und Exklusion im Konsumptionsfeld der
Bildenden Kunst: Bourdieu identifiziert im Produktions- und Wahrnehmungsschema
der reinen Ästhetik als Teil des Habitus eine spezifische ästhetische Bildung als
wesentlich für die Partizipation am Kunstgeschehen einer Gesellschaft. Der Vortrag
zeigt auf, dass diese Diagnose vor dem Hintergrund der Mitte des letzten
Jahrhunderts einsetzenden Transformationen des Kunstfeldes einer Überarbeitung
bedarf. Mit der Durchsetzung künstlerischer Strömungen wie der Pop Art und der
Minimal Art im Kunstfeld setzten sich Rezeptionsästhetiken im Feld durch, die den
Rezipienten eine weitaus größere Autonomie gegenüber dem Werk zusprechen als
dies im Rahmen vorhergehender Kunstströmungen der Fall gewesen war und kein
spezifisch ästhetisches Kapital für die Rezeption der Werke einfordern. Diese
Entwicklung stellt den Erklärungsansatz der Bourdieuschen Theorie zur elitären
Zusammensetzung der Publikums vor weitreichende Herausforderungen, indem er
gerade die Schlüsselkonzeption der auf geteilten Ästhetiken und damit letztlich
spezifischen Bildungskapitalausstattungen basierenden Homologie von Produktions-
und Konsumptionsfeld der Bildenden Kunst in Frage stellt. Inklusion und Exklusion
im immer unübersichtlicher werdenden Kunstfeld der Gegenwart scheint demnach
21
nicht unmittelbar mit der Verfügung über spezifisch ästhetische Wissensbestände,
die für eine Dekodierung der Werke als notwendig erachtet werden, erklärt werden
zu können, sondern komplexeren Zusammenhängen zu folgen. Diese zu
identifizieren und zu klären, wie sie mit Bildungskapital in Zusammenhang stehen, ist
Ziel des Beitrags.
Simone Pape (Zürich)
Distinktion im Feld des Weinkonsums.
Konsummuster und deren soziale Strukturierung
Als gemeinsames Merkmal soziologischer Gegenwartsdiagnosen (Beck 1986,
Giddens 1991, Bauman 1988) zum Wandel der Sozialstruktur und deren Relevanz
für die individuellen Akteure kann festgehalten werden, dass sie eine Herauslösung
der Akteure aus tradierten sozialen Bindungen feststellen. Identitäten können nicht
mehr im unhinterfragten und selbstverständlichen Bezug auf vorgegebene
Gruppenzugehörigkeiten bestimmt, sondern müssen selbstreflexiv konstruiert
werden. War in der Vergangenheit häufig die berufliche oder die
Klassenzugehörigkeit eine primäre Bezugsfolie für die Konstruktion einer Identität, so
sind die Akteure in gegenwärtigen Gesellschaften sehr viel stärker auf ihre Rolle als
Konsumenten verwiesen. Diese These kann jedoch angezweifelt werden, da
Konsumentscheidungen auch in gegenwärtigen Gesellschaften meist durch
spezifische soziale Kontexte (z.B. Familie, Freunde, soziokulturelle Milieus, Klassen,
Lebensstile) strukturiert sind (Warde 1994).
Wein ist ein hochgradig ästhetisierbares Konsumgut, dessen Qualität nicht nur
subjektiv, sondern auch auf der Basis sozial geteilter Qualitätsindikatoren beurteilt
wird. Typischerweise war Wein in Deutschland ein distinguiertes alkoholisches
Getränk der oberen Klasse.
Vor dem Hintergrund der Entstrukturierungsthese und unter Berücksichtigung der
Spezifika von Wein stellt sich jedoch die Frage, ob Weinkonsum in Deutschland
heute noch klassengebunden ist oder ob Wein in allen Gesellschaftsschichten
gleichermaßen getrunken wird. Im Detail soll untersucht werden: Wie hängt
Weinkonsum mit der sozialen Lage und dem Lebensstil von Personen zusammen?
Welche Konsummuster lassen sich erkennen, d.h. welche Elemente (z.B.
Trinkhäufigkeit und Geschmackspräferenzen, Kauf- und Informationsverhalten,
soziale Situationen des Weinkonsums) treten typischerweise zusammen auf?
22
Variieren diese Muster systematisch mit der sozialen Lage der Akteure? Welche
Konsumpraktiken eignen sich im Feld des Weines dazu, Status und Prestige zu
demonstrieren?
Diese Fragen sollen anhand einer multiplen Korrespondenzanalyse beantwortet
werden, deren Ergebnisse auf Daten einer im Jahr 2009 in Hamburg, Köln, Mainz
und Wiesbaden durchgeführten empirischen Studie beruhen. Neben dem inhaltlichen
Fokus auf Wein wird zudem betrachtet, ob Bourdieus Strukturierung des sozialen
Raumes über die Dimensionen des ökonomischen und kulturellen Kapitals auch für
das Feld des Weines Gültigkeit besitzt.
Grundsätzlich zeigt sich, dass das Feld des Weines weiterhin stark klassengeprägt
ist: Weinkonsum wird v.a. durch einen gehobenen Lebensstil und ein hohes Maß an
ökonomischem sowie kulturellem Kapital begünstigt.
23
WS 6 (Raum KG IV-107)
Bildung zwischen relativer Autonomie und Heteronomie – Zum Verhältnis von Bildung, Staat/Politik und Ökonomie/Arbeit und zu den Möglichkeiten einer
neuen politischen Ökonomie der BildungThomas Höhne (Hamburg)
Mit den gegenwärtigen politischen und ökonomischen Transformationen im globalen
sowie nationalstaatlichen Kontext scheint sich das eingespielte Verhältnis
unterschiedlicher Subsysteme zu verschieben, wenn man etwa an die These einer
weitreichenden Ökonomisierung von Sozial- und Bildungssysteme denkt. Genuin ist
damit in Bourdieuscher Perspektive u.a. die Frage nach der relativen Autonomie des
Feldes der Bildung berührt, die es notwendig gegenüber den anderen Feldern
bewahren muss, damit etwa die Fundamentalnormen von Leistung und
Chancengleichheit allgemeingesellschaftlich und als klassenunabhängig anerkannt
und legitimiert werden. Insofern ist es spannend, grundsätzlich nach dem Status der
Autonomie des Bildungssystems im Rahmen der gegenwärtigen Reformen zu
fragen.
Ihre zentrale Bedeutung erhält diese Perspektive vor allem im Rahmen der
(erwähnten) These von der Ökonomisierung der Bildung, die impliziert, dass die
relative Autonomie des Bildungssystems (als die Fähigkeit des Feldes,
gesellschaftliche Anforderungen und Zwänge in die eigene Logik zu übersetzen)
aktuell bedroht, untergraben oder bereits ‚aufgehoben’ worden ist. Hier bieten
verschiedene wissenschaftliche BeobachterInnen unterschiedliche Interpretationen
an, was sowohl das Ausmaß und die Qualität der ‚feindlichen Übernahme’ der
Bildung durch die Ökonomie betrifft als auch deren Ursprung: Handelt es sich um
einen ‚coup d’ etat’ der Ökonomie, welche Staat/Politik und respektive der Bildung
ihre Form aufzwingen (Vermarktlichung, Wettbewerb usw.), um eine ‚konzertierte
Aktion’ aus Politik und Ökonomie, mit der das Bildungssystem dem Zeit einer
gemeinsamen (wettbewerbsorientierten) Standort-Politik unterworfen werden soll
oder sind Ökonomisierungen im Sozial- und Bildungsbereich primär als ein ‚Projekt
der Politik’ (B. Vogel) zu deuten? Im Workshop soll die Frage nach der relativen
Autonomie von Bildung zum Ausgangspunkt genommen werden, um in
verschiedenen Beiträgen genauer das Verhältnis von Staat/Politik, Ökonomie/Arbeit
24
und Bildung zu beleuchten, die gegenseitigen Formen der Vermittlung um die
Möglichkeiten einer neuen Politischen Ökonomie der Bildung zu diskutieren.
Programm
1. Thomas Höhne (Freiburg): Formen der Ökonomisierung von Bildung
2. Dirk Martin (Frankfurt/Main): Symbolische Herrschaft und Bildung. Zum Verhältnis
von Staat und Bildung bei Bourdieu
3. Sebastian Nessel (Graz): Symbolische Kämpfe im ökonomischen Feld und ihre
Wirkung auf die Schulbildung. Eine Analyse von Diffusionsprozessen zwischen
teilautonomen Feldern.
Thomas Höhne (Freiburg)
Formen der Ökonomisierung von Bildung
In dem Beitrag soll auf der einen Seite der Ökonomisierungsbegriff problematisiert
und auf der anderen Seite verschiedene theoretische Ansätze zur Beschreibung von
Ökonomisierung vorgestellt werden. Ökonomisierung wird zumeist als ein
Veränderungsprozess beschrieben, durch den entweder eine System- oder
Handlungslogik, ein Diskurs, eine Praktik oder Wissen zunehmend oder
durchgehend von ökonomischen Kriterien dominiert wird. Der
Ökonomisierungsbegriff beinhaltet hierbei ‚die Ökonomie’ als Ausgangspunkt der
Transformation(en) und zugleich eine Hegemoniethese, nach der die ökonomische
Logik andere Handlungslogiken, Semantiken, Rationalitäten oder Praktiken
überformt. Hierbei werden verschiedenen Akteuren unterschiedliche Möglichkeiten
der Einflussnahme unterstellt: So macht etwa der Erziehungswissenschaftler Peter
Vogel zwar politische Akteure als Verantwortliche für die Expansion „ökonomischer
Denkformen“ in den pädagogischen Diskurs aus. Diese werden aber wiederum auf
einen „Sieg der Ökonomie über die Politik“ (Vogel 1997: 365) zurückgeführt. Als
Ausgangspunkt der Veränderungsbewegung wird in letzter Instanz die Ökonomie
begriffen, während nach Einschätzung anderer Beobachter wie Berthold Vogel die
„Ökonomisierung der Politik“ nicht als ‚feindliche Übernahme’ verstanden, sondern
als „strategisches Projekt der Politik“ (Vogel 2007: 64) selbst gedeutet wird.
Vier Ansätze sollen referiert werden, die auf unterschiedlichen Ebenen theoretische
und kritische Perspektiven auf Ökonomisierungsprozesse eröffnen und mögliche
Ansatzpunkte für eine neue politische Ökonomie der Bildung bieten: Im Rahmen der
25
Gouvernementalitätsstudien liegt der Fokus auf den Veränderungen von
Regierungstechnologien und den Auswirken auf Subjektebene. Hierbei spielt die
Ökonomisierung als soziale Verallgemeinerung des Unternehmertums eine zentrale
Rolle. Auf der Ebene sozialer Systeme wird Ökonomisierung im Kontext von
Differenzierungstheorien als Entdifferenzierung begriffen, zu denen Systemtheorien
wie auch die Feldtheorie Bourdieus gezählt werden, in deren Rahmen nach dem
Status der ‚relativen Autonomie’ von Bildung gefragt werden kann. In der Perspektive
der Governanceforschung stellt sich Ökonomisierung als verändertes politisches
Steuerungshandeln im Bildungsbereich unter verstärkter strategischer Integration
privatwirtschaftlicher Akteure und ökonomischer Handlungsmotive der Beteiligten
dar. Mit Hilfe neoinstitutionalistischer Theorien kann Ökonomisierung schließlich als
Diffusion eines globalen Rationalitätsmodells interpretiert werden. Darüber hinaus
werden anschließend unter Punkt fünf noch institutionenökonomische Ansätze als
eine Positionen vorgestellt, mit der eine stärkere Ausrichtung von
Bildungsinstitutionen an primär ökonomischen Kategorien (Exzellenz, Wettbewerb)
theoretisch begründet respektive rationalisiert wird.
Dirk Martin (Frankfurt/Main)
Symbolische Herrschaft und Bildung.
Zum Verhältnis von Staat und Bildung bei Bourdieu
Durch die Ausübung der Reproduktionsfunktion wird das Bildungssystem an
zentraler Stelle im gesellschaftlichen Feld der Macht und in besonderer Nähe zum
Staat platziert. Der Staat ist, wie Bourdieu in Analogie zu Webers Bestimmung des
Staates als Inhaber des legitimen physischen Gewaltmonopols feststellt, der Inhaber
der legitimen symbolischen Gewalt und delegiert deren Ausübung an das
Bildungssystem. Der Staat selbst darf dabei nicht als ‚metaphysische Substanz’
missverstanden werden, sondern wird als Ensemble von administrativen Feldern
konzeptualisiert, in denen staatliche und nicht-staatliche Akteure um den Zugriff auf
die Ausübung der legitimen symbolischen Gewalt zur Regulierung oder
vermeintlichen Deregulierung gesellschaftlicher Praktiken kämpfen.
Von diesen Überlegungen ausgehend soll die Analyse aktueller Prozesse der
Ökonomisierung der Bildungsproduktion aus einer bourdieuschen Perspektive in
mehreren Schritten in den Blick genommen werden. (1) Zunächst ist
herauszuarbeiten, dass die relative Autonomie des Feldes der Bildung nicht als
26
Selbstproduktion und Selbstregulierung eines sinnbasierten autopoietischen Systems
verstanden werden darf. Felder sind für Bourdieu nicht lediglich Orte von Sinn-,
sondern vor allem von Kräfteverhältnissen, in denen permanente Kämpfe um die
Veränderung dieser Verhältnisse stattfinden, wie er in Abgrenzung zu Luhmann
konstatiert. Demzufolge darf die Ökonomisierung der Bildung nicht vorrangig als
Entdifferenzierung in Analogie zu einer systemtheoretischen gesellschaftlichen
Differenzierungstheorie verstanden werden. (2) Zweitens ist im Sinne der Theorie
von Bourdieu festzuhalten, dass jedes gesellschaftliche Feld einen unterschiedlichen
Grad an Autonomie aufweist. Dieser höhere bzw. niedrigere Grad der Autonomie
gesellschaftlicher Felder soll als Indikator ihrer Verflochtenheit mit dem Staat
rekonstruiert werden. In dieser Perspektive ist das Feld der Bildung durch einen
relativ niedrigen Grad der Autonomie zu bestimmen und insofern in besonderem
Maße durch die Kämpfe im Feld der Macht um das staatliche Kapital, „das Macht
über die verschiedenen Kapitalsorten und ihre (vor allem durch das Bildungssystem
vermittelte) Reproduktion verleiht“ (vgl. Bourdieu, Praktische Vernunft, 101),
betroffen. (3) In einem dritten Schritt muss deshalb Bourdieus Analyse des Staates
als eines netzwerkartigen Ensembles administrativer Felder, in denen soziale
Kämpfe auch um die Regulierung des Bildungssystems ausgetragen werden, in den
Blick genommen werden. Hier soll besonders herausgearbeitet werden, inwieweit
unter den gegenwärtigen Bedingungen neoliberaler Hegemonie die Etablierung
spezifischer neuer Steuerungsregime (NPM), entsprechender Diskurse und Leitbilder
in den administrativen Feldern des Staates selbst der Grund für die Ökonomisierung
des Bildungssystems ist. (4) Abschließend ist zu prüfen, inwieweit unterschiedliche
Formen der Ökonomisierung der Bildungsproduktion, die von unmittelbarer
Kommodifizierung von Bildungsgütern (Studiengebühren), bis zur Implementierung
marktanaloger Steuerungsmechanismen reichen, sich als transformierte Modalitäten
der Reproduktionsfunktion des Bildungssystems verstehen lassen, oder ob hier über
eine bourdieusche Perspektive hinauszugehen ist.
27
Sebastian Nessel (Graz)
Symbolische Kämpfe im ökonomischen Feld und ihre Wirkung auf die
Schulbildung.
Eine Analyse von Diffusionsprozessen zwischen teilautonomen Feldern.
Die These der Ökonomisierung besagt, dass das Feld der Wirtschaft ihre
Funktionslogik zunehmend auf das Feld der Bildung und andere teilautonome Felder
der Gesellschaft ausdehnt (Schimank/Volkman 1999). Damit ist zweierlei impliziert:
Erstens, dass das ökonomische Feld in der Hierarchie der Felder und in seiner
Beziehung zum Machtfeld ein zunehmendes Primat gewinnt (Beckert 2009;
Schimank 2009). Und zweitens, dass die herrschende Klasse im ökonomischen Feld
ihre Position mittels spezifischer Reproduktionsstrategien im Feld der Bildung weiter
abzusichern sucht, indem sie Einfluss auf die Inhalte und Strukturen von
Bildungsinstitutionen nimmt (Bourdieu 1989). Dieser Beitrag setzt seine Analyse von
Diffusionsprozessen zwischen Feldern an beiden Punkten an. Zunächst wird
dargelegt, wie sich die Transmission einer ökonomischen Logik im Rahmen
Bourdieus Theorie sozialer Felder denken lässt: Die Diffusion von feldspezifischen
Logiken – z.B. ökonomische Steuerungsprinzipien in Bildungsinstitutionen – vollzieht
sich über das Machtfeld, den Staat und die Durchsetzung von Interessen in
öffentlichen Diskursen, die als Instanzen symbolischer Macht die Belange der
herrschenden Akteure im ökonomischen Feld vermitteln (sollen). Daran
anschließend wird dargelegt, dass die Analyse von Ökonomisierungsprozessen im
Feld der Bildung (bzw. der Gesellschaft) nicht umhin kommt, die Kämpfe im Feld der
Ökonomie zu analysieren. Wenn es richtig ist, dass eine spezifische Form von
Ökonomisierung aus dem Feld der Wirtschaft hervorgeht, bedeutet dies, dass
Veränderungen im Bildungsfeld einer Veränderung von Interessen der herrschenden
Fraktion innerhalb der Wirtschaft oder einer Änderung der Kräfteverhältnisse
innerhalb der herrschende Fraktion der Ökonomie entspringen. Diese
Auseinandersetzungen um die „legitime Sicht“ auf die Ökonomie und ihre Wirkungen
auf das Feld der Bildung stehen daher im Mittelpunkt des Beitrages. In einer Analyse
des ökonomischen Feldes wird gezeigt, dass die Interessen der herrschenden
Fraktion im Feld der Wirtschaft – die Profitmaximierung - zunehmend mit einer
anderen Logik – dem Einbezug gesellschaftlicher Werte – konfrontiert wird. Diese
These wird anhand des Aufkommens eines dritten teilautonomen Feldes in der
Ökonomie, dem Feld der social movement organizations, expliziert.
28
Die Kämpfe um die legitime Sicht auf wirtschaftliches Handeln ist demnach ständigen
Kämpfen ausgesetzt, deren Ausgang eine spezifische Wirkung auf andere
Subsysteme und die Inhalte der Schulbildung entfaltet. Anhand einiger
exemplarischer Beispiele werden daher abschließend die Versuche der Akteure zum
Einbezug (feld-)spezifischer Interessen in die Schulbildung illustriert. Dabei wird
ersichtlich, dass die zunehmende Ausrichtung der Inhalte des Schulunterrichts an
ökonomischen Leitideen (Sparen oder Investieren) vom Einbezug der Vorstellungen
zivilgesellschaftlicher Akteure – Umweltschutz, Menschenrechte – begleitet wird. Die
Inhalte der Schulbildung ihre Veränderung können so in Zusammenhang mit den
Reproduktionsbestrebungen der Akteure im ökonomischen Feld und ihren Interessen
gedeutet werden.
29
WS 7 (Raum KG IV-108)
Religion und soziale Ungleichheit: zur Analyse religiöser Praxis
Heinrich W. Schäfer (Bielefeld)
An der Universität Bielefeld, Center for the Interdisciplinary Research on Religion
and Society (CIRRuS, www.uni-bielefeld.de/religionsforschung), wird seit 2006 in
empirischen Projekten sowie begleitender Arbeit an Methoden und Theorie ein auf
Bourdieus genereller Sozialtheorie aufbauendes religionssoziologisches Programm
entwickelt und getestet. Es geht zurück auf die Forschungen von H.W. Schäfer in
den achtziger Jahren, aus denen vor allem eine Methode zur Analyse von
(individuellen und kollektiven) Habitus im Rahmen unterschiedlicher Modelle
gesellschaftlicher Ungleichheit sowie eine Theorie (religiöser) Identität und Strategie
hervorgegangen ist. Ein Buch zur Methode ist derzeit im VS-Verlag unter dem Titel
Habitus-Analysis in Vorbereitung.
In dem geplanten Workshop sollen sowohl theoretische und methodologische
Grundlinien des Forschungsansatzes vorgestellt und generell diskutiert werden als
auch eine Vertiefung der Diskussion spezifischer Fragestellungen an den
Ergebnissen laufender und abgeschlossener Forschungsprojekte erreicht werden.
Programm
1 Einheit: Theorierahmen und Habitusanalyse – Heinrich Wilhelm Schäfer (Bielefeld)
2 Einheit: Das religiöse Feld als Glaubwürdigkeit und Komplexität von Organisation
– Leif Seibert (Bielefeld)
3 Einheit: Religiöser Geschmack und sozialer Raum: Buenos Aires – Jens Köhrsen
(Bielefeld)
4 Pluralisierung des religiösen Feldes bei sozialer Homogenität: Mexiko – Adrián
Tovar (Bielefeld)
5 Religiöser Habitus und Feldpositionen bosnisch-herzegowinischer
Friedensorganisationen – Zrinka Stimac (Bielefeld)
30
Heinrich Wilhelm Schäfer (Bielefeld)
Einheit: Theorierahmen und Habitusanalyse
Weit über die Möglichkeiten strukturaler, funktionaler und rationalistischer
Sozialtheorien hinaus bietet die generelle Theorie Bourdieus – nicht so sehr seine
Schriften über Religion – ein großes Potential für die Untersuchung sozialer und
somit auch religiöser Praxis. Identitäten und Strategien generell sozialer sowie,
spezifischer, religiöser Akteure können in verschiedensten Kontexten sozialer
Ungleichheit untersucht werden – gleich ob in Hinsicht auf funktionale oder
klassenspezifische Differenzierung.
Die erste Phase dieser Workshop-Einheit wird dieses Potential skizzieren mit
besonderem Augenmerk auf die ‚Triangulation‘ von drei Modellen. Das erste Modell
ist das eines Netzwerks von Dispositionen, welches mit qualitativen
Untersuchungsmethoden Habitus-Analyse zu betreiben erlaubt. Damit wird ein lange
offenes methodologisches Desiderat praxeologischer Soziologie bearbeitet.
Identitäten und Strategien von individuellen und kollektiven Akteuren können so
untersucht werden. Das zweite Modell operationalisiert das religiöse Feld mit einem
neuen Modell. Es basiert auf quantitativer Analyse und einem Anschluss an die
Konstruktionsprinzipien, die Bourdieu für das Feld der Kunst verwendet. Das dritte
Modell konstruiert den sozialen Raum religiöser Stile in Anlehnung an die
Raumkonstruktion in Die feinen Unterschiede. Durch die Zusammenführung der drei
Modelle können subjektive Habitus und praktische Logiken sowie die objektiven
Dynamiken funktional und klassenspezifisch differenzierter Gesellschaften
interpretativ aufeinander bezogen werden.
Die zweite Phase dieser Einheit wird die Methode der Habitus-Analyse in
spezifischer Weise vorstellen. Zunächst werden wir die Methode als solche in ihrer
kognitivistischen Fokussierung diskutieren. Dann werden Nutzen und Grenzen von
Verbindungen zu anderen Ansätzen – wie etwa dem interpretative, dem performative
und dem iconic turn – debattiert.
Drittens werden wir kurz einige spezielle Aspekte der Untersuchung religiöser
Akteure im Vergleich zu nicht-religiösen Akteuren beleuchten. Daran schließt sich die
spezielle Bearbeitung des Modells des religiösen Feldes in der zweiten Workshop-
Einheit an.
31
Leif Seibert (Bielefeld)
Einheit: Das religiöse Feld als Glaubwürdigkeit und Komplexität von
Organisation
Im Rahmen dieser Workshop-Einheit soll ein revidiertes Modell des religiösen Felds
vorgestellt werden, das Webers und v.a. Yingers Religionstypologien mit Bourdieus
Feldtheorie verbindet und letztlich in einer sozialtopologischen Analyse religiöser
Organisationen mündet. Anhand der Faktoren Glaubwürdigkeit und Organisiertheit,
die aus quantitativen Daten aus randomisierten Haushaltsbefragungen konstruiert
werden können, werden im Modell die spezifischen Macht- und Wettkampfstrukturen
im Kontext des Kampfes um religiöse Deutungshoheit abgebildet. Dadurch wird es
möglich, die gesellschaftliche Reichweite unterschiedlicher religiöser Organisationen
relativ zueinander taxonomisch zu bestimmen und für vertiefende qualitative
Untersuchungen, etwa eine vergleichende Habitusanalyse, transparent zu machen.
Das hier präsentierte Modell wurde im Rahmen des Forschungsprojekts "Das Ethos
religiöser Friedenstifter" entwickelt und gestestet; die Explikation der Methodik wird
auf der Grundlage empirischer Daten aus Erhebungen in drei bosnisch-
herzegowinischen Städten erfolgen.
Jens Köhrsen (Bielefeld)
Einheit: Religiöser Geschmack und sozialer Raum: Buenos Aires
Die Workshop-Einheit wendet sich dem Zusammenhang zwischen sozialer
Ungleichheit, Habitus und Präferenzen zu. Habitusunterschiede manifestieren sich
mitunter in unterschiedlichen Lebensstilen und Präferenzen. Soziale Ungleichheit
(bzw. ungleiche Sozialisation) schlägt sich somit über den Habitus in
schichtspezifischen Präferenzmustern und Praxisstilen nieder. Am Beispiel der
Argentinischen Pfingstbewegung wird in der Einheit dargestellt, wie sie sich soziale
Schichtung über schichtspezifische Sozialisation auf religiöse Präferenzen und
Praxisstile auswirkt. So zeigte sich im Rahmen eines Forschungsprojekts in
Argentinien, dass Pfingstler der Mittelschicht sich in ihren religiösen Präferenzen
stark von Pfingstlern der unteren sozialen Schichten absetzen. Auch der religiöse
Stil, in dem die Mittelschichtspfingstler ihre Religiosität praktizieren, weicht trotz eines
identischen pfingstlichen Glaubenskanons stark von dem religiösen Stil der
Unterschichten ab. In der Einheit wird somit ein generelles Modell des
Zusammenhangs zwischen sozialer Schichtung, religiösen Habitus sowie
32
Präferenzen und religiöser Praxis vorgestellt und am Beispiel der Argentinischen
Pfingstbewegung veranschaulicht.
Adrián Tovar (Bielefeld)
Pluralisierung des religiösen Feldes bei sozialer Homogenität: Mexiko
Anknüpfend an der von Prof. Heinrich Schäfer vorgestellten Methode der
Habitusanalyse, wird in dieser Einheit ein weiterer Anwendungsfall im Rahmen eines
Dissertationsprojekts zu religiöser Pluralisierung in Mexiko Stadt vorgestellt. Unter
Bedingungen relativer sozialer Homogenität (d.h. als Untersuchungsgegenstand
dient ein Stadtviertel, in dem in Relation zur Gesamtgesellschaft eine deutlich
geringere Streuung von Positionen im sozialen Raum registriert wird) und gleichzeitig
hoher religiöser Pluralität, werden gruppenübergreifende Merkmale von religiösen
Habitus untersucht, welche ein gewisses Erklärungspotential hinsichtlich
Sozialstruktur-spezifische Prozesse religiöser Diversifizierung aufzeigen. Dabei wird
in der Methode der Habitusanalyse eine Heuristik angewandt die von vornherein auf
homologe Dispositionskonstrukte quer durch die Untersuchten
Religionsgemeinschaften Ausblick hält.
Zrinka Stimac (Bielefeld)
Religiöser Habitus und Feldpositionen bosnisch-herzegowinischer
Friedensorganisationen
In dieser Einheit des Workshops werden die Resultate der quantitativen Analyse des
religiösen Feldes aus dem Projekt „Das Ethos der religiösen Friedensstifter“ mit der
Habitusanalyse der kollektiven Akteure verschränkt. Ausgehend einerseits von der
religiösen Pluralität in Bosnien und Herzegowina und andererseits von den
Bedingung relativer religiöser Homogenität in einzelnen Teilen des Landes wird nach
den Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen den Habitus der religiösen Akteure
gefragt. Zu den Akteuren zählen vor allem die offiziellen religiösen Deutungsträger
(große Kirchen), religiöse Grasswurzelorganisationen, NGOs und
Zusammenschlüsse. Es wird gezeigt, dass verschiedene Cluster von Akteuren
rekonstruiert werden können, die trotz des unterschiedlichen religiösen Hintergrunds
große Ähnlichkeiten in den Habitus aufweisen. Die starke Übereinstimmung kann in
verschiedenen Fällen von der jeweiligen sozialen Position der Akteure abgeleitet
werden. Die Habitusanalyse basiert auf qualitativen Interviews, die mit den
33
relevanten religiösen Akteuren in drei bosnisch-herzegowinischen Städten –
Sarajevo, Mostar und Banja Luka – geführt wurden.
34
WS 8 (Raum KG IV-109)
Globale Sozialstrukturanalyse – Globaler Raum versus globale Felder
Alexander Lenger, Florian Schumacher (beide Freiburg)
& Christian Schneickert (Berlin)
Der Workshop beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit die theoretischen Konzepte
Pierre Bourdieus geeignet sind, zur Analyse globaler Ungleichheiten und der
Entwicklung einer globalen Sozialstrukturanalyse beizutragen. Somit liegt der
Workshop im Spannungsfeld zwischen Klasse, Kultur und
Transnationalisierungsprozessen sowie der internationalen Analyse von
Sozialstruktur.
Im Workshop sollen zunächst Bourdieus zentrale Konzepte an den theoretischen und
empirischen Herausforderungen der gegenwärtigen Globalisierungsprozesse
überprüft und weiter entwickelt werden. Fasst man unter Globalisierung die
zunehmende weltweite Verflechtung und Verdichtung sozialer Beziehungen in allen
gesellschaftlichen Bereichen (Wirtschaft, Politik, Kultur, Kommunikation, Umwelt,
etc.) und auf allen gesellschaftlichen Ebenen (zwischen Individuen, Institutionen,
Klassen, Organisationen, Nationalstaaten), so rückt aus Bourdieuscher Perspektive
zunächst die Frage in den Mittelpunkt, wie die Herausbildung einer solchen
„Weltgesellschaft“ adäquat analysiert werden kann. Debattiert werden soll die Frage,
ob eine Rekonstruktion des sozialen Raums in der Tradition von Bourdieu überhaupt
geeignet ist, die Vorstellung von einem „Container- Modell“ der Nationalstaaten
zugunsten einer globalen soziologischen Perspektive zu überwinden.
Alternativ bietet auch das Konzept des sozialen Feldes interessante Möglichkeiten
für transnationale und globale Analysen, die nicht auf die ungleichheitstheoretischen
Grundlagen Bourdieus verzichten wollen.
Darüber hinaus soll erörtert werden, in welchem Verhältnis die Theorie von Bourdieu
zu anderen Theorien der globalen Sozialstrukturanalyse, insbesondere zur
Weltsystemtheorie in der Tradition von Wallerstein und seinen Schülern wie
Korzenievicz/Koran steht. Denn betrachtet man die gemeinsame Ausrichtung auf
strukturelle Ungleichheiten und Klasse, so wäre eine Kombination sowie
wechselseitige Befruchtung durchaus denkbar, findet bisher jedoch nicht statt.
Anschließend an diese theoretischen Überlegungen gilt es jedoch für eine globale
Sozialstrukturanalyse die Komplexität und Reichweite des Forschungsgegenstands
35
mitzudenken und mögliche empirische Zugänge sowie Einschränkungen
angemessen zu berücksichtigen. Wir unterstellen, dass mit Bourdieu – analog zur
zuvor angesprochenen Fragestellung – zwei empirische Zugänge zu einer globalen
Sozialstrukturanalyse denkbar wären: über einen „Globalen Sozialen Raum“ und die
Analyse von Kapitalausstattungen oder über „Globale Felder“ sowie einer Analyse
der entsprechenden Habitus. Hier jedoch wird man – so unsere These, welche es zu
erörtern gilt – mit einem rein praktischen Forschungshindernis konfrontiert: Die
globale Sozialstrukturanalyse eines globalen sozialen Raums, der entsprechenden
Kapitalausstattungen sowie der entsprechenden Lebensstile Bedarf eines immensen
Umfangs an quantitativen Daten, welche aus Kosten- und Zeitgründen wohl kaum
erhoben werden können. Entsprechend zeichnen sich in der Analyse globaler
Sozialstrukturen in der Bourdieuschen Tradition folgende zwei, auf qualitativen
Methoden beruhenden Alternativen ab: Zum einen werden transnationale Klassen
zur Analyse von Globalisierungsphänomen herangezogen. Prominenteste Vertreterin
auf diesem Feld ist Anja Weiß. Zum anderen wird versucht, mittels einer
„Habitushermeneutik“ Zugang zu verschiedenen Klassen (meist Ober-, Unter-,
Mittelschicht) in verschiedenen Ländern (mit Wallerstein: Zentrum, Semi-Peripherie
und Peripherie) zu bekommen und exemplarisch bestehende Habitusmuster zu
rekonstruieren und international zu vergleichen. Entscheidend hierfür ist vor allem
auch die Analyse kultureller Praktiken und ästhetischer Präferenzen. Dabei soll auch
untersucht werden, inwiefern sich die Analyse eines Raums der Lebensstile auf
globale Maßstäbe beziehungsweise außereuropäische Gesellschaften übertragen
lässt. Ein entscheidender Vertreter dieser zweiten Forschungsrichtung ist Boike
Rehbein.
36
Programm
9.15-9.30 Begrüßung & Einführung
9.30 – 10.00 Schumacher/Lenger: Globale Sozialstrukturanalyse und
Bourdieu
10.00 – 10.15 Fragen & Diskussion
10.15-10.45 Lenger/Schneickert: Methodologische Rückschlüsse aus dem
Werk Pierre Bourdieus für eine globale Sozialstrukturanalyse
10.45-11.00 Fragen & Diskussion
11.00-11.15 Pause
11.15-11.45 Buchholz: Das globale Kunstfeld
11.45-12.00 Fragen & Diskussion
12.00-12.30 Offene Abschlussdiskussion
Florian Schumacher / Alexander Lenger (Freiburg)
Globale Sozialstrukturanalyse und Bourdieu
Der Beitrag beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Bourdieus Theoriekonzeption
zur Analyse globaler Ungleichheiten und einer globalen Sozialstrukturanalyse
beitragen kann. Zur Beantwortung dieser Frage ist Bourdieus Theoriegebäude darauf
hin zu prüfen, ob es geeignet ist, dem Phänomen der Globalisierung gerecht zu
werden. Fasst man unter Globalisierung die zunehmende weltweite Verflechtung und
Verdichtung so rückt aus Bourdieuscher Perspektive zunächst insbesondere die
Frage in den Mittelpunkt, ob und wie globale Phänomene mit den Konzepten
„sozialer Raum“ und/oder „Feld“ theoretisch erfasst werden können. Entsprechend
wird in diesem Beitrag die These diskutiert, ob eine Rekonstruktion des sozialen
Raums in der Tradition von Pierre Bourdieu ausschließlich eine – mehr oder weniger
– geschlossene beziehungsweise nationale Gesellschaft darstellt, oder ob lediglich
37
das Feldkonzept einen methodologischen Nationalismus überkommt und zur Analyse
globaler Strukturen herangezogen werden kann.
Der Beitrag gliedert sich wie folgt: zunächst werden kurz die zentralen Aspekte der
Bourdieuschen Theorie (Habitus, sozialer Raum, Feld) zusammengetragen und
skizziert. Daran anschließend werden die Konzepte des sozialen Raums und des
Feldes auf die globale Ebene übertragen. In einem dritten Teil wird gezeigt, dass es
einer kombinierten Raum-Feld-Perspektive bedarf, um zur systematischen Analyse
von Globalisierungsprozessen beizutragen. Abschließend werden die Ergebnisse in
einem vierten Teil zusammengefasst und mögliche Schlussfolgerungen
angesprochen.
Alexander Lenger (Freiburg) / Christian Schneickert (HU Berlin)
Methodologische Rückschlüsse aus dem Werk Pierre Bourdieus für eine
globale Sozialstrukturanalyse
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, methodologische Rückschlüsse aus dem
Werk von Pierre Bourdieu für eine globale Sozialstrukturanalyse zu extrahieren.
Theoretischer Ausgangspunkt für eine Übertragung auf eine globale Ebene der
Sozialstrukturanalyse stellt die methodologische Weiterentwicklung im Werk von
Pierre Bourdieu dar, welcher im Laufe der Jahre von einer Habitusbetrachtung
basierend auf verschiedenen Kapitalsorten seine Analyse gesellschaftlicher Realität
zu einer Analyse des Habitus in verschiedenen Feldern weiterentwickelt hat.
Konzentrierten sich seine früheren Schriften auf die Akkumulations- und
Transformationsstrategien sozial erforderlicher Handlungsressourcen von Individuen,
welche er unter dem Begriff des Kapitals subsumierte, beschäftigt sich Bourdieu in
seinen späteren Schriften zunehmend mit dem Verhältnis von Habitus, Feld und
Sozialstruktur bzw. mit der Strukturierung des Habitus durch das Feld und seine
Rückwirkung auf das Feld aus einer bestimmten Position heraus, wobei die
jeweiligen Felder mit bestimmten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata –
also Habitus – verknüpft sind (vgl. hierzu Rehbein 2006).
Der Beitrag wird sich der Frage nach der empirischen Umsetzung der zuvor
theoretisch entwickelten Perspektive widmen. Hierbei wird insbesondere auf
mögliche Raum-Feld-Kombinationen eingegangen, verschiedene Datenquellen für
eine globale Sozialstrukturanalyse diskutiert und die Umsetzungsschwierigkeiten
anhand verschiedener Kennzahlen diskutiert. Dabei stützen sich die vorgetragenen
38
Überlegungen zentral auf eigene Erfahrungen im Rahmen empirischer
Untersuchungen über die Promotion (Lenger 2008, 2009) und studentische
MitarbeiterInnen im wissenschaftlichen Feld (Schneickert 2009;
Lenger/Schneickert/Priebe im Erscheinen), wobei wir feststellen mussten, dass zur
Analyse von Kapitalsorten ein quantitativer Ansatz ausreichend ist, während zur
Habitusanalyse in Feldern ein ergänzendes qualitatives Vorgehen nötig wird. Die
entsprechende Triangulation beider Forschungsmethoden – so zeigen die
Ausführungen – stellen das zentrale Werkzeug zur Analyse einer globalen
Sozialstruktur dar.
Larissa Buchholz (Columbia University / Berlin)
Das globale Kunstfeld
39
WS 9 (Raum KG IV-218)
Vom asketischen Aristokratismus zur neoliberalen Fitness – zum Wandel von
Kultur, Körperlichkeit und symbolischer Herrschaft
Uwe H. Bittlingmayer, Barbara Peter, Rainer Wohlfahrt (alle Freiburg)
Eine der besonderen Stärken der bourdieuschen Soziologie ist ein konsequenter
Materialismus, wenn es um Aspekte der Reproduktion von sozialer Herrschaft geht.
Soziale Verhältnisse schreiben sich nach Bourdieu eben nicht nur in die
Wahrnehmungsmuster und Denkschemata sozialer Akteure, sondern auch mehr
oder weniger unmittelbar in die menschlichen Körper ein. Diese körperbezogenen
Einschreibungen der sozialen Strukturen (Inkorporierung) sind dabei Bourdieu
zufolge eine besonders verschleierte und nachhaltige Form der
Herrschaftssicherung, weil die somatischen Impulse, die körperliche Hexis selbst
nach einer entsprechenden Bewusstwerdung wenn überhaupt, dann nur mit sehr viel
Mühe und Zeit verändert werden können.
Aus der bourdieuschen Soziologie wird folgerichtig die Existenz von
klassenspezifischen Körperkonzepten abgeleitet – insbesondere in der klassischen
Studie „Die feinen Unterschiede“, noch konsequenter im kaum bekannten Text von
Luc Boltanski (dt. 1976) „Die soziale Verwendung des Körpers“. Komplementär
hierzu lässt sich auch die klassische Studie von Paul Willis „Spaß am Widerstand“
lesen, in der im Rahmen eines „Linksfunktionalismus“ die Herausbildung von auf
körperliche Kraft bezogenen Männlichkeitskonzepten als sinnvolle Vorbereitung für
die späteren beruflichen Tätigkeiten der lads sah.
Im Zentrum des Workshops steht die Frage, ob die Existenz von „Klassenkörpern“ in
Zeiten von Fitness, Wellness und Extremsportarten, (umstrittene) Formen der
Deindustrialisierung und des berüchtigten Rückgangs manueller Tätigkeiten sowie
schließlich technologische Körpermanipulationen, die scheinbar beliebige
Körperkonzepte möglich werden lassen, nach wie vor plausibel ist. Die Beiträge
versuchen auf empirischer Grundlage an eine empirische Körpersoziologie
anzuschließen, die Abstand hält von positivistischer und radikal-konstruktivistischen
Positionen.
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Programm
Uwe H. Bittlingmayer (Freiburg)
Klassenkörper als symbolische Regime sozialer Strukturen – zur Einleitung
Susanne Hartung (Berlin)
Sozialisationseffekte auf Umgang und Einstellungen über den eigenen Körper
– Einige empirische Ergebnisse der Bildungsforschung
Tuba Hastaoglu & Igor Osipov (beide Essen)
Schulformspezifische Körperlichkeit? Zum Zusammenhang von Körper und
Bildung in Förderschulen, Hauptschulen und Gymnasien
Elias Sahrai (Karlsruhe)
Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Anmerkungen
zu einer möglichen Forschungsprogrammatik
Gabriele Sobiech (Freiburg)
Die Logik der Praxis – Frauenfussball zwischen symbolischer Emanzipation
und männlicher Herrschaft
Uwe H. Bittlingmayer
Klassenkörper als symbolische Regime sozialer Strukturen – zur Einleitung
Bourdieus Herrschaftssoziologie besitzt – entgegen vieler anderer soziologischer
Ansätze – eine eminent materiale Komponente. Soziale Strukturen werden Bourdieu
zufolge in Sozialisationsprozessen einverleibt, in den Körper eingeschrieben. Auf
diese Weise geformte Körper repräsentieren die jeweilige Position im sozialen Raum
nach außen – entlang der körperlichen Hexis – und nach innen – entlang von
Schamschwellen und Schüchternheiten. Das Einleitungsreferat soll die Grundthesen
der bourdieuschen Körpersoziologie kurz darstellen und einige mögliche
Forschungslinien benennen.
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Susanne Hartung (Berlin)
Sozialisationseffekte auf Umgang und Einstellungen mit und zum eigenen
Körper. Einige empirische Ergebnisse aus der Bildungsforschung.
Die Einstellung zum eigenen Körper bzw. die Körperzufriedenheit sind
Determinanten für Gesundheit bzw. Wohlbefinden. Einstellungen zum eigenen
Körper bilden sich im Verlauf des Lebens innerhalb eines sozialen Lernprozesses
heraus, der durch soziale Determinanten bestimmt wird. Soziale Determinierungen
übertragen sich durch kulturelle Systeme und Ressourcen auf den psychischen
physischen Körper. Zusammenhänge zwischen Bildung und Gesundheit werden
theoretisch und empirisch bereits untersucht. Dabei wird Kindergesundheit
vorwiegend über den Sozialstatus ihrer Eltern erklärt. Der Vortrag geht der Frage
nach, ob auch institutionelle Sozialisationskontexte, wie Hauptschule und
Gymnasium, Einfluss auf Einstellungen und Wahrnehmungen des eigenen Körpers
haben. Dazu werden einige empirische Ergebnisse aus der Evaluationsforschung
vorgestellt.
Tuba Hastaoğlu, Igor Osipov (beide Duisburg-Essen)
Schulformspezifische Körperlichkeit? Zum Zusammenhang von Körper und
Bildung in Förderschulen, Hauptschulen und Gymnasien
Paul Willis stellt in seiner bereits in den 70er Jahren durchgeführten Studie „Learning
to Labour“ über Arbeiterjugendliche (lads) und die Jugendlichen der Mittelschichten
(ear‘ole) in England einen spezifischen Zusammenhang fest: Eine körperbetonte,
aggressive Sozialisation ist ein funktionales Gegenstück zu einer Zukunft als manuell
Arbeitender und steht im kulturell-symbolischen Gegensatz zur körperlosen
Bildungsinstitution Schule.
Im Anschluss an Willis und Bourdieu möchten wir der Frage nachgehen, inwieweit
auch unter heutigen Jugendlichen klassenspezifische Körperkonzepte vorhanden
sind.: In Anbetracht des mehrgliedrigen Schulsystem, das nicht erst seit neuestem
eine klassen- bzw. schichtspezifische Aufteilung erkennen lässt (Stichwort:
Homogenisierung von Hauptschulen), lässt sich fragen, ob es eine
schulformspezifische Körperlichkeit gibt und wenn ja, mit welchen sozialstrukturellen
und symbolisch-kulturellen Konsequenzen diese eingehen.
In unserem Vortrag wollen wir anhand von bundesweit erfassten Schülerdaten im
Rahmen des BMBF-geförderten HaBil-Projektes (Förderschule, Hauptschule,
42
Gymnasium) veranschaulichen, wo sich schulformspezifische Unterschiede auftun
und wie sich diese interpretieren lassen. Diskussionen sind uns sehr willkommen.
Elias Sahrai (Karlsruhe)
Der Körper im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Anmerkungen
zu einer möglichen Forschungsprogrammatik
Gesellschaftliche Trends, sich schöner zu machen und sowohl kognitiv als auch
physisch immer bessere Leistung zu erbringen, haben schon immer existiert. Aus
Kunst und Literatur weiß man, dass die Schönheit der Frau und die Kraft des
Mannes besonders aussagekräftige Symbole des jeweiligen Geschlechtes sind, und
das gilt in nahezu allen (nicht in allen!) Kulturen und Gesellschaftsformen.
Neuere Bestrebungen und Trends unterscheiden sich von den klassischen in einem
entscheidenden Punkt: Es werden zunehmend technische Verfahren und Methoden
herangezogen, zuweilen auch technologische Eingriffe, um den menschlichen Körper
und seine Leistungsfähigkeit zu verbessern. Sei es aus der Kosmetikindustrie, der
Pharmaindustrie oder aus der Neurochirurgie. Ihre Einsatzgebiete: Arbeitswelt,
Sport, Militär, Entertainment, Bildung, Freizeit.
Starke Grenzverschiebungen und Grenzpluralisierungen führen dazu, dass zum
Einen zunehmend eine Art ‚Entfesselung der Natur‘ stattfindet. Die Grenze zwischen
‚Natürlich Gegebenem‘ und ‚Technisch Gemachtem‘ scheint sich aufzulösen, will
man die radikalen Zukunftsvisionen einiger Technokraten ernst nehmen.
Solche Visionen verdienen gerade aus kritischer sozialwissenschaftlicher
Perspektive Aufmerksamkeit, weil sie in der Gesellschaft eine gewisse Akzeptanz
gegenüber ausgewählten Technologien oder technischen Verfahren schaffen und
fördern und vermutlich mit neuen körperbezogenen Ungleichheitsstrukturen
einhergehen.
In Hinblick auf eine bourdieusche Perspektive wäre hier nicht nur zu fragen,
inwieweit diese technischen Verbesserungen körperlicher Leistungsfähigkeit auf
ökonomisches Kapital angewiesen sind und deshalb nicht allen sozialen Akteuren
offen stehen. Sondern darüber hinaus, ob es bei der technischen Reproduzierbarkeit
von Körperlichkeit spezifische Sozialisationsbarrieren gibt, die ein Spannungsfeld
zwischen technologischer Machbarkeit und körperlicher Trägheit – wie Bourdieu sie
in seinem Habituskonzept versteht – wahrscheinlich werden lassen.
43
Allgemeinere Fragestellungen wären in diesem Zusammenhang, welchem Zweck
und welchem Ziel diese technologischen Bestrebungen dienen oder welche
gesellschaftlichen Gruppen davon profitieren, wenn Produkte wie Seh-Implantate
oder Chip-Implantate ihre Marktreife erlangen? Ziel des Vortrags ist es, technik- und
wissenschaftssoziologische Perspektiven mit der bourdieuschen Soziologie ins
Gespräch zu bringen.
Gabriele Sobiech
Die Logik der Praxis – Frauenfußball zwischen symbolischer Emanzipation und männlicher Herrschaft
Die Untersuchung von Geschlechterverhältnissen im Sport im Allgemeinen und
Fußballsport im Besonderen zeigt, dass ungeachtet der Abnahme von
geschlechtsbezogenen Ungleichheiten in anderen gesellschaftlichen Feldern, die
sportliche Betätigung immer dazu gedient hat und dient, Frauen und Männer als
verschieden zu klassifizieren. Da diese (körperlichen) Oppositionsbildungen, die als
natürliche Differenz erscheinen, hierarchisch angelegt sind, führen sie für Mädchen
und Frauen – dies zeigt auch die Geschichte des Frauenfußballs – oftmals zu
eingeschränkten Chancen der (Raum-)Aneignung. Um genauer zu erfassen, wie der
Kampf um gleiche Zugangschancen geführt wird, sind in der vorliegenden Studie in
einem ersten Schritt Karriereverläufe von Fußballspielerinnen bis in die 1. Bundesliga
mit biografischen Methoden untersucht worden, in denen die Positionierung der
Akteurinnen konsequent als Wechselverhältnis von strukturierten Bedingungen und
handelnden Individuen betrachtet wird. In einem zweiten Schritt eröffnet die
Untersuchung von Zweikämpfen – die Analyse der ’Logik der Praxis’ – mit Hilfe
ethnografischer Methoden einerseits den Blick auf die Verkörperung von
Strukturkontinuitäten, verweist aber auch andererseits auf die Veränderung
körperlicher Praktiken.
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WS 10 (Raum KG IV-106)
Bourdieus Theorie der symbolischen Herrschaft und die multidimensionale
Analyse von Ungleichheit
Tomke König & Ulle Jäger (beide Basel)
In seinem Spätwerk Die männliche Herrschaft (Bourdieu 2005) vertritt Pierre
Bourdieu die These, zur Analyse der Ungleichheiten innerhalb der bestehenden
Geschlechter- und Gesellschaftsordnung sei es notwendig, eine multidimensionale
Perspektive einzunehmen und die Wechselwirkung zwischen verschiedenen
Differenzierungsmechanismen in den Blick zu nehmen. Bereits in früheren Werken
hat er ansatzweise in diese Richtung gearbeitet. So z.B. in Die Feinen Unterschiede
(Bourdieu 1989): Dort liegt der Fokus zwar auf der analytischen Kategorie Klasse,
aber dennoch beschreibt und reflektiert er Differenzen zwischen den Geschlechtern.
In Die männliche Herrschaft geht es demgegenüber vorrangig um Geschlecht, aber
gleichzeitig verweist Bourdieu auch auf klassenspezifische Unterschiede zwischen
Frauen und zwischen Männern.
Bourdieu benennt in seinem Gesamtwerk insbesondere vier Formen symbolischer
Herrschaft, die alle die Merkmale des „Natürlichen“ tragen. Diese Merkmale sind:
weiß, bürgerlich, männlich und heterosexuell. Alle vier Elemente sind für ihn in einem
Individuum stets konstitutiv miteinander verbunden. Das heißt, dass für die Analyse
symbolischer Herrschaft die analytischen Kategorien „Rasse“/Ethnizität, Klasse,
Geschlecht und Sexualität gleichermaßen relevant sind. Deshalb gilt es ihm zufolge
auch nicht theoretisch zu entscheiden, welche Kategorie als Leitkategorie zu
verstehen ist. Dies hat er nicht zuletzt in der Diskussion um das Verhältnis der
Kategorien Klasse und Geschlecht mehrfach betont (Bourdieu 1997b). Stattdessen
muss je nach Forschungsgegenstand entschieden werden, welche theoretischen
Begriffe notwendig sind, um die jeweiligen hegemonialen Differenzierungs- und
Disziplinierungsprozesse zu beschreiben, und inwiefern Überschneidungen zwischen
verschiedenen Kategorien bzw. Phänomenen berücksichtigt werden müssen.
Mit unserem Workshop laden wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dazu
ein, über diese theoretischen Annahmen aus der Perspektive ihrer aktuellen
theoretischen oder empirischen Forschungsprojekte zu diskutieren.
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Tomke König (Basel)
Bourdieus Theorie der symbolischen Herrschaft und die multidimensionale
Analyse von Ungleichheit
Bourdieu hat vor allem in seinem Spätwerk Die männliche Herrschaft (2005) die
These vertreten, dass es zur Analyse von Ungleichheiten in bürgerlich-
kapitalistischen Gesellschaften notwendig sei, die Wechselwirkung zwischen
verschiedenen Differenzierungsmechanismen in den Blick zu nehmen. Insgesamt
benennt Bourdieu vier Formen symbolischer Herrschaft, die alle die „Merkmale des
Natürlichen“ tragen: weiß, bürgerlich, männlich und heterosexuell. Alle vier Elemente
sind für ihn im Individuum stets konstitutiv miteinander verbunden und für die
Analyse von Herrschaftsverhältnissen gleichermaßen relevant. Im Anschluss an
Bourdieu erübrigt sich deshalb eine theoretische Festlegung von Leit- und
Nebenkategorien. Stattdessen muss je nach Forschungsgegenstand entschieden
werden, welche theoretischen Begriffe notwendig sind, um die jeweiligen
hegemonialen Differenzierungs- und Disziplinierungsprozesse zu beschreiben.
Susanne Völker (Köln)
Prekarisierung als Herrschaft und Prekarisierung der (Männlichen) Herrschaft.
Arbeit, Milieu und Geschlecht
Bourdieu hat Prekarisierungsprozesse als ‚Teil einer neuen Herrschaftsform‘ (1998)
durch Unsicherheit bezeichnet. Weniger in den Blick genommen hat er die damit
zugleich verbundenen Destabilisierungen von Herrschaft. In praktischen
Artikulationen prekarisierter Lebensführungen zeigen sich allerdings verschobene
Geschlechterarrangements und veränderte Habitus, die sich aus neuen
Interferenzen von Milieuzugehörigkeiten und Geschlechteridentifikationen speisen
und möglicherweise die relative Ungebrochenheit der Männlichen Herrschaft in
Frage stellen.
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