Im Café Aleppo ertönt der Sound Syriens · alKurdi. Ebenfalls hier zu Hause ist die sy rische...
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An den Engländern war mir immersympathisch, dass man Leuten, dieman nicht oder kaum kennt, nicht
die Hand schütteln muss. Man wahrt Distanz. Weil ich dieser Sitte auch zu Hause zuneige, muss ich mir jetzt von Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagenlassen, dass ich ein schlechter Deutscher bin. Es gehöre zur deutschen Leitkultur, sagte der Minister, sich zur Begrüßung dieHand zu geben. Damit rückt er mich in dieNähe von Menschen, deren Religion es ihnen angeblich verbietet, Frauen die Hand zu drücken. Für den Minister ist das ein Aktder Integrationsverweigerung, ein Verstoßgegen unsere Leitkultur. Bin ich also, inDeutschland geboren und aufgewachsen,nicht hinreichend integriert? Fortan sollich also Leuten „die Flosse quetschen“ (wiewir als Pennäler sagten), auch wenn ich dasgar nicht will?
Ich befürchte, dass unser Minister denUnterschied von Kultur und Zivilisiertheitnicht kennt. Da ist er allerdings nicht allein,denn es ist eine deutsche Unsitte, alles zurKultur zu erklären und den Begriff selbstnoch negativen Erscheinungen anzuheften. Immer schon fühlte man sich hierzulande der westlichen Zivilisation überlegen. Jedenfalls werde ich dem Minister,wenn ich ihm begegnen sollte, nicht dieHand geben. Werner Birkenmaier
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Im Café Aleppo ertönt der Sound Syriens
Wer Glück hat, kann Ahmad Basaleh am Wochenende beim Singeneines alten syrischenLiedes erleben. Seine
tiefe, sonore Stimme und die Klänge derOud, der orientalischen Kurzhalslaute, erfüllen dann Basalehs ShishaBar in BerlinNeukölln. Er hat sie nach seiner Geburtsstadt benannt: Café Aleppo.
Am Abend dringen die Strahlen derLEDLichter durch den Rauch von Wasserpfeifen und Zigaretten. Spitzengardinen verdecken den Blick zur viel befahrenenStraße. Die Gäste haben es sich auf der gepolsterten lilagoldenen Sitzbank bequemgemacht. Ein älterer Mann mit Lesebrille studiert sein Smartphone, die Pfeife genüsslich am Mund. Hinter den Lautsprechern liegen Wolldecken, die Deckenwand ist mit Stoff zugetackert – Ahmad Basalehsschalldämpfende Maßnahmen.
„Ich liebe es, mit der Hand zu arbeiten“,erzählt der 59Jährige, der in Aleppo Wirtschaftsinformatik studierte und seit 1992mit seiner Frau und den beiden Kindern inBerlin lebt. Vor sieben Jahren hat er seinCafé an der Flughafenstraße eigenhändiggebaut, aus Sperrholzbrettern und Balken.„Nicht sehr professionell“, gibt er zu, „aberes ist gemütlich.“ Er wollte einCafé für Musik, „und zwarStück für Stück, für mich selbst und meine Freunde.“
An diesem Abend befindetsich unter dem großteils arabischstämmigen Publikumzwischen 18 und 88 Jahren auch eine syrische Tanzgruppe aus Berlin. Die zwölf Frauen und Männer Mitte 20 haben fröhlich zu arabischem Pop getanzt, Hand in Hand. Siehaben heute keinen Auftritt, sie feiern einfach so. Sie feiern das Leben. Einige von ihnen sind im Vorjahr aus der syrischenGroßstadt Aleppo geflohen, die zu weitenTeilen zerstört ist. Jetzt lauschen sie denschnellen Tonabfolgen und Rhythmen.Sehnsuchtsvoll klingen die Melodien und, obgleich schnell gespielt, nicht nervös. Eine mystische Musik.
Das Ausmaß der Zerstörung durch densyrischen Bürgerkrieg ist in Aleppo immens. Mehr als zwei Millionen Menschenlebten vor Beginn des Krieges in dieser Metropole im Nordwesten Syriens. Mehrals 33 050 Menschen sind dort laut dem syrischen Violations Documentation Centerbis heute im Krieg gestorben.
Jahrhundertelang galt Aleppo alsHauptstadt der traditionellen orientalischen Musik und als eines der wichtigstenkulturellen Zentren der arabischen Welt. Die an der Seidenstraße gelegene Handelsmetropole war schon für die Griechen undRömer der Antike ein wichtiges Zentrum.Bis vor dem Krieg inspirierte und lockte dieStadt die größten Musiker des Landes. Am Institut für Musik in Aleppo zu studierengalt als künstlerische Auszeichnung. ImJahr 2010 startete die Stadt einen internationalen Architekturwettbewerb für eineigenes Opernhaus, der bis heute nicht abgeschlossen ist. Neben Damaskus wäre dieOper in Aleppo die zweite in Syrien.
Auf dem Flachbildschirm im Café Aleppo zeigt der Nachrichtensender N24 jetztBilder von zerbombten Gebäuden in Syrien. Ahmad Basaleh erzählt von seinerLieblingsmusik: Qudud und Muwashshah,uralten arabischandalusischen Musik
richtungen. Muwashshah bezeichnet einekomplexe Poesieform, die oft im Chor gesungen wird. Ihren Ursprung hat sie im 10. Jahrhundert in Spanien, muslimischeEinwanderer sollen sie erfunden haben.Dort, in AlAndalus, entwickelte sich durchdie Einflüsse von Arabern, Berbern, Muslimen, Juden und Christen ein einzigartigerSoundmix. Die Araber brachten die vertonten Gedichte, meist Liebeslieder, in ihreHeimatländer zurück. Bis zum Krieg warAleppo berühmt für seine MuwashshahMusik. Die Stadt gilt auch als musikalischesZentrum der TarabMusik. Bei Tarab gehtes um „ein tiefes Gefühl“, erläutert AhmadBasaleh. „Tarab“ ist mehr ein Musikkonzept als eine richtung und kommt in denverschiedensten arabischen Liedern vor. Übersetzt heißt Tarab „musikalische Ekstase“. Nicht nur in der alten, auch in mancher Gegenwartsmusik findet sich Tarab.
Ahmad Basaleh, der sich selbst als Hobbymusiker bezeichnet, mag lieber den traditionellen syrischen Sound, so wie er ihnam Vorabend gesungen hat. Der Schnurrbartträger mit der Halbglatze und einer Vorliebe für Norwegerpullis lernte als Jugendlicher, die Oud zu zupfen. Am Wochenende traf er sich immer mit seinen Freunden. Die Jungs brachten ihre Instru
mente mit, übten gemeinsam,improvisierten.
Ein paar arabische Instrumente findet man auch imCafé Aleppo, oberhalb derSitzbank hängt eine Rababamit rechteckigem Körper undnur einer Saite. Sie ist das älteste bekannte Saiteninstrument der Welt – die Urform
der Geige. Eine Darbuka, eine arabischeBechertrommel, steht auf einem Stapel Schachbretter, darüber schmückt ein Bilddes deutschen Malers Carl Spitzweg die Wand. Hinter der Theke hängt Ahmad Basalehs Oud. Vom arabischen „al Oud“, zu Deutsch „Holz“, stammt das deutsche Wort„Laute“. Die Laute brachten die Araber vormehr als 1000 Jahren nach Spanien, womitdie Geschichte der heutigen Gitarre begann. Basalehs Oud ist kürzlich heruntergefallen, aus „tausend Teilen“ hat er siewieder zusammengeklebt. „Klingt fast wievorher“, findet er.
Wie er lebt ein Großteil der Berliner mitarabischem Hintergrund schon seit Jahrzehnten in der Stadt. Vor allem kurz nachder Wende kamen viele. Rund 125 000 Ein
wohner mit arabischem Migrationshintergrund wohnen hier, darunter rund 31 000syrischer Herkunft. Besonders viele arabischstämmige Berliner gibt es in Neukölln. Sie machen 8,2 Prozent der dortigenBevölkerung aus. Mit all den Menschen ausdem arabischen Raum kommt seit Jahrzehnten der Reichtum ihrer Musik in diedeutsche Hauptstadt.
Einer dieser Berliner Musiker syrischerAbstammung heißt Daisam Jalo, wie Ahmad Basaleh ein leidenschaftlicher OudSpieler. Für ein Interview kommt der 33Jährige ins Café Aleppo. An diesem Nachmittag läuft im Fernsehen ein Tierfilm auf Arte, dazu erklingt leise aus den Lautsprechern arabischer Schlager. Daisam Jalo hatan der Musikhochschule Damaskus studiert, wo er mehr europäische als orientalische Musiklehre lernte. 2012kam er als Stipendiat nach Deutschland und studierte in Weimar Musikethnologie.Seit zwei Jahren wohnt dergroße schlanke Mann, der seine Locken zum Zopf gebunden hat, nun in Berlin. Dermarkanteste Unterschied zwischen der europäischen und der orientalischen Musik, meint Jalo, sei wohl das Spielen vonVierteltönen im arabischen Raum. „Auchin der zeitgenössischen Musik kommenVierteltöne vor“, sagt der Musiker. Doch das reiche nicht, den typisch orientalischenSound herzustellen. Dafür seien die Konzentration auf den Rhythmus und der melodische Kontext ausschlaggebend.
Ein weiterer Unterschied: In der traditionellen orientalischen Musik werdenkaum Akkorde benutzt. Dagegen enthältsie Dutzende „Skalen“, also Tonleiterstrukturen. In jeder stecke ein bestimmter Gefühlsgehalt, sagt Jalo. Die komplexen Tonstrukturen werden von den Musikern melodisch individuell variiert. „Diese Variationen passen gut zur AvantgardeJazzharmonik, weshalb es zurzeit immer mehr Zusammenspiele zwischen Jazz und orientalischer Musik gibt“, erzählt Daisam Jalo. Erselbst ist Mitglied der Band Orphe, dieorientalische FolkMusik mit zeitgenössischem Tango und Jazz kombiniert. Was ihnan seiner alten Heimat fasziniert, ist dieüberaus bunte Musikkultur Syriens: „Sie ist auch von christlichen Hymnen geprägt,von Arbeiterliedern und von den Klängendes Wüstenvolks der Beduinen.“ Daisam Jalo plant, im Rahmen seiner Doktorarbeit
ein Archiv für traditionelle syrische Musikaufzubauen. Im April will er mit seinendurch ein Stipendium geförderten Forschungen beginnen. „Die alte Musik Syriens ist etwas ganz Besonderes. Doch sie ist bedroht, fast verschwunden, da sie kaumnoch Menschen spielen und hören. Traditionell wird sie nur mündlich überliefert.Es gibt wenige Video und Tonaufnahmen.“Der Krieg verwischt weitere Spuren. „Diemeisten syrischen Musiker leben jetzt imAusland“, sagt Daisam Jalo: „Krieg und Musik passen nicht zusammen.“
Viele der Musiker komponieren, spielenund singen im Exil weiter, wie das in Europa verstreute Syrian Expat PhilharmonicOrchestra. Vor allem jedoch in Deutschland leben nun viele große Musiker aus Syrien, etwa der geflüchtete syrische Instru
mentalist und Sänger IbrahimKeivo. Er ist ein Virtuose verschiedenster alter Musiktraditionen Syriens – unter anderem der armenischen, kurdischen, assyrischbeduinischen. Was ihn an der MusikSyriens so fasziniert? „Die
erste verschriftlichte Note der Menschheitwurde in Syrien gefunden“, erzählt er über Skype. In der Nähe der syrischen Hafenstadt Latakia fand man sie, in Ugarit, einerantiken Handelsstadt. Möglicherweise entstand hier der erste Sound der Menschheit.
Keivo lebt in NordrheinWestfalen.Doch mehr als andere deutsche Regionenzieht Berlin Musiker an. Hier leben etwader Cellist und ehemalige Direktor der Musikhochschule in Damaskus, Athil Hamdan, und seine Frau, die Violinistin Rawan alKurdi. Ebenfalls hier zu Hause ist die syrische Band Musiqana, die TarabMusikspielt. Und Farhan Sabbagh, ein weltweitgeschätzter Solist für Oud und Perkussionaus Syrien, ist seit Jahrzehnten Berliner.
Einen kleinen Einblick in den musikkulturellen Reichtum Syriens will Ahmad Basaleh in seinem Café Aleppo geben mit derLivemusik an den Wochenenden. „Viele,die bei mir auftreten, testen ihre Stimme. Es ist wie eine lockere Prüfung“, sagt er. Wenn das Publikum mitklatscht, singt und tanzt, lächelt er zufrieden.
Doch bald könnte das Café Aleppo abgerissen werden. Als Untermieter des Grundstückes hat Basaleh vom Eigentümer eineKündigung erhalten. Eine Immobilienfirma plant hier einen „extravagantfuturistischen“ Büro und Wohnbau. Wenn das Planungsamt den Neubau erlaubt, droht indiesem Jahr noch das Ende des Café Aleppo. Noch ist nichts entschieden. Ahmad Basaleh will bleiben. Er ist Deutscher und fühlt sich in Berlin zu Hause. Er brauchediese quirlige Großstadt, die ihn an Aleppo erinnere. Nachdenklich sagt er: „DieserWeltkrieg gegen Zivilisten dort, der alleskaputt macht, tut weh, richtig tief weh.“
Ahmad Basaleh kann man nicht nur alsKneipenbesitzer kennenlernen: In dem2013 gedrehten 28minütigen Kurzfilm„Wada“ spielt er – Künstlername „AhmadFaraj –, ohne jegliche Schauspielerfahrung,die Hauptrolle. Das Stück wurde mehrfachausgezeichnet. Darin verkörpert er einen Familienvater und Instrumentenbauer in Berlin, dessen Bruder im syrischen Krieg verschwindet. Ahmad Basaleh ist in seiner Gefühlswelt hin und hergerissen zwischenseiner Familie in Aleppo und seiner Familieund seinem Leben in Deutschland. Einigeder Szenen spielen im Café Aleppo.
Kultur Die uralte, faszinierende Musik des Landes im Nahen Osten ist im Exil weiterhin lebendig. Insbesondere in Berlin leben viele bekannte Musiker. In einer Neuköllner ShishaBar erklingen die Lieder regelmäßig – noch. Von Bigna Fink
Ahmad Basaleh bezeichnet sich selbst als Hobbymusiker und spielt leidenschaftlich gerne Oud. Fotos: Luciana Ferrando
Es war in letzter Zeit für Oppositionsführer in Deutschland alles andereals leicht, über eine reguläre Land
tagswahl einen Machtwechsel herbeizuführen. Schaut man auf diese Wahlen seitBeginn des Jahres 2016, dann konnten sichdie jeweiligen Amtsinhaber überall gegen ihre Herausforderer behaupten – teilweise trotz kräftiger Stimmenverluste. Ob inMainz, Stuttgart, Magdeburg, Schwerin,Berlin oder zuletzt in Saarbrücken: Immerzahlte sich der Amtsbonus aus, waren diealten Regierungschefs auch die neuen.
Daniel Günther hat diese Serie immerhin insofern durchbrochen, als er seine Partei aus der Opposition heraus klar zurstärksten Partei im Kieler Landtag gemacht hat. Der junge CDUPolitiker, bis dato selbst SchleswigHolsteinern wenig bisgar nicht bekannt, schlägt den Ministerpräsidenten Torsten Albig und dessen SPD deutlich. Das ist umso bemerkenswerter,als Günther erst im Oktober vorigen Jahresüberraschend die Spitzenkandidatur angetragen wurde und er gegen einen Regierungschef antrat, dessen Beliebtheitswertedeutlich höher waren als seine eigenen –auch wenn der Abstand in der Endphasedes Wahlkampfes durch einige Ungeschicklichkeiten Albigs kleiner wurde.
Ob Günther auch der letzte Schritt in dieKieler Staatskanzlei gelingt, war nach denersten Hochrechnungen offen. Die regierende „Küstenkoalition“ aus SPD, Grünen und SSW ist zwar abgewählt, aber für Günthers Wunschkoalition aus CDU und FDPgibt es auch keine Mehrheit. Viel wird –wenn es nicht ganz knapp für SchwarzGrün reicht – von der erstarkten FDP abhängen. Macht sie in einem DreiParteienBündnis mit? Sollten sich die Liberalenverweigern, könnte es zu einer großen Koalition unter Führung der CDU kommen.
Angela Merkel darf sich freuen. Zumersten Mal in ihrer Zeit als Kanzlerin, alsoerstmals seit 2005, könnte der CDU die Rückeroberung eines Bundeslandes gelingen. Nach dem deutlichen Sieg von Annegret KrampKarrenbauer im Saarlandstünde es dann 2:0 für die Kanzlerin im Duell mit ihrem SPDHerausforderer MartinSchulz. Wenn die CDU am kommendenSonntag auch noch die Staatskanzlei inDüsseldorf für sich gewinnt, hat die Unionallerbeste Startvoraussetzungen für die Bundestagswahl im Herbst.
Während Merkel nach einer politischenwie persönlichen Schwächephase revitalisiert wirkt, ist Schulz in diesen Tagen irritierend unscheinbar – als ginge ihm bereitsdie Luft aus. Der oft beschworene SchulzEffekt scheint nur ein Kurzzeitphänomengewesen zu sein. Er hat der SPD neue Mitglieder zugetrieben; er hat die Stimmung inder Partei für einige Wochen ins Optimistische bis übertrieben Euphorische gedreht;er hat in bundesweiten Umfragen für ein Zwischenhoch gesorgt. Aber an den Wahlurnen zahlt sich das bis jetzt nicht aus.
Für die SPD geht es nun in NordrheinWestfalen um alles oder nichts. Wenn sieauch noch ihr Stammland verliert, kann sieihre Hoffnungen auf einen Kanzler Schulz begraben, noch ehe der Bundestagswahlkampf richtig losgegangen ist.
Schulz geht die Luft aus
SchleswigHolstein Der
Auftakt des SuperWahljahres
kann für die SPD im Desaster
enden. Von Rainer Pörtner
Mitten in Neukölln ist ein Treffpunkt für Liebhaber arabischer Musik entstanden.
„TarabMusik steht für musikalische Ekstase, für ein sehr tiefes Gefühl.“Ahmad Basaleh, Betreiber des Café Aleppo
„Krieg und Musik passen nicht zusammen.“Daisam Jalo, Musiker