Helene Timmermann 4. Niedersächsischer ... · mehr oder weniger versteckten Hinweise auf...
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Helene Timmermann 4. Niedersächsischer Psychotherapeutentag 14.09.3013
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„...komischerweise kann ich mich überhaupt nicht erinnern.“
Biographische Strukturen und transgenerationale Weitergaben in
Lebensgeschichten von Eltern psychoanalytisch behandelter Kinder
Einleitung
In psychotherapeutischen Behandlungen mit Kindern, Jugendlichen und
Erwachsenen stoßen wir auf Phänomene emotionaler Sprachlosigkeit, die sich
weder durch die Analyse der inneren Konflikte, noch der Familiendynamik,
noch der aktuellen Lebenssituation erklären lassen. Man steht vor einem Rätsel.
Beginnt man sich aber für die Familien- und Lebensgeschichte dieser Patienten
zu interessieren, kann sich ein neuer Zugang zu den oft schwierig zu
handhabenden emotionalen Blockaden der Patienten – bei Kindern und
Jugendlichen vor allem auch der Eltern der Patienten – eröffnen.
Im Rahmen einer qualitativen Forschungsstudie habe ich mit den Eltern von
psychoanlytisch behandelten Kindern nach Abschluss der Langzeit-Therapien
narrative Interviews durchgeführt. Dabei zeigte sich, dass in allen Familien in
den Vorgenerationen reale traumatische Erfahrungen stattgefunden hatten. Diese
Ereignisse wurden in den Interviews zwar erwähnt wie z. B. „ich glaube meine
Mutter ist als Waise aufgewachsen“, aber i. d. R. war in den Familien weder
darüber berichtet, noch davon erzählt und mit den Kindern über die Ereignisse
und die Erlebnisse gesprochen worden.
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Ich begann mich zu fragen, welche Bedeutung die traumatischen Erfahrungen
der Großeltern für die Eltern der Patienten oder die Patienten selbst haben
könnten, wie die emotionalen Erfahrungen, wenn nicht direkt, so doch auf
unbewusstem Wege weitergegeben werden und wie sie sich in den
Behandlungen zeigen.
Zunächst begann ich mich für die realen Erfahrungen zu interessieren. Im
Rahmen der Forschungsarbeit befragte ich die Eltern von Patienten, später auch
Großeltern, um eine solidere Basis für die Auswertung und die Interpretation zu
bekommen.
Methodisch wurde für die Erhebung der Daten die Methode des narrativ-
biographischen Interviews gewählt.
Die Auswertung erfolgte auf der Grundlage struktural-hermeneutischer
Fallrekonstruktion, bei der hermeneutische mit textanalytischen Verfahren
verknüpft werden.
Bei der Wahl der Methode war mir wichtig, die Wechselwirkungen zwischen
Individuum und Gesellschaft zu berücksichtigen und mich nicht auf
innerpsychische oder familiendynamische Prozesse zu begrenzen.
Überblick: FOLIE
Einleitung
Fallgeschichte
Theoretischer Hintergrund (Forschungsmethode & Traumakonzepte)
Hinweise auf transgenerationale Weitergaben in den Interview-Texten
Wie lassen sich die Ergebnisse für die therapeutische Arbeit nutzen?
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Zur Verdeutlichung beginne ich mit einer Fallgeschichte:
Mona1 ist sechs Jahre alt. Am Tag ihrer Einschulung in die erste Klasse
bekommt sie einen Angstanfall. Sie schreit und weint und lässt sich stundenlang
nicht beruhigen. Seit einigen Wochen leidet sie unter traurigen und gereizten
Stimmungen. Sie beginnt schon bei kleinen Anlässen zu weinen, reagiert
ängstlich oder aggressiv, ohne einen für die Eltern ersichtlichen Grund. Es fällt
ihr schwer, sich zu entscheiden, zum Beispiel ob sie ein rotes oder grünes T-
Shirt anziehen oder ob sie rausgehen oder zuhause bleiben möchte. Außerdem
ist sie auffallend anhänglich.
In der Familie hatte sich in den letzten Wochen und Monaten einiges verändert:
Zuerst der Umzug in eine andere Stadt, weil ihr Vater dort eine Stelle
bekommen hat. Dann der Tod des Opas, des Vaters ihrer Mutter. Monas Mutter
war nach dem Umzug an einer Lungenentzündung erkrankt und konnte sich
dadurch weniger um die Tochter kümmern als es sonst der Fall gewesen wäre.
Hinzu kam, dass Mona durch den Umzug nicht mehr mit ihren Freunden aus
dem Kindergarten spielen konnte und dass sie die Großeltern, die sie vorher
häufig betreut hatten, nun nicht mehr regelmäßig besuchen konnte.
Also insgesamt viele Irritationen und Veränderungen, die Mona verkraften
musste - aber warum diese Heftigkeit der Symptomatik?
Die besorgten Eltern konsultieren eine Erziehungsberatungsstelle, lassen sich
dort beraten und melden die Tochter zu einer Kinderpsychotherapie an. Sie
finden zeitnah einen Therapieplatz bei einer bei einer analytischen
1 Die Namen der Personen sind geändert
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Kinderpsychotherapeutin, die Mona wegen einer beginnenden Angststörung ca.
zwei Jahre lang behandelt.
Was war geschehen?
Warum wird Mona psychisch krank, obwohl sie zusammen mit ihrer jüngeren
Schwester in einer intakten Familie aufwächst, liebevolle Eltern und Großeltern
hat, die ihr bei den anstehenden Problemen helfen und ihr sichere Beziehungen
anbieten? Warum schafft sie den nächsten Entwicklungsschritt nicht, den
Übergang in die Schule? Und warum wirken sich die genannten äußeren
Veränderungen derart gravierend aus?
Ohne eine - zu diesem Zeitpunkt möglicherweise schon vorliegende -
innerpsychische Konfliktproblematik zu ignorieren, möchte ich hier den Blick
auf die familiären Strukturen richten und mich auf mögliche Ursachen der
Problematik in der Eltern- und Großelterngeneration konzentrieren.
Genogramm Familie Heldmann FOLIE 3-4-5-6
In diesem Genogramm sind vier Generationen graphisch dargestellt. In der
unteren Reihe Mona und ihre Schwester, darüber die Eltern Lara und Rainer. In
der Zeile darüber die Großeltern und in der oberen Reihe die Urgroßeltern.
Aus dem Genogramm ist zu ersehen, dass es sich um eine Familie der sozialen
Mittelschicht handelt. Monas Eltern stammen beide aus Familien in denen die
Eltern und Großeltern den Zweiten Weltkrieg erlebt haben und zumindest ein
Elternteil von Flucht und Vertreibung betroffen war. Auffallend ist, dass Lara
und Rainer wenig über das Schicksal ihrer Eltern wissen.
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Für die Forschungsarbeit wurden Interviews mit Laras Eltern und den beiden
Großmüttern durchgeführt. Die Großväter wurden nicht befragt, da Laras Vater
bereits verstorben war.
Ich werde später an einigen Textsequenzen zeigen, wie ich versucht habe die
mehr oder weniger versteckten Hinweise auf transgenerationale Weitergaben
aufzuspüren und zu interpretieren.
Um die Vorgehensweise nachvollziehbar zu machen, zunächst einige
Anmerkungen zur Methode und zu psychoanalytischen Traumakonzepten, die
ich zusätzlich zur Methode der biographischen Fallrekonstruktion zur
Interpretation der Texte herangezogen habe.
Theoretischer Hintergrund
Die Forschungsmethode
FOLIE 7
Als Forschungsmethode zum Erfassen der sozialisatorischen Prozesse und deren
Verortung im Lebenslauf erweisen sich Methoden der qualitativen
Sozialforschung als geeignet. Die Rekonstruktion der Lebensgeschichten von
Eltern und Großeltern der erkrankten Patienten ermöglicht einen Zugang, der die
Erfahrungen der Biographen im Lebenslauf zugrunde legt und die
wechselseitige Bedingtheit der Zirkularität von Individuum und Gesellschaft
berücksichtigt.
FOLIE 8
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Zur Datenerhebung wurde die Methode des narrativ-biographischen Interviews
gewählt. Dabei wird der/die Befragte aufgefordert, seine Familien- und
Lebensgeschichte zu erzählen. Das Interview besteht aus einer freien Eingangs-
oder Haupterzählung und einem Nachfrageteil.
FOLIE 9
Die Datenauswertung erfolgte auf der Grundlage struktural-hermeneutischer
Fallrekonstruktion, bei der hermeneutische und textanalytische Verfahren
miteinander verknüpft werden.
Die Analyse der Daten erfolgt in sechs Schritten:
1. Biographische Datenanalyse
2. Text- und thematische Feldanalyse
3. Rekonstruktion der Fallgeschichte
4. Feinanalysen
5. Kontrastierung
6. Typenbildung
FOLIE 10
Bei dieser Vorgehensweise ist die Unterscheidung in
FOLIE 11
gelebte (Biographische Daten),
erzählte (Selbstpräsentation in der Eingangserzählung im Interview)
erlebte Lebensgeschichte (Rekonstruktion des Lebenslaufes) zentral.
Die Unterschiede werden in verschiedenen Auswertungsschritten
herausgearbeitet und später miteinander verglichen (Kontrastierung). Dadurch
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wird der Fall aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet und damit versucht,
ihm in seiner Komplexität Rechnung zu tragen.
Zusätzlich zu dieser qualitativen Forschungsmethode nehme ich Bezug auf
psychoanalytische Traumakonzepte. Sie erklären am Genauesten die
intrapsychischen und interpersonellen Prozesse bei der Weitergabe
traumatischer Erfahrungen und greifen dort, wo m. E. systemische Ansätze nicht
ausreichen.
Hervorheben möchte ich dabei, dass es nicht um lineare Weitergaben von einer
älteren Generation an die nächst jüngere geht, der die Jüngeren ausgeliefert sind,
sondern dass es sich auch hier um zirkuläre Prozesse handelt. Manche Kinder
grenzen sich mehr ab als andere, was sich gut erkennen lässt, wenn mehrere
Geschwister in einer Familie leben. Die Unterschiede ergeben sich aus der
jeweiligen Beziehungsqualität zwischen Eltern und Kind bzw. zwischen einem
Elternteil und einem bestimmten Kind.
Einige Anmerkungen zu psychoanalytischen Traumakonzepten
Die Auseinandersetzung mit dem psychischen Trauma durch äußere
Einwirkungen, wie politische und soziale Gewalt, hatte in der Psychoanalyse
lange einen nachrangigen Stellenwert. Erst durch die Folgen der Katastrophen
des vergangenen Jahrhunderts, die beiden Weltkriege, die Verbrechen des
nationalsozialistischen Regimes, den Holocaust, Bombardierung, Vertreibung,
Flucht und Verfolgung sowie ein wachsendes Bewusstsein für soziale Gewalt in
Familien, wie Misshandlung und sexueller Missbrauch, hat seit den 80er Jahren
auch im deutschsprachigen Raum ein Umdenken begonnen. Inzwischen finden
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sich auch in der psychotherapeutischen und psychoanalytischen Fachliteratur
zahlreiche Veröffentlichungen zu diesem Thema.
FOLIE 12
Fischer und Riedesser definieren ein psychisches Trauma als ein
„vitales Diskrepanzerleben zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den
individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit
und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von
Selbst- und Weltverständnis bewirkt.“ (Fischer, G. & Riedesser, P. 2003:82).
FOLIE ?
Für die Behandlungstechnik in psychodynamischen Therapien setzt sich
zunehmend die Auffassung durch, dass die Aufdeckung der Realität des
Traumas, seine Historisierung, die Voraussetzung ist, „um seine sekundäre
Bearbeitung und Überformung mit un- bewussten Phantasien und Bedeutungen,
die Schuldgefühle und Bestrafungstendenzen beinhalten, aufzuklären und
verstehbar zu machen“ (Bohleber 2003: 29).
Dies gilt für Erwachsene als auch für Kinder und Jugendliche. Kinder und
Jugendliche können noch weniger als Erwachsene das traumatisierende
Geschehen als von außen kommend abgrenzen. Je jünger Kinder während der
traumatisierenden Ereignisse sind, desto weniger sind sie in der Lage,
Schutzfaktoren als Ressourcen zu nutzen. Dazu kommt, dass sich Kinder in die
Situation der Eltern einfühlen und sich mit ihnen identifizieren. Da es sich dabei
um unbewusste Prozesse handelt, besteht keine Möglichkeit der Reflexion und
Auseinandersetzung. Allenfalls spüren die Kinder eine Fremdheit gegenüber
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sich selbst oder entwickeln psychische und psychosomatische Symptome oder
Verhaltensauffälligkeiten. Diese können günstigenfalls in einer Kinder- oder
Jugendlichenpsychotherapie, in die auch die Eltern einbezogen sind, behandelt
werden. Voraussetzung ist, dass bei den Therapeuten Interesse an den
Lebensgeschichten der Eltern- und Großelterngenerationen, sowie deren
Delegationen und unbewussten transgenerationalen Verknüpfungen besteht.
Kinder sind emotional eng mit ihren Eltern verbunden und tragen einen Teil der
Last, wenn Eltern und Großeltern traumatisiert sind. Da extreme
Traumatisierungen die seelische Verarbeitungsfähigkeit der Traumatisierten
übersteigt, dringen sie auch in das Leben der nachfolgenden Generation ein.
Selbst bei Eltern, die massive Traumata durch psychische Abwehrmechanismen
wie zum Beispiel Verleugnung und Derealisierung abwehren,
„erfassen die Kinder unbewusst das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit
ihrer Fantasie und agieren diese Fantasien in der äußeren Welt aus. Diese
Kinder leben in zwei Wirklichkeiten, der eigenen und der, die der
traumatischen Geschichte der Eltern angehört“ (Bohleber 2008: 111).
Der Transfer von Eltern zu Kindern findet über unbewusste
Identifizierungsprozesse statt. Identifizierung ist einer der zentralen
Mechanismen, der die Generationen miteinander verknüpft (Bohleber 2008:
111; Reich et al. 1996: 230).
Dabei gehe ich davon aus, dass Kinder sich nicht mit dem gesamten Erleben der
Eltern und ihren Rollen und Funktionen identifizieren, sondern beide, Kinder
und Eltern an einem zirkulären Prozess beteiligt sind, in dem sie wechselseitig
dazu beitragen, dass sich bestimmte Identifizierungen entwickeln. Kinder
entwickeln eine sehr unterschiedliche Sensibilität in Bezug auf die Probleme
ihrer Eltern und sind in unterschiedlicher Weise an diese gebunden. Dies erklärt
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auch, warum Geschwister in unterschiedlicher Weise in die Traumata der Eltern
involviert sind.
Hinweise auf transgenerationale Weitergaben in den Interview-Texten
Zur Verdeutlichung möchte ich nun exemplarisch einige Sequenzen aus dem
Interview mit Rainer und Lara – den Eltern von Mona - vorstellen.
Das erste Interview führte ich mit Rainer (da ich auch die Väter zu Wort
kommen lassen wollte). Rainer ist ein sympathischer, schlanker und sportlich
wirkender Mittdreißiger der mich in Jeans und Lederjacke auf dem Campus der
Universität erwartet, um mir dann seine Familien- und Lebensgeschichte zu
erzählen.
Sobald ich die Technik aufgebaut habe, beginnt er ohne Zögern zu sprechen. Er
spricht konzentriert, sachlich und konturiert vorwiegend in der Textform des
Berichts und der Argumentation. Dreimal sind kurze Erzählsequenzen
eingeflochten, wie sich später zeigt in Passagen, die ihn emotional berühren.
Während des gesamten Interviews ist kaum eine emotionale Bewegung zu
erkennen. Thematisch spricht er – nach Nennung seines Alters, des Geburtsortes
und seines jüngeren Bruders, ausführlich über seine Schul- und Berufslaufbahn.
Dann über die Partnerschaft und seine Rolle als Vater von zwei Töchtern.
Mir fällt auf, dass er seine Eltern während der gesamten Eingangserzählung
nicht erwähnt, allenfalls einmal in der dritten Person indem er sie als
„Verwandtschaft“ bezeichnet.
Dieses ‚verschweigen’ der Eltern macht mich stutzig und neugierig: Einerseits
weiß ich, dass Rainers Eltern die junge Familie durch die Betreuung der Enkel
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tatkräftig unterstützt haben und andererseits scheinen sie nicht wichtig zu sein
oder gar nicht zu geben. Wie passt das zusammen?
Auf gezieltes Nachfragen im Nachfrageteil und die Bitte doch noch etwas über
seine Eltern zu erzählen, kommt er der Aufforderung insofern nach, als er deren
gesellschaftliche Schichtzugehörigkeit benennt:
FOLIE 13
# gut # (1) gu:t, ja, also meine Eltern sind ich weiß nicht wie man=s bezeichnen
würde- (2) Mittelschicht (1) was auch immer’ also=mein Vater ist Ingenieur
meine Mutter ist- (1) war, Sachbearbeiterin (6/1-3)
Ich reagiere irritiert und ungeduldig, frage erneut nach und erfahre dann, dass
beide Eltern während des 2. Weltkriegs geboren wurden und seine Mutter als
Waise aufgewachsen ist. Mehr sagt er nicht.
Nach nochmaligem Nachfragen schildert er die Beziehung zu seiner Mutter
folgendermaßen:
FOLIE 14
Meine Mutter war, wie, in vielen typischen Familien immer so der Puffer (1)
wenn=s irgendwelche Probleme gab dann wurde meine Mutter,
angesprochen die musste das dann weitergeben’ /m/, aber so der direkte
Kontakt der war irgendwie nie-, also die Kommunikation hat nicht geklappt
und ist heute noch, nicht einfach aber es belastet mich nicht, mehr so... (7/31-
35)
Seine Äußerung über die Kommunikation, die nicht geklappt hat, was ihn aber
heute „nicht mehr so belastet“ lässt darauf schließen, dass es ihn früher belastet
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hat. Möglicherweise hat er als Kind und Jugendlicher darunter gelitten, hat
etwas vermisst, das er aber damals nicht aussprechen konnte. Was er damit
meint und was in der Kommunikation nicht geklappt hat, ist zunächst nicht zu
erfahren. An späterer Stelle im Interview wird er konkreter indem er erwähnt,
dass er sich heute noch fragt ob seine Eltern überhaupt Interesse an ihm gehabt
hätten. Irgendwie hätten sie wohl schon Interesse gehabt, aber das sei nie
ausgesprochen worden.
Einmal neugierig geworden fragt die Interviewerin nun weiter
FOLIE 15
I: können Sie noch was dazu erzählen wie das früher war als
Sie, Kind waren?
B: ja also, erinnern tu ich
halt nur dass=also wenig- dass=ich wenig mit meinem Vater irgendwie- (1)
´oder wir mit meinem Vater irgendwie:: wenig-´ (1) ´weiß=ich nicht´ (1) ( )
äh (3) weiß=nicht über Schule über Dinge die wir so=gemacht haben, geredet
haben /m/ \((sehr leise:)) (komischerweise kann=ich mich überhaupt nicht
erinnern)\ (10/5-9)
Hier scheint er selbst nachdenklich und irritiert über sein mangelndes
Erinnerungsvermögen, was sich im Absenken der Stimmlage und das
eingefügte „komischerweise“ ausdrückt. Offensichtlich ist die Beziehung
zwischen ihm und seinem Vater einerseits durch Zuverlässigkeit und
Verlässlichkeit gekennzeichnet und andererseits durch emotionale Kargheit,
Distanz und Sprachlosigkeit.
Der Biograph bleibt beim Thema und sucht in seinem Gedächtnis nach
Erinnerungen. Er stockt, wiederholt sich, versucht sich irgendwie diesem
Thema anzunähern aber es fällt ihm sichtlich schwer. Der Vater fällt ihm ein
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und vermutlich der Bruder, vielleicht auch die Mutter, denn er erweitert die
Frage auf ein „Wir“. Aber auch dieser Einfall hilft nicht wirklich weiter. Es
scheint so, als habe er jegliche Erinnerungen an seine Kinderzeit verdrängt.
Weder fallen ihm Szenen mit den Eltern ein, noch mit dem Bruder, die ihn
zum Erzählen veranlassen könnten. Alles bleibt karg und auf wenige Fakten,
wie die Schule beschränkt. Aber auch dieser Aufhänger löst keine weiteren
Assoziationen aus. Diese Sprachlosigkeit scheint ihm schließlich selbst
aufzufallen, denn er wird immer zaghafter, was in der Passage wenig-´ (1)
´weiß=ich nicht´ (1) ( ) äh (3) zum Ausdruck kommt.
Immerhin versucht er eine Verbindung zum Thema Schule herzustellen und
zu etwas, was er mit dem Vater gemacht haben oder besprochen haben
könnte. Aber auch das hilft nicht weiter, denn noch nicht mal’ über das was
die Söhne so=gemacht hatten, konnten sie mit dem Vater sprechen und sich
austauschen. Auch zur Mutter fällt ihm nichts ein, das ihn aus dieser
ausweglosen Situation retten könnte.
Schließlich wechselt er im letzten Abschnitt des Satzes die Ebene, indem er
ausspricht und zu reflektieren versucht, was gerade geschieht:
/m/ \((sehr leise:)) komischerweise kann=ich mich überhaupt nicht
erinnern.
In dem nachdenklichen ‚komischerweise’ signalisiert er, dass er selbst
erstaunt ist über seine Erinnerungslücken. Dieses Nachdenken über sich
könnte der Beginn eines Prozesses sein und dafür sprechen, dass er
grundsätzlich Interesse hat, über sich, seine Beziehungen und die inneren
Beweggründe seines Handelns mehr zu erfahren.
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Erst Monate später erfahre ich im Interview mit Rainers Mutter, dass ihr Vater
im Krieg gefallen ist und ihre Mutter kurz nach Erhalt dieser Nachricht
lebensgefährlich erkrankte und starb. Sie (Rainers Mutter) wuchs dann bei ihren
Großeltern und in der Familie eines Onkels auf.
Über die genaueren lebensgeschichtlichen Ereignisse und deren emotionale
Bedeutung war in der Familie nie gesprochen worden.
Die Lebensgeschichte von Lara - Monas Mutter - stellt sich zunächst
anders dar als die von Rainer. Erst bei genauerem Hinsehen ergeben sich
Parallelen.
Lara ist eine zierliche, aparte und reflektierte junge Frau. Das Interview mit
ihr findet in der Wohnung der Familie statt. Am Telefon hatte sie mir
mitgeteilt, dass sie an einer Angststörung leidet.
Sie präsentiert sich als „schwarzes Schaf“ der Familie, weil sie immer
diejenige gewesen sei, die die brisanten Themen in der Familie
angesprochen hätte.
Sie habe als einzige gegen die strengen Erziehungsprinzipien des Vaters
rebelliert und dafür Schläge und Verbote eingesteckt. Andererseits sei sie
seine „Vorzeigetochter“ gewesen, aber nur solange sie in der Schule und im
Sport herausragende Leistungen erbracht habe. Insofern war die Beziehung
zum Vater ausgesprochen ambivalent.
Sie sei schon als Jugendliche diejenige gewesen, die ihre Mutter gegen den
Vater verteidigte, wenn er sich als Patriarch aufspielte. Vor allem aber
später als herauskam, dass er mehrere Jahre ein Doppelleben führte und
mit zwei Frauen in verschiedenen Städten zusammen lebte. Lara war
diejenige, die ihn einerseits zur Rede stellte und die Mutter verteidigte aber
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andererseits nun auch zur Vertrauten des Vaters wurde und in heftige
Loyalitätskonflikte geriet.
Während die Beziehung zu ihrem Vater immer eine besondere war, ist die
Beziehung zur Mutter eher von Enttäuschung geprägt. Die Mutter sei zwar
immer irgendwie da gewesen, aber emotional habe sie sich mit ihren
kindlichen Fragen, Sorgen und Nöten allein gelassen gefühlt. Dennoch
scheint sie mit ihrer Mutter identifiziert, denn sie verteidigt sie gegen den
Vater und nimmt eine Beschützerrolle ein.
Die Bestätigung für dieses Gefühl ‚allein gelassen’ zu sein zeigt sich
nochmals deutlich, als sie im Alter von 17 Jahren einen Selbstmordversuch
macht und die Eltern versuchen diesen zu vertuschen, aus Rücksicht auf die
berufliche Position des Vaters oder auch im ‚vergessen’ des
Selbstmordversuches von Lara im Interview mit ihrer Mutter. Diese hatte
im Interview, das ich nach Lara mit ihr führte, nichts von einem
Selbstmordversuch der Tochter erwähnt.
Es könnte ein Hinweis darauf sein, dass Lara im Inneren der Mutter nicht
ausreichend repräsentiert ist.
Auch in dieser Familie zeigt sich – ähnlich wie in Rainers Herkunftsfamilie -
eine extreme Scheu im Umgang mit brisanten emotionalen Themen. Sie
werden nach außen vertuscht und geheim gehalten und nach innen
vergessen und verdrängt.
Wer aber ist diese Mutter und was hat sie erlebt, dass sie so wenig in
der Lage ist, sich ihrer Tochter emotional zuzuwenden?
FOLIE 16
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Dazu die biographischen Daten der ersten acht Jahre ihrer
Lebensgeschichte: FOLIEN 18-28
1940 Geboren in Königsberg
1940-43 Der Vater ist Soldat und kommt nur gelegentlich auf „Stippvisite“
1944 im Januar Der Vater bringt Frau und Tochter nach Thüringen
1944 im Frühjahr Die Mutter arbeitet in einer Munitionsfabrik
1944 im Sommer Die Oma (mütterlicherseits) kommt zu Besuch
1944 im August Bombenangriff auf Königsberg, es gibt kein zurück mehr
1944 im Oktober Die Eltern des Vaters werden evakuiert und kommen zu ihnen
1944 im Mai Ende des 2. Weltkriegs, der Vater gerät in franz. Gefangenschaft
1944-45 Immer wenn ein Bus kommt hoffen sie auf die Rückkehr des Vaters,
aber er kommt nicht
1945/46 Winter Die Mutter wird schwer krank, Maria wird „zum aufpäppeln“ für
sechs Monate zu einer Tante nach Westdeutschland geschickt
1947 im Herbst Rückkehr nach Thüringen wegen der Einschulung
1948 im Winter Mutter und Tochter fliehen nachts über die Grenze nach
Westdeutschland. Dort erwartet sie der Vater. Er ist ein fremder
Mann für Maria, sie nennt ihn „Oma“
1848 im Sommer Das Leben normalisiert sich,
Sie finden eine Wohnung und der Vater eine Anstellung als Lehrer
in einer norddeutschen Kleinstadt, später kommen die Großeltern
nach und sie nehmen die Oma bei sich auf
Die Biographin erlebt von ihrer Geburt bis zum Alter von 8 Jahren nicht nur
mehrere Ortswechsel, sondern auch Beziehungsabbrüche und existentielle
Angst. Zwar bleibt sie – bis auf die sechs Monate in Thüringen - immer bei
ihrer Familie, aber der Vater kommt nur selten zu besuch und ist später
jahrelang ganz verschwunden. Vor allem wird sie die Angst der
Erwachsenen gespürt und sich möglicherweise damit identifiziert haben.
Zum Zeitpunkt des Interviews ist Maria etwa 60 Jahre alt. Sie stellt sich als
eine Frau vor, die zwar schwere Schicksalsschläge erlebt hat, der aber auch
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genügend Ressourcen zu Verfügung stehen, um damit fertig zu werden und
der es gelingt, jeweils das Beste aus der Situation zu machen. Bereits im
ersten Satz präsentiert sie sich als „Kriegskind“, das in einer preußischen
Beamtenfamilie mit den entsprechenden Werten und Erziehungsprinzipien
aufgewachsen ist. Gleichzeitig betont sie, dass trotz aller Entbehrungen und
der langen Abwesenheit des Vaters durch Krieg und Gefangenschaft, der
Familienverbund stets erhalten blieb. Vor allem gilt ihre Anerkennung den
Großeltern, die nach der Evakuierung ihre Mutter unterstützten und für
Maria als zentrale Bezugspersonen fungierten. Zum Beispiel gelang es ihnen
immer irgendwie etwas zu essen zu besorgen wie Pilze und Beeren aus dem
Wald, um so den Hunger zu bekämpfen. Ihre Mutter ist weniger
kämpferisch und bleibt in der Schilderung eher blass. Vermutlich war sie
emotional weniger präsent als die Großeltern, vielleicht auch latent
depressiv. Sie sei dick geworden und habe sich wenig für ihre Umwelt
interessiert. Zum Vater entwickelte die biographin nach dessen Rückkehr
eine vertrauensvolle und herzliche Beziehung.
Maria stellt den Krieg und die dadurch bedingten Besonderheiten im
Rückblick - bis auf den Hunger - eher wie ein aufregendes Abenteuer dar.
Von außen betrachtet entsteht allerdings der Eindruck, dass sie die
Situation verharmlost, wenn sie mit einem „phh“ betont, dass der Krieg in
dieser Gegend „nicht so“ gefährlich und aufregend war und dass man dann
eben mal in den Luftschutzkeller rennen und am Abend die Fenster
verdunkeln musste. Die erlebte Angst scheint, zumindest bewusst, keine
Rolle zu spielen.
Möglicherweise kommt sie in der Angststörung der Tochter und in der
3. Generation der Enkeltochter zum Ausdruck.
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Wie lassen sich die Ergebnisse für die therapeutische Arbeit nutzen?
Die Ergebnisse zeigen, dass sich die transgenerationalen Weitergaben vor allem
auf die Übermittlung emotionaler Blockaden und die mangelnde Wahrnehmung
und Differenzierung von Gefühlen, wie zum Beispiel Ängste, Besorgnis,
Trennungsprobleme und depressive Stimmungen beziehen aber auch auf die
Fähigkeit zur Selbstfürsorge. Dies zeigt sich besonders deutlich in den
Lebensgeschichten von Maria und Anna, den Großmüttern von Lara und Rainer.
Beide sind noch während des Zweiten Weltkriegs geboren und aufgewachsen.
Aber auch bei Biographinnen, die in der Nachkriegszeit geboren wurden und
aufwuchsen, zeigen sich ähnliche Phänomene. Es fällt auf, dass in den Familien
ein besonderer Schwerpunkt auf wirtschaftliche Absicherung und
Unabhängigkeit gelegt wurde, was sich besonders auch in den Biographien der
Frauen zeigt. Sie kämpfen für ein eigenständiges und selbstbestimmtes Leben
und das Erlangen einer Position in der sozialen Mittelschicht die vorher nicht
möglich war oder durch den Verlust von Hab und Gut verloren ging. Vor allem
die Entwicklungsphase der Adoleszenz ist dadurch beeinträchtigt. Die
Beziehung zu den Kindern ist nicht nur durch die belastenden
Kriegserfahrungen und die Entbehrungen erschwert, sondern auch durch den
Überlebenskampf in der Zeit danach. Für die ‚kleinen’ Belange und Sorgen der
Kinder, wie Lara dies über die Beziehung zu ihren Eltern schildert, bleibt wenig
Raum bzw. sie werden von den Erwachsenen gar nicht als Sorgen und Nöte
wahrgenommen. Insofern fühlen sich die Kinder allein gelassen oder stellen sich
- wie im Beispiel von Rainer - die Frage, ob die Eltern sich überhaupt für sie
interessieren. Diese Eltern sind zwar anwesend und sorgen zuverlässig für ihre
Kinder aber die Leerstellen finden sich auf der emotionalen Ebene.
Am deutlichsten zeigt sich dieses Allein-Gelassen-Sein in der Fallrekonstruktion
von Maria und Lara, als die Mutter „vergisst“, dass die Tochter einen
Selbstmordversuch gemacht hat.
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Aber selbst reflektierte junge Eltern wie Lara und Rainer, die aus der nächsten
Generation stammen und sich vornehmen, ihre Kinder anders zu erziehen als sie
selbst es erlebt haben, scheitern in Bezug auf die Aufgabe, emotionale Nähe zu
ihren Kindern herzustellen, an der eigenen emotionalen Sprachlosigkeit, wenn
sie in Familien aufgewachsen sind, in denen die Eltern aufgrund existentieller
Bedrohung und im Kampf ums Überleben, ihre emotionalen Bedürfnisse
zurückstellen und verdrängen mussten.
Fazit FOLIEN 30-33
In Psychotherapien mit Erwachsenen, Jugendlichen und Kindern ist es möglich,
solche emotionalen Blockaden aufzuspüren und innerhalb der therapeutischen
Beziehung oder auch in den familiären Beziehungen zu reflektieren.
Voraussetzung dafür ist eine vertrauensvolle und respektvolle Haltung und ein
beherzter Umgang in Bezug auf die Konfrontation mit den relevanten und
teilweise schmerzhaften Themen. Ebenso entscheidend wie das Aufspüren und
transparent machen der familiären oder innerpsychischen Blockaden bei den
Patienten - bei Kindern auch deren Eltern - ist die Reflexion der Therapeutinnen
und Therapeuten in Bezug auf die eigene, persönliche Lebens- und
Familiengeschichte.
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