Grundkurs Öffentliches Recht II: Grundrechte · 5 Aktuelle Relevanz der Grundrechte – BVerfGE...
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Grundkurs Öffentliches Recht II: Grundrechte
von Prof. Dr. Horst Dreier
Sommersemester 2015 !
(http://www.jura.uni-wuerzburg.de/lehrstuehle/dreier/aktuelle_lehrveranstaltungen/
grundkurs_oeffentliches_recht_ii/)
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Grundrechte (Staatsrecht II)
Völkerrecht (Staatsrecht III)
Staatsorganisationsrecht (Staatsrecht I)
Staatsrecht Verwaltungsrecht
Recht
Privatrecht Öffentliches Recht Strafrecht
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Erster Teil: Allgemeine Grundrechtslehren
A. Einführung
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Aktuelle Relevanz der Grundrechte – BVerfGE 32, 98
A und seine Frau waren überzeugte Anhänger der religiösen Vereinigung des evangelischen Brüdervereins. Nach der Geburt ihres 4. Kindes litt die Frau unter lebensgefährlicher akuter Blutarmut. Trotz entsprechendem ärztlichen Rat lehnten A und seine Frau eine Krankenhausbehandlung und die Durchführung einer Bluttransfusion ab: A erklärte, daß er bereits einmal durch das Gebet in der Gemeinschaft von einem angeborenen Leiden geheilt worden sei, und daß auch seine Frau ohne Krankenhaus-behandlung wieder gesund würde, wenn man sich an Gott um Hilfe wende und wenn man stark im Glauben sei. Er sei deshalb gegen eine Krankenhausbehandlung, er überlasse aber seiner Frau die Entscheidung; sie könne gehen, wenn sie wolle; die Hl. Schrift aber sehe einen anderen Weg vor: „Ist jemand krank, der rufe zu sich die Ältesten der Gemeinde und lasse über sich beten und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen.“ Die Ehefrau erklärte daraufhin, sie lehne die Behandlung im Krankenhaus ab und bat darum, einen Bruder ihrer Religionsgemeinschaft zu rufen. Dies geschah auch. Die Frau verstarb kurze Zeit später.
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Aktuelle Relevanz der Grundrechte – BVerfGE 32, 98 (Fortsetzung)
A wird zunächst wegen fahrlässiger Tötung zu acht Monaten Gefängnis
verurteilt. Auf seine Berufung hin hebt das LG das Urteil auf und spricht A frei.
Diesen Freispruch hebt das OLG auf und weist die Sache an die Vorinstanz
zurück. Daraufhin verurteilt das LG wegen unterlassener Hilfeleistung zu einer
Geldstrafe. Begründung: Die Verletzung der Hilfeleistungspflicht sei darin zu
erblicken, daß A es unterlassen habe, Einfluß auf seine Frau auszuüben, dem
ärztlichen Ratschlag zu folgen, sondern sie in ihrer ablehnenden Haltung noch
bestärkt habe. Das sei ihm, auch wenn es seiner eigenen Überzeugung ebenfalls
zuwiderlief, zumutbar gewesen. Auf Art. 4 GG könne er sich nicht berufen.
Hat eine Verfassungsbeschwerde Aussicht auf Erfolg?
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Aktuelle Relevanz der Grundrechte• auf Bundesebene: Ausstrahlung der Grundrechte auf die gesamte
Rechtsordnung („Rundumschutz“) im Bereich der – Gesetzgebung
• Schwangerschaftsabbruch I u. II (BVerfGE 39, 1; 88, 203) • Luftsicherheitsgesetz I (BVerfGE 115, 118) • Vaterschaftsfeststellung (BVerfGE 117, 202)
– Verwaltung • Schächten (BVerfGE 104, 337) • Hennenhaltungsverordnung (BVerfGE 101, 1)
– Rechtsprechung • Gesundbeter (BVerfGE 32, 98) • Caroline von Monaco II (BVerfGE 101, 361) • Schockwerbung I u. II (BVerfGE 102, 347; 107, 275)
• auf nationaler Landesebene Landesgesetze, Landesverordnungen, Urteile von Gerichten der Länder
(BVerfGE 93, 1 – Kruzifix; BVerfGE 121, 317 – Nichtraucherschutz) • auf internationaler/supranationaler Ebene Menschenrechte als wesentliches Legitimitätskriterium
„Ohne Zweifel sind die Grundrechte in erster Linie dazu
bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen
der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte
des Bürgers gegen den Staat. Das ergibt sich aus der
geistesgeschichtlichen Entwicklung der Grundrechtsidee
wie aus den geschichtlichen Vorgängen, die zur Aufnahme
von Grundrechten in die Verfassungen der einzelnen
Staaten geführt haben.“
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Definition der Grundrechte(BVerfGE 7, 198 [204 f.])
„Das Wertsystem der Grundrechte geht von der Würde und
Freiheit des einzelnen Menschen als natürlicher Person
aus. Die Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheits-
sphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen
Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraus-
setzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mit-
gestaltung im Gemeinwesen sichern.“
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Funktionen der Grundrechte (BVerfGE 21, 362 [369])
Literaturgattungen
• Lehrbücher • Kommentare • Monographien
• Aufsätze • Festschriften• Handbücher / Enzyklopädien
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Literaturhinweise
Lothar, Michael/Morlok, Martin: Grundrechte, 4. Aufl. 2014
Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard/Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Grundrechte – Staatsrecht II, 30. Aufl. 2014
Hufen, Friedhelm: Staatsrecht II – Grundrechte, 4. Aufl. 2014
Ipsen, Jörn: Staatsrecht II – Grundrechte, 17. Aufl. 2014
Manssen, Gerrit: Staatsrecht II – Grundrechte, 12. Aufl. 2015
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Empfehlenswerte Studienbücher
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B. Herkunft und Geschichte der Grundrechte
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Die Vielfalt der geistesgeschichtlichen Ursprünge
• Vielfalt unterschiedlich gewichtiger Strömungen • klassische Antike (Platon, Aristoteles etc.):
– keine Grundrechte gegen den Staat – aber: Gleichheitsgedanke in der Stoa
• Christentum – imago-Dei-Lehre: (nur) Gleichheit vor Gott – Grundrechte mußten gegen die Kirchen erkämpft werden – aber: Bedeutung der Sekten
• Zentral: Rationalistisches Naturrecht – John Locke (1632–1704) – Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) – Immanuel Kant (1724–1804)
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Zur Geschichte der GrundrechteEngland U.S.A. Frankreich Deutschland
1215 (Magna Carta Libertatum)
1679 (Habeas Corpus)
1555 (Augsburger Religionsfrieden)
1689 (Bill of Rights)
1776 (Virginia Bill of Rights)
1789 (Déclaration des
Droits de l'Homme et du Citoyen)
1791 (U.S.-Verfassung mit Amendments I-X;
Federal Bill of Rights)
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Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen (1789)
England U.S.A. Frankreich Deutschland
1818/19 (Süddeutsche
Konstitutionen)
1848/49 (Paulskirchen verfassung)
1871 (-) (Bismarck-Verfassung)
1919 (Weimarer
Reichsverfassung)
1949 (Grundgesetz)
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Zur Geschichte der Grundrechte
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Paulskirchenversammlung (1848)
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Grundrechtskatalog der Paulskirchenverfassung
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Grundrechte in der Weimarer Reichsverfassung
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Originalurkunde des Grundgesetzes
• Rechtsnatur der Grundrechte (Art. 1 III GG)
• Schwerpunkt: klassisch-liberale, justiziable Grundrechte
• keine sozialen Grundrechte (Differenz zur WRV)
• keine Aufnahme der Auswanderungsfreiheit
• Novum: Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG); auch: Schutz der Staatsangehörigkeit (Art. 16 GG), Asylrecht (heute: Art. 16a GG)
• Veränderungen im Grundrechtskatalog: – Wehrpflichtnovelle von 1956 (Art. 1 III, 12 [später 12a], 17a GG) – Notstandsverfassung von 1968 (vgl. Art. 9 III, 10 II, 11 II, 19 IV 3 GG) – 1993: Umgestaltung des Asylgrundrechts (Art. 16 II 2 GG a. F.) durch
Neuschaffung des Art. 16a GG – 1998: Einschränkungen beim Wohnungsgrundrecht (Art. 13 GG) durch
Einfügung der Absätze 3 bis 6 – 2000: Aufhebung des strikten Auslieferungsverbots Deutscher durch die
Einfügung von Satz 2 in den zweiten Absatz des Art. 16 GG 21
Entstehung und Veränderung der Grundrechte des Grundgesetzes
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Entstehung und Veränderung der Grundrechte des Grundgesetzes
• Erweiterungen des Grundrechtskataloges: – 1968: Einfügung des Widerstandsrechts (Art. 20 IV GG) – 1994: Stärkung der Gleichberechtigung der Frau und eine
ausdrückliche Schutzklausel für Behinderte (Art. 3 II 2, III 2 GG) – 2000: Neufassung des Art. 12a IV 2 GG
• „Wandel der Grundrechte“ (Ausstrahlungswirkung, Schutzpflichten)
Extensivierung Intensivierung Pluralisierung
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C. Internationale, supranationale und rechtsvergleichende Bezüge
Menschenrechts- dokument
Abk. Gerichtliche Kontrolle Rangverhältnis ./. Bundesrecht
Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
(1948)
AEMR – Resolution der UN-Vollversammlung; für Einzelaussagen
Vorrang nach Art. 25 S. 2 GG
Internationaler Pakt über bürgerliche und
politische Rechte (1966)
IPbpR Berichtspflicht/ Beschwerde zum UN-Menschenrechtsaus-
schuß
Bindender völkerrechtlicher
Vertrag
Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte (1966)
IPwskR Überwachung durch den UN-Ausschuß über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte
Bindender völkerrechtlicher
Vertrag
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Menschenrechtskataloge (außerhalb des Grundgesetzes)
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Eleonore Roosevelt hält ein Poster zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu der sie maßgeblich beigetragen hatte.
New York, November 1949
Menschenrechts- dokument
Abk. Gerichtliche Kontrolle
Rangverhältnis ./. Bundesrecht
Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (1950)
nebst Protokollen
EMRK Individualbeschwerde zum EGMR (Straßburg)
Bindender völkerrechtlicher Vertrag im Rang
einfachen Bundesrechts
Europäische Grundfreiheiten (1958)
Art. 28 ff. AEUV
EuGH (Luxemburg)
Anwendungsvorrang
Europäische Grundrechtecharta
(2009)
GRCh EuGH(Luxemburg)
Anwendungsvorrang
Landesgrundrechte (z.B. Bayerische
Verfassung, 1946)
Art. 98 ff. BayVerf.
Verfassungs-beschwerde/
Popularklage zum BayVerfGH (München)
(Nach-)Rang gem. Art. 31, 142 GG
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Menschenrechtskataloge (außerhalb des Grundgesetzes)
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Der EGMR (Straßburg)
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Der EuGH (Luxemburg)
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Der BayVerfGH (München)
• Grundrechtskataloge in Verfassungen der modernen Staatenwelt (Ausnahmen: Staaten ohne Verfassungsurkunde, z.B. Großbritannien, Israel)
• Ausstrahlungswirkung des Grundgesetzes
• Unterscheide: Existenz verfassungsrechtlich verbürgter Grundrechte einerseits und deren Wirkungsgrad wie Schutzniveau andererseits
• Effektivierung der Grundrechte durch Institutionalisierung einer Verfassungsgerichtsbarkeit
• Eigene, rezipierte oder erweiterte Grundrechtskataloge in den vor- wie nachgrundgesetzlichen bundesdeutschen Landesverfassungen nebst Landesverfassungsgerichtsbarkeit
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Verfassungsrechtsvergleichung
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D. Begriff und Bedeutung der Grundrechte des Grundgesetzes
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Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte
• Ausgangspunkt: I. Abschnitt des GG („Die Grundrechte“)
• beachte: – hier auch Artikel, die keine Grundrechte darstellen (bspw.
Art. 1 III, 19 III GG; auch: Art. 12a, 17a GG; umstritten ist Art. 1 I GG)
– außerhalb des I. Abschnitts finden sich ebenfalls klassische Grundrechte (sog. grundrechtsgleiche Rechte; bspw. Art. 104 GG, aber auch Art. 38, 103 II GG)
– verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit: Art. 93 I Nr. 4a GG (Verfassungsbeschwerde)
• Grundrechte als objektiv gültiges Recht, nicht nur Sätze der Moral oder unverbindliche Deklarationen
• objektive Grundrechtsbestimmungen begründen subjektive Rechte: d.h., daß der Einzelne sich im Falle der Beeinträchtigung der Grundrechte (des „Eingriffs“ in ein Grundrecht) mit Rechtswirkung auf diese berufen kann: Grundrechte sind „justiziabel“
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Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 III GG)
• die „Abwehr“ besteht im wesentlichen in Unterlassungs- und Folgenbeseitigungsansprüchen
• Grundrechte sind als subjektive Rechte unmittelbar geltendes Recht und binden gemäß Art. 1 III GG alle drei Gewalten einschließlich der Legislative (insofern Fortschritt zur WRV)
• Bedeutung der „unmittelbaren Wirkung“ (vgl. Art. 100 I GG)
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Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 III GG)
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Zur „Vorstaatlichkeit“ der Grundrechte
• Grundrechte als „vorstaatliche“ Rechte • Amerikanische Unabhängigkeitserklärung: „certain unalienable
rights“ • Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen (1789), Art. 2:
„des droits naturels et imprescriptibles de l’homme“ • aber: keine Geschichtserzählung, sondern Argument für Vorrang des
Individuums • Grundrechte liegen dem Staat logisch-systematisch voraus • Grundrechte setzen den Staat unter Rechtfertigungszwang
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E. Arten der Grundrechte (Klassifikationsmöglichkeiten)
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Jedermann-Grundrechte und Deutschen-Grundrechte
• Verschiedene Personenkreise (anders als in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, wo die identische Person in ihrer Rolle als Mensch [im Naturzustand] und als Bürger [im politischen Gemeinwesen] gemeint ist)
• Jedermann-Grundrechte (Menschenrechte): Rechte, die allen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit zustehen; z.B. Art. 2 I, 2 II, 3 I, 4 I, 5 I, 6, 10, 13, 14 GG; Formulierungen: „jeder“, „alle Menschen“ oder alleiniges Abstellen auf das Schutzgut („die Religionsfreiheit“)
• Deutschen-Grundrechte (Bürgerrechte) stehen nur den Staatsangehörigen, also den Deutschen i.S.d. Art. 116 GG zu; z.B. Art. 8 I, 9 I, 11 I, 12 I, 16 II, 20 IV, 33 I, 33 II GG
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Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte als Jedermann- und Deutschen-Grundrechte
Jedermann-Grundrechte/Menschenrechte Deutschen-Grundrechte/Bürgerrechte
Art. 2 I (allgemeine Handlungsfreiheit) Art. 8 I (Versammlungsfreiheit)
Art. 2 II 1 (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit)
Art. 9 I (Vereinigungsfreiheit)
Art. 2 II 2, 104 (Freiheit der Person) Art. 11 I (Freizügigkeit)
Art. 3, 6 V (Gleichheitsrechte) Art. 12 I (Recht auf freie Wahl von Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte)
Art. 4 I, II (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit)
Art. 4 III (Kriegsdienstverweigerung)
Art. 16 I (Recht auf Fortbestand der deutschen Staatsangehörigkeit)
Art. 16 II (Auslieferungsverbot)
Art. 5 I (Meinungs- und Pressefreiheit, Rundfunk- und Filmfreiheit)
Art. 20 IV (Widerstandsrecht)
Art. 5 III (Freiheit der Kunst und der Wissenschaft)
Art. 33 I-III (spezielle Gleichheitsrechte)
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Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte als Jedermann- und Deutschen-Grundrechte
Jedermann-Grundrechte/Menschenrechte
Deutschen-Grundrechte/Bürgerrechte
Art. 6 I–IV, 7 II (Ehe und Familie, Elternrecht, Mutterschutz)!Art. 9 III (Koalitionsfreiheit)
Art. 38 I 1, II (Wahlrecht)
Art. 10 I (Brief-, Fernmelde- und Postgeheimnis)!Art. 12 II, III (Freiheit von Arbeitszwang, Schutz vor Zwangsarbeit)
Art. 13 I (Unverletzlichkeit der Wohnung)
Art. 14 I (Eigentum und Erbrecht)
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Jedermann-Grundrechte/Menschenrechte
Deutschen-Grundrechte/Bürgerrechte
Art. 17 (Petitionsrecht)
Art. 19 IV (Rechtsschutzgarantie)
Art. 101 I 2 (Recht auf den gesetzlichen
Richter)
Art. 103 I (Anspruch auf rechtliches Gehör)
Art. 103 II (nulla poena sine lege)
Art. 103 III (ne bis in idem )
Besonderheit: Art. 16a I GG ist ein „Fremdenrecht“ (Die Einreise in die Bundesrepublik und der Aufenthalt dort sind für Deutsche bereits durch Art. 11 I GG gewährleistet).
Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte als Jedermann- und Deutschen-Grundrechte
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Fall: Ein Australier (A) und ein Deutscher (D) betreiben
nebeneinander einen Stand in einer Markthalle; beide erhalten vom
Gewerbeaufsichtsamt die gleiche Verfügung, ihren Gemüsestand
dreimal täglich mit einem bestimmten Desinfektionsmittel zu
reinigen. Beide klagen dagegen bis in die höchste Instanz (BVerwG),
beide verlieren, beide wollen beim Bundesverfassungsgericht eine
Verfassungsbeschwerde einlegen. D beruft sich auf Art. 12 GG. Worauf kann sich A berufen? Wäre die Verfassungsbeschwerde des
A zulässig?
Jedermann-Grundrechte und Deutschen-Grundrechte
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Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte
• Freiheitsrechte sollen einen Kreis von Handlungs- und Betätigungsmöglichkeiten des Einzelnen garantieren und gegen staatliche Eingriffe sichern.
• Neben diese Handlungsrechte i.e.S. zählen zu den Freiheits-rechten auch solche, denen ein solch unmittelbarer aktiver Handlungsbezug weitgehend fehlt („Freiheitssphären“: bspw. der Schutz der Privatsphäre, der Kommunikation und vor allem der Unverletzlichkeit der Wohnung)
• Differenzierung zwischen dem allgemeinen Freiheitsgrund-recht (Art. 2 I GG) und den besonderen Freiheitsrechten (Art. 4 I, 5 I, 5 III, 8, 9 I, 12 I, 14 I GG); auch gibt es „unbenannte“ Grundrechte wie die Ausreise- und Vertragsfreiheit
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• Gleichheitsrechte sollen sicherstellen, daß rechtliche Regelungen nicht privilegierend oder diskriminierend ausfallen. Schutzgut: Mindestmaß an formal-rechtlicher Gleichbehandlung als Ausdruck einer egalitären Staatsbürgergesellschaft
• Ungleichheit muß gerechtfertigt werden können, Differenzierung muß auf einem vernünftigen Grund beruhen
• Beispiel (für Fehlen eines solchen Grundes): Geschwindigkeitsbegrenzung auf Autobahnen auf 130 km/h für alle, nur nicht für Adelige oder Blondinen.
• Beispiel (für vernünftige Differenzierung): höherer Steuersatz für Personen mit mehr als € 100.000 Jahreseinkommen als solchen mit unter € 50.000 (aber nicht nach Haarfarbe oder gesellschaftlichem Stand)
• Differenzierung zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 I GG) und speziellen Gleichbehandlungsgeboten und Diskriminierungsverboten (Art. 3 II, 3 III, 6 V, 33 I–III, 38 I 1 GG)
Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte
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Freiheitsrechte und Gleichheitsrechte
Freiheitsrechte Gleichheitsrechte
Art. 2 I (allgemeine Handlungsfreiheit) Art. 3 I (allgemeines Gleichheitsrecht)
Art. 2 I i.V.m. Art 1 I (allgemeines Persönlichkeitsrecht)
Art. 3 II (Gleichberechtigung von Frau und Mann)
Art. 2 II 1 (Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit)
Art. 3 III (spezielle Diskriminierungs-verbote)
Art. 2 II 2, 104 (Freiheit der Person) Art. 6 V (Gleichberechtigung unehe-licher Kinder)
Art. 4 I, II (Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit)
Art. 33 I-III (Gleichheit im öffent-lichen Dienst)
Art. 4 III (Kriegsdienstverweigerung) Art. 38 I 1, II (Wahlrechtsgleichheit)
Art. 5 I (Meinungs-, Informations- und Pressefreiheit, Rundfunk- und Filmfreiheit)
Art. 140 i.V.m. Art. 136 II WRV (Differenzierungsverbot bzgl. der Religionszugehörigkeit)
Art. 5 III (Freiheit der Kunst und der Wissenschaft)
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Freiheitsrechte und GleichheitsrechteFreiheitsrechte Gleichheitsrechte
Art. 6 I-IV, 7 II (Ehe und Familie, Elternrecht, Mutterschutz)
Art. 8 I (Versammlungsfreiheit)
Art. 9 I, III (Vereinigungs- und Koalitions-freiheit)
Art. 10 I (Brief-, Post- und Fernmelde-geheimnis)
Art. 11 I (Freizügigkeit)
Art. 12 I (Berufsfreiheit)
Art. 13 I (Unverletzlichkeit der Wohnung)
Art. 14 I (Eigentum und Erbrecht)
Art. 16 I, II (Deutsche Staatsangehörigkeit, Auslieferungsverbot)
Art. 16 a I (Asylrecht)
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Freiheitsrechte und GleichheitsrechteFreiheitsrechte Gleichheitsrechte
Art. 17 (Petitionsrecht)
Art. 19 IV (Rechtsschutzgarantie)
Art. 20 IV (Widerstandsrecht)
Art. 101 I 2, 103 I (Gesetzlicher Richter, rechtliches Gehör) !Art. 103 II (Rückwirkungsverbot)
!Prozessuale Rechte
!• dienen der Absicherung
und Durchsetzung der materiellen Rechte bspw. durch Garantien bei der Durchführung von Gerichtsverfahren (Prozeßgrundrechte)
• z.B.: Art. 19 IV, 101 I 2, 103 I, 104 GG; Grundsatz des fairen Verfahrens
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Materielle und prozessuale Rechte
!Materielle Rechte
!• sichern einen bestimmten
Freiheits- oder Gleichheitsstandard
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Staatsbürgerliche Rechte
• Wahl- und Stimmrechte (Art. 38 I 1, 29, 118, 118a GG sowie in Landesverfassungen)
• Recht auf gleichen Ämterzugang (Art. 33 I–III GG)
• Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 III GG)
• Beachte: enger Zusammenhang zwischen staatsbürgerlichen Rechten und demokratischer Grundrechtsausübung
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Soziale Grundrechte?
• Was sind soziale Grundrechte? – Recht auf Arbeit – Recht auf Bildung – Recht auf eine angemessene Wohnung – Recht auf soziale Sicherheit
• „Soziale Grundrechte“ finden sich in der AEMR und sonstigen internationalen Menschenrechtsdokumenten, den Verfassungen anderer Länder, der Weimarer Reichsverfassung sowie vielen Landesverfassungen (vgl. Art. 106 I BV [„Jeder Bewohner Bayerns hat Anspruch auf eine angemessene Wohnung“] sowie Art. 166 II BV [„Jedermann hat das Recht, sich durch Arbeit eine auskömmliche Existenz zu schaffen“]); auch in der EU-Grundrechtecharta (Art. 14, 24, 25, 26, 27 ff.)
• Rechtscharakter: Staatszielbestimmungen oder Programmsätze, die grundsätzlich keine subjektiv einklagbaren Rechte vermitteln (Statuierung von Staatsaufgaben)
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BVerfGE 127, 175 (Ls. 1) – Hartz IV:!„1. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.
Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums gem. Art. 1 I GG (Menschenwürde) i.V.m.
Art. 20 I GG (Sozialstaatsprinzip)
Ausnahme: Existenzminimum
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BVerfGE 127, 175 (Ls. 2) – Hartz IV:!2. Dieses Grundrecht aus Art. 1 Abs. 1 GG hat als Gewährleistungsrecht in seiner Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG neben dem absolut wirkenden Anspruch aus Art. 1 Abs. 1 GG auf Achtung der Würde jedes Einzelnen eigenständige Bedeutung. Es ist dem Grunde nach unverfügbar und muss eingelöst werden, bedarf aber der Konkretisierung und stetigen Aktualisierung durch den Gesetzgeber, der die zu erbringenden Leistungen an dem jeweiligen Entwicklungsstand des Gemeinwesens und den bestehenden Lebensbedingungen auszurichten hat. Dabei steht ihm ein Gestaltungsspielraum zu.“
(Fortsetzung)
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F. Dimensionen (Funktionen) der Grundrechte
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Dimensionen der Grundrechte
Subjektiv-rechtliche Dimensionen
!Grundrechte als !
• Abwehrrechte !• Leistungsrechte !• Gleichbehandlungsrechte
Objektiv-rechtliche Dimensionen
!• Ausstrahlungswirkung !• Schutzpflichten !• Organisation und
Verfahren !• Einrichtungsgarantien
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• Grundrechte als Abwehrrechte – Verpflichtung des Staates zur Unterlassung ungerechtfertigter
Eingriffe in grundrechtliche Schutzgüter – Differenz zwischen Grundrechtsbeeinträchtigung und
Grundrechtsverletzung !• Grundrechte als Leistungsrechte
– keine Inkorporation sozialer Grundrechte ins GG – dennoch Ansprüche auf positives Tun denkbar (vgl. BVerfGE 33,
303 – numerus-clausus; BVerfGE 125, 175 – Hartz IV) – im Hinblick auf die Haushaltskompetenz des Parlaments und die
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers scheiden Grundrechte als originäre Leistungsansprüche aus
Subjektiv-rechtliche Dimensionen
z.B.: Hausarbeitstag nur für Frauen
(BVerfGE 52, 369)
Bei gleichheitswidrigen Begünstigungsaus-schlüssen hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, die
Begünstigung allen zukommen zu lassen
oder ganz zu streichen55
Abwehr einer gleichheitswidrigen
Belastung !
Feststellung der Unverein-barkeit der angegriffenen Verbotsvorschrift führt unmittelbar zu deren Unan-wendbarkeit (vgl. BVerfGE 75, 166 [181 f.] – Selbst-bedienung bei Arzneimitteln)
Erlangung einer Begünstigung, die anderen gewährt wird
• Grundrechte als Gleichbehandlungsrechte unterscheide:
z.B.: Zurverfügungstellung öffentlicher Einrich-tungen; Landeserzie-
hungsgeld nach Staatsbürgerschaft
(BVerfGE 130, 240)
Aufgrund von Art. 3 I, 6 V GG ist
die Begünstigung allen gleich zu gewähren
Subjektiv-rechtliche Dimensionen
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BVerfGE 7, 198 (205) – Lüth
„Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will (…), in seinem Grundrechts-abschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt (…). Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungs-rechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“
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Objektiv-rechtliche Dimensionen
• Ausstrahlungswirkung – Grundrechtskonforme Auslegung des einfachen
Gesetzesrechts als Folge des Einflusses und der Bedeutung der Grundrechte
– Neben der allgemeinen Grundrechtsbindung des Gesetzgebers besteht im Zivilrecht die Problematik der Dritt- oder Horizontalwirkung der Grundrechte: grds. zwar aufgrund der Privatautonomie keine direkte Drittwirkung zwischen Privaten
– allerdings mittelbare Drittwirkung über die General-klauseln und unbestimmten Rechtsbegriffe des bürger-lichen Rechts
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Objektiv-rechtliche Dimensionen
• Schutzpflichten – Umkehrung der Abwehrfunktion (nicht
Unterlassungs-, sondern Handlungspflichten) – Schutz eines Bürgers vor Übergriffen anderer Privater – BVerfGE 46, 160 – Schleyer – Zweistufiges Vorgehen: zunächst geht es um das „Ob“
einer Schutzpflicht (1. Stufe), dann um das „Wie“ im Rahmen der Ausgestaltung der Schutzpflicht (2. Stufe)
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Objektiv-rechtliche Dimensionen
• Organisation und Verfahren – nur angemessene Verfahrensvorkehrungen und
-sicherungen wie Art. 19 IV GG und die Justizgrund-rechte stellen die Realisierung und Effektivierung von Grundrechten sicher (sie sind insofern prozessuale „Vorposten“ der materiellen Grundrechtspositionen)
– Verfahrensaspekt ist sowohl bei staatlichen Eingriffen als auch staatlichen Leistungen relevant
– BVerfGE 42, 64 – Zwangsversteigerung; 52, 380 – Schweigender Prüfling
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Objektiv-rechtliche Dimensionen
• Einrichtungsgarantien – Lehre von den Einrichtungsgarantien geht auf die Weimarer
Zeit zurück – Unterscheide Institutsgarantien und institutionelle
Garantien • Ehe, Familie, Eigentum, Erbrecht als privatrechtliche
Institute • Berufsbeamtentum und kommunale Selbstverwaltung sind
als institutionelle Garantien öffentlich-rechtlich – auf diese Weise werden einfachgesetzliche Regelungs-
komplexe wie bspw. Ehe und Familie grundgesetzlich in ihrem Kernbestand geschützt
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• Zunächst volljährige, rechts- und geschäftsfähige Personen
• Geburt und Tod als zeitliche Grenzpunkte des Grundrechtsschutzes? – Nasciturus nach BVerfG-Judikatur jedenfalls ab
Nidation im Schutzbereich des Art. 2 II 1 GG – Dem Verstorbenen kommt der postmortale
Persönlichkeitsschutz zugute (vgl. BVerfGE 30, 173 [194] – Mephisto)
Grundrechtsberechtigte und Grundrechtsverpflichtete
Natürliche Personen als Grundrechtsberechtigte (Grundrechtsträger)
EU-Bürger ! Vorrang des EU-Rechts mit seinen europarecht- lichen Diskriminierungs-
verboten gebieten Erstreckung der
Deutschen-Grundrechte auch auf EU-Bürger (str.)
!Im Kommunalwahlrecht ausdrückliche Regelung
(Art. 28 I 3 GG)62
Deutsche i.S.d. Art. 116 I GG
!!Möglichkeit der
Berufung auf alle Grundrechte und
grundrechtsgleichen Rechte des GG
Ausländer und Staatenlose
! Beschränkung auf
Menschenrechte oder
Jedermann- Grundrechte
!Auffangfunktion des Art. 2 I GG
Natürliche Personen als Grundrechtsberechtigte (Grundrechtsträger)
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Sonderfall: Minderjährige (Grundrechtsmündigkeit)
• keine starre Altersgrenze für Grundrechte • Volljährigkeit nur im Ausnahmefall maßgeblich • Indiz: einfachgesetzliche Regelungen, die Minderjährigen
selbständige Entscheidungen auf grundrechtlich geschützten Feldern einräumen
• Problem der Grundrechtsmündigkeit betrifft die Frage, ob der Grundrechtsträger seine Grundrechte verfassungsprozessual selbständig vor dem BVerfG durchsetzen kann
• Lösung: Abstellen auf einschlägige gesetzliche Regelungen (z.B. § 5 RelKErzG, §12 AsylVfG, Art. 38 II GG) oder bei deren Fehlen auf Einsichtsfähigkeit des Beschwerdeführers
Juristische Personen des öffentlichen Rechts
!• Körperschaften, Anstalten,
Stiftungen • Grundsatz: Staat ist grundrechts-
verpflichtet, nicht -berechtigt • Ausnahmetrias im Hinblick auf
„Zuordnung“ zu grundrechtlichen Lebensbereichen: Universitäten, Rundfunkanstalten, Kirchen
• Irrelevanz der Privatrechtsform • Beteiligungen des Staates an
gemischtwirtschaftlichen Unter-nehmen 64
Juristische Personen als Grundrechtsberechtigte (Grundrechtsträger)
Juristische Personen des Privatrechts
!• Art. 19 III GG erfaßt sowohl
vollrechtsfähige, als auch teilrechtsfähige Gebilde, die einen gewissen Grad an organisatorischer Verfestigung aufweisen
• „ihrem Wesen nach anwendbar“ sind v.a. die Wirtschaftsgrundrechte (Art. 12, 14 GG) aber auch die Kommunikationsgrundrechte (Art. 5, 8 GG), ferner Art. 2 I; 3 I; 4 I, II; 5 III; 9 I, III; 10; 11 I; 13 GG (str.) Nicht: Art. 1 I; 2 II 1; 2 II 2; 3 II; 4 III; 6; 7 II; 16; 16a GG
65
• Jeder Ausländer und
• jede juristische Person, gleich ob privat- oder öffentlich-rechtlich, in- oder ausländisch,
kann sich in einem staatlichen (Gerichts-)Verfahren auf die einschlägigen Justiz- und Prozeßgrundrechte aufgrund deren Qualität als objektive Verfahrensgrundsätze berufen.
Allgemeine Geltung der Justizgrundrechte
66
• Ausgangspunkt und Zentralnorm: Art. 1 III GG: – „nachfolgende Grundrechte“ – „unmittelbar geltendes Recht“
• bei förmlichen nachkonstitutionellen Gesetzen besteht Verwerfungsmonopol des BVerfG
• Unmittelbare Bindung nicht nur der staatlichen Gewalt des Bundes, sondern auch der Länder
Der Staat als Grundrechtsverpflichteter (Grundrechtsadressat)
67
• Bindung der Gesetzgebung – eindeutiger Vorrang der Verfassung – Bindung aller Parlamente inkl. deren Untergliederungen
• Bindung der Verwaltung – unmittelbare Staatsverwaltung – mittelbare Staatsverwaltung – juristische Personen des öffentlichen Rechts – justizfreie Hoheitsakte – besondere Gewaltverhältnisse/Sonderstatusverhältnisse
• Bindung der Rechtsprechung – Urteile, Beschlüsse, Justizverwaltungsakte – formelle nachkonstitutionelle Gesetze (Art. 100 I GG) – Rechtsverordnungen und vorkonstitutionelles Recht
Der Staat als Grundrechtsverpflichteter
• Fiskalgeltung der Grundrechte: Sammelbezeichnung für privatrechtliche Handlungs- und Organisationsformen; unterscheide drei Fallgruppen:
• privatrechtliche Hilfsgeschäfte (Bleistiftkauf) – heute: Grundrechtsbindung
• erwerbswirtschaftliche Betätigung (staatliche Brauerei) – unstr. Grundrechtsbindung
• verwaltungsprivatrechtliche Daseinsvorsorge (Energie-versorgung)
– keine „Flucht ins Privatrecht“, daher nach h.M. Grundrechtsbindung und keine Grundrechtsberechtigung (BVerfGE 45, 63 – Stadtwerke Hameln)
– bei sog. gemischtwirtschaftlichen Unternehmen Grundrechtsbindung des staatlichen Teils
– BVerfGE 128, 226 (Ls. 1) – Fraport: bei von der öffentlichen Hand beherrschten gemischtwirtschaftlichen Unternehmen Grundrechts-bindung des gesamten Unternehmens
68
Der Staat als Grundrechtsverpflichteter
69
• Sonderfall: Großkirchen – Status: Körperschaften des öffentlichen Rechts – Großkirchen sind ‣ Grundrechtsträger im innersten geistlichen Aufgabenkreis ‣ Grundrechtsverpflichtete bei der Ausübung staatlicher
Hoheitsgewalt (Friedhofsverwaltung, Kirchensteuern) • Sonderfall: Europarecht
– Modifikation des grundrechtlichen Schutzniveaus durch den Abschluß völkerrechtlicher Verträge
– Unterschreitung des deutschen Grundrechtsstandards durch Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen möglich (Grenze: Art. 79 III GG, vgl. Art. 23 GG)
– Doppelfunktion der deutschen Vertreter im Ministerrat
Der Staat als Grundrechtsverpflichteter
70
• Grundsatz: Privatpersonen sind grundrechtsberechtigt, nicht grundrechtsverpflichtet; daher keine unmittelbare Drittwirkung von Grundrechten
• Ausnahme: Art. 9 III 2 GG • Aber: mittelbare Drittwirkung • Besonderheit bei sog. Beliehenen, die als natürliche oder
juristische Personen mit der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben betraut sind
• Grundrechtsbindung i.R.v. Verwaltungshandeln in Handlungs- und Organisationsformen des Privatrechts
Privatpersonen und Personen des Privatrechts als Grundrechtsverpflichtete
71
Der Schutz der Grundrechte
• Als Teil des GG werden auch die Grundrechte über den Vorrang der Verfassung geschützt
• Eingriffsschutz über Schranken-Schranken • Besteht ein Schutz vor Abschaffung?
– Art. 79 III GG schützt nur Art. 1 und 20 GG – Schutz über Menschenwürde-Gehalt der
Grundrechte? – Art. 19 II GG geht im wesentlichen im
Verhältnismäßigkeitsprinzip auf
72
• Grundrechtskonkurrenz – lex specialis-Regel gilt nur zwischen speziellen und
allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsgrundrechten – bei echter Grundrechtskonkurrenz (Schutzbereich zweier
spezieller Grundrechte ist eröffnet) wird auf das sachlich einschlägigere zurückgegriffen
• Grundrechtskollisionen – Freiheitsbereiche grundrechtsberechtigter Bürger kollidieren
• Grundrechtskumulation – Grundrechtsschutz erfährt keine Steigerung aufgrund der
Einschlägigkeit mehrerer Grundrechte
Grundrechtskonkurrenzen, -kollisionen, -kumulationen
73
Grundrechte und Staatszielbestimmungen
Bundesgrundrechte und Landesgrundrechte
• Art. 142 GG • Art. 31 GG
• soziale Grundrechte und Sozialstaat • Leistungsrechte
• Schutzbereich – persönlich – sachlich
• Beeinträchtigung des Schutzbereichs („Eingriff“) – klassischer Eingriffsbegriff – andere Beeinträchtigungen – sog. Grundrechtsverzicht
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Schrankenvorbehalt und Schranke – Grenzen der Einschränkbarkeit („Schranken-Schranken“),
insbesondere Verhältnismäßigkeit – Verfassungsmäßigkeit der Schranken-Anwendung im Einzelfall
74
Die Struktur der Grundrechtsprüfung
75
• auch „Grundrechtstatbestand“: zu prüfen ist, ob das Handeln des Grundrechtsträgers in den thematischen Einzugsbereich des jeweiligen Grundrechts fällt
• Schutzbereichseröffnung führt nicht automatisch zur Rechtfertigung von Eingriffen
• persönliche und sachliche Komponente • Beispielsfälle:
– Verkauf von Scherenschnitten in Fußgängerzone (Kunstfreiheit)
– Kürzung von Altersrenten um 10 % (Eigentumsfreiheit) – Warnung vor Fastfood-Produkten (McDonalds/Burger
King) – Tragen eines Kopftuches durch eine muslimische Lehrerin
(Religionsfreiheit)
Schutzbereich
76
• Klassischer Eingriffsbegriff – Finalität – Unmittelbarkeit – Rechtsförmigkeit – imperativer Gehalt
• Faktische/mittelbare Eingriffe – Eingriffe durch Realakte – Bsp.: Abhören von Telefonen durch den Staat – Problem: ab welcher Intensität sind solche Akte staatlichen
Eingriffen gleichzustellen? – jedenfalls ab einer gewissen Schwere bzw. bei
entsprechender Absicht ist die Eingriffsqualität zu bejahen
Beeinträchtigung des Schutzbereichs („Eingriff“)
77
• Grundrechtsschranke – formelles und materielles Recht als Beschränkung der Grundrechte
(„Schranke“) – als Rechtsgrundlage der Schranke fungieren Schrankenvorbehalte
• explizite Schrankenvorbehalte • verfassungsimmanente Schrankenvorbehalte
• Schranken-Schranke – Verhältnismäßigkeit
• Legitimer Zweck • Geeignetheit • Erforderlichkeit • Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne/Angemessenheit
– Weitere Verfassungsbestimmungen (bspw. Art. 19 I, II GG)
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Selbst dem Wortlaut nach schrankenlos gewährleistete Grundrechte sind mit
Blick auf die Gemeinwohlver-träglichkeit der Grundrechtsausübung
einschränkbar !Begrenzungen erfolgen durch !
• kollidierende Grundrechte Dritter • Rechtswerte von Verfassungsrang
78
(explizite) Schrankenvorbehalte implizite/verfassungsimmanente Schranken
Grundrechtsschranken Grundrechte sind im Hinblick auf die Gemeinwohlverträglichkeit der
Grundrechtsausübung nicht grenzen- bzw. schrankenlos, sondern einschränkbar
einfache Gesetzes- vorbehalte
qualifizierte Gesetzes-vorbehalte
Einfache Gesetzesvorbehalte (Eingriff durch Gesetz oder auf
Grund eines Gesetzes)
Qualifizierte Gesetzesvorbehalte (Eingriff nur unter bestimmten Voraussetzungen, zu bestimmten
Zwecken oder mit bestimmten Mitteln)
Art. 2 I GG („soweit er nicht ... gegen die verfassungsmäßige Ordnung ...
verstößt“)
Art. 5 II GG (besondere Bedeutung der „allgemeinen Gesetze“ sowie „Schutz der Jugend“ und
„Recht der persönlichen Ehre“)
Art. 2 II 3 GG („In diese Rechte darf nur auf Grund
eines Gesetzes eingegriffen werden.“)
Art. 6 III GG („wenn die Erziehungsberechtigten
versagen“ oder „die Kinder ... zu verwahrlosen drohen“)
Art. 8 II GG („durch Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes“)
Art. 10 II 2 GG (Beschränkungen zum „Schutze der
freiheitlichen demokratischen Grundordnung“)
79
Gesetzesvorbehalte
80
Einfache Gesetzesvorbehalte (Eingriff durch Gesetz oder auf
Grund eines Gesetzes)
Qualifizierte Gesetzesvorbehalte (Eingriff nur unter bestimmten
Voraussetzungen, zu bestimmten Zwecken oder mit bestimmten Mitteln)
Art. 10 II 1 GG („auf Grund eines Gesetzes“)
Art. 11 II GG („ausreichende Lebensgrundlage nicht
vorhanden“, „besondere Lasten“, „Abwehr einer drohenden Gefahr“)
Art. 12 I 2 GG („kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt
werden“)
Art. 13 II (Durchsuchungen), Art. 13 III-V (akustische Überwachung),
Art. 13 VII GG (gemeine Gefahr, Lebensgefahr oder dringende Gefahr)
Gesetzesvorbehalte
81
Gesetzesvorbehalte
Einfache Gesetzesvorbehalte (Eingriff durch Gesetz oder auf Grund eines
Gesetzes)
Qualifizierte Gesetzesvorbehalte (Eingriff nur unter bestimmten
Voraussetzungen, zu bestimmten Zwecken oder mit bestimmten
Mitteln)
Art. 14 I 2 GG („Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt.“)
Art. 14 III, 15 GG (Gesetz, „das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt“)
Art. 16 I 2, 1. Hs. GG: („nur auf Grund eines Gesetzes ... eintreten“)
Art. 16 I 2, 2. Hs. GG („gegen den Willen des Betroffenen nur dann eintreten, wenn der Betroffene dadurch nicht staatenlos
wird“)
Weitere grundrechtliche Gesetzesvorbehalte: Art. 12a GG (Einschränkung der Berufsfreiheit durch Dienstverpflichtung), Art. 17a GG (Einschränkung der aufgezählten Grundrechte bei Soldaten). !Andere verfassungsrechtliche Rechtfertigungsgründe für Eingriffe: Art. 9 II, 18 GG (Vereinigungsverbot, Grundrechtsverwirkung). !Außerdem: Vorbehaltlose Grundrechte (z.B. Art. 4 I, II GG = Glaubens-, Gewissens-, Bekenntnis- und Religions-freiheit; Art. 5 III 1 GG = Freiheit der Kunst und der Wissenschaft, Art. 8 I = Versammlungsfreiheit). Insoweit gelten die immanenten Schranken, die durch Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte (st. Rspr. seit BVerfGE 28, 243 [261]) gezogen sind. Immanente Schranken sind entweder durch den Verfassungstext selbst ausdrücklich aufgezeigt (Art. 5 III 2 GG: „Die Freiheit der Lehre entbindet nicht von der Treue zur Verfassung“) oder ergeben sich aus der Ausgleichsbedürftigkeit unterschiedlicher Freiheitsansprüche und der Vermittlung mit Gemeinwohlbelangen. 82
Gesetzesvorbehalte
83
Die Struktur der Grundrechtsprüfung
Verhältnismäßig- keitsgrundsatz
(Angemessenheit)
Schutzbereich
Verfassungs- rechtliche
Rechtfertigung: Schranken
Eingriff
Verfassungs- rechtliche
Rechtfertigung: Schranken-Schranken
Sachverhalt
Kunstfreiheit (Art. 5 III GG)
vorbehaltlosesGrundrecht
(kollidierendes Verfassungs-
recht)
behörd- liches Verbot
Verhältnismäßig- keitsgrundsatz
(Erforderlichkeit)
Scheren- schnitte
Eigentum (Art. 14 I GG) GesetzGesetz Rechtsstaatsprinzip
(Vertrauensschutz)Renten
Berufsfreiheit (Art. 12 I GG)
Gesetz bzw. „aufgrund eines
Gesetzes“
Realakt(Warnung)
Verhältnismäßig- keitsgrundsatz
(Erforderlichkeit)
Fast-Food- Warnung
Religions- freiheit
(Art. 4 I, II GG)
vorbehaltloses GrundrechtGesetzKopftuch
84
Zweiter Teil: Die Einzelnen Grundrechte
A. Spezielle Freiheitsrechte
85
I. Gesellschaftliche Kommunikation
86
Art. 5 I GG
• Art. 5 I GG umfaßt die !
– Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 I 1 1. Hs. GG) – Informationsfreiheit (Art. 5 I 1 2. Hs. GG) – Pressefreiheit (Art. 5 I 2 1. Variante GG) – Rundfunkfreiheit (Art. 5 I 2 2. Variante GG) – Filmfreiheit (Art. 5 I 2 3. Variante GG)
87
– zunächst alle Werturteile • dies sind Aussagen, die – anders als Tatsachenbehauptungen
– nicht dem Beweis zugänglich sind, sondern ein Urteil über Sachverhalte, Ideen oder Personen enthalten
• unabhängig von ihrem Inhalt – ferner Tatsachenbehauptungen
• ausgeschlossen werden nach dem BVerfG nur bewußt unwahre Tatsachenbehauptungen
– gemischte Äußerungen sind Meinungen, wenn sie durch die bewertenden Elemente geprägt werden
– geschützt ist hierbei jede Form der Meinungsäußerung oder -verbreitung
Meinungsfreiheit – Schutzbereich
88
• bspw. – Sanktionen – Inhaltskontrolle – Regelungen von Zeit und Ort – Regelungen von Art und Weise – Briefzustellungsverzögerungen
• auch faktische Beeinträchtigungen, sofern sie ein gewisses Gewicht aufweisen – bspw. heimliches Abhören von Gesprächen
Meinungsfreiheit – Eingriff
Jedes Verbot, jede Beeinträchtigung der
Meinungsäußerung oder -verbreitung
Jedes Gebot der Meinungsäußerung oder
-verbreitung
• qualifizierter Gesetzesvorbehalt in Art. 5 II GG • Schrankentrias „allgemeine Gesetze“, „gesetzliche Bestimmungen
zum Schutze der Jugend“ und „Recht der persönlichen Ehre“ • allgemeine Gesetze: Gesetze, „die ‚nicht eine Meinung als solche
verbieten, die sich nicht gegen die Äußerung einer Meinung als solche richten‘, die vielmehr ‚dem Schutz eines schlechthin, ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung, zu schützenden Rechtsgutes dienen‘, dem Schutze eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat“ (BVerfGE 7, 198 [209 f.] – Lüth)
• insofern kombiniert das BVerfG Sonderrechtslehre und Abwägungslehre
• Jugendschutz • Schutz der Ehre: typischerweise wird der Ehrschutz über
§ 185 StGB und damit bereits auf der Grundlage des Schrankenvorbehalts der „allgemeinen Gesetze“ gewährleistet 89
Meinungsfreiheit – verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Schranke
90
• Art. 5 I 3 GG („Eine Zensur findet nicht statt“) ist kein weiteres Grundrecht, sondern spezielle Schranken-Schranke
• Verboten ist mithin die Vorzensur (also ein Verfahren, vor dessen Abschluß ein Werk nicht veröffentlicht werden darf) durch den Staat
• im übrigen: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz • „Wechselwirkungslehre“ als besondere Ausprägung
des Verhältnismäßigkeitsprinzips (BVerfGE 7, 198 [208 f.])
Meinungsfreiheit – verfassungsrechtliche Rechtfertigung: Schranken-Schranke
91
BVerfGE 124, 300 – Wunsiedel
Ls. 1:„§ 130 Abs. 4 StGB ist auch als nichtallgemeines Gesetz mit Art. 5 Abs. 1 und 2 GG vereinbar. Angesichts des sich allgemeinen Kategorien entziehenden Unrechts und des Schreckens, die die nationalsozialistische Herrschaft über Europa und weite Teile der Welt gebracht hat, und der als Gegenentwurf hierzu verstandenen Entstehung der Bundesrepublik Deutschland ist Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für Bestimmungen, die der propagandistischen Gutheißung der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft Grenzen setzen, eine Ausnahme vom Verbot des Sonderrechts für meinungsbezogene Gesetze immanent.“ (Hervorhebung nicht i.O.)
Ls. 2:„Die Offenheit des Art. 5 Abs. 1 und 2 GG für derartige Sonderbestimmungen nimmt den materiellen Gehalt der Meinungsfreiheit nicht zurück. Das Grundgesetz rechtfertigt kein allgemeines Verbot der Verbreitung rechtsradikalen oder auch national-sozialistischen Gedankenguts (Hervorhebung nicht i.O.) schon in Bezug auf die geistige Wirkung seines Inhalts.“
92
• Die Informationsfreiheit gewährleistet das Recht, sich selbst aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten
• Zusammenhang mit Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK)
• Informationsquelle sind im weitesten Sinne alle Absender von Informationen
• Allgemein zugänglich ist eine Informationsquelle, die „geeignet und bestimmt ist, der Allgemeinheit, also einem individuell nicht bestimmbaren Personenkreis, Informationen zu verschaffen“ (BVerfGE 27, 71 [83] – Leipziger Volkszeitung)
• „Einen Unterschied zwischen in- und ausländischen Informationsquellen macht das Grundgesetz nicht. Allgemein zugänglich sind daher auch alle ausländischen Rundfunk-programme, deren Empfang in der Bundesrepublik Deutschland möglich ist.“ (E 90, 27 [32]; – Parabolantenne)
Informationsfreiheit
93
• Weiter Begriff der Presse: umfaßt sind alle zur Verbreitung an die Allgemeinheit bestimmten Druckerzeugnisse wie Zeitungen (inkl. der Anzeigenteile), Zeitschriften, Bücher, Flugblätter, Handzettel, Aufkleber, Plakate, etc.
• keine Differenzierung nach Qualität; auch Werbung, Statistiken, Börsenwerte etc.
• Allgemeinheit meint einen unbestimmten Adressatenkreis
• Geschützt sind auch die Tätigkeiten im Vorfeld der Verbreitung, v.a. also die Informationsbeschaffung
• „äußere“ und „innere“ Pressefreiheit
• Verhältnis zu Art. 5 I 1 GG: Inhalte sind im Rahmen der Pressefreiheit irrelevant
Pressefreiheit
94
• geschützt sind alle mit der Veranstaltung von Rundfunk-programmen zusammenhängende Tätigkeiten
• Hörrundfunk und Fernsehrundfunk, Kabel, Internet und digitales Fernsehen
• Kern der Rundfunkfreiheit ist die umfassende Programm-freiheit
• ferner geschützt sind auch sämtliche Organisationstätigkeiten und eine ausreichende Finanzierung („Grundversorgung“)
• wie bei der Pressefreiheit werden die Inhalte allein über Art. 5 I 1 1. Hs. GG geschützt
• Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (Ausnahmetrias) und Privatanbieter als Grundrechtsträger („duales System“)
• „Sondersituation“: Grundrechtsberechtigung und -verpflichtung
Rundfunkfreiheit
95
• Filme sind Kommunikationsmedien, bei denen ein chemisch-optischer Bild-(Ton-)Träger vorgeführt wird
• Filmbegriff ist neuen Techniken gegenüber ebenfalls entwicklungsoffen
• inhaltlich nicht nur dokumentarische Filme sondern bspw. auch Spielfilme
• geschützt sind die Herstellung und Verbreitung sowie das Abspielen in der Öffentlichkeit (nicht: Abspielen im Fernsehen [Rundfunkfreiheit])
• bei Nichtvorführung in der Öffentlichkeit auf Allgemeinheit als Adressat abstellen; ausgeschieden werden Filme zum reinen Privatgebrauch
• Grundrechtsträger sind gemäß der allgemeinen Regelungen alle natürlichen Personen sowie die juristischen Personen des Privatrechts
Filmfreiheit
96
• persönlich: Deutschengrundrecht • sachlich: Versammlungsbegriff. Merkmale sind:
– zwei, drei oder mehr Personen – gemeinsame Zweckverfolgung von gewisser Dauer
(Abgrenzung zur Ansammlung) – friedlich und ohne Waffen – zur Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (str.) – nicht: rein kommerzielle/unterhaltende Veranstaltungen
(str.), z.B. Volksfeste, Loveparade • im übrigen ist die Art des Zwecks irrelevant • Folge: Vorbereitung, Form und Ablauf sind umfassend
geschützt • Form: auch Schweigemarsch, Mahnwache, Menschenkette,
Sitzblockade
Versammlungsfreiheit – Schutzbereich
Beide Versammlungen können öffentlich oder nichtöffentlich sein
97
Versammlungsfreiheit – Schranke
Versammlungen unter freiem Himmel, Art. 8 II GG
Versammlungen in „geschlossenen Räumen“
(entscheidendes Kriterium: seitliche Begrenzung des Raumes)
unterscheide
Beschränkung durch Gesetz,
bspw. • VersammlungsG
bzw. BayVersG • BannmeilenG • nicht: BayPAG
Beschränkung aufgrund eines
Gesetzes
Umkehrschluß aus Art. 8 II GG: Ver-sammlungen in geschlossenen Räumen
sind vorbehaltlos gewährleistet
Es gelten die verfassungsimmanen-ten Schranken, konkretisiert bspw. durch Vorschriften des VersammlG
• Spontanversammlung; auch „flashmobs“ (Anmeldung ist nicht möglich) • Eilversammlung (Anmeldung ist nicht rechtzeitig möglich) • Lösung: § 14 I VersG ist dahingehend verfassungskonform aus- zulegen, daß bei einer
– Spontanversammlung eine Anmeldepflicht entfällt und – bei einer Eilversammlung eine kürzere Anmeldefrist ausreicht
98
§ 14 Versammlungsgesetz (1) Wer die Absicht hat, eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug zu veranstalten, hat dies spätestens 48 Stunden vor der Bekanntgabe der zuständigen Behörde unter Angabe des Gegen-standes der Versammlung oder des Aufzuges anzumelden. (2) In der Anmeldung ist anzugeben, welche Person für die Leitung der Versammlung oder des Aufzuges verantwortlich sein soll.
Versammlungsfreiheit – Schranken-Schranke
99
• § 2 I VereinsG: ein Verein ist demnach „[…] – jede Vereinigung, zu der sich eine – Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen – für längere Zeit – zu einem gemeinsamen Zweck – freiwillig zusammengeschlossen und einer organisierten
Willensbildung unterworfen hat.“
• negativer Schutzbereich – Schutz vor privatrechtlichen Zwangszusammenschlüssen – Schutz vor öffentlich-rechtlichen
Zwangszusammenschlüssen (str.)
• Lehre vom „Doppelgrundrecht“ (str.) – Individualgrundrecht und zugleich – Kollektivgrundrecht
Art. 9 I GG – Schutzbereich
100
• Art. 9 I GG zunächst vorbehaltlos gewährleistet • Art. 9 II GG als spezielle Schranke
– die dortigen Verbotsgründe sind alternativ („oder“) und abschließend
– „Strafgesetze“ – „verfassungsmäßige Ordnung“ – „Gedanke der Völkerverständigung“
• im übrigen gelten aufgrund der vorbehaltlosen Gewähr-leistung des Art. 9 I GG zusätzlich die verfassungs-immanenten Schranken, die in diesem Rahmen durch den einfachen Gesetzgeber konkretisiert werden können
• Grenze: Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Art. 9 I GG – verfassungsrechtliche Rechtfertigung
101
• Menschenrecht mit „besonderem sozialen Qualifika-tionsmerkmal“
• Vereinigungsbegriff – Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen: Modifikation
durch weitere Anforderungen der Gegnerfreiheit, Gegnerunab-hängigkeit, Überbetrieblichkeit, Durchsetzungsfähigkeit, Tariffähigkeit und Kampfbereitschaft
– für längere Zeit – einer organisierten Willensbildung unterworfen – zu einem gemeinsamen Zweck: Modifikation in Richtung eines
spezifischen Vereinigungszwecks, der in der „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ besteht
– freiwillig zusammengeschlossen
• Charakter als „Doppelgrundrecht“ (str.) • Schutz aller „koalitionsspezifischen Verhaltensweisen“
Art. 9 III GG – Schutzbereich
102
• Schranke – Übertragung der Schranken des Art. 9 II auf Art. 9 III
GG – im übrigen: verfassungsimmanenten Schranken, also
insbesondere die individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit anderer Grundrechtsträger
– zur Konkretisierung ist in diesem Bereich der Parlaments-vorbehalt zu beachten
• Schranken-Schranke – eine spezifische Grenze bildet zunächst Art. 9 III 2 GG – im übrigen: Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
Art. 9 III GG – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
• entgegen Wortlaut einheitlicher Schutzbereich der Berufsfreiheit von der Entscheidung für einen Beruf, über Ausübung, Wechsel bis zur Beendigung
• Berufsbegriff ist weit und einer ständigen Weiterentwicklung unterworfen. Keine staatliche Fixierung, autonome Definition
• Merkmale: – Tätigkeit (selbständig wie unselbständig) – von gewisser Dauer (nicht nur einmalig, daher auch Probe-/
Ferienjob usw.; ggf. auf entsprechende Absicht abstellen) – zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage (auch
Nebentätigkeit als Beitrag zum Lebensunterhalt; daher nicht Hobby)
– die nicht verboten oder nicht gemeinschädlich ist (Rauschgifthändler, Auftragsmörder; nicht aber: Schwarzarbeiter [nur steuer-/sozialversicherungs-rechtliche Folgen], Prostituierte [§ 1 ProstG; vormals anders]) 103
Art. 12 I GG – Schutzbereich
104
• Eingriffe auf drei verschiedenen Stufen möglich (sog. Dreistufentheorie, BVerfGE 7, 377 – Apotheken-Urteil):
– Berufsausübungsregelungen („Ausübung“/„Wie“); Modalitäten der Berufsausübung
– subjektive Zulassungsvoraussetzungen („Wahl“/„Ob“); Wahl eines Berufs wird an persönliche Eigenschaften, Fähigkeiten, Kenntnisse oder Abschlüsse geknüpft
– objektive Zulassungsvoraussetzungen („Wahl“/„Ob“); Wahl eines Berufs hängt von objektiven, dem Einfluß der Person und ihrer Qualifikation unabhängiger Kriterien ab
• Erfordernis einer „berufsregelnden Tendenz“ bei mittelbaren Eingriffen (vgl. BVerfGE 121, 317 [345f., Rn. 94]).
Art. 12 I GG – Eingriff
105
• Schrankeeinfacher und einheitlicher Gesetzesvorbehalt in Art. 12 I 2 GG für den gesamten Schutz-bereich
• Schranken-Schranke mit ansteigender Eingriffsintensität korres-pondiert ein steigendes Rechtfertigungsniveau zur Legitimation von Eingriffen; beachte hierzu die 3-Stufen-Theorie
Art. 12 I GG – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
„6. Das Grundrecht soll die Freiheit des Individuums schützen, der Regelungsvorbehalt ausreichenden Schutz der Gemein-schaftsinteressen sicherstellen. Aus der Notwendigkeit, beiden Forderungen gerecht zu werden, ergibt sich für das Eingreifen des Gesetzgebers ein Gebot der Differenzierung etwa nach folgenden Grundsätzen:
a) Die Freiheit der Berufsausübung kann beschränkt werden, soweit vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls es zweck-mäßig erscheinen lassen; der Grundrechtsschutz beschränkt sich auf die Abwehr in sich verfassungswidriger, weil etwa übermäßig belastender und nicht zumutbarer Auflagen.
b) Die Freiheit der Berufswahl darf nur eingeschränkt werden, soweit der Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter es zwingend erfordert. Ist ein solcher Eingriff unumgänglich, so muß der Gesetzgeber stets diejenige Form des Eingriffs wählen, die das Grundrecht am wenigsten beschränkt.
106
Dreistufentheorie (BVerfGE 7, 377 [378 f. – Ls. 6])
c) Wird in die Freiheit der Berufswahl durch Aufstellung bestimmter Voraussetzungen für die Aufnahme des Berufs eingegriffen, so ist zwischen subjektiven und objektiven Voraussetzungen zu unter-scheiden: für die subjektiven Voraussetzungen (insbesondere Vor- und Ausbildung) gilt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in dem Sinn, daß sie zu dem angestrebten Zweck der ordnungsmäßigen Erfüllung der Berufstätigkeit nicht außer Verhältnis stehen dürfen. An den Nachweis der Notwendigkeit objektiver Zulassungsvoraussetzungen sind besonders strenge Anforderungen zu stellen; im allgemeinen wird nur die Abwehr nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschafts-gut diese Maßnahme rechtfertigen können.
d) Regelungen nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG müssen stets auf der ‚Stufe‘ vorgenommen werden, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt; die nächste ‚Stufe‘ darf der Gesetzgeber erst dann betreten, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargetan werden kann, daß die befürchteten Gefahren mit (verfassungsmäßigen) Mitteln der vorausgehenden ‚Stufe‘ nicht wirksam bekämpft werden können.“
107
Dreistufentheorie (BVerfGE 7, 377 [378 f. – Ls. 6])
108
Dreistufentheorie und Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 846-861)
Verhältnismäßigkeit Dreistufentheorie (BVerfGE 7, 377)
Legitimer Zweck: Feststellung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks
Legitimer Zweck: Feststellung des vom Gesetzgeber verfolgten Zwecks
Geeignetheit: es muß möglich sein, daß das Mittel den Zweck fördert
Geeignetheit: es muß möglich sein, daß das Mittel den Zweck fördert
Erforderlichkeit: es darf kein gleich wirksames, milderes Mittel geben (Ein-schätzungsprärogative des Gesetzgebers)
Erforderlichkeit: 1. keine gleich wirksame Regelung auf
niedrigerer Eingriffsstufe: • Berufsausübungsregelung • Subjektive Zugangsbeschränkung • Objektive Zugangsbeschränkung 2. auch sonst kein gleich wirksames,
milderes Mittel auf derselben Eingriffsstufe
109
Verhältnismäßigkeit Dreistufentheorie (BVerfGE 7, 377)
Angemessenheit: die Beeinträchtigung durch das Mittel
darf zur Bedeutung des Zwecks nicht außer Verhältnis stehen (Güterabwägung)
Angemessenheit: innerhalb der Güterabwägung (Mittel-Zweck-Relation) bedarf es eines besonders qualifizierten Zwecks
• Berufsausübungsregelung:vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls
• Subjektive Zugangsbeschränkung:zwingendes Erfordernis zum Schutz besonders wichtiger Gemeinschaftsgüter
• Objektive Zugangsbeschränkung: Schutz überragend wichtiger Gemeinschafts-güter gegen nachweisbare oder höchstwahrscheinliche schwere Gefahren
Dreistufentheorie und Verhältnismäßigkeitsprüfung (vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 846-861)
110
• normgeprägtes Grundrecht • verfassungsrechtlicher Eigentumsbegriff
– zivilrechtliches Eigentum gemäß § 903 BGB – privatrechtliche vermögenswerte Rechte (Erbbaurechte,
Internet-Domain, Besitzrecht des Mieters) – Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb
(bspw. der Kundenstamm, nicht jedoch die günstige Lage neben einem Anziehungspunkt)
– sozialversicherungsrechtliche Positionen, sofern sie von dem Versicherten zu einem Großteil selbst erbracht wurden, ihm persönlich zugeordnet sind und der Sicherung seiner Existenz dienen (typischerweise Renten, Arbeitslosengeld und die entsprechenden Anwartschaften)
Art. 14 I GG – Schutzbereich
111
– nicht: das Vermögen als solches; außer bei sog. konfiskatorischer Besteuerung
– geschützt ist stets der Bestand des Eigentums; nicht geschützt sind bloße Umsatz-, Erwerbs- und Gewinnchancen
– ferner geschützt ist die Nutzung im Rahmen der Gesetze; beachte hier jedoch die Eröffnung „spezieller“ Schutzbereiche
• die Gewährleistung des Erbrechts – Recht des Erblassers, sein Vermögen zu vererben – Recht des Erben am ererbten Eigentum
Art. 14 I GG – Schutzbereich
112
Inhalts- und Schranken-
bestimmungen, Art. 14 I 2 GG
• Regelung des Um-fangs des Eigentums und des Erbrechts
• nach BVerfG abstrakt-generelle
Regelungen • Belassung des
Eigentums
Art. 14 GG – Eingriffe in Eigentum und Erbrecht
Enteignungen, Art. 14 III GG
• Entziehung konkre-ter Eigentumspositio-nen durch Gesetz oder aufgrund eines Ge-setzes • Legalenteignung (Ausnahme) und Administrativ-enteignung • Entzug des Eigen-tums für öffentliche Aufgaben
Sonstige, insb. enteignende und
enteignungsgleiche Eingriffe
• Konkretisierungen der Inhalts- und Schran-kenbestimmungen durch Judikative und Exekutive
• Merkmale: - Unmittelbarkeit - Sonderopfer - hinreichende
Intensität • Differenzierung über
Rechtmäßigkeit
113
Art. 14 GG – Enteignender und enteignungsgleicher Eingriff
• Richterrechtliche Erweiterung des durch das Amtshaftungsrecht gem. § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG gewährten Schutzes
• Entspringt dem Gedanken der Aufopferung (Art. 74, 75 PrALR [1794])
• Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff: gewährt eine angemessene Entschädigung (nicht zwingend volle Schadenskompensation wie nach § 249 BGB) für nicht-finale, rechtswidrige, hoheitliche und verschuldensunabhängige Eingriffe unter Berücksichtigung des Vorrangs des verwaltungsgerichtlichen Primärrechtsschutzes (§ 254 BGB)Z.B.:
– Gebäude wird rechtswidrig unter Denkmalschutz gestellt – Verkehrsunfall aufgrund Ampelversagens – Enteignung unter Ermangelung eines Entschädigungsgesetzes
114
Art. 14 GG – Enteignender und enteignungsgleicher Eingriff
• enteignender Eingriff: eine rechtmäßige hoheitliche Maßnahme führt bei einzelnen Betroffenen zu atypischen und unvorhergesehenen Nebenfolgen (sog. Sonderopfer), welche die Schwelle des enteignungsrechtlich Zumutbaren (sog. Opfergrenze) überschreiten. beachte: hier Ausschluß von Abwehransprüchen Z.B.:
– Geruchs-/Lärmbelästigung durch betriebliche Anlagen – Anliegergebrauch beeinträchtigende Straßenbaumaßnahmen
115
• Inhalts- und Schrankenbestimmungen erfolgen nach Art. 14 I 2 GG durch Gesetze – Modifikation des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit
aufgrund der Sozialbindung des Eigentums – einerseits also Beachtung der Sozialbindung – andererseits Beachtung der Bedeutung des Gutes für den
Eigentümer – ggf. Ausgleich durch finanzielle Entschädigungen, Härteklauseln
oder Übergangsregelungen – ausgleichspflichtige Inhaltsbestimmung
• Enteignungen erfolgen nach Art. 14 III 2 GG durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes – zum Wohl der Allgemeinheit gem. Art. 14 III 1 GG – unter Beachtung der „Junktimklausel“ gem. Art. 14 III 2 GG – unter gerechter Abwägung gem. Art. 14 III 3 GG
Art. 14 GG – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
116
• enteignende und enteignungsgleiche Eingriffe aufgrund von Anwendungs- und Vollzugsakten – Rechtfertigung hängt von der Verfassungsmäßigkeit der
zugrundeliegenden Regelungen ab – ferner ist die Ausübung eines möglicherweise gewährten
Ermessens zu überprüfen – enteignungsgleiche Eingriffe werden nicht durch
Entschädigungen nachträglich gerechtfertigt
• Institutsgarantie als Schranken-Schranke
Art. 14 GG – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
117
• Art. 136 ff. WRV stellen durch die Inkorporierung über Art. 140 GG vollgültige Teile des GG dar; sie bilden mit Art. 4 I, II GG ein „organisches Ganzes“ (BVerfG)
• einheitliches Grundrecht der Religions- (und Weltanschauungs-)freiheit
• Gewissensfreiheit und das Recht auf Kriegsdienstverweigerung • Abgrenzung zwischen Religion (transzendentaler Bezug, also
einen Glauben an eine überweltliche Macht, Gottheit oder Ähnliches) und
• Weltanschauung (Verzicht auf den transzendentalen Aspekt; umfassende, aber rein innerweltliche Weltdeutung)
• für die Bestimmung des Schutzbereichs spielt das Selbst-verständnis des Grundrechtsträgers die entscheidende Rolle
Art. 4 I, II GG – Schutzbereich
118
BVerfGE 19, 206 (216) – Kirchenbausteuer
„Das Grundgesetz legt durch Art. 4 Abs. 1, Art. 3 Abs. 3, Art. 33 Abs. 3 GG sowie durch Art. 136 Abs. 1 und 4 und Art. 137 Abs. 1 WRV in Verbindung mit Art. 140 GG dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf. Es verwehrt die Einführung staatskirchlicher Rechtsformen und untersagt auch die Privilegierung bestimmter Bekenntnisse“.
• individuelle Religions- und Weltanschauungsfreiheit – es wird die Freiheit gewährleistet, einen Glauben bzw. eine
Weltanschauung zu bilden, zu haben („forum internum“), zu äußern und zu verbreiten („forum externum“)
– Besonderheiten gelten iRv. Art. 4 GG bezüglich Minderjährigen: im Verhältnis Erziehungsrecht der Eltern und Glaubensfreiheit des Jugendlichen gilt ausweislich des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung eine gestaffelte Regelung: ab 12. Lebensjahr gegen den Willen des Kindes keine Erziehung in einem anderen Bekenntnis als bisher; ab 14. Lebensjahr Alleinverantwortlichkeit des Kindes
• kollektive Religions- und Weltanschauungsfreiheit – auch kleine religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften – Grundrechtsberechtigung trotz Organisation als
Körperschaften des öffentlichen Rechts • sämtliche kultischen Handlungen sowie rituelle Verhaltens-
weisen sind geschützt • geschützt ist auch die negative Glaubensfreiheit 119
Art. 4 I, II GG – Schutzbereich
120
• Gewissen ist eine moralische Haltung, die dem Einzelnen Handlungen oder Normen verpflichtend vorgibt – Selbstverständnis des Gewissensträgers ist hierfür entscheidend – zur Reichweite der geschützten Tätigkeiten gilt das zur
Religionsfreiheit Gesagte – die Gewissensfreiheit ist nur als Individualgrundrecht ausgelegt – der Gewissensfreiheit kommt eine Auffangfunktion zu:
Handlungen, die also weder eindeutig der Religions- noch der Weltanschauungsfreiheit unterfallen, können u.U. der Gewissens-freiheit zugeordnet werden
• Bsp.: – Totalverweigerer – Befehlsverweigerung des Soldaten – Weigerung, die Stromrechnung wegen der Produktion von
Atomstrom zu bezahlen (vgl. AG Stuttgart NJW 1979, 2047 und BVerfG NJW 1980, 1093)
– Steuerzahlung
Art. 4 I, II GG – Schutzbereich
Sämtliche Regelungen oder Einschränkungen geschützter Tätigkeiten wie bspw.: – Kruzifix in Klassenraum: BVerfGE 93, 1 (18) – Verbot des Anbaus und Konsums von Cannabis:
BVerwGE 112, 314 (316 ff.) – Einschränkung des Schächtens: BVerfGE 104, 337 (345 ff.) – Nichteinstellung einer kopftuchtragenden Lehrerin in den
Schuldienst: BVerfGE 108, 282 (294) – Kopftuch; vgl. auch jüngst BVerfG v. 27. Jan. 2015, 1 BvR 471/10 – Kopftuch II
– Teilnahme am koedukativen Sportunterricht unter Verstoß gegen islamische Bekleidungsvorschriften: BVerwGE 94, 82 (89 f.)
121
Art. 4 I, II GG – Eingriff
122
• Art. 4 I, II GG enthält keinen ausdrücklichen Schrankenvorbehalt
• das Grundrecht wurde bewußt vorbehaltlos gewährleistet, daher auch keine Möglichkeit der Übertragung anderer Schrankenklauseln aus Art. 2 I oder 5 II GG
• daher Rückgriff auf die verfassungsimmanenten Schranken erforderlich
• beachte: auch bei vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten gilt (erst recht) der Vorbehalt des Gesetzes
Art. 4 I, II GG – verfassungsrechtliche Rechtfertigung
123
• Art. 4 III GG ist lex specialis zu Abs. 1 u. 2 • Dienst mit der Waffe ist hierbei sowohl die eigene
Waffenanwendung als auch die Unterstützung fremder Waffenanwendungen
• in Kriegs- wie Friedenszeiten • zum Gewissensbegriff selbst gilt das zu Art. 4 I, II GG
Gesagte • Gewissensentscheidung gem. Art. 4 III GG muß sich gegen
„das Töten im Kriege schlechthin“ richten, so daß situationsbedingte Kriegsdienstverweigerungen nicht anerkannt werden
• bzgl. der Gewissensfreiheit ist Art. 12a II 1 GG Eingriffsermächtigung, während S. 2 u. 3 Schranken-Schranken darstellen
Art. 4 III GG
124
• BVerfGE 30, 173 (188 f.) – Mephisto: „objektiver“ Kunstbegriff: „Das Wesentliche der künstlerischen Betätigung ist die freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen, Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache zu unmittelbarer Anschauung gebracht werden“
• an anderer Stelle nutzt das BVerfG den von ihm als „formal“ bezeich-neten Kunstbegriff; demnach sei jedes Kunstwerk einem bestimmten Werktyp zuzuordnen, also bspw. Malen, Bildhauen, Theater
• BVerfGE 67, 213 (225) – Anachronistischer Zug: „Unmöglichkeit, Kunst generell zu definieren“
• Differenzierung in Werkbereich (also sämtliche Vorbereitungshand-lungen wie die Beschaffung, die Vorbereitung und das Üben) und Wirkbereich (der eigentliche Bereich der Darbietung, Vervielfältigung etc. des Kunstwerkes)
• geschützt ist nicht nur der berufsmäßige Künstler • ferner geschützt sind die an der Verbreitung u.ä. beteiligten
natürlichen und juristischen Personen
Art. 5 III GG (Kunstfreiheit) – Schutzbereich
125
• Eingriff – sämtliche Verbote – Sanktionen – staatliches Kunstrichtertum – aber auch faktische Beeinträchtigungen
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – keine Übertragung der Schrankenklauseln anderer
Grundrechte – als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht sind
also nur die verfassungsimmanenten Schranken zu beachten
Art. 5 III GG (Kunstfreiheit) – Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung
126
Art. 5 III GG (Wissenschaftsfreiheit)
Forschung Lehre
Wissenschaft
127
• BVerfGE 35, 79 (113): Wissenschaft ist jede Tätigkeit, die „nach Inhalt und Form als ernsthafter und planmäßiger Versuch zur Ermittlung der Wahrheit anzusehen ist“
• Schwerpunkt an den Hochschulen (hier sind Professoren, Assistenten und [eingeschränkt] Studenten geschützt)
• Staatliche Hochschulen sind als juristische Personen des öffentlichen Rechts grundrechtsberechtigt
• private Hochschulen • auch die Wissenschaftler in staatlichen und privaten
Forschungseinrichtungen • Art. 5 III 2 GG begrenzt für den Bereich der Lehre den
Schutzbereich
Art. 5 III GG (Wissenschaftsfreiheit) – Schutzbereich
128
• Eingriff – sämtliche Verbote – staatliche Einflußnahme durch Steuerung und
Kontrolle („Wissenschaftsrichtertum“) – auch die Überbürdung von Folgen- und
Forschungsverantwortung • verfassungsrechtliche Rechtfertigung
– hier gilt das oben zur Kunstfreiheit Gesagte: ‣ keine Übertragung der Schrankenklauseln
anderer Grundrechte ‣ als vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht
sind also nur die verfassungsimmanenten Schranken zu beachten
Art. 5 III GG (Wissenschaftsfreiheit) – Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung
129
• Art. 6 I GG: – Grundrecht und Institutsgarantie – Diskriminierungsverbot – Schutz- und damit zugleich Gesetzgebungsauftrag
• Art. 6 II GG: – S. 1: Recht und Pflicht („Pflichtrecht“; „fiduziarisches“ Recht) – S. 2: qualifizierter Gesetzesvorbehalt
• Art. 6 III GG: – Schranken-Schranke
• Art. 6 IV GG: – Diskriminierungsverbot – Schutz- und damit zugleich Gesetzgebungsauftrag
• Art. 6 V GG: – Diskriminierungsverbot – unmittelbarer Gleichbehandlungsanspruch
Art. 6 GG
130
• „Ehe“: – staatlicher Mitwirkungsakt: Eheschließung vor einem
Standesbeamten – grundsätzliche Unauflöslichkeit: nicht ausnahmslos, aber
doch wenigstens auf lebenslange Dauer gerichtet – verschiedengeschlechtliche Gemeinschaft: insofern
besonderer Schutz der Lebensgemeinschaft von Mann und Frau (zunehmend streitig)
• geschützt sind sämtliche „Stationen“ einer Ehe: eigene Wahl des Partners, eheliches Zusammenleben, Scheidung
• „Familie“: – Beziehungsverhältnis zwischen Eltern und Kindern (weiter
Schutzbereich)
Art. 6 GG – Schutzbereich
131
• Eingriff – nicht jede Ehe und Familien bezogene Regelung stellt einen
Eingriff in den Schutzbereich dar – diese definierenden Regelungen des einfachen Rechts
sind am Ehe- und Familienbegriff zu messen und können so ggf. in einen Eingriff „umschlagen“
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Ehe und Familie sind vorbehaltlos gewährleistet;
definierende Regelungen von Ehe und Familie unterliegen der Kontrolle über die Institutsgarantie als Schranken-Schranke
– Elternrecht unterliegt in Abs. 2 S. 2 einem qualifizierten Schrankenvorbehalt
– Art. 6 III GG als Schranken-Schranke
Art. 6 GG – Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung
132
• Art. 7 I GG: – staatlicher Erziehungs- und Bildungsauftrag – Schulaufsicht des Staates i.S.e. „Schulverantwortung“
• Art. 7 II GG: – Grundrecht der Erziehungsberechtigten
• Art. 7 III GG: – Institutsgarantie und Leistungsrecht – Abwehrrecht der Religionsgemeinschaften
• Art. 7 IV GG: – Gründungs- und Abwehrrecht – Schutz- und damit zugleich Gesetzgebungsauftrag – Leistungsgrundrecht
• Art. 7 V GG: – repressives Verbot mit Genehmigungsvorbehalt
• Art. 7 VI GG: – Verbot von „Vorschulen“
Art. 7 GG
133
• „Schule“: – Bildungseinrichtung, in der dauerhaft und programmatisch
zusammenhängend verschiedene Fächer unterrichtet werden – Vorhalten und Organisation eines leistungsfähigen Schulwesens
• „allgemeine Schulpflicht“: – verfassungsmäßige Einschränkung des Elternrechts aus Art. 6 I
GG
• „Religionsunterricht“ i.S.v. Abs. 2, 3: – Unterricht über die Religion, der in Übereinstimmung mit den
Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird – Religionsunterricht als Pflichtfach, Abs. 3 – Religionserziehungsrecht der Erziehungsberechtigten,
Abs. 2 (nicht Grundrecht des Kindes, vgl. hierfür Art. 4 I, II GG)
Art. 7 GG – Schutzbereiche
134
• Eingriff – in das Religionserziehungsrecht der Erziehungsberechtigten
bei Pflicht zur oder Verweigerung der Teilnahme an einem bestimmten Religionsunterricht (Abs. 2)
– Streichung oder Erschwerung des Religionsunterrichts (Abs. 3) • verfassungsrechtliche Rechtfertigung
– der Religionsunterricht ist „staatlichem Schulrecht und staatlicher Schulaufsicht unterworfen“ (BVerfGE 74, 244 [251])
– kollidierende Grundrechte, insb. des Kindes (Art. 4 I, II GG und § 5 RelKErzG: ab dem 14. Lebensjahr)
Art. 7 GG – Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung bzgl. des Religionsunterrichts
135
• Schutzbereich: Wohnung – verfassungsrechtlicher Wohnungsbegriff – Privaträume (unstr.) – auch Betriebs- und Geschäftsräume (str.)
hier erfolgt jedoch Abstufung nach dem Grad der Verbindung zu einer eigentlichen Wohnung und dem Grad der öffentlichen Zugänglichkeit
• Eingriff – Durchsuchungen, Abs. 2 (Suche staatlicher Organe
nach etwas Verborgenem) – Lauschangriffe, Abs. 3-5 (Eindringen in die Wohnung
vermittels technischer Mittel) – sonstige Eingriffe und Beschränkungen, Abs. 7
(Betreten und Besichtigen zu anderen Zwecken als dem der Durchsuchung)
Art. 13 GG
136
• Durchsuchungen – Anordnung durch den Richter; Ausnahme bei Gefahr im Verzug – Durchführung in der gesetzlich festgelegten Form – inhaltliche Voraussetzungen für die Anordnung ergeben sich aus den
Spezialgesetzen • Lauschangriffe
– richterliche Anordnung – großer Lauschangriff (Abs. 3): auf bestimmte Tatsachen gestützter
Verdacht, daß jemand eine bestimmte besonders schwere Straftat begangen hat und Erforschung des SV auf andere Weise erschwert bzw. aussichtslosGrenze: Kernbereich privater Lebensgestaltung
– großer/kleiner Lauschangriff (Abs. 4/5): Maßnahmen nur noch zur Gefahrenabwehr, nicht mehr zur bloßen Gefahrenverhütung möglich
• sonstige Eingriffe – Ermächtigung in Gesetz/Rechtsverordnung/Satzung – Anforderungen an Bestimmtheit steigen mit Eingriffsintensität – i.ü. Verhältnismäßigkeitsprinzip
Art. 13 GG – verfassungsrechtliche Rechtfertigung
• Brief- und Fernmeldegeheimnis – Art und Weise der Übermittlung – Briefgeheimnis: geschützt sind Briefe, Päckchen, Postkarten – Fernmeldegeheimnis: körperlose Informationsübermittlung
• Postgeheimnis – hier geht es um den Übermittlungsträger
• Grundrechtsberechtigung – natürliche und juristische Personen – und zwar unabhängig von der Legalität der Nutzung der
Übermittlungsanlage bzw. der Übermittlungsdienste • Grundrechtsverpflichtung
– grundrechtsverpflichtet sind nicht die privaten Unternehmen, sondern allein staatliche Einrichtungen und Organe
– aber: Art. 10 GG kann eine Schutzpflicht entnommen werden, daß der Staat den Geheimnisschutz durch gesetzliche Regelungen gewährleistet 137
Art. 10 GG
138
• Eingriff – staatliche Stellen verschaffen sich ohne Einwilligung der Betroffenen
Kenntnis vom Inhalt der Kommunikation – Bsp.: Anzapfen des Telefons, Öffnen des Briefes
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – einfacher Gesetzesvorbehalt in Art. 10 II 1 GG – ausgefüllt insbesondere durch postrechtliche Vorschriften, die
Polizeigesetze, Strafgesetze, Strafvollzugsgesetze – die Einschränkung des Grundrechts muß im Lichte des Art. 10 I GG
erfolgen, insbesondere den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren – Art. 10 II 2 GG ist kein qualifizierter Vorbehalt, sondern besondere
Eingriffsermächtigung (G 10) – Beispiele:
– BVerfGE 124, 43 – Beschlagnahme von E-Mails – BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung
Art. 10 GG
139
• Schutzbereich – Leben
• biologisch-physische Existenz • Beginn: Befruchtung? Nidation? Geburt? • Ende: (Hirn-)Tod • nicht erfaßt ist der Suizid als die Entscheidung über das
eigene Leben; hier greift Art. 2 I GG
– Unversehrtheit • Schutz vor Beeinträchtigungen im biologisch-physischen
Sinn • Schutz auch vor psychischen Einwirkungen
Art. 2 II 1 GG (Leben, körperliche Unversehrtheit)
140
• Eingriff – Leben
• Todesschuß („finaler Rettungsschuß“) der Polizei • Pflicht zum Einsatz des Lebens in Bundeswehr, Feuerwehr,
Polizei • Euthanasie, nicht: Sterbehilfe
– Unversehrtheit • Menschenversuche • Zwangskastration, -sterilisation • Impfzwang • Blutentnahme
Art. 2 II 1 GG (Leben, körperliche Unversehrtheit)
141
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Art. 2 II 3 GG: S. 1 ist aufgrund eines Gesetzes
einschränkbar – jedenfalls bei intensiven Eingriffen allein durch ein formelles
Parlamentsgesetz – Art. 102, 104 I 2 GG als besondere Schranken-Schranken
• Schutzpflichten des Staates – den Staat trifft die Pflicht, sich schützend und fördernd vor
jedes menschliche Leben zu stellen – unstreitig: Übergriffe privater Dritter; streitig: Naturgewalten;
ungeklärt: nicht-deutscher staatlicher Stellen – von aktueller Bedeutung: PID, Luftsicherheitsgesetz,
Sterbehilfe
Art. 2 II 1 GG (Leben, körperliche Unversehrtheit)
142
• Schutzbereich – „habeas corpus“ – „Freiheit der Person“ meint (nur) körperliche
Bewegungsfreiheit – geschützt ist also die Freiheit, einen beliebigen Ort
aufzusuchen, zu verweilen und ihn anschließend wieder zu verlassen
• Eingriff (z.B.) – Vorladung – Festnahme – Freiheitsstrafe
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Beschränkung gemäß Art. 104 I GG durch formelles Gesetz – Freiheitsentziehung als besonders intensiver Eingriff; daher
besondere Anforderungen über Art. 104 II GG; vgl. hierzu etwa BVerfGE 128, 326 – Sicherungsverwahrung III
Art. 2 II 2 GG / Art. 104 GG
143
• Freizügigkeit meint die Freiheit, an jedem Ort der Bundesrepublik Aufenthalt und Wohnsitz zu nehmen („freier Zug“)
• Wohnsitz ist dabei eine ständige Niederlassung (§ 7 BGB), die Begründung eines Lebensmittelpunktes; jedenfalls ein nicht nur vorübergehendes Verweilen
• Aufenthalt im Gegensatz dazu ist ein Verweilen von einer gewissen Dauer, wohl mindestens ein Tag/eine Übernachtung (str.)
• interterritoriale (zwischen Bundesländern), inter-kommunale (zwischen Kommunen), interlokale (innerhalb von Gemeinden) Freizügigkeit
Art. 11 GG – Freizügigkeit
144
• Freizügigkeit somit nur innerhalb Deutschlands gewährleistet
• Art. 11 GG schützt auch Einreise von Deutschen in das Bundesgebiet
• Ausreisefreiheit über Art. 2 I GG geschützt (str.) • Residenzpflicht für Beamte: Art. 33 V GG als lex specialis • Eingriffe sind z.B.: Zwangsumsiedlungen,
Aufenthaltsverbote, Platzverweise, Genehmigungsvorbehalte usw.; nicht aber z.B.: Zweitwohnungssteuer oder unterschiedliche Gewerbesteuer-Hebesätze
Art. 11 GG – Freizügigkeit
• Schutzbereich / Eingriff – Art. 16 I GG
• deutsche Staatsangehörigkeit: entspricht nur Art. 116 I 1. Alt. GG
• Entziehung und Verlust durch Widerruf, Rücknahme, Nichtigkeit der Einbürgerung (wichtigster Fall: „erschlichene Einbürgerung“); Verlust als Oberbegriff
– Art. 16 II GG • Deutscher: entsprechend Art. 116 I GG (vgl. hierzu
BVerfG v. 17.02.2014 – 2 BvQ 4/14: Auslieferung eines italienischen Staatsbürgers durch Deutschland an die USA)
• Schutz vor Auslieferung und Durchlieferung; Rücklieferung nach h.M. zulässig
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Gesetzesvorbehalt des Art. 16 I 2 GG – Art. 16 II 2 GG als spezieller Gesetzesvorbehalt; dynamische
Verweisung auf die jeweils beigetretenen Mitgliedstaaten der EU (GG-Änderung vom 2.12.2000) 145
Art. 16 GG
146
• „Politisch Verfolgte“: Verfolgung muß aufgrund einer politischen Überzeugung des Verfolgten geschehen; unmenschliche Strafen spielen zunächst keine Rolle
• weitere Verfolgungsgründe: Religion; Nationalität; Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe; Homosexualität (BVerwGE 79, 143)
• die Verfolgung muß – vom Staat ausgehen oder der Staatlichkeit zuzurechnen sein – hinreichend intensiv sein – mindestens konkret drohen – grds. individuell sein – alternative inländische Fluchtalternativen ausschließen – kausal für die Flucht sein (Unbeachtlichkeit der sog. Nachfluchtgründe) – fortdauern (mit Ende der politischen Verfolgung entfällt Schutz nach Art.
16a GG)
• geschützt sind alle in Betracht kommenden Ausländer und Staatenlose
Art. 16a GG – Schutzbereich
147
• Eingriff – Verweigerung der Einreise – aufenthaltsbeendende Maßnahmen
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – kein Schrankenvorbehalt; verfassungsimmanente
Schranken – Abs. 2 bis 5 als Verfahrens- oder Anwendungsein-
schränkungen (vgl. etwa die Drittstaatenregelung, Art. 16a II und III GG)
Art. 16a GG
148
• Petitionsbegriff: – eine Bitte (bezieht sich auf künftiges Verhalten) und – eine Beschwerde (bezieht sich auf vergangenes Verhalten) – nicht: bloße Meinungsäußerungen
• Schriftlichkeit, daher kein Recht auf persönlichen Vortrag • Petition darf nicht anonym gestellt werden • Adressaten der Petition: zuständige Stellen, Volksvertretung • Anspruch auf sachliche Bescheidung durch die zuständigen
Stellen • Grenzen:
– keine Pflicht zur Begründung (str.), schon gar nicht zur positiven Bescheidung
– keine Pflicht, allen Petitionen nachzugehen im Hinblick auf die Kapazität insb. der Petitionsausschüsse
Art. 17 GG – Schutzbereich
149
• Eingriff – jedes Zurückbleiben hinter den dargestellten
Anforderungen stellt einen Eingriff dar • verfassungsrechtliche Rechtfertigung
– Art. 17 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt – Art. 17a GG ist Einschränkungsmöglichkeit für
Sammelpetitionen von Wehr- und Zivildienst-leistenden
– Eingriffsrechtfertigung nur durch kollidierendes Verfassungsrecht
Art. 17 GG – Eingriff und verfassungsrechtliche Rechtfertigung
150
• Schutzbereich – „allgemeine Handlungsfreiheit“: jegliches
menschliche Verhalten; auf „Wertigkeit“ oder gesellschaftliche Relevanz kommt es nicht an
– Folge: Art. 2 I GG nimmt Auffangfunktion ein, sofern der Schutzbereich speziellerer Freiheitsgrundrechte nicht eröffnet ist
• Eingriff – weiter Schutzbereich führt dazu, daß sämtliche
Beeinträchtigungen Eingriffe in Art. 2 I GG darstellen
Art. 2 I GG
151
• verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Schrankentrias – verfassungsmäßige Ordnung: Gesamtheit der Normen, die
formell und materiell mit der Verfassung in Einklang stehen (Bundes- und Landesrecht jeder Stufe)
– Rechte anderer: alle subjektiven Rechte; stets bereits über die verfassungsmäßige Ordnung geschützt
– Sittengesetz: ebenfalls keine eigenständige Bedeutung – besondere Bedeutung kommt der Verhältnismäßigkeits-
prüfung aufgrund der weiten Einschränkungsmöglichkeiten im Rahmen der Prüfung der Schranken-Schranken zu
Art. 2 I GG
152
• verfassungsprozessuale Bedeutung
– Erweiterung des Kreises möglicher Verfassungsbeschwerden, da jegliche Beschränkungen von Handlungen grundrechtsrelevant werden
– BVerfG bezieht in die Überprüfung Normen ein, die keine Grundrechtsgarantien enthalten, bspw. Kompetenzvorschriften, da als Schranke nur formell und materiell rechtmäßige Gesetze in Betracht kommen
– Es lassen sich qua Verfassungsbeschwerde Verletzungen objektiven Verfassungsrechts (mangelnde Gesetzgebungskompetenz, fehlerhaftes Verfahren, sonstige formelle Mängel) rügen, die mit dem substantiellen grundrechtlichen Freiheitsschutz in keinem unmittelbaren Zusammenhang stehen
– Allgemeine Handlungsfreiheit wird damit zum „Hebel“ für eine umfassende, von spezifischen Grundrechtsverletzungen unabhängige Verfassungskontrolle staatlichen Handelns
– vgl. hierzu ausführlich: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 2 I Rn. 42, 43.
Art. 2 I GG
153
• Allgemeines Persönlichkeitsrecht • Abgrenzung zu Art. 2 I GG (allg. Handlungsfreiheit) • inhaltlich geht es um die „Respektierung des geschützten
Bereichs“ (BVerfGE 54, 148 [153]) in vielfältigen Konstellationen wie – Personale Identität, Intim- und Privatsphäre – Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit
‣ Recht am eigenen Bild ‣ Recht am eigenen Wort ‣ Verfälschungen des Persönlichkeitsbildes
– Namen und Ehre des Menschen • Insbesondere:
– Informationelles Selbstbestimmungsrecht als das Recht, selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden (BVerfGE 65, 1 – Volkszählung)
– Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informations-technischer Systeme (sog. Computer-Grundrecht)
• Schrankentrias des Art. 2 I GG gilt auch für das aPR
Art. 2 I GG i.V.m. Art. 1 I GG
BVerfGE 120, 274 (303, Rn. 169 f.): „Das allgemeine Persönlichkeits-recht gewährleistet Elemente der Persönlichkeit, die nicht Gegenstand der besonderen Freiheitsgarantien des Grundgesetzes sind, diesen aber in ihrer konstituierenden Bedeutung für die Persönlichkeit nicht nachstehen (…) Einer solchen lückenschließenden Gewährleistung bedarf es insbesondere, um neuartigen Gefährdungen zu begegnen, zu denen es im Zuge des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und gewandelter Lebensverhältnisse kommen kann (…) Die Nutzung der Informations-technik hat für die Persönlichkeit und die Entfaltung des Einzelnen eine früher nicht absehbare Bedeutung erlangt. Die moderne Informations-technik eröffnet dem Einzelnen neue Möglichkeiten, begründet aber auch neuartige Gefährdungen der Persönlichkeit.“
154
Das „allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) in seiner besonderen Ausprägung als
Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme“
(BVerfGE 120, 274 [302, Rn. 166])
155
• Gesetzgeber darf tradierte Rollen nicht festschreiben (Musterbeispiel: BVerfGE 52, 169 – Hausarbeitstag)
• Gleichheitsgebot dient vor allem der Beseitigung der Benachteiligung von Frauen (BVerfGE 84, 9 [17] – Ehenamen II)
• Tradierte Rollen können auch zulasten der Männer ausfallen (BVerfGE 92, 91 [109 ff.] – Feuerwehrabgabe)
• Zulässig sind eigentlich nur noch Differenzierungen aufgrund biologischer Unterschiede
Art. 3 II GG
156
• Art. 3 III GG – Kriterienkatalog Art. 3 III GG überschneidet sich im
einzelnen mit anderen Grundrechten, etwa Art. 3 II, 4, 5 GG – „wegen“ bedeutet Kausalität – Differenzierung nach Staatsangehörigkeit ist durch Art. 3 III
GG nicht untersagt – es handelt sich um „Differenzierungsverbote“ – BVerfGE 85, 191 (Nachtarbeitsverbot)
• Art. 6 V GG – ebenfalls besonderer Gleichheitssatz – unmittelbar anwendbares Grundrecht
Art. 3 III GG, 6 V GG
157
• Abs. 1 – Indigenat – Deutschenrecht – keine Landeskinderklauseln (im allg.) – aber: Differenzierung aufgrund anderer Kriterien zulässig
(Seßhaftigkeit von gewisser Dauer)
• Abs. 2 – Deutschenrecht – Strikte Sachorientierung an objektiven Maßstäben
• Abs. 3 – notwendige Verstärkung von Art. 3 III GG für den
öffentlichen Dienst
Art. 33 I–III GG
158
• besonderer Gleichheitssatz • Allgemeinheit und Gleichheit der Wahl • Chancengleichheit bei der politischen Meinungsbildung • insbesondere Chancengleichheit der Parteien
– Sendezeiten – Plakatflächen – Steuerzahlungen
• hier jedoch auch Modifikationen aufgrund der Bedeutung der Parteien möglich
Art. 38 I GG
• Rechtsanwendungs- und Rechtssetzungsgleichheit • Vorliegen von Ungleichbehandlungen – Kernformel: Verbot,
willkürlich wesentlich Gleiches ungleich bzw. Ungleiches gleich zu behandeln
• Es müssen sich also in relevanter Hinsicht Vergleichbarkeitsgesichtspunkte ergeben
• „wesentlich gleich“: (–)bei Ungleichbehandlung durch verschiedene Hoheitsträger (verschiedene Bundesländer): „gleiche Stelle“
• Rechtfertigung von Ungleichbehandlungen – Differenzierung: mit steigender Intensität steigen auch die
Anforderungen an die verfassungsrechtliche Rechtfertigung – Bei geringer Intensität „Willkürformel“: hier genügt bereits das
Vorliegen eines sachlichen Grundes zur Rechtfertigung – Bei größerer Intensität fordert das BVerfG eine
Verhältnismäßigkeitsprüfung („neue Formel“) • Aktuelle Beispiele: BVerfGE 121, 317 – Rauchverbot in
Gaststätten; BVerfGE 133, 59 – Sukzessivadoption; E 133, 377 – Ehegattensplitting 159
Art. 3 I GG
160
• Rechtsschutzgarantie (Art. 19 IV GG)
• Gesetzlicher Richter (Art. 101 I 2 GG)
• Rechtliches Gehör (Art. 103 I GG)
• Nulla poena sine lege (Art. 103 II GG)
• Ne bis in idem (Art. 103 III GG)
Prozeßgrundrechte
Rechtsschutzgarantie
Zentralnorm zur Gewährleistung gerichtlichen Rechtsschutzes gegen Akte „öffentlicher Gewalt“:
– jedenfalls: der Exekutive – keinesfalls: der Legislative – streitig: Akte der Judikative
Art. 19 IV GG
„Schlußstein im Gewölbe des Rechtsstaats“ (Richard Thoma)
161
162
lex scripta (gesetzliche Vorschrift)
lex praevia (Rückwirkungs-
verbot)lex stricta (Analogie-
verbot)
lex certa (Bestimmtheits-
gebot)
Nulla poena sine lege
Grundsatz „Keine Strafe ohne
Gesetz“
Art. 103 II GG
163
!Normativer Sonderstatus
!• Rechtscharakter
• Absolutheitscharakter
• Ewigkeitscharakter
Menschenwürde – Art. 1 I GG
Vgl. H. Dreier, Menschenwürde, in: ders., Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, 2014, S. 71 ff.
164
• Umfang der „Menschenwürde“ • „Objektformel“ (Dürig) • Gefahr: Inflationierung • Problem: Normamalgamierung • Art. 1 I GG als Grundrecht oder als Rechtsprinzip • „achten“ und „schützen“:
– Unterlassen von Verletzungen durch die öffentliche Gewalt selbst
– Schutz auch vor Übergriffen Dritter
Menschenwürde – Art. 1 I GG
• einschlägige Fälle: – Sklaverei, Leibeigenschaft, Menschenhandel – Körperliche und seelische Integrität,
lebenslange Freiheitsstrafe (E 45, 187) – menschenwürdige Existenz
• Gewährung eines Existenzminimums – Verbot der Besteuerung desjenigen Einkommens, das der Einzelne
für ein menschenwürdiges Leben benötigt – Gebot zur sozialen Hilfe für diejenigen, die für eigenen Unterhalt
nicht sorgen können • Menschenwürdige Unterbringung, etwa in der Haft, im Asyl- und
Abschiebeverfahren, in Obdachlosenunterkünften • Berücksichtigung bei Abschiebungen von Ausländern: bei Gefahr
menschenunwürdiger Behandlung ist von Abschiebung abzusehen; gilt insbes. bei Folter
– sehr problematisch etwa: Peep-Shows/Laserdrome/Paintball – Menschenwürde und Todesstrafe 165
Menschenwürde – Art. 1 I GG