Hrabal Und Stadt
Transcript of Hrabal Und Stadt
Humboldt Universität zu Berlin
Philosophische Fakultät II
Institut für Slawistik
Seminar: Literarischer Collagen. Die Prosa von Bohumil Hrabal
Dozentin: Dr. des. Jeanette Fabian
Darstellung und Wahrnehmung von Großstadt in
Bohumil Hrabals "Allzu Laute Einsamkeit
Kristin Eichhorn Berlin, 11.10.2012
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Methode
3. Die Stadt
3.1. Die Stadt in der Literatur
3.2. Die Stadt in der Soziologie
4. Die Bafler
5. Zusammenführung
5.1. Bafler und Großstadtmenschen
5.2. Allzu Laute Einsamkeit
5.3. Räume in Allzu Laute Einsamkeit im Vergleich mit expressionistischer
Großstadtdarstellung
5.4. Haňťa - Bafler und Großstädter
5.5. Hrabal und die Stadt
6. Fazit
7. Literatur
7.1. Primärlektüre
7.2. Sekundärlektüre
1
1. Einleitung
"In einer Stadt voller Affen ist es laut und stinkt.
Alles blinkt, man wird taub und blind. Wir feiern ausgelassen, ich rauch und trink.
Affen feiern auch wenn sie traurig sind."1
Diese Passage aus dem Titel Stadtaffe von Peter Fox fasst gängige Assoziationen mit
Stadt, hier insbesondere Berlin, zusammen. Diese sind Lärm, Gestank,
Menschenmassen und Überhäufung der Bewohner mit Stimuli. Gleichzeitig steht Stadt
auch für Vielfalt, Toleranz und Moderne oft in Referenz zu dem als rückständig
wahrgenommenen Landleben. Die Passage zeigt, wie das Motiv Stadt Eingang in die
zeitgenössische Populärkultur gefunden hat. Die scheinbare Bedeutungszunahme der
Stadt ist nicht verwunderlich, da seit 2007 die Mehrheit der Menschen in Städten lebt.
Inzwischen gibt es weltweit circa 300 Millionenstädte. Die Stadt beeinflusst nicht nur
das Leben der direkten Stadtbevölkerung sondern auch das Leben der umliegenden
Landbevölkerung; ihre Arme reichen bis in die Hinterländer, da die Stadt als
politisches, wirtschaftliches und auch kulturelles Zentrum auch das Land beeinflusst.
Die Ambivalenz der Wahrnehmung von Städten wurde allerdings schon zuvor in
Wissenschaft und Literatur thematisiert. Ihre Wurzeln reichen zurück bis in das
Altertum, in dem Babylon sowohl für Wohlstand als auch Werteverfall stand. Die
Paradoxien ziehen sich weiter durch die Stadtbetrachtung und finden schließlich ihren
vorläufigen Höhepunkt in der Stadt der Moderne.
Im Folgenden sollen in einer komparatistischen Herangehensweise die Figur Haňťas aus
Bohumil Hrabals Allzu laute Einsamkeit in einen stadtsoziologischen Hintergrund
eingebettet werden. Hierbei lautet die These, dass die Bafler, für die Haňťa
exemplarisch betrachtet wird, genuin urbane Figuren sind. Ihre Eigenschaften,
Ansichten und Lebensweisen beruhen auf dem urbanen Schauplatz, der ihre Lebenswelt
darstellt. Gleichzeitig haben sie die Möglichkeit, aktiv den Raum zu gestalten. Somit
wird also angenommen, dass Raum und Figuren in einer Wechselbeziehung stehen.
In der folgenden Arbeit sollen zunächst ausgewählte Stadtbetrachtungen aus den
Literaturwissenschaften und der Soziologie vorgestellt werden. Des Weiteren werden
die Eigenschaften der Bafler im Allgemeinen dargestellt und mit den in der Soziologie
1 Fox 2008b
2
beschrieben Eigenschaften der Großstädter verglichen. Die Feststellungen bezüglich
dem städtischen Charakter der Bafler werden dann anhand des Beispiels der Figur
Haňťa aus Bohumil Hrabals Werk Allzu Laute Einsamkeit dargestellt. Voraussetzung
dafür ist, dass Stadt diesem Werk als Schauplatz dient, was anhand der
expressionistischen Großstadtdarstellung untersucht werden soll.
Mit Blick auf Hrabals Bindung an die Stadt Prag, besonders den Bezirk Libeň wird in
einem letzten Schritt gefragt, inwieweit das Bafeln als Symbolisierung einer urbanen
Umwelt, ein autobiographischen Element in Hrabals Werk darstellt.
2. Methode
Entsprechend der These, dass Hrabal Stadt und Bafelei als autobiographisches Element
einbezieht, wird hier ein literatursoziologischer Standpunkt eingenommen. Es wird also
vorausgesetzt, dass der Entstehungskontext, hier Hrabals Leben in der großstädtischen
Atmosphäre Prags, Einfluss auf das Werk hat und in die Deutung einbezogen werden
muss2.
Diese Grundhaltung spiegelt sich auch in der gewählten Form des Vergleichs. So wird
ein literarisches Werk in wissenschaftliche Hintergründe eingebettet. Die
Raumdarstellung wird mit der literaturwissenschaftlichen Debatte zum Motiv der
Großstadt verglichen, die Eigenschaften der Figur Haňťa werden mit der
stadtsoziologischen Betrachtung der Eigenschaften der Großstädter verglichen. Tertium
comparationis hierbei ist also die Stadt.
Beim Vergleich von Literatur und Wissenschaft handelt es sich um eine
interdisziplinäre Herangehensweise. Dies ist möglich, da ein literarisches Werk nicht
isoliert zu betrachten ist, wie bereits schon in der literatursoziologischen
Herangehensweise dargelegt wurde. "Die Einflüsse, die auf ein literarisches Werk
einwirken, müssen nicht ihrerseits literarischer Natur sein, sondern können aus anderen
Bereichen der Kultur, um Beispiel den Wissenschaften stammen."3
Die gewählte Vergleichsform ist eine Variation des typologischen Vergleichs. Es
werden also Kontextualisierung der Vergleichsobjekte einbezogen, ohne dass die
2 Eicher und Wiemann 2001: 25 3 Corbineau-Hoffmann 2004: 229
3
Vergleichsobjekte in einer direkten Beziehung zueinander stehen müssen. Dies kann
beispielsweise in Form eines Motivs vorgenommen werden4.
"[Ein wissenschaftlicher Text] muss verstanden werden als Realisierung eines
Diskursschemas. Ein wissenschaftlicher Text leitet sich, insofern er Diskurs ist, von
bestimmten Regeln her, die sowohl den behandelten Sachverhalt als auch den
eingebürgerten wissenschaftlichen Gepflogenheiten entsprechen: Ein Diskurs ist
'regelhaft'. Literarische Texte hingegen sind Diskurse nur in dem Sinne, daß sie festen, der
Grammatik entsprechenden regeln folgen."5
Diese Freiheit der Literatur ermöglicht es ihr, Diskurse der Wissenschaft zu
assimilieren, ohne an diese gebunden zu sein6. Somit kann der wissenschaftliche
Diskurs zur Großstadt durchaus mit der literarischen Betrachtung ebendieser verglichen
werden7.
3. Die Stadt
Der Begriff Stadt vereint eine Vielzahl von Phänomenen, wie bereits eine Betrachtung
der Komposita die Stadt betreffend zeigt: Großstadt versus Kleinstadt; Universitätsstadt
versus Industriestadt; Residenzstadt versus Bischofsstadt; Bergstadt versus Hansestadt,
usw. Stadt kann also vielfältig sein, mit der Fülle an Stadtbegriffen werden auch die
unterschiedlichen Erscheinungsformen der Stadt selbst spezifiziert.
Hier muss eine Einschränkung auf die mitteleuropäische Stadt vorgenommen werden.
Mitteleuropäische Städte unterscheiden sich in ihrer momentanen Entwicklung stark
von beispielsweise den boomenden Industriestädten Südostasiens aber weisen
untereinander bezogen auf Geschichte, Struktur, Funktion und Wirkung starke
Ähnlichkeiten auf. In der vorliegenden Arbeit wird Hauptaugenmerk auf Prag und
Berlin gelegt: Prag, da Bohumil Hrabal hier einen großen Teil seines Lebens verbrachte
und es gleichzeitig der Ort der Handlung in Allzu laute Einsamkeit ist. Berlin, da dies
der Schaffensraum und Inspiration Simmels war. Die deutschsprachige Literatur die
Stadt betreffend bezieht sich häufig auf Berlin, beispielsweise Döbelins Berlin
Alexanderplatz oder Kästerns Fabian. Dementsprechend hat auch die deutschsprachige
literaturwissenschaftliche Betrachtung von Stadt in der Literatur den Fokus auf Berlin
gelegt.
4 Grabovszki 2011: 94 5 Corbineau-Hoffmann 2004: 230 6 Corbineau-Hoffmann 2004: 230 7 Corbineau-Hoffmann 2004: 234
4
Eine weitere Eingrenzung betrifft den betrachteten Zeitraum. Städte finden sich seit
jeher in der Literatur. So beschreibt beispielsweise Elisabeth Frenzel, wie bereits
Babylon in der Literatur sowohl Reichtum als auch Versuchung und Vergehen
versinnbildlichte8. Hier soll der Fokus auf der modernen Stadt liegen. Das heißt, es geht
um die Veränderungen der Lebensumstände, welche durch die industrielle Revolution
und dadurch bedingte Urbanisierung eintraten. Gleichzeitig mit den Veränderungen in
der urbanisierten Lebenswelt tauchte auch das Motiv Großstadt vermehrt in der
Literatur auf9.
Die industrielle Urbanisierung welche in west- und mitteleuropäischen Städten ab Mitte
des 19. Jahrhunderts einsetzen ermöglichten das explosionsartige Wachsen der Städte10
.
"Berlin benötigte nur drei Jahrzehnte, um von einer Provinzstadt zur Metropole des
Deutschen Reichs aufzusteigen."11
Erst das Zusammenspiel von Verstädterung und
Industrialisierung ermöglicht es, in den Städten Zentren der Produktion und des Handels
entstehen zu lassen. Aus diesem Grunde ist die Stadt im Zusammenhang mit der hier
verrichteten Arbeit zu sehen, welche eben im industriellen Zeitalter Fließbandarbeit und
Entfremdung vom Produkt bedeutete. Dies wird auch in der Unterscheidung Stadt-Land
deutlich. Auch diese Unterscheidung ist schon älter: so trat sie in der Literatur bereits in
Bezug auf das augustinische Rom auf12
. In der Moderne ist die Unterscheidung
zwischen Stadt und Land besonders durch eine verstärkte Arbeitsteilung
gekennzeichnet13
, Unruhe, Werteverfall und Technisierung gekennzeichnet.
"Die Ordnung des ländlichen Lebens, Die Ruhe des Landes werden über den Haufen
geworfen von der industriellen Revolution, dem Bergwerk, der Fabrik, und werden es
künftig noch mehr durch die Revolution des Transportwesen, das heißt dem exponentiellen
Anstieg der Geschwindigkeit, der Massenkommunikationsmittel [...]"14
Besonders technische Neuerungen die die Medien, Kommunikation und Fortbewegung
betreffen werden häufig in Verbindung mit der modernen Großstadt thematisiert. Diese
scheinen die Wahrnehmung zu verändern:
"Photo, Kino, Werbung stoßen die Abbilder massenhaft aus; die Mauern werden
vollgepinselt, die Gehirne vollgepfropft mit stereotypen Appellen und abgetakelten
8 Frenzel 2008: 667 9 Corbineau-Hoffmann 2003: 7f 10 Häussermann et al. 2008: 13 11 Häussermann et al. 2008: 14 12 Frenzel 2008: 667 13 Häussermann et al. 2008:33 14 Paul Virilio in Smuda 1992
5
Symbolen. Das elektrische Licht , beständig, künstlich, hebt die Stadt, die Denkmäler, die
Straßen und Gassen vom natürlichen Kontext ab: von der umgebenden Landschaft, vom
Himmel, vom Raum."15
3.1. Die Stadt in der Literatur
Die Entwicklung, welche hier als industrielle Urbanisierung bezeichnet wurde, und der
damit einhergehende "gesellschaftliche und kulturelle Wandel und die völlige
Veränderung der Lebensumstände zahlreicher Menschen sind bald auch von
Schriftstellern wahrgenommen wurden." 16
Was gewissermaßen deskriptiv begann,
beispielsweise in architektonischen Beschreibungen oder Reiseberichten, führte zu einer
tiefgreifenden Auseinandersetzung mit "dem Phänomen Stadt"17
in der die Paradoxien
der Großstadt thematisiert werden: "Die Verarbeitung von Städten in der Literatur über
die Jahrhunderte hinweg lässt sich als ein Wechselspiel zwischen Idealisierung und
Distanzierung umreißen"18
.
Besonders deutlich wird die kritische Auseinandersetzung mit Stadt in der Literatur
zunächst in sozialkritischen Betrachtungen des 19. Jahrhunderts. Während der frühen
Phase der industriellen Revolution und der damit verbundenen Urbanisierung prägte
Pauperismus, also strukturelle Massenarmut in den großstädtischen Mietskasernen, das
Leben. Die widrigen Lebensbedingungen stehen aber immer im Gegensatz zu den
umfangreichen Möglichkeiten, die in der Stadt geboten werden:
"Ambivalenz und Skepsis, Erschrecken, auch unübersehbare Stadtfeindschaft bestimmen
früh und sich durchhaltend das Bild der Stadt. Großstadt, das ist Armut und Elend neben
Luxus und verlockender Fülle der Waren, faszinierende Lebendigkeit und Vielfalt der
Möglichkeiten, aber auch Bedrohung des Einzelnen, Anonymität bis zum Verlust des Ich"19
In Abgrenzung zum Landleben, welches idealisiert dargestellt und mit Geborgenheit
und Sicherheit gleichgestellt wird, erscheint die Stadt als unnatürlicher, enger und
anonymer Lebensraum des Menschen. Dies verweist auf die bereits angesprochene
Verbindung der Stadt und der hier verrichteten Arbeit sowie der Produktionsweise20
:
"Die moderne Gesellschaft der Großstädte und Industriesiedlungen verhindert die für die
natürliche Gemeinschaft charakteristischen engen, persönlichen Beziehungen zum Mitmenschen. Zwischenmenschliche Beziehungen in der Stadt sind gekennzeichnet durch
Kontaktlosigkeit, Teilnahmslosigkeit, Argwohn und Neid. Der einzelne schließt sich ab oder
15 Henri Lefebvvre in Smuda 1992 16 Schraut 1983: 5 17 Schraut 1983: 5 18 Fladischer 2010: 17 19 Schraut 1983: 6 20 Wuthenow 1983: 8
6
wird in die Isolation getrieben. Auch die Arbeit bereitet keine Freude, da der Arbeiter dem
von ihm erzeugten Produkt fremd gegenübersteht."21
Die kritische Darstellung der Stadt zieht sich im 20. Jahrhundert weiter. Laut Vietta
gehören Großstädte „zu den die Epoche kennzeichnenden neuen literarischen Sujets“22
.
Besonders im Expressionismus stellt Großstadt ein zentrales Motiv dar. In der
expressionistischen Literatur ist das Wechselspiel von Idealisierung und Distanzierung
weiterhin deutlich:
"Diese Ambivalenz von Klage- und Loblied, Großstadt-Elegie und Großstadt-Hymne ist
typisch für das Zugleich von Begeisterung und Verzweiflung im expressionistischen
Lebensgefühl. [...] Dieses Lebensgefühl [...] ist zum einen krisenhaft, geprägt von den
bedrängenden Erfahrungen der Angst und der Hast, des Lärms und der Isolation moderner
Existenz; zum andern enthusiastisch, voll idealistischer Hoffnung auf einen neuen, besseren
Menschen, glühend vor Energie und Leidenschaft."23
Hierbei kommt es allerdings zu einer zunehmenden Dämonisierung des Städtischen -
dieses versinnbildlicht Bedrohung, Einsamkeit und Kälte. Nicht das gesamte Milieu
steht im Mittelpunkt, sondern das Ich, häufig in Verbindung mit Existenzängsten24
.
Dämonisierung heißt auch Versuchung, so wird Stadt als "als Ort der Vergnügungen,
Lüste und Abenteuer, der als solcher aber immer zugleich Züge des Verfalls, der
physischen und moralischen Dekadenz aufweist"25
dargestellt.
Besonderheit der expressionistischen Großstadtdarstellung ist die Ästhetisierung des
Hässlichen26
sowie die kritische Thematisierung von Technik und Fortbewegung.
Hierbei entfernt man sich also von den Futuristen, welche eine Technikbegeisterung
und Fortschrittsgedanken in die Werke einbauten27
.
Mit verschiedenen sprachlichen Mitteln wird versucht, die Eindrücke und Atmosphäre
der Stadt einzufangen. Mithilfe der Collage- und Montagetechnik wird städtisches
Material, beispielsweise Werbetexte, in das Werk selbst einbezogen. Reihungsstil oder
Simultanität verdeutlichen die schnell aufeinanderfolgenden Eindrücke und Reize.
21 Daemmrich und Daemmrich 1987: 298 22 Dr. Kluwe 2003: 5 23 Dr. Kluwe 2003: 2f 24 Fladischer 2010: 19 25 Dr. Kluwe 2003: 6 26 Dr. Kluwe 2003: 7 27 Dr. Kluwe 2003: 10
7
Insgesamt wird eine Material- und Informationsfülle geschaffen. "die den Leser zwar
überfordern kann, gleichzeitig aber die Komplexität der Großstadt verdeutlicht."28
Diese Fülle findet ein passendes Medium im Roman. Laut Volker Klotz sind Roman
und Stadt ähnlich veranlagte Systeme – der Roman kann schon allein durch seinen
Umfang die Komplexität der Stadt besser einfangen als andere literarische Formen:
„[Im] Roman findet die Stadt das geeignetste Instrument, ohne radikalen Substanzschwund
in einen literarischen Status einzugehen. Und umgekehrt findet der Roman in der Stadt den Gegenstand, der unerbittlich wie kein anderer seine volle Kapazität fordert und
ausschöpft.“ 29
Bezogen auf die in der Stadt verrichteten Arbeit und die technisierte sowie
automatisierte Produktionsweise, spielt auch das Motiv des Automaten eine Rolle für
die Stadt und deren Bewohner. Dieses Motiv wird häufig dargestellt durch
Wiederholungen, wodurch die "Mechanik des Daseins"30
versinnbildlicht werden soll.
Die Figuren "scheinen austauschbar, individuelle Charaktereigenschaften nehmen ab;
statt dessen treten anonyme Züge hervor."31
3.2. Die Stadt in der Soziologie
Die Großstadt bot den Soziologen ein Forschungsobjekt in dem die Auswirkungen und
Lebensweisen der Moderne studiert werden konnten – "Die Soziologie ist ein
Großstadtkind"32
. Großstädte und deren Wirkung auf die Bewohner war und ist ein
zentrales Thema in der Soziologie.
Georg Simmel folgert bereits 1903 in seinem Aufsatz Die Großstädte und das
Geistesleben vom quantitativen Merkmal der Größe und Umfang des Lebensraums auf
qualitative Merkmale, beispielsweise Charaktereigenschaften, der Bewohner. In der hier
angefertigten soziologischen Betrachtung soll sich hauptsächlich auf Simmel bezogen
werden, da seine Erkenntnisse auch noch heute als Bahnbrechend gelten und weitere
Forschungen in diesem Bereich international geprägt haben33
Zunächst hebt Simmel als Merkmal der Stadt die Größe hervor. Hierbei kommt
wiederum die Dichotomie von Stadt und Land zum tragen. Während auf dem Land das
28 Fladischer 2010: 20f 29 Volker Klotz in Fladischer 2010: 18 30 Daemmrich und Daemmrich 1987: 56 31 Daemmrich und Daemmrich 1987: 56) 32 Srubar 1992: 37 33 Srubar 1992: 41
8
Individuum sich in kleinen sozialen Gruppen bewegt, werden die Gruppen in der Stadt
größer. Innerhalb der Menschenmasse sieht sich der Einzelne zur Individualisierung
gezwungen, um sich von der Masse abzuheben und als Individuum wahrgenommen zu
werden. Diese Möglichkeit der Individualisierung stellt eine Freiheit dar, die nur in der
großen sozialen Gruppe der Stadt geboten werden kann:
"In dem Maße, in dem eine Gruppe expandiert, droht das Individuum innerhalb der Masse
zu verschwinden. Je größer die Gruppe desto unpersönlicher die Interaktion - d.h. um so unwichtiger werden die jeweils einzigartigen persönlichen Qualitäten. Konfrontiert mit
diesem Angriff auf seine Individualität, wird jedes Mitglied eines großen menschlichen
Aggregats danach streben seine eigene Subjektivität zu betonen." 34
Die Ambivalenz der Großstadt scheint auch hier deutlich: während die Masse die
Möglichkeit der Individualisierung bietet, besteht gleichzeitig die Gefahr in der Masse
zu verschwinden. Das Individuum wird immer weiter auf sich selbst zurückgewiesen
und vereinsamt unter Umständen. Die physische Nähe zu den Menschen in der
Umgebung bedeutet keineswegs auch eine soziale Nähe35
, "es ist offenbar nur der
Revers dieser Freiheit, wenn man sich unter Umständen nirgends so einsam und
verlassen fühlt, als eben in dem großstädtischen Gewühl."36
In der Masse sind zu viele Menschen um mit einem jeden in Kontakt zu treten. Aus
diesem Grund wird neben der Individualisierung Reserviertheit notwendig, um den
Alltag in der Großstadt zu überleben:
"Die geistige Haltung der Großstädter zu einander wird man in formaler Hinsicht als Reserviertheit bezeichnen dürfen. Wenn der fortwährenden äußeren Berührung mit
unzähligen Menschen so viele innere Reaktionen antworten sollten, wie in der kleinen
Stadt, in der man fast jeden Begegnenden kennt und zu jedem ein positives Verhältnis hat,
so würde man sich innerlich völlig atomisieren und in eine ganz unausdenkbare seelische
Verfassung geraten." 37
Bei Simmel steht die Größenordnung stets auch im Bezug zur Moderne, und hier zur
fortschrittlichen Arbeitsteilung38
: "Städte sind vor allem die Schauplätze der größten
Arbeitsteilung."39
Arbeitsteilung heißt allerdings, dass man sich zunehmend vom Objekt
entfremdet, da der Schöpfer von seiner Schöpfung getrennt wird40
. Automatisierte
Herstellungsprozesse bestimmen den Alltag des Arbeiters und Individualisierung ist
34 Saunders 1987: 91 35 Corbineau-Hoffmann 2004: 234, Saunders 1987: 91 36 Simmel 1995: 126 37 Simmel 1995: 122 38 Saunders 1987: 92 39 Saunders 1987: 93f 40 Saunders 1987: 92
9
wiederum die Antwort auf die Technisierung der Arbeit: sie stellt den "Widerstand des
Subjekts, in einem gesellschaftlich-technischen Mechanismus nivelliert und verbraucht
zu werden"41
dar. Zunehmende "Individualisierung seelischer Eigenschaften"42
ist also
die Antwort des Großstädters sowohl auf Masse als auch auf Produktionsweise. Simmel
bezeichnet dies als Kampf, "den der primitive Mensch um seine leibliche Existenz zu
führen hat."43
Die auch von Henri Lefebvre beschriebenen Menschenmassen, Produktionsweise und
steigende Geschwindigkeiten in der Fortbewegung stellen für das Individuum eine
Reizüberflutung aufgrund schnell wechselnder Eindrücke dar44
. Laut Simmel ist ein
bezeichnendes Charakteristikum der Städter die durch Reizüberflutung verursachte
Blasiertheit:
"Es giebt [sic! vielleicht keine seelische Erscheinung, die so unbedingt der Großstadt
vorbehalten wäre, wie die Blasiertheit. Sie ist zunächst die Folge jener rasch wechselnden
und in ihren Gegensätzen eng zusammengedrängten Nervenreize"45
. Doch was bedeutet
diese Blasiertheit für den Einzelnen? Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen
die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie
von dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede
der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird. Sie erscheinen dem
Blasierten in einer gleichmäßig matten und grauen Tönung, keines wert, dem anderen
vorgezogen zu werden."46
Somit sind zusammenfassend laut Simmel die Eigenschaften der Großstädter die
Überbetonung des Individuellen, Reserviertheit gegenüber anderen und gleichzeitig die
Gefahr der Einsamkeit, sowie eine blasierte Abstumpfung gegen die Unterschiede der
Dinge. Hervorgerufen werden diese Eigenschaften durch jene Besonderheiten der
Großstadt, die auch in der Literatur thematisiert werden: Steigerung des Nervenlebens
durch Reizüberflutung, zum Beispiel aufgrund von Technik und Fortschritt sowie Größe
und Masse in der Großstadt.
4. Die Bafler
Bafeln ist die Übersetzung des tschechischen Wortes pábit und dessen Ableitungen
pábitel und pábitelský. Seit Erscheinen Hrabals "Pábitelé" (Die Bafler) ist es fester
41 Simmel 1995: 116 42 Simmel 1995: 128 43 Simmel 1995: 116 44 Simmel 1995: 116 45 Simmel 1995: 120 46 Simmel 1995: 120
10
Bestandteil der tschechischen Vokabulars. Es handelt sich hierbei um einen
Neologismus Jaroslav Vrchlickýs, der damit übermäßiges Rauchen beschrieb. Der
Begriff Bafeln im deutschen ist kein Neologismus, sondern bezieht sich auf den aus
dem jiddischen stammenden Begriff Bafel, welcher Ausschussware oder dummes
nutzloses Gerede bezeichnet und hauptsächlich in süddeutschen Dialekten bekannt ist.
Diese negative Konnotation des deutschen Begriffs liegt im Tschechischen nicht vor47
.
Hrabal erinnert sich, wie er zum ersten Mal mit den Begriff bafeln in Kontakt kam.
Sofort verstand er den Begriff als eine bestimmte Art dichterische Aktivität, die sich
von dem Gewöhnlichen entfernt und stets nach dem Verbotenen strebt:
„Před lety jsem se optal básníka Jiřího Koláře: „Tak co děláš?“ A on mi odpověděl zasvěceně: 'Pábím.' Tak jsem poprvé uslyšel slovíčko: Pábitel. Hned tenkrát jsem vycítil, že
pábení je jistý druh básnické činnosti, který se odchyluje od dosavadních zvyklostí, že spíš
bude usilovat o zakázané, nejisté a neuchopitelné a na co nelze jít s pravidly a jehož
význam se objeví až pak. Od té doby jsem začal používat toho slovíčka a pod dojmem
situace jsem jistý druh lidí začal nazývat pábitelé a jejich činnost pábení.“48
Bafler sind die sogenannten "kleinen Leute". Oft werden sie auch als Brüder und
Schwestern Schweiks bezeichnet, da sie ununterbrochen erzählen und in der
tschechischen Kneipenmanier Anekdoten von sich geben, deren Wahrheitsgehalt
fraglich ist: "Ihr Monolog strömt ununterbrochen ... Sie geben Informationen über
Begebenheiten, deren Bedeutung vergrößert, verschroben, verkehrt wird. Sie sehen die
Wirklichkeit durch das diamantene Auge der Einbildungskraft."49
Jeder von ihnen kennt nur einen Teil der Welt und kann auch nur diesen Teil
wahrnehmen. Die Welt in ihrer Gänze wäre unfassbar50
. Somit ist aber jeder der
Gesprächspartner in seiner eigenen Welt gefangen. Dialoge sind genau genommen
gleichzeitig fließende Monologe. Die Figuren hören einander, hören aber nicht zu. Eine
Figur kann die Welt der andern nicht kennen, den schon den Teil der Welt, den sie
selbst kennt, grenzt an Reizüberflutung. Somit sind die Bafler allein in der Menge.
Durch ihre Bafelei kreieren einen lauten Raum, in dem doch jeder wieder allein ist in
seiner "allzu lauten Einsamkeit"51
.
Die Bafelei ist für die Figuren eine Sicherstellung des elementar menschlichen, es ist:
47 Roth 1986: 124 48 Klappentext zu die Bafler, hier in Roth 1986: 224 49 Hrabal in Hrabal 1997b: 126 50 Roth 1986: 129 51 Roth 1986: 30
11
„ein Minimum an Menschlichkeit, das ein Umfunktionieren zum gefährlich werdenden
Automaten zu verhindern vermag, ein Minimum an Phantasie, das Wirklichkeit und Traum
verschmelzen lässt, das Illusion von Realität schafft, gerade weil sich die Bafler über das
Endliche und Unabänderliche des Lebens keine Illusionen machen."52
Des Weiteren scheinen sich die Bafler verschiedenen Verschrobenheit hinzugeben:
"Jede Verschrobenheit (es wimmelt in Hrabals Prosa von Fans: Fussball, Motorrad,
Jagd etc.) verhindert, dass der Mensch überempfindlich wird für Parolen des
Fortschrittsglaubens oder irgendwelche noch fataleren Glaubensrichtungen."53
5. Zusammenführung
Nach der theoretischen Betrachtung von Stadt aus literaturwissenschaftlicher und
soziologischer Sicht, sowie den Charaktereigenschaften der sogenannten Bafler, soll
nun diese Betrachtungen nun zusammengeführt werden. Zunächst werden die
Gemeinsamkeiten der Bafler und Stadtmenschen betrachtet. Da dann die Erkenntnisse
bezüglich des Zusammenhangs dieser auf die Figur Haňťa aus Hrabals Werk Allzu
Laute Einsamkeit angewendet werden sollen, wird dieses Werk kurz vorgestellt. In der
Anwendung der Erkenntnisse stehen drei Fragen im Zentrum: Zunächst soll gefragt
werden wie in "Allzu Laute Einsamkeit" expressionistische Stadtdarstellungen
verwirklich werden. Die Einbeziehung der Stadt ist hier Voraussetzung für die
darauffolgenden Schritte: Eine Untersuchung der potenziell städtischen Eigenschaften
einer Figur ist nur sinnführend, wenn sich diese Figur tatsächlich im städtischen Raum
bewegt. Sofern diese Voraussetzung erfüllt ist, wird gefragt, welche Eigenschaften der
Bafler und Stadtmenschen Haňťa aufweist. Abschließend wird dann gefragt, ob diese
Form der Darstellung der Großstadt ein autobiographisches Element in Hrabals Werk
ist?
5.1. Bafler und Großstadtmenschen
Sowohl der Bafler als auch der Großstadtmensch versuchen durch Anpassung ihrer
Verhaltensweisen das elementar Menschliche zu sichern. Die Bafler tun dies durch ein
Minimum an Fantasie, die Großstädter durch Individualisierung und Reserviertheit.
Individualisierung und Bafelei stellen einen Schutz vor der Automatisierung des
Menschen dar. Allerdings ist auch das nebeneinander fließen der Monologe eine Form
der Reserviertheit. Dialog ist Austausch, dieser entsteht zwischen Baflern nicht. Somit
52 Roth 1986: 129 53 Roth 1986: 129
12
sind auch sie wie die Stadtmenschen einander physisch nah, aber bauen sozial keine
Nähe auf. Sowohl Bafler als auch Großstädter sind also einsam.
Während Bafler verschroben sind, sind laut Simmel die Großstädter übermäßig
individualisiert. Diese Überbetonung des Ichs und Versuch der Absicherung als
Individuum gesehen zu werden kann auch zur Verschrobenheit werden. Somit wird
auch in diesem Punkt eine Parallele beider Konzepte deutlich.
Reizüberflutung führt bei den Großstädtern zu einer Überforderung des Nervenlebens
und dadurch zur Abstumpfung. Der Bafler sieht jeweils nur einen Ausschnitt der Welt.
Somit ist auch er für den Rest blind, und gewissermaßen abgestumpft. Den Ausschnitt
den er allerdings sieht, den überhöht er in seiner Bedeutung gestaltet ihr durch seine
Anekdoten.
5.2. Allzu Laute Einsamkeit
Allzu Laute Einsamkeit54
ist eine Metapher für das, was die Bafelei ausmacht55
und
gleichzeitig der Titel des hier zu untersuchenden Werkes Bohumil Hrabals. Hierbei
handelt es sich um "einen der reifsten Texte innerhalb seines Werkes, der zugleich einen
der besten tschechischen Prosatexte der siebziger Jahre überhaupt darstellt." 56
Seit 35 Jahren presst der Protagonist Haňťa in einem Prager Keller an einer
mechanischen Presse Altpapier. Da auch oft Bücher in seinem Keller landen, welche
Haňťa ließt, ist er gegen seinen Willen gebildet. Sowohl durch Gestaltung besonderer
Altpapierpakete, als auch den Genuss großer Mengen Bier versucht er sowohl seine
Individualität und Kreativität zu wahren als auch der monotonen Arbeit zu entfliehen,
oder sie wenigstens erträglicher gestalten.
Wie bei den meisten Baflern, ist nur wenig von Haňťa bekannt, "weder Vergangenheit
noch Zukunft, weder Physiologie noch Psychologie oder Soziologie im klassischen
Sinne interessieren den Autor. Im Gegenteil, er abstrahiert maximal."57
Bei Haňťa geht
es nicht um die persönlichen Eigenschaften oder Charaktermerkmale, "sondern mehr
54 Titel der Originalausgabe: Příliš hlučná samota, Erstveröffentlichung auf Tschechisch: 1980, auf
Deutsch: 1987, Entstehung Juli 1976 , hier wird sich bezogen auf die Ausgabe: Hrabal 1997a 55 vgl. 4. 56 Roth 1986: 137 57 Roth 1986: 127
13
um das Typische, um die Möglichkeit, durch den Charakter des Einzelnen etwas über
einen ganzen Menschentypus auszusagen."58
Die Figur Haňťa stellt einen Rückgriff auf den wahrscheinlich 20 Jahre zuvor
entstandenen Baron Münchhausen dar. Dieser ist ein Paradebeispiel des Baflers, da er
"Lügengeschichten zum besten gibt, [...] er phantasiert, aufschneidet, bafelt."59
. Haňťa
unterscheidet sich insoweit vom Baron Münchhausen, da er nicht mehr ununterbrochen
unglaubliche Anekdoten zum Besten gibt, sondern sich in seinem einsamen Monolog
darstellt. Durch den das Werk bestimmenden inneren Monolog60
wird das Individuum
mit seinen Existenzängsten in den Mittelpunkt gestellt, was eine expressionistisches
Merkmal darstellt.
Das Werk kann auch aus weitern Gründen dem Expressionismus zugeordnet werden. So
ist sowohl auf struktureller als auch auf inhaltlicher Ebene Collagetechnik vorzufinden.
Außerdem dominiert ein negatives Bild die Darstellung der Stadt, wie im folgenden
gezeigt werden soll61
.
5.2.1. Räume in Allzu Laute Einsamkeit im Vergleich mit
expressionistischer Großstadtdarstellung
Haňťa durchstreift physisch Orte der Gegenwart und in Gedanken geht er oft an die
Orte seiner Vergangenheit zurück, beispielsweise das Skigebiet, welches er mit seiner
Jugendliebe Mačinka besuchte62
. Die Orte der Gegenwart befinden sich größtenteils
innerhalb Prags. Diese sind Haňťas Arbeitsplatz in einem Keller, Kneipen, seine
Wohnung, und weitere Orte im Prager Untergrund. Hinzu kommt der Weg, den er
zwischen Arbeit und Wohnung zurücklegt und weitere Stadtspaziergänge.
Ein weiterer Ort der Gegenwart ist der Garten des Onkels, der im Prager Randbezik
Chabry liegt. Dieser ist gleichzeitig aber ein Ort der Sehnsucht, sich von der Stadt
entfernen zu können. Nach seiner Pensionierung möchte Haňťa hier die Altpapierpresse
aufstellen und diese für Kunstproduktionen nutzen. Ein ähnlicher Sehnsuchtsort ist
Griechenland. Auffälig ist, dass sich beide Orte der Sehnsucht außerhalb der Stadt
58 Götz 1998: 32 59 Roth 1986: 127 60 Götz 1998: 34 61 Klanke 2008: 9 62 Klanke 2008: 5 und 12
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befinden, beziehungsweiße nicht von den städtischen Merkmalen der Enge
gekennszeichent sind.
Bezogen auf die Orte der Gegenwart tritt die Stadt Prag nur im Hintergrund auf, an
verschiedenen Stellen sind allerdings Verweise auf die Stadt vorzufinden63
. Es geht also
nicht um die Darstellung eines stereotypen Prag anhand von Kneipen und
Karlsbrücke64
. "Man merkt man Hrabals Text eigentlich nicht an – mal abgesehen von
der Nennung des Namens Prags - das er in einer Großstadt, oder besser: Hauptstadt
spielt."65
Und trotzdem ist dieser Raum von besonderer Bedeutung für den Text. Die
Stadt als Schauplatz ist mehr als der reine Handlungsort. Der Raum steht in einer
Wechselbeziehung mit den Figuren, der Gestaltung ihrer Lebenswelt und
Eigenschaften.
Die Merkmale, die in der expressionistischen Literatur in Verbindung mit Stadt
gebracht wurden, sind in hier klar vorzufinden. Haňťas Arbeitsplatz ist ein Keller.
Dieser ist kaum beleuchtet, voller Ungeziefer und manchmal auch stinkend, vor allem
wenn er von den Fleischereien das blutdurchtränkte Papier zum pressen bekommt.
Haňťa beschreibt den Raum wie folgt:
"[...] eine stinkende Hölle, dieses Altpapier, das sich vom Kellerboden bis hinauf zur
Hofüberdachung türmte, dieser ganze Moder und Morast begann zu gären, Mist wäre eine
wahre Duftwolke dagegen, der reinste sumpf war das, was da auf dem Grunde meine
Unterwelt faulte und verweste, überall stiegen Bläschen hoch wie Irrlichter von einem
Baumstumpf, der mitten in einem häßlichen Pfruhl zu Schlick und Schlamm verottet."66
Somit ist dieser Raum durch Enge und Schmutz gekennzeichnet, zwei der
Hauptassoziationen mit Stadt.
Hinzu kommen die Kneipen, welche zentral in Hrabals Werk sind. Sie stellen
gewissermaßen ein autobiographisches Element dar, da Hrabal mit diesem Milieu schon
sehr früh bekannt wurde. Gleichzeitig ist die Kneipe "eng verbunden mit der
Vorstellung von großstädtischer Peripherie"67
. Haňťa besucht regelmäßig die Kneipe
um hier seinen Krug mit Bier füllen zu lassen, allerdings tritt er kaum mit den anderen
Besuchern in Kontakt.
63 Hrabal 1997a: Nennung Prags auf den Seiten bspw. auf den Seiten 28 und 30, Nennung Prager
Stadtteile: Buby auf Seite 75, Holesovice auf Seite 21. 64 Weich 1999: 42 65 Klanke 2008: 9 66 Hrabal 1997a: 27 67 Götz 1998: 61
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Der Weg, den Haňťa zwischen Arbeit und Heim zurücklegen muss wird kurz wie folgt
beschrieben: "schweigend und gedankenversunken gehe ich dann durch die Straßen,
gehe vorbei an Straßenbahnen und Autos und Passanten."68
Dies verweist einerseits auf
die Menschenmassen der Stadt, zu denen Haňťa aber nicht in Verbindung steht.
Andererseits wird durch die Transportmittel auf Geschwindigkeit und Technologie der
Stadt verwiesen. Ähnlich verhält es sich mit Haňťas Spaziergängen durch Prag, zum
Beispiel: "So ging ich gedankenverloren durch die aufgerissene Gasse zurück"69
. Hier
wird das Motiv des Flaneur gezeichnet:
"Ein Flaneur genießt es, ohne Eile durch die Straßen einer (Groß-)Stadt zu schlendern,
Passanten zu beobachten, Schaufensterauslagen anzuschauen und sich ohne bestimmtes
Ziel in der anonymen Menschenmasse treiben zu lassen."70
Dieses Treibenlassen ist zunächst nur in der Anonymität der Menschenmassen der
Großstadt möglich und ein Ausdruck der großstädtischen Reserviertheit.
Auch die Wohnung ist durch Enge gekennzeichnet. Besonders schöne Bücher nimmt
Haňťa mit nach Hause und dies nun seit 35 Jahren. Dementsprechend ist seine
Wohnung überfüllt mit Büchern:
"[...] und meine Wohnung im zweiten Stock in Holešovice steht überall voller Bücher,
Keller und Schuppen sind bis an den Rand voll und reichen längst nicht mehr aus, meine
Küche ist voll, Toilette und Speisekammer auch, nur die Wege zum Fenster und zum Herd
sind noch frei [...]."71
Von dieser Fülle geht eine Gefahr für Haňťa aus. Über Klo und Bett hat er sich
Baldachine zimmern lassen, die nun mit zentnerweise Büchern belastet sind: "ein
unbedachtes Hochfahren genügt, um an den Tragebalken zu kommen, und eine halbe
Tonne Bücher fällt auf mich nieder und zermalmt mich"72
. Somit wird anhand der
Bücher die urbane Enge und auch die Gefahr, die von der Stadt ausgehet in Haňťas
Privatbereich reproduziert.
5.3. Haňťa - Bafler und Großstädter
Haňťas Arbeit ist der Inbegriff automatisierter und mechanischer Arbeit: "Und ich
drücke abwechselnd den grünen und den roten Knopf"73
. Dabei fühlt er sich nicht
68 Hrabal 1997a: 13 69 Hrabal 1997a: 51 70 Klanke 2008: 11 71 Hrabal 1997a: 21f 72 Hrabal 1997a: 22 73 Hrabal 1997a: 48
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menschlich. Mehrmals wiederholt er die Feststellung, dass der Himmel nicht human sei
und "daß auch ich nicht human sein konnte, ich, der ich hier seit fünfunddreißig Jahren
Altpapier packe und irgendwie den Ratten ähnlich bin."74
Trotz der gleichbleibend
mechanischen Arbeit, versucht Haňťa sich nicht entmenschlichen zu lassen und nicht
zum Automaten zu werden. Seine wiederkehrenden Phrasen allerdings verweisen
darauf, dass seine automatisierte Arbeit Spuren hinterlassen hat; er kann sich nicht
völlig vor der Automatisierung seiner selbst verweheren.
Durch seine Verschrobenheit, die Altpapierpakete besonders schön zu gestalten, erhofft
er in den Arbeitsprozess seine eigene Krativität einfließen zu lassen und sich nicht von
seinem geschaffenen Produkt zu entfremden und sich weiter zu automatisieren. Diese
Verschrobenheit ist die Garantie für Haňťas Individualität.
"Das ist dann meine Messe, mein Ritual, daß ich all die Bücher nicht bloß lese,sonder nach
dem Lesen in eines der pakete legem denn jedes Paket will ausstaffiert sein, muß etwas von
meinen Charakter haben, meine Unterschrift tragen."75
Gleichzeitig ist Haňťas Umgang mit den Büchern auch eine Collage auf inhaltlicher
Ebene. So verbindet er unliebsames Altpapier, legt in das Herz der Pakete ein schönes
Buch und an die Außenseite Reproduktionen von Gemälden.
Wie der Titel des Romans schon ankündigt, ist Haňťa einsam. Diese Einsamkeit stört
ihn allerdings nicht, sie gibt ihm die Freiheit sich ausgiebig mit seinen Büchern zu
beschäftigen: "[...] denn ich kanns mir leisten einsam zu sein, auch wenn ich eigentlich
nie einsam bin, ich bin nur allein, damit ich in einer von Gedanken bevölkerten
Einsamkeit leben kann"76
. Haňťa beschönigt seine Einsamkeit nicht nur, sondern
verleugnet sie zum Teil auch, wenn er beispielsweise sagt: "allein schon die Tatsache,
daß ich nicht allein bin, daß hier in Prag Tausende von Menschen meiner Sorte in der
Unterwelt arbeiten"77
. Mit diesen anderen tauscht er sich allerdings nur selten aus,
somit ist der Kontakt eine Ausnahme. Einsamkeit betrifft nicht nur seine Wohnung und
Arbeitsstelle, wo er allein arbeitet und lebt, sondern auch belebte Orte, beispielsweise
den Garten seines Onkels: "und ich streifte mitten im Jubel und Geschrei der Kinder
und Pensionäre herum, und keiner hieß mich einzutreten, und keiner fragte mich, ob ich
74 Hrabal 1997a: 31 75 Hrabal 1997a: 11 76 Hrabal 1997a: 15 77 Hrabal 1997a: 32
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nicht Lust hätte mitzutrinken [...] keiner beachtete mich"78
. Nicht nur Haňťas Umfeld ist
ihm gegenüber reserviert; er selbst legt auch ein hohes Maß an Reserviertheit an den
Tag, wenn er durch die Straßen Prags flaniert oder die neue Fabrik zum Pressen des
Papiers besucht:
"Ich drehe mich um und stieg nach unten und als ich hinaus gehen wollte, rief mir jemand
hinterher ... Haňťa, du alte Kracke, was sagst du dazu? [...] jetzt lachten sie und winkten
mit ihren gelben und orangen Handschuhen durch die Luft, ich faßte mich am Kopf und
ging durch den Gang hinaus [...]"79
Im Gegensatz zur menschlichen Einsamkeit und der Gefahr der Entmenschlichung
findet Haňťa Geborgenheit in seiner Tätigkeit. Diese Geborgenheit geht soweit, dass er
seine Altpapierpresse personifiziert und mit ihr gemeinsam in Rente gehen möchte:
"So setzt ich seit fünfunddreißig Jahren jede Paket unter Druck, streiche jedes Jahr die
Monate und jeden Monat die Tage durch, bis wir beide, meine meine Presse und ich, in
Pension gehen"80
Des Weiteren ist festzuhalten, dass er viele seiner Eigenschaften nicht freiwillig besitzt.
So verhält es sich mit seiner Bildung: "ich bin gebildet gegen meinen Willen"81
und
auch seinen übermäßigen Verzehr von Bier, denn er muss dieses trinken um "für diese
gottgefällige Arbeit"82
ausreichend Kräfte zu haben. Der Alkoholgenuss ist auch eine
Antwort auf die Reizüberflutung. Somit wird deutlich, dass sich Haňťa aufgrund der
Bedingungen die ihm von seinem Lebensraum gegeben werden, verändert hat, in
diesem Falle der Stadt und damit in Verbindung stehenden Produktionsweise.
5.4. Hrabal und die Stadt
Bohumil Hrabal hatte ein besondere Beziehung zu der Stadt Prag; er lebte und arbeitet
den Großsteil seines Lebens in Prag, war von der Atmosphäre fasziniert und inspiriert:
"Die Begeisterung Hrabals beschränkt sich aber nicht auf seine Wohnung, sondern
schließt den ganzen Stadtteil ein, bezieht sich schließlich auf die Großstadtperipherie
überhaupt." 83
Diese Begeisterung findet sich auch in seinen Werken wieder: Der
Einbezug des Großstädtischen und dessen Darstellung anhand der Bafelei ist somit ein
78 Hrabal 1997a: 25 79 Hrabal 1997a: 82f 80 Hrabal 1997a: 21 81 Hrabal 1997a: 7 82 Hrabal 1997a: 7 83 Götz 1998: 68
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Element in Hrabals Werk, welches auf seine eigene Lebenswirklichkeit verweist und
diese abbildet84
.
Die Verbindung von der Lebenswirklichkeit von Autoren und deren Abbildung in ihren
Werken stellt allerdings keine Ausnahme dar.
"Texte werden zu einer bestimmten Zeit, von einer bestimmten Person an einem betimmten
Ort geschrieben. Jede Zeit hat ihre Eigenheiten, die sich auf den Autor und auf das, was er
schreibt, auswirken können - und in der Regel immer auswirken, wenn wir unter
Eigenheiten die allgemeinen Lebensbedingungen, einen bestimmten Stand des Wissens, der
Technik, der Mode, des Geschmacks - kurz eine Lebenswelt verstehen, von der wir alle
geprägt sind [...] Menschen, die literarische Texte schreiben, sind ebenfalls Produkte ihrer
Zeit - ohne dass wir nun in eindimensionales Kausalitätsdenken verfallen wollen"85
In Hrabals Werk wimmelt es von sogenannten autobiographischen Elementen. Gemeint
sind damit "einzelne Motive aus unterschiedlichen Texten zusammengetragen, denen
der direkte oder indirekte Bezug zum Leben Bohumil Hrabals gemein ist"86
. Beispiel
hierfür ist auch Haňťa selbst, da die Figur auf einer realen Person basiert.
Wie zuvor gezeigt wurde, ist die Bafelei ein Ausdruck des Großstädtischen.
Gleichzeitig beschreibt Susanna Roth Bafelei als Bestandteil seines Lebensstils87
.
Hiebei wird allerding häufig noch kritisch betrachtet, ob es als autobiographisches
Element gelten kann. Indem man allerdings die Verbindung von Bafelei und Großstadt
anerkennt und gleichzeitig auch die BEdeutung der Großstadt in Hrabals leben, können
sowohl Bafelei als auch das Motiv Großstadt als autobiographische Elemente in Hrabals
Werk erkannt werden.
6. Fazit
Sowohl Bohumil Hrabal als auch Haňťa sind nicht nur Bafler – sie sind auch
Großstädter. Besonders bei Haňťa werden die von Georg Simmel beschrieben
großstädtischen Eigenschaften deutlich: er ist reserviert, blasiert und versucht sich der
Entmenschlichung durch Individualisierung zu entziehen. Er lebt dauerhaft in den
Gefahren, die die Großstadt darstellt und vergrößert diese noch durch seinen
Sammelwahn.
84 Götz 1998: 71 85 Grabovszki 2011: 45 86 Götz 1998: 17 87 Roth 1986: 132
19
Stadt selbst, so wie die Betrachtungen dieser, sind von Paradoxien durchzogen. Diese
Paradoxien werden auch von den Bewohnern wahrgenommen und in ihren
Verhaltensweisen verarbeitet.
Und so wie diese Arbeit mit einem Zitat der Populärkultur eröffnet wurde, soll sie auch
enden. So wird in der Populärkultur nicht nur die Technisierung des Lebens ("laut und
blinkt") und die Verschrobenheit ("Stadt voller Affen") thematisiert, sondern auch
Einsamkeit und Schmutz. Schmutz ist auch Thema in Hrabals Werk, Burkhard Müller
geht soweit zu sagen, dass Scheiße neben Altpapier ein bestimmendes Element in Allzu
laute Einsamkeit sei88
. Ähnliches zeigt sich auch im folgenden abschließenden Zitat:
"Und überall liegt Scheiße, man muss eigentlich schweben Jeder hat n' Hund aber keinen zum Reden
Ich atme ständig durch den Mund das ist Teil meines Lebens"89
7. Literatur
7.1. Primärlektüre
7.2. Sekundärlektüre
88 Müller 2003: 16 89 Fox 2008a
20
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