Fragmente zu den Ursprüngen und Merkmalen des ... · Hofmann, Hasso „Von der Staatssoziologie zu...
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Johann Justus Vasel Handgasse 6 97070 Würzburg
Fragmente zu den Ursprüngen und Merkmalen des
Verfassungsrechts und der Frage nach Verfasstheit und
Verfassbarkeit der Europäischen Union
Seminararbeit
im gemeinsamen verfassungsrechtlichen, rechtsphilosophischen und rechtsvergleichenden
Seminar
bei
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle
und
Prof. Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke)
A
Inhaltsverzeichnis
Literaturverzeichnis I Einleitung S. 1 Erster Teil: Genese und Charakteristika des Verfassungsbegriffes S. 1 I. Historische Dimension – Entstehung des modernen Verfassungsrechts S. 1 1) Nordamerikanische Revolution S. 1 2) Französische Revolution S. 3 II. Klassische Verfassungsbegriffe und Verfassungstheorien S. 4
1) Verfassungsverständnis in der Weimarer Republik S. 4 2) Verfassungstheorien und Verfassungsverständnis nach 1945 im Überblick S. 5
III. Verfassungsfunktionen und Verfassungscharakteristika S. 6
1) Vorrang der Verfassung S. 6 2) Ordnungsfunktion S. 6 3) Stabilisierungsfunktion S. 7 4) Integrationsfunktion S. 7 5) Grundrechtliche Sicherungsfunktion S. 8 6) Begrenzungsfunktion S. 9 7) Organisationsfunktion S. 9 8) Verfassung als Konzentration S. 10
Zweiter Teil: Europäisches Verfassungsrecht S. 10 I. Entwicklungsstufen des Europäischen Verfassungsrechts S. 10 II. Existenz und Funktionen des europäischen Verfassungsrechts S. 12 1) Der Grundrechtsschutz und die Grundfreiheiten in der EU/EG S. 12 a) Die Entstehung der Grundrechte auf europäischer Ebene S. 13 b) Der Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte S. 15 c) Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts S. 16 2) Funktionsanforderungen an ein Europäisches Verfassungsrecht S. 16 III. Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union S. 20 IV. Verfassungsbedürftigkeit der Europäischen Union S. 22 Dritter Teil: Ausblick und Schluss S. 24 I. Der „Vertrag von Lissabon“ als Verfassung? S. 24
I
Literaturverzeichnis
Bäumlin, Richard „Staat, Recht und Geschichte“
1. Auflage, 1961 EVZ-Verlag, Zürich Zitiert: Bäumlin S. …
Bleckmann, Albert „Der Verfassungsvorbehalt“ in: Juristische Rundschau 1978 S. 221 ff. Zitiert: Bleckmann JR 1978 S. …
Callies, Christian Ruffert, Matthias
Kommentar EUV/EGV 3. Auflage, 2007 Verlag C.H. Beck, München Zitiert: Callies/Ruffert Art. … Rn. …
Di Fabio, Udo „Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfassung“ in: Juristen Zeitung 2000, S. 737 ff. Zitiert: Di Fabio JZ 2000 S. ...
Ehlers, Dirk Becker, Ulrich
„Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten“ 1. Auflage, 2003 Verlag de Gruyter, Berlin Zitiert: Ehlers-Bearbeiter § … Rn. …
Ehmke, Horst „Prinzipien der Verfassungsinterpretation“ in: Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer 1. Auflage, 1963 Verlag de Gruyter, Berlin Zitiert: Ehmke VVDStRL 20 (1963) S. …
Forsthoff, Ernst „Staat der Industriegesellschaft“ 2. Auflage, 1971 Verlag C.H. Beck, München Zitiert: Forsthoff S. …
Frotscher, Werner Pieroth, Bodo
„Verfassungsgeschichte“ 5. Auflage, 2005 Verlag C.H. Beck, München Zitiert: Frotscher/Pieroth § … Rn. …
Grimm, Dieter „Braucht Europa eine Verfassung?“ in: Juristen Zeitung 1995 S. 581 ff. Zitiert: Grimm JZ 1995 S. …
II
Haack, Stefan „Der Begriff der Verfassung“ in:
Europarecht 2004 S. 785 ff. Zitiert: Haack EuR 2004 S. …
Häberle, Peter „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ 1. Auflage, 2007 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Häberle, Nationalhymnen S. …
Häberle, Peter „Europäische Verfassungslehre“ 4. Auflage, 2006 Verlag Nomos, Baden-Baden Zitiert: Häberle, Europäische Verfassungs- lehre S. …
Häberle, Peter „Demokratische Verfassungstheorie im Lichte des Möglichkeitsdenkens“ in: Archiv des öffentlichen Rechts, 102. Band, 1977 S. 27 ff. Zitiert: Häberle AöR 102 (1977) S. …
Häberle, Peter „Verfassung als öffentlicher Prozess“ 3. Auflage, 1998 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Häberle, Öffentlicher Prozess S. …
Häberle, Peter „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ 2. Auflage, 1998 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Häberle, Kulturwissenschaft, S. …
Häberle, Peter „1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates“ in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 37. Band, 1988 Verlag Mohr Siebeck, Tübingen Zitiert: Häberle JöR 37 (1988), S. …
Hattenhauer, Hans „Geistesgeschichtliche Grundlagen des deutschen Reiches“ 4. Auflage, 1996 Verlag C.F. Müller, Heidelberg Zitiert: Hattenhauer Rn. ...
III
Hertel, Wolfram „Die Normativität der Staatsverfassung und einer Europäischen Verfassung“ in: Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, Band 48, 2000 Verlag Mohr/Siebeck, Tübingen Zitiert: Hertel JöR 48, S. …
Hesse, Konrad „Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ 20. Auflage, 1999 Verlag C. F. Müller, Heidelberg Zitiert: Hesse § … Rn …
Hofmann, Hasso „Von der Staatssoziologie zu einer Soziologie der Verfassung“ in Juristen Zeitung 1999 S. 1065 ff. Zitiert: Hofmann JZ 1999, S. …
Hupka, Andre-Tobias „Der Konventsentwurf für einen Vertrag über eine Verfassung für Europa – Eine britische Sicht“ 1. Auflage, 2007 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Hupka S. …
Ipsen, Hans Peter „Europäische Verfassung – Nationale Verfassung“ in: Europarecht 1987 S. 195 ff. Zitiert: H.P. Ipsen EuR 1987 S. …
Ipsen, Hans Peter „Über das Grundgesetz“ 2. Auflage, 1988 Verlag J.C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen Zitiert: Ipsen S. …
Isensee, Josef Kirchhof, Paul
„Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland“ Band I 3. Auflage, 2003 Verlag C.F. Müller, Heidelberg Zitiert: HdBStR-Bearbeiter I § … Rn. …
Kägi, Werner „Die rechtliche Grundordnung des Staates“ 1. Auflage, 1945 Polygraph. Verlag, Zürich Zitiert: Kägi S. …
Kotzur, Markus „Grenznachbarschaftliche Zusammenarbeit in Europa“ 1. Auflage, 2004 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Kotzur S. …
IV
Pache, Eckhard „Europäische und nationale Identität:
Integration durch Verfassungsrecht?“ in: Deutsches Verwaltungsblatt 2002 S. 1154 ff. Zitiert: Pache DVBl 2002 S. …
Pache, Eckhard „Eine Verfassung für Europa – Krönung oder Kollaps der europäischen Integration?“in Europarecht 2002, S. 767 – 784. Zitiert: Pache EuR 2002 S. …
Pache, Eckhard „Tatbestandliche Abwägung und Beurteilungsspielraum“ 1. Auflage, 2001 Verlag Mohr Siebeck, Tübingen Zitiert: Pache S. …
Pernice, Ingolf „Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht“ in: „Welche Verfassung für Europa?“ Hrsg. Bruha, Thomas; Hesse, Joachim Jens; Nowak, Carsten 1. Auflage, 2001 Verlag Nomos, Baden-Baden Zitiert: Pernice, Verfassungsfrage S. …
Pernice, Ingolf „Europäisches und nationales Verfassungsrecht“ in: Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer S. 148 ff. 1. Auflage, 2000 Verlag de Gruyter, Berlin Zitiert: Pernice VVDStRL 60 (2000) S. …
Peters, Anne „Elemente einer Theorie der Verfassung Europas“ 1. Auflage, 2001 Verlag Duncker & Humblodt, Berlin Zitiert: Peters S. …
Rodriguez Iglesias, G.C. „Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht“ in: Europarecht 1992, S. 225 ff. Zitiert: Rodriguez Iglesias EuR 1992 S. ...
Ruffert, Matthias „Die Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft als Verpflichtete der Gemeinschaftsgrundrechte“ in: Europäische Grundrechte-Zeitschrift 1995, S. 518 ff. Zitiert: Ruffert EuGRZ 1995 S. …
V
Schmitt, Carl „Verfassungslehre“ 9. Auflage, 2003 Verlag Duncker & Humblot, Berlin Zitiert: Schmitt S. …
Stern, Klaus „Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland“ Band I 2. Auflage, 1984 Verlag C.H. Beck, München Zitiert: Stern § … S. …
Streinz, Rudolf „Europarecht“ 7. Auflage, 2005 Verlag C.F. Müller, Heidelberg Zitiert: Streinz § … Rn. …
Streinz, Rudolf Ohler, Christoph Herrmann, Christoph
„Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse“ 1. Auflage, 2005 Verlag C.H. Beck, München Zitiert: Streinz/Ohler/Herrmann S. …
Weiler, Josef H. H. „The Constitution of Europe“ 1. Auflage, 1999 Verlag CambridgeUniversity Press Zitiert: Weiler S. …
Weiler, Josef H. H. „Der Staat „über alles“ in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 44. Band, 1996 Verlag Mohr Siebeck, Tübingen S. 91 ff Zitiert: Weiler JöR 44 (1996), S. …
zu Guttenberg, Karl-Theodor „Verfassung und Verfassungsvertrag – Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU“ (noch unveröffentlichte Dissertation) Zitiert: Guttenberg S. …
1
Vorbemerkung
Die Frage nach der Existenz und gegebenenfalls den Funktionen eines Europäischen
Verfassungsrechts setzt zunächst eine Beschäftigung mit dem Verfassungsrecht als solchem
voraus, weshalb der erste Teil vorliegender Arbeit der Herausarbeitung der geschichtlichen
Entwicklung des Verfassungsbegriffes und der an eine Verfassung zu stellenden
Anforderungen im Allgemeinen geschuldet ist.
Nachfolgend werden diese Charakteristika auf die europäische Ebene projiziert. Unter
Berücksichtigung der herausgearbeiteten Kriterien soll der Frage nachgegangen werden, ob
Europäisches Verfassungsrecht existiert und welchen Funktionsanforderungen es
gegebenenfalls gerecht wird. Sodann soll die Verfassungsfähigkeit und die
Verfassungsbedürftigkeit der Union untersucht werden.
Erster Teil: Genese und Charakteristika des Verfassungsbegriffes
I. Historische Dimension – Entstehung des modernen Verfassungsrechts
Der Verfassungsbegriff ist bereits seit der Antike Gegenstand staatsrechtlicher und
staatsphilosophischer Erörterungen. So finden sich bereits bei Aristoteles erste Ansätze, der
die Verfassung als „politeia“ begreift, als Form und Ordnung des Staates in Bezug auf die
Gewalten und die Gesetze. Der Begriff „constitutio“, der später im anglo-amerikanischen und
französischen Raum maßgeblich wurde, entstammt Ciceros Werk De re publica.
Das moderne Verfassungsrecht hat seine Wurzeln indes in den Verfassungsentwürfen der
nordamerikanischen und der französischen Revolution1.
1) Nordamerikanische Revolution
Ausgangspunkt der nordamerikanischen Revolution bildet die von Thomas Jefferson
entworfene Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776, deren Inhalt maßgeblich durch das
Natur- und Vernunftrecht der Aufklärung geprägt war. Sie enthielt einige bis heute in den
Verfassungen auffindbare Garantien wie etwa den Gleichheitsgrundsatz, unveräußerliche
Menschenrechte, den Grundsatz der Volkssouveränität und das Widerstandsrecht gegen
ungerechte Herrschaft. Der revolutionäre Gedanke, dass die Menschenrechte die Grundlage
und den Zweck des Staates bilden2, dass der Staat abhängig von den Bürgern und nur um
ihretwillen überhaupt da ist3, wird gleich mehrfach beschworen4. Nach dem Pariser Frieden
1 Frotscher/Pieroth § 1 Rn. 10. Allerdings ist die älteste, heute noch in Kraft seiende republikanische Verfassung die von San Marino. 2 In diesem Zusammenhang steht auch die Theorie von P. Häberle, nach der die Menschenwürde „anthropologische Prämisse“ ist, aus der Demokratie als „organisatorische Konsequenz“ folgt. 3 Diesen Gedanken greift der Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee aus dem Jahr 1948 in Art. 1 I auf, der da lautet: „ Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen.“.
2
von 1783 wurden in vielen der bisherigen Kolonien Grundrechtskataloge (Bills of Rights)
erlassen, die gewissermaßen als große Antithese zu den rechtlichen und sozialen
Verhältnissen der alten Welt verstanden werden konnten5. Die erste umfassende und
verfassungskräftige Positivierung von Grundrechten im modernen Sinne stellt dabei die Bill of
Rights von Virginia aus dem Jahre 1776 dar, die insbesondere das Recht auf Leben und
Freiheit sowie auf Eigentum und Sicherheit garantierte. Während die Bill of Rights von
Virginia aber noch unverbunden neben der Verfassung von Virginia stand, wurden in der
Verfassung von Pennsylvania bereits Grundrechtsteil und Organisationsteil zusammengeführt,
so dass diese als erste Verfassung im neuzeitlichen Sinne gelten kann6.
Im Mai 1787 kam dann der Verfassungskonvent in Philadelphia zusammen und arbeitete den
Entwurf einer Bundesverfassung aus, der wesentlich durch folgende Hauptmerkmale
gekennzeichnet war: 1) Begründung der Staatsgewalt aus der Volkssouveränität, 2) starke
Ausprägung der Gewaltenteilung (checks and balances) und 3) bundesstaatliche statt
staatenbündische Organisation7.
Aufgrund starker Kritik beschloss der erste Kongress auf Vorschlag von James Madison im
Jahre 1789, die Verfassung um einen Grundrechtskatalog, bestehend aus 12 Zusatzartikeln
(amendments), zu ergänzen. Zehn dieser Zusatzartikel wurden bis 1791 ratifiziert und bilden
die Federal Bill of Rights.
Weitere wesentliche Errungenschaften der amerikanischen Verfassungsentwicklung, die heute
zum Kernbestand des Verfassungsrechts gehören, sind das Institut des Vorrangs der
Verfassung und das richterliche Prüfungsrecht (judicial review), welche ihre Ursprünge in der
Entscheidung Marbury v. Madison8 haben9.
4 Frotscher/Pieroth § 1 Rn. 24. 5 So Hattenhauer Rn. 70. 6 Vgl. Frotscher/Pieroth § 2 Rn. 28. 7 In Bezug auf die Frage nach der Bundesstaatlichkeit entbrannte eine heftige Auseinandersetzung zwischen den sog. Federalists (zu denen u.a. auch Alexander Hamilton, James Madison und John Jay gehörten) und den sog. Anti-Federalists, aus der im Jahre 1788 die Federalist Papers hervorgingen. Die Anti-Federalists wollten an dem Staatenbund festhalten, wie er aus dem Unabhängigkeitskrieg hervorgegangen war, da sie eine starke Zentralgewalt mit einer Gefahr für die junge Republik und einer neuen Tyrannis assoziierten. Die Federalists dagegen votierten für eine stärkere und effektive Zentralgewalt. 8 In der Entscheidung ging es um die Gültigkeit einer Ernennungsurkunde, mit der William Marbury zum Friedensrichter ernannt werden sollte und die der scheidende Präsident John Adams am letzten Tag seiner Amtsperiode zwar unterzeichnet, aber nicht ausgehändigt hatte. 9 Vgl. dazu Frotscher/Pieroth § 2 Rn. 42 ff.
3
2) Französische Revolution
Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 hat mehrere
„Wirkebenen“ und ist ebenfalls Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des
Verfassungsstaates10. Sie beruht im Wesentlichen auf den Ideen der politisch-philosophischen
Schriftsteller des 18. Jahrhunderts11. So hatte Voltaire12 die Menschenrechte und die
Abschaffung der Sklaverei sowie die der ständischen Privilegien gefordert. Charles de
Montesquieu hatte in seinem staatstheoretischen Hauptwerk „De L’ Esprit des Lois“ von 1748
die Lehre von der Gewaltenteilung ausgearbeitet, wonach die Staatsgewalt im Sinne der
Konkurrenz und des politischen Kompromisses gleichberechtigter politischer Kräfte auf drei
verschiedene, voneinander unabhängige, Träger verteilt wird, die sich gegenseitig
kontrollieren und so jegliche Willkür verhindern sollen13. Jean-JacquesRousseau schließlich,
hatte eine Rechtfertigung des Staates durch den Gesellschaftsvertrag vorgenommen.
Darüber hinaus übte auch die nordamerikanische Rechteerklärung deutlichen Einfluss auf die
französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte aus. Ein zentraler Unterschied
letzterer zur Bill of Rights liegt in ihrem universellen Anspruch14. Bedingt durch das Ziel der
französischen Revolution, die Feudalordnung abzuschaffen, ist auch die Gleichheitsforderung
deutlich stärker ausgeprägt als in Nordamerika15. Dennoch ist der beherrschende Zug der
Erklärung die Gewährleistung von Freiheit, weshalb man auch von ihrem „bürgerlichen“
Charakter spricht. Aus heutiger verfassungsrechtlicher Perspektive liegt ein wesentlicher
Beitrag der Erklärung - neben der Proklamation zentraler Menschen- und Bürgerrechte - in
den bereits relativ ausdifferenzierten staatsorganisatorischen Prinzipien. Auch weist die
Erklärung in Art. 17 bereits die wichtigsten Schranken-Schranken in Form des
Parlamentsvorbehalts, des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Bestimmtheits-
grundsatzes auf16.
10 Vgl. Häberle JöR 37, S. 35 ff. 11 So heißt es etwa in Art. 6, dass das Gesetz Ausdruck des allgemeinen Willens sei (volonté générale im Verständnis Rousseaus) und in Art. 16, dass die Gewaltenteilung (im Sinne Montesquieus) unverzichtbare Grundlage eines jeden Verfassungsstaates ist. 12 Dieser „höchste unter den Franzosen denkbare, der Nation gemäßeste Schriftsteller“ (Goethe) ist möglicherweise durch die Gewalttaten des Siebenjährigen Krieges (1756 bis 1763) zu den Forderungen inspiriert worden. 13 Frotscher/Pieroth § 3 Rn. 27. 14 Vgl. Frotscher/Pieroth § 3 Rn. 60. 15 Frotscher/Pieroth § 3 Rn. 61. 16 Vgl. Frotscher/Pieroth § 3 Rn. 65.
4
II. Klassische Verfassungsbegriffe und Verfassungstheorien
1) Verfassungsverständnis in der Weimarer Republik
In Deutschland wurden die grundlegenden Lehren zu Wesen und Begriff der Verfassung in
der Weimarer Zeit nach dem Paradigmenwechsel von 1918 entwickelt17. Diese wirken bis
heute fort und prägen die Verfassungstheorie, weshalb eine zumindest überblicksartige
Auseinandersetzung mit den zentralen Verfassungstheoretikern und ihrem
Verfassungsverständnis erforderlich ist.
Für Carl Schmitt ist die Verfassung eine durch einen Akt der verfassungsgebenden Gewalt
getroffene „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“18. Verfassung
und Verfassungsgesetz werden unterschieden. Diese Trennung gilt gemeinhin aber als zu
starr. Außerdem verkennt das dezisionistische Verfassungsverständnis, dass sich die
Entscheidung der verfassungsgebenden Gewalt in einer Norm niederschlagen muss, um
konstituierend wirken zu können19. Zurückzuführen ist das dezisionistische
Verfassungsverständnis C. Schmitts vermutlich auf die Ereignisse von 1918/1919, also den
Wechsel vom monarchischen Regime zur Republik. Aufgrund seiner historisch-politischen
Bedingtheit vermag dieser Verfassungsbegriff deshalb heute wenig tragfähig zu sein.
Rudolf Smends Verfassungsverständnis kann gewissermaßen als Gegenentwurf verstanden
werden. Seiner Auffassung nach ist die Verfassung die Lebenswirklichkeit des Staates. Sie
normiert dabei den immer wieder notwendigen Integrationsprozess. Smends Ansatz zeichnet
sich durch eine stärkere Einbeziehung des politischen Prozesses aus und ist mehr an
soziologischen und geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert. Er begreift den Staat
als etwas aus einem dynamisch-dialektischen Lebensprozess Hervorgehendes, und sieht in der
Verfassung zugleich „Anregung und Schranke“.
In gewisser Weise damit verwandt ist der Verfassungsbegriff Hermann Hellers. Er
differenziert zwischen der tatsächlichen Machtstruktur („politischer Verfassung als
gesellschaftlicher Wirklichkeit“) und einem Mindestmaß an Rechtsnormen über den Aufbau
der Macht („geschriebener Verfassung“)20, der in jedem Staat vorhanden sein muss.
Als demgegenüber unergiebig erweist sich der Verfassungsbegriff Hans Kelsens, der sich in
einer formalen Definition erschöpft und lediglich bei der Lehre vom „Stufenbau der
Rechtsordnung“ in der Variante des „Vorrangs der Verfassung“ hilfreich ist21.
17 So Haack EuR 2004 S. 785. 18 Schmitt S. 42. 19 Vgl. Stern § 3 S. 71. 20 Vgl. Stern § 3 S. 74. 21 Vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre S. 8.
5
2) Verfassungstheorien und Verfassungsverständnis nach 1945 im Überblick
Das Bundesverfassungsgericht begreift die Verfassung als materielle Einheit22, deren Inhalte
häufig als grundlegende, der positiven Rechtsordnung vorausliegende23 Werte bezeichnet
werden, die sich unter Aufnahme der Traditionen der liberal-repräsentativen
parlamentarischen Demokratie24, des liberalen Rechtsstaates25 und des Bundesstaates26 sowie
unter Hinzufügung neuer Prinzipien, namentlich des Sozialstaates27, in den Entscheidungen
des Verfassungsgebers zu einer „Wertordnung“ verbunden haben28 und ein Staatswesen
konstituieren, das zwar weltanschaulich neutral29, aber nicht wertneutral30 ist. Zwar zeichnen
sich somit in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts einige wesentliche Aspekte ab;
eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem, was eine Verfassung ist, und welche
Funktionen sie zu erfüllen hat, lässt sich aus dem eher abstrakten Verfassungsverständnis
jedoch nicht entnehmen31.
Auch in der Lehre sind verschiedene Verfassungsbegriffe und Verfassungstheorien
herausgearbeitet und begründet worden. Zu nennen sind insbesondere Konrad Hesses
„Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“32, Horst Ehmkes Verständnis
der „Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht und als Gewährleistung
eines freien politischen Lebensprozesses“33, Ulrich Scheuners „Verfassung als Norm und
Aufgabe“ sowie Alexander Hollerbachs Auffassung, nach der die Verfassung grundlegender
„Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens“ ist. Weiterhin wirkungsvoll ist das
betont geschichtliche Verständnis der Verfassung Richard Bäumlins als eines stabilisierenden,
stets der Aktualisierung bedürftigen Verhaltensentwurfes unter der Idee des „Richtigen“34,
Werner Kägis Theorie der „Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“35 sowie
Peter Häberles Auffassung, nach der Verfassung auch ein öffentlicher Prozess36 ist und der
22 BVerfGE 1, 32, st. Rspr., vgl. etwa noch BVerfGE 49, 24 (56) m.w.Nachw. 23 Z.B. BVerfGE 3, 233; vgl. aber etwa BVerfGE 10, 59 (81). 24 Z.B. BVerfGE 4, 148. 25 Z.B. BVerfGE 5, 197, 379. 26 Z.B. BVerfGE 1, 314 f. 27 Z.B. BVerfGE 5, 379; 14, 296. 28 Z.B. BVerfGE 6, 41; 10, 81; 12, 51; 13, 51; 13, 107; 14, 391; 21, 371 f.; 27, 283; 30, 1 19. 29 BVerfGE 12, 4; 19, 216; 27, 201. 30 Z.B. BVerfGE 2, 12; 5, 134 ff.; 6, 40 f.; 7, 205. 31 So auch Hesse § 1 Rn. 3. 32 Hesse § 1 Rn.17. 33 Ehmke VVDStRL 20 (1963) S. 61 ff. 34 Bäumlin S. 17, 24. 35 Kägi S. 40 ff. 36 Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 1998.
6
Verfassungslehre als Kulturwissenschaft37 begreift, wodurch ihr zusätzliche Kraft, Tiefe und
Legitimität zuteil wird.
III. Verfassungsfunktionen und Verfassungscharakteristika
Auch wenn also Sinn und Inhalt einer Verfassung gemeinhin umstritten sind, so besteht doch
Konsens darüber, dass der Verfassung bestimmte Funktionen aufgegeben sind und bestimmte
Merkmale zugeschrieben werden, die nachfolgend näher betrachtet werden sollen.
1) Vorrang der Verfassung
Wesentliches Merkmal der Verfassung ist seit der Entscheidung Marbury vs. Madison (s.o.)
die Vorrangigkeit der Verfassung, ihre normative Höchstrangigkeit. Sie gibt allen anderen
Normen ihre Erzeugungsregeln vor38 und ist ultimativer Geltungsmaßstab innerhalb der
Rechtsordnung. Sofern diese Anforderung nicht erfüllt ist, vermag die Verfassung keine
konkrete Gestaltung des Gemeinwesens vorzunehmen; die weiteren Funktionen einer
Verfassung könnten keine Wirkung entfalten.
2) Ordnungsfunktion
Der Verfassung kommt zunächst eine Ordnungsfunktion zu, sie soll also – wie das Recht
insgesamt – Chaos und Anarchie verhindern. In der Verfassung verstanden als Grundordnung,
lex fundamentalis, Grundgesetz und somit höchste, oberste „Norm für ein System normativer
Zurechnung“39, sind axiomatische Entscheidungen getroffen, die die staatliche und
gesellschaftliche Wirkungseinheit in der Weise prägen, dass alle an sie gebunden sind, und sie
für alle Konfliktfälle gilt40. Sie bildet die Grundlage der gesamten Rechtsordnung, weshalb sie
als „archimedischer Punkt“ (W. Burckhardt) des staatlichen Legalitätssystems bezeichnet
werden kann. Staatliche Macht ist deshalb nur dann legitimiert, wenn sie sich auf die
Verfassung stützen kann; alle pouvoires constitués müssen sich auf sie zurückführen lassen41.
Sie ist dabei kein geschlossenes System, sondern durch Offenheit und Weite42 charakterisiert.
Die Verfassungsordnung muss nur das dezidiert regeln, „was nicht offen bleiben soll“43. Dies
gilt vor allem im Bereich der Staatsorganisation, der Staatsform, der Verteilung der
Kompetenzen und der grundlegenden Strukturprinzipien, aber auch in Bezug auf die zu
errichtende Wertordnung und die Festlegung grundlegender Prinzipien des gesellschaftlichen
37 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998. 38 Vgl. HdBStR-Isensee I § 13 Rn. 136. 39 Schmitt S. 42. 40 Vgl. Stern § 3 S. 82. 41 Vgl. Stern § 3 S. 82. 42 Hesse Rn. 19 f. 43 Hesse Rn. 24.
7
Bereiches44. Die Verfassung bildet Rechtsbasis der Gesetzgebung und statuiert den Rahmen
der verfassungsmäßigen Ordnung (vgl. in Bezug auf das Grundgesetz Art. 20 III, Art. 1 III),
der den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers definiert. Die Verfassung kann
aber auch mittels Verfassungsaufträgen und Verfassungsdirektiven Akte der Gesetzgebung
initiieren, dirigieren und limitieren.
3) Stabilisierungsfunktion
Die demokratische Verfassung ist nicht der jeweilige Wille der jeweiligen Mehrheit, sondern
auf Dauer und Unverbrüchlichkeit gerichtet45; sie soll dauernde Grundordnung sein. Durch
relative Konstanz schafft sie eine stabilisierende Wirkung, die das Leben des Gemeinwesens
vor der Auflösung in ständigen, unübersehbaren und nicht mehr zu bewältigenden Wechseln
zu bewahren vermag46. Ausdruck dessen ist auch die erschwerte Änderbarkeit etwa durch die
Erfordernisse qualifizierter Mehrheiten, einer Volksabstimmung oder gar durch den
Ausschluss bestimmter Änderungen47 wie im Grundgesetz durch die sog. Ewigkeitsgarantie
des Art. 79 III GG geschehen. Zur Erreichung dieser Dauerhaftigkeit muss eine Verfassung
Momente der „Starrheit“ und der „Beweglichkeit“ zugleich aufweisen. Das Beharrende darf
nicht zum Hindernis werden, wo Bewegung und Fortschreiten aufgegeben sind, sonst geht die
Entwicklung über die rechtliche Normierung hinweg48. Das Bewegende darf nicht die
stabilisierende Wirkung der verbindlichen Fixierungen aufheben, sonst bleibt die Aufgabe
rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens unbewältigt49. Weiterhin muss eine gewisse
Übereinstimmung zwischen Verfassungstext und Verfassungswirklichkeit bestehen, die für
die Kontinuität einer Verfassung unerlässlich ist und ohne die keine normative Steuerung des
politischen Prozesses möglich ist.
4) Integrationsfunktion
Die Verfassung erschöpft sich allerdings nicht in ihrer Funktion als ordnungs- und
stabilitätsvermittelndes Organisationsstatut. Vielmehr soll sie auch einheitsstiftend wirken.
Sie soll zugleich eine nationale Einheit schaffen und eine Einigung50 im Volk in Form eines
immer wieder neu herzustellenden politischen Konsenses schaffen. Die Verfassung hat somit
44 Vgl. Stern § 3 S. 84. 45 Die amerikanische Verfassungstradition lebt noch stark in dieser Vorstellung. Sie hat in ihrer 200 jährigen Geschichte lediglich wenige Änderungen und lediglich wenige Ergänzungen erfahren. Die ursprünglich 7 Artikel sind durch 27 weitere ergänzt worden. Das Grundgesetz dagegen hat in 58 Jahren mehr als 40 Abänderungen erfahren. Allzu viele Verfassungsänderungen schaden dem Ansehen einer Verfassung und schwächen ihre normative Kraft (vgl. dazu K. Hesses Antrittsvorlesung „Die normative Kraft der Verfassung“). 46 Hesse § 1 Rn. 37. 47 Vgl. Hesse § 1 Rn. 38. 48 Hesse § 1 Rn. 37. 49 Hesse § 1 Rn. 37. 50 Kritisch gegenüber dieser Position E. Forsthoff, der 1971 in seiner Schrift „Staat der Industriegesellschaft“ konstatierte „Die Verfassung hat aufgehört, ein Instrument der Einigung zu sein.“
8
den Charakter eines friedensstiftenden und friedensbewahrenden Kompromisses. R. Smend
hat diese zentrale Funktion der Verfassung in seiner Schrift „Verfassung und
Verfassungsrecht“ im Jahre 1928 herausgearbeitet, die als wissenschaftlicher Gegenentwurf
zu den dezionistischen Thesen C. Schmitts verstanden werden kann. Nach dessen
Integrationslehre ist der Staat und die ihn konstituierende Verfassung „überhaupt nur
vorhanden in einzelnen Lebensäußerungen (Gesetzen, diplomatischen Akten, Urteilen,
Verwaltungshandlungen)“. „Er lebt und ist da nur in diesem Prozess beständiger Erneuerung,
dauernden Neuerlebtwerdens; er lebt, um Renans berühmte Charakterisierung der Nation auch
hier anzuwenden, von einem Plebiszit, das sich jeden Tag wiederholt.“ Smend differenziert
dabei zwischen persönlicher, funktioneller und sachlicher (bspw. Wahlen, parlamentarische
Entscheidung, Fahnen und Hymnen51) Integration. Der Verfassung kommt damit auch die
Aufgabe zu, den Einzelnen zu erfassen und zu aktivieren.
5) Grundrechtliche Sicherungsfunktion der Verfassung
Die Verfassung hat zudem seit den amerikanischen und französischen Verfassungsgebungen
den Auftrag, Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums zu gewähren und zu sichern52.
Herrschafts- und Freiheitsordnung bilden in der Verfassung unzertrennliche Gehalte. Die in
ihr aufgeführten Grundrechte bestimmen die grundsätzliche Stellung des Einzelnen im Staat,
im Besonderen die grundlegenden subjektiven persönlichen und politischen Rechte des
Menschen gegen die Staatsgewalt. Die Verfassung ist somit „in erster Linie nicht Macht und
Glanz des Staates, sondern liberté, Schutz des Bürgers vor dem Missbrauch staatlicher
Gewalt“53. Darüber hinaus gewährt sie aber auch Freiheit zum Staat, d.h. Teilhabe des
Bürgers an der Staatsgewalt (etwa durch das Wahlrecht und das Recht auf Zugang zu den
staatlichen Ämtern). Der Bürger ist nicht mehr Objekt der Politik, sondern wird zu deren
Subjekt54. Im 20. Jahrhundert wurde das freiheitlich-rechtsstaatlich-demokratische
Verständnis der Verfassung noch um die sozialstaatliche Dimension erweitert und dadurch
zur materiellen Grundordnung schlechthin55. Diese Grundrechte werden teilweise um so
genannte Staatsstrukturprinzipien, Staatszielbestimmungen56 oder auch verfassungsrechtliche
Leitgrundsätze ergänzt, wie etwa das in Art. 20 I GG niedergelegte Sozialstaatprinzip und das
in Art. 28 I GG verankerte Prinzip des sozialen Rechtsstaates57.
51 Dazu vertiefend Häberle, Nationalhymnen S. 9 ff. 52 Stern § 3 S. 94. 53 Schmitt S. 126. 54 Vgl. Stern § 3 S. 95. 55 Kägi S. 48. 56 Ipsen S. 14. 57 Begriffsbildend wirkte insoweit der Staatsrechtslehrer Hermann Heller.
9
6) Begrenzungsfunktion
Die Entstehung des Verfassungsstaates geht zurück auf die Auseinandersetzung mit dem
absoluten Staat. Primäres Ziel der Verfassung war deshalb seit jeher, Staatsmacht und ihre
Ausübung durch einzelne Organe zu begrenzen und kontrollierbar zu machen, aus dem Staat
einen Rechtsstaat zu formen. Dies geschieht nicht nur um seiner selbst willen, sondern ist
Ausdruck der Verwirklichung der Freiheit des Einzelnen. Die grundrechtlichen
Freiheitsverbürgungen werden gewissermaßen in das organisatorische Substrat projiziert, der
gesamte Aufbau der Herrschaftsordnung wird zum Ausdruck des Freiheitsgedankens,
„instrument of government“ und „bill of rights“ werden seit den frühen amerikanischen
Verfassungen aufeinander bezogen58.
Die Verfassung wird diesem Anspruch gerecht, indem sie, wie bereits in Art. 16 der
Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 geschehen (s.o.), die Gewalten trennt
und hemmt59. Zuvorderst erfolgt diese durch die Trinität horizontaler Teilung nach den
Hauptfunktionen Legislative, Exekutive und Judikative, ergänzt um die vertikale
Gewaltenteilung in Form der Bundesstaatlichkeit. Hinzu tritt die zeitliche Begrenzung aller
Amtsinnehabung als eine „Art Gewaltenteilung in der Zeit“. Schließlich lässt sich auch eine
„räumliche Gewaltenteilung“ ausmachen60.
7) Organisationsfunktion
Sodann kommt der Verfassung die Aufgabe zu, die Staatsgewalt zu organisieren, respektive
diese in ihrem Grundschema zu normieren61. Sie muss dazu die staatlichen Organe,
Kompetenzen, Formen und Verfahrensweisen, in denen staatliche Macht und politische
Willensbildung ausgeübt wird, bestimmen62. In ihr wird die Entscheidung getroffen, ob es
sich um eine präsidiale- oder eine parlamentarische Demokratie, und ob es sich um einen
Bundes- oder einen Einheitsstaat handeln soll.
58 Vgl. Hertel JöR 48 S. 244. 59 Vgl. Stern § 3 S. 93. 60 Beispielhaft sei die Ansiedelung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes in Karlruhe und die dadurch erreichte räumliche Trennung von Bundestag und Bundesrat in Berlin bzw. vormals Bonn genannt. 61 Dieser Teil der Verfassung stand in der Weimarer Reichsverfassung noch an der Spitze, die Grundrechte dagegen bildeten erst den zweiten Hauptteil und waren in den Art. 109 bis Art. 165 WRV geregelt. Im Gegensatz dazu wurde im Grundgesetz der grundrechtliche Teil an den Anfang gestellt, um deren gesteigerte Bedeutung zu verdeutlichen. 62 Allerdings können nicht alle organisationsrechtlichen Fragen in der Verfassung selbst normiert werden, weshalb Detailfragen in einfachen Gesetzen, wie etwa dem Wahlgesetz, dem Bundesverfassungsgerichtsgesetz oder den Geschäftsordnungen der obersten Staatsorgane, geregelt werden. Sie bilden zusammen mit der Verfassung das Verfassungsrecht im materiellen Sinne.
10
8) Verfassung als Konzentration
Schließlich vermag eine Verfassung die vorgenannten Funktionen nur zu erfüllen, wenn sie
auf das Wesentliche beschränkt ist63. Sie sollte als Grundordnung auf das Grundsätzliche,
Fundamentale und Prinzipielle konzentriert sein64. Mit der erhöhten Geltungskraft der
Verfassung sollten also nur verfassungswürdige Inhalte versehen werden. Welche allerdings
als solche zu qualifizieren sind, ist umstritten. Die äußerste Grenze vermag das aus
rechtsstaatlichen Gründen resultierende Gebot der Lesbarkeit und Übersichtlichkeit einer
Verfassungsurkunde darzustellen65.
Zweiter Teil: Europäisches Verfassungsrecht
I. Entwicklungsstufen des europäischen Konstitutionalisierungsprozesses
Die Vorstellung, dass Europa staaten- und völkerübergreifend eine Einheit darstellt, kann bis
weit in die griechisch-römische Kultur zurückverfolgt werden. Als Formationsprinzipien
wirkten über Jahrhunderte hinweg der Humanismus und das Christentum. Vorläufer der
Verfassungsdiskussion gab es bereits im ausgehenden Mittelalter. Vorliegend sollen
allerdings lediglich einige Eckpunkte des Konstitutionalisierungsprozesses im 20. Jahrhundert
aufgezeigt werden.
Bereits 1924 gründete Graf Coudenhove-Kalegari in Wien die Paneuropa-Union, nach
heutigem Verständnis eine Nichtregierungsorganisation, welche die Öffentlichkeit für die
politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents gewinnen wollte und weitreichende
Ziele, wie etwa eine gemeinsame Armee und Währung, anstrebte. Noch im selben Jahr wurde
auch das „Komitee für die Interessengemeinschaft der europäischen Völker“, später
umbenannt in den „Bund für Europäische Cooperation“ gegründet, dessen Europakonzept
zwar bestimmte Unterschiede aufwies66, aber auch für eine europäische Integration, angelehnt
an den institutionellen Rahmen des Völkerbundes, warb.
Das Aufkommen radikaler und nationalistischer Kräfte in den folgenden Jahren ließ jedoch
für die Realisierung dieser weitreichenden europapolitischen Bestrebungen keinen Raum.
Gleichwohl entstanden auch während des zweiten Weltkrieges vor allem in den
Widerstandsbewegungen grundlegende Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas,
63 Stern § 3 S. 89. 64 Vgl. Stern § 3 S. 89. 65 Vgl. Bleckmann JR 1978 S. 187 ff. 66 So sahen die Anhänger des „Bundes für Europäische Cooperation“ im Gegensatz zu den Mitgliedern der Paneuropa-Union, Großbritannien als einen Teil Europas an.
11
darunter auch einige Verfassungsentwürfe67. Viele dieser Vorstellungen fanden ihren
Niederschlag im Hertensteiner Programm von 1946, worin unter anderem der Schutz der
Menschenrechte, eine föderative Union Europas und ein gemeinschaftliches Gericht zur
Streitschlichtung gefordert worden ist. Im Jahre 1948 rief Winston Churchill in einer Rede in
Zürich dazu auf, einen „Europarat“ als ersten Schritt zu den „Vereinigten Staaten von
Europa“ zu gründen. Der beginnende Ost-West-Konflikt führte überdies zu einer neuen
Interessenkonstellation, die auch Impulse für eine westeuropäische Einigung schuf. Am 5.
Mai 1949 gründeten zehn Staaten zunächst den Europarat, der jedoch keine supranationalen
Befugnisse erhielt.
Aufgrund nationaler Gegensätze erschien auch 1952 keine unmittelbar politische Integration
möglich, weshalb man sich auf eine enge wirtschaftliche Kooperation beschränkte und den
EGKS-Vertrag schloss, der jedoch als erste „Vertragsverfassung“ bezeichnet werden kann68.
1957 wurden dann von den sechs Gründungsstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien,
Luxemburg und Niederlande die Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
(EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) geschlossen. In den folgenden 40
Jahren entstanden immer wieder Entwürfe einer Europäischen Verfassung wie etwa 1963 der
von Max Imboden, 1984 der revolutionäre Entwurf des Europäischen Parlamentes und 1987
der Verfassungsvertrag Franz Crommes.
Im Jahre 1993 trat dann der in Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union
in Kraft, mit dem die Mitgliedstaaten eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, eine
engere Zusammenarbeit in Bereichen der Innenpolitik und eine Währungsunion anstrebten.
1997 kam es zu einer weiteren Revision der Gemeinschaftsverträge in Form des Vertrages
von Amsterdam, dem sich um die Jahrtausendwende eine Konstitutionalisierungsdebatte
anschloss. Als Teil „einer Verfassung von morgen“ (Roman Herzog) wurde auf dem Gipfel
von Nizza im Jahre 2000 die Grundrechtecharta proklamiert, die aber bis heute keine
Rechtsverbindlichkeit erlangt hat69.
Der durch den europäischen Konvent ausgearbeitete Vertrag über eine Verfassung für Europa,
durch den die Europäische Union demokratischer, transparenter und effizienter werden sollte,
wurde zwar von den Staats- und Regierungschefs im Juni 2004 angenommen, scheiterte
jedoch an Volksabstimmungen in Frankreich und in den Niederlanden im Jahre 2005.
67 Vgl. Guttenberg S. 34. So etwa durch das „Französische Komitee für die europäische Föderation“ oder die „Sozialistische Partei Italiens“. 68 Guttenberg S. 39. 69 Allerdings wird vom Gericht erster Instanz (vgl. EuG, EuZW 2002, 186 Rn. 48 – max.mobil Telekommunikation Service GmbH) und den Generalanwälten des Europäischen Gerichtshofes bereits Bezug auf die Europäische Grundrechtscharta genommen, so dass von einer Vorwirkung gesprochen werden kann.
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Ergebnis der darauf folgenden Reflexionsphase ist ein Reformvertrag, der am 13. Dezember
2007 unterzeichnet und bis Mitte 2009 ratifiziert werden soll.
II. Existenz und Funktionen des Europäischen Verfassungsrechts
Zweifelsohne besteht in Europa weder eine Verfassungsurkunde noch sonst ein Dokument,
welches als Verfassung im formellen Sinne qualifiziert werden könnte. Dennoch sind
Bestandteile der europäischen Rechtsordnung immer wieder als materielle Verfassung
bezeichnet und angesehen worden. So war bereits in den achtziger Jahren von einer
Verfassung oder „constitution“ die Rede, wenn es darum ging, Wesen und Bedeutung der EG-
Gründungsverträge zu kennzeichnen70. In seiner Entscheidung „Les Verts/Europäisches
Parlament“71 schloss sich der EuGH dieser Redeweise auch an.
Fraglich ist aber, ob die europäische Rechtsordnung tatsächlich als ein rechtliches
Verfassungsmodell qualifiziert werden kann72.
Da seit der nordamerikanischen Revolution Verfassungen durch einen
organisationsrechtlichen (instrument of government) und einen grundrechtlichen Bestandteil
(bill of rights) gekennzeichnet sind (s.o.), soll nachfolgend mit Blick auf Europa analysiert
werden, ob solche verfassungsrechtlichen Elemente in der differenzierten europäischen
Rechtsordnung vorhanden sind. Besonders eingegangen wird dabei auf den
Grundrechtsschutz (1), da dieser der Herrschaftsordnung die Zielbestimmung und
Ausrichtung vorgibt. Anschließend soll untersucht werden, ob die europäische Rechtsordnung
den oben aufgezeigten Funktionsansprüchen einer Verfassung im Wesentlichen gerecht wird
(2). Hierbei gilt es zu berücksichtigen, dass die dargelegten Verfassungsfunktionen im
nationalstaatlichen Kontext entwickelt wurden und in dogmatischer Hinsicht auf
nationalstaatliche Strukturen bezogen sind, sie folglich nur ihrem Wesen nach, nicht aber zur
Gänze, im europäischen Kontext angewandt werden können.
1) Der Grundrechtsschutz und die Grundfreiheiten in der EU/EG
Der Grundrechtsschutz im Rahmen des Gemeinschaftsrechts stellt sich in vielfacher Hinsicht
als Novum dar. Wesentliches Charakteristikum und zentraler Unterschied ist dabei, dass im
Gegensatz zum Grundrechtsschutz im nationalstaatlichen Kontext oder in Bezug auf die
EMRK, auf Gemeinschaftsebene Grundrechte gegenüber einer nicht-staatlichen
Hoheitsgewalt gesichert werden müssen.
70 Siehe dazu bsp. H.P. Ipsen EuR 1987 S. 195. 71 EuGH Slg. 1986, 1339 – Les Verts. 72 Hertel JöR 48, S. 235.
13
a) Die Entstehung der Grundrechte auf europäischer Ebene
Nachdem der Europäische Gerichtshof anfänglich eine Grundrechtssensibilität vermissen
ließ73, korrigierte er seine Rechtsprechung ab dem Ende der 1960er Jahre und sah die
Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht verankert an.
Paradigmatische Bedeutung kommt dabei der Entscheidung Stauder74 im Jahre 1969 bei75. In
ihr formuliert der Gerichtshof im Anschluss an den eigentlichen Entscheidungsgehalt, einem
obiter dictum gleichkommend, dass er zur Wahrung der in den allgemeinen Grundsätzen der
Gemeinschaftsrechtsordnung enthaltenen Grundrechte der Person verpflichtet ist76. Zur
dogmatischen Begründung dieser Rechtsprechung wird angeführt, dass „durch wertende
Rechtsvergleichung (…) gemeinsame Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsrechts,
insbesondere der nationalen Grundrechte zu ermitteln seien, die als ungeschriebener
Bestandteil des Gemeinschaftsrechts beachtet werden müssten“77. Der Gerichtshof wendet
demnach nicht die nationalen Grundrechte selbst an, sondern klassifiziert diese lediglich als
Rechtserkenntnisquelle für die Ermittlung der ungeschriebenen Gemeinschaftsgrundrechte.
In der Entscheidung Internationale Handelsgesellschaft hat der Gerichtshof dann den
Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Verfassungsrecht
und dessen Grundrechtsgarantien betont, sowie im Anschluss konstatiert, dass ein
gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz durch den Gerichtshof erfolge, der von den
„gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ getragen sei78. Er hat damit
die dogmatische Begründung für die Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte bestätigt.
Zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten traten 1974 in der
Entscheidung Nold als weitere Rechtserkenntnisquellen die von den Mitgliedsstaaten
abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge zum Schutz der Menschenrechte hinzu. Zentrale
Bedeutung nimmt diesbezüglich, wie der Gerichtshof immer wieder hervorgehoben hat, die
EMRK ein79. Auch stützt sich der EuGH in Fällen der Auslegung der EMRK, trotz
73 Dieser Eindruck entstand dadurch, dass der Gerichtshof solche Rügen, die sich auf die Verletzung nationaler Grundrechte bezogen, als unzulässig zurückwies, ohne sich mit der Grundrechtsproblematik auseinanderzusetzen (vgl. etwa EuGH, Slg. 1960, 885, 920 f – Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft). Allerdings war dieses Vorgehen dogmatisch zwingend, da der Gerichtshof weder befugt ist, nationale Vorschriften auszulegen, noch diese gegenüber dem Gemeinschaftsrecht anzuwenden. 74 EuGH Slg. 1969, 419 ff. – Stauder. 75 Inhalt dieser Entscheidung bildete die Frage, ob es grundrechtswidrig sei, wenn Sozialhilfeempfänger, denen Butter zu herabgesetzten Preisen zustand, (um Missbrauch zu vermeiden), beim Erwerb ihren Namen und damit ihre Identität offen legen müssen. Dieses Erfordernis sah allerdings nur die deutsche Fassung vor. Alle anderen sprachlichen Fassungen ließen dagegen einen „individualisierten Gutschein“ genügen. 76 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 21. 77 EuGH Slg. 1969, 419, 427 f. – Stauder. 78 EuGH Slg. 1970, 1125 Rn. 4 – Internationale Handelsgesellschaft. 79 Z.B. EuGH Slg. 1997, I-7493 Rn. 12 –Annibaldi.
14
gelegentlicher Divergenzen80, regelmäßig auf Entscheidungen des EGMR81. Dennoch haben
EuGH und das Gericht erster Instanz - trotz verschiedener Ansätze in der Literatur – eine
förmliche Bindung der Gemeinschaftsrechtsordnung an die EMRK bislang abgelehnt.
Folglich ist die EMRK ebenso wie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der
Mitgliedsstaaten lediglich Rechtserkenntnisquelle, nicht aber Rechtsquelle der
Gemeinschaftsgrundrechte.
Der EuGH und das Gericht erster Instanz haben auf Grundlage der beiden
Rechtserkenntnisquellen einen umfassenden Katalog ungeschriebener Grundrechte
entwickelt82. Dieser umfasst die Menschenwürde, die Achtung der Privatsphäre, der Wohnung
und des Briefverkehrs, den Gleichheitsgrundsatz (als Grundsatz der Chancengleichheit), die
Religionsfreiheit, die Vereinigungsfreiheit, Handelsfreiheit und Berufsfreiheit, das Eigentum,
das Verbot von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts, den allgemeinen
Gleichheitssatz, Meinungs- und Veröffentlichungsfreiheit, ferner das Verbot der
Rückwirkung von Strafgesetzen und die Grundrechte im gerichtlichen Verfahren, also den
Anspruch auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz und auf einen fairen Prozess83.
Die Legitimation des EuGH zur Entwicklung dieser Gemeinschaftsgrundrechte liegt letztlich
in Art. 220 EGV begründet, nachdem dieser gemeinsam mit dem Gericht erster Instanz zur
„Wahrung des Rechts“ verpflichtet ist. Mit dem Wort „Recht“ wird der Inbegriff der
Gerechtigkeitsidee der europäischen Verfassungskultur in das Gemeinschaftsrecht
einbezogen, der in den Gründungsverträgen wie in den mitgliedsstaatlichen Verfassungen
einen jeweils spezifischen Ausdruck gefunden hat84. Der Gerichtshof selbst geht von einer
Verpflichtung zur Entwicklung und Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte aus, da er sich
sonst dem Vorwurf der Rechtsverweigerung ausgesetzt sähe (vgl. Art. 4 des französischen
Code Civil: „deni de justice“) und ferner Rechtsschutz in den nationalen Verfassungen
gesucht würde, was die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts gefährdete85.
Der durch den EuGH entwickelte Grundrechtsschutz wurde vom BVerfG zunächst skeptisch
beurteilt, weshalb es sich eine Überprüfungsbefugnis vorbehielt (sog. Solange I-
80 So etwa, wenn der EuGH mit einer Grundrechtsfrage befasst ist, bevor dieser Gegenstand einer Entscheidung des EGMR war. Vermutlich lässt sich so erklären, dass der EuGH 1989, unter expliziter Bezugnahme auf das Grundrechte der Unverletzlichkeit der Wohnung nach Art. 8 EMRK, Geschäftsräume als vom Schutzbereich nicht erfasst ansah (EuGH, Slg. 1989, 2859 Rn. 18 – Hoechst), der EGMR in der gleichen Rechtsfrage 1992 aber gegensätzlich entschied (NJW 1993, 713 Rn. 29 – Niemitz). 81 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 25. Dies gilt in besonderer Weise für die Maßstäbe in Bezug auf die Dauer eines Verfahrens nach Art. 6 I EMRK. 82 Ehlers-Walter § 1 Rn. 26. 83 Vgl. Streinz § 5 Rn. 372. 84 Grabitz/Hilf-Pernice Art. 164 Rn. 7. 85 Vgl. Streinz § 5 Rn. 355.
15
Entscheidung)86. Im Jahre 1986 entschied es dann allerdings, dass der vom EuGH gewährte
Grundrechtsschutz dem des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbar sei (sog. Solange II-
Entscheidung)87. Seither sind Verfassungsbeschwerden und Normenkontrollanträge, die sich
gegen europäisches Gemeinschaftsrecht richten, unzulässig88. Die zwischenzeitlich durch das
Maastricht-Urteil89 des BVerfG entstandenen Zweifel an der Fortgeltung dieser
Rechtsprechung wurden durch die Entscheidung zur Bananenmarkt-Ordnung90 im Jahr 2000
wieder beseitigt.
Insoweit, wie sich die dogmatische Ableitung des Grundrechtsschutzes durch die
Rechtsprechung des EuGH auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen und die EMRK
zurückführen lässt, findet sie seit 1993 in Art. 6 II EUV eine Absicherung im primären
Unionsrecht91.
b) Der Geltungsbereich der Gemeinschaftsgrundrechte
Ihrer Entstehungsgeschichte nach dienten die Gemeinschaftsgrundrechte zunächst der
Bindung der Gemeinschaftsorgane an grundrechtliche Schutzstandards. Art. 6 II EUV
normiert heute, dass die Union und damit auch die EG an diese Grundrechte gebunden ist.
Aufgrund des supranationalen Charakters des Gemeinschaftsrechts und der engen
Verzahnung von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht stellte sich jedoch die Frage, ob
sich die Bindungswirkung auch auf die Mitgliedstaaten erstrecken sollte92.
Der Gerichtshof hat in zwei Fallkonstellationen die Bindung der Mitgliedsstaaten an
Gemeinschaftsgrundrechte bejaht. So geht er von einer solchen zum einen dann aus, wenn es
sich um den Vollzug von unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht durch Behörden der
Mitgliedsstaaten handelt, zum anderen, soweit es sich um zulässige Einschränkungen der
durch das Gemeinschaftsrecht gewährleisteten Grundfreiheiten von Seiten der
Mitgliedsstaaten handelt93.
Darüber hinaus sind in den Assoziierungsabkommen der Gemeinschaft zunehmend
Grundrechtsklauseln enthalten, so dass sich im Bereich der auswärtigen Beziehungen der
Gemeinschaft gewisse Elemente einer Grundrechtspolitik abzeichnen94.
86 BVerfGE 37, 271 ff. 87 BVerfGE 73, 339 ff. 88 Ehlers-Walter § 1 Rn. 26. 89 BVerfG 89, 155 ff. 90 BVerfGE 102, 147 ff. 91 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 27. 92Dazu Ruffert EuGRZ 1995, 518 ff. 93 Callies/Ruffert Art. 6 EUV Rn. 56 ff. 94 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 34.
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c) Die Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts
Die in Art. 14 II EGV verankerten Grundfreiheiten des Waren-, Personen-, Dienstleistungs-
und Kapitalverkehrs dienen der Errichtung eines gemeinsamen Marktes (vgl. Art. 2 EGV) und
gehören zu den wichtigsten Eckpfeilern des Gemeinschaftsrechts. Obgleich die
Grundfreiheiten in erster Linie gegen die Mitgliedsstaaten gerichtet sind und ursprünglich
dem Abbau von Diskriminierungen dienen sollten, sind sie im Hinblick auf das Europäische
Verfassungsrecht in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Zum einen haben sie durch die Ausformung
als Beschränkungsverbote in der Rechtsprechung des EuGH zunehmend den Charakter
wirtschaftlicher Grundrechte gewonnen95 (am deutlichsten tritt der grundrechtliche Gehalt bei
der Personenverkehrsfreiheit zu Tage), was nicht zuletzt an der Verwendung von
grundrechtsdogmatischen Argumentationsmustern in Form von „Drittwirkung“ und
„Schutzpflichten“ deutlich wird96. Zum anderen ist aber auch die zu ihnen ergangene
Rechtsprechung von zentraler Bedeutung. In der Entscheidung van Gend & Loos97 im Jahr
1963 wurden die unmittelbare Anwendbarkeit des primären Gemeinschaftsrechts und die
Grundfreiheiten als subjektiv-öffentliche Rechte anerkannt, was einen erheblichen
qualitativen Sprung bedeutete. Nach der Entscheidung des EuGH schafft die Gemeinschaft
eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“, deren Rechtssubjekte nicht nur die
Mitgliedsstaaten, sondern auch die einzelnen Bürger sind98. Diese Judikatur bestätigte der
EuGH in mehreren Folgeentscheidungen, insbesondere in der Costa/ENEL-Entscheidung99. In
der Anerkennung des übergeordneten Charakters des EG-Rechts kann ein europäisches
„Marbury vs. Madison“ (s.o.) gesehen werden100. Das Gericht hat mithin rechtsschöpferisch
den Konstitutionalisierungsprozess geprägt, das Gemeinschaftsrecht von der
völkerrechtlichen Grundlage gelöst und seine Prinzipien in Richtung auf eine Verfassung
entwickelt101.
2) Funktionsanforderungen an ein Europäisches Verfassungsrecht
Fraglich ist zunächst, ob das EG-Recht normativ höchstrangig ist, ihm eine Vorrangwirkung
zukommt. Die Erfüllung dieses Merkmals wird immer wieder bestritten, da sich der
Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts nicht auf einem „autonomen“
Rechtsanwendungsbefehl der Gemeinschaftsordnung selbst gründet, ihre Legitimität nicht
95 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 49. 96 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 36. 97 EuGH, Slg. 1963, 1 ff. – Van Gend & Loos. 98 Vgl. Ehlers-Walter § 1 Rn. 37. 99 EuGH, Slg. 1964, 1141 ff – Costa/ENEL. 100 Vgl. Guttenberg S. 86. 101 Vgl. zur Rolle des EuGH als Verfassungsgericht bereits Rodriguez Iglesias EuR 1992 S. 225 ff.
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außerhalb der verfassten Rechtsordnung entspringt102. Bei formaler Betrachtung gründet sich
die Legitimität der Unionsrechtsordnung in der Tat nicht auf die außerrechtliche Fiktion der
verfassungsgebenden Gewalt des Volkes, auf ein „We the people“, sondern auf den von den
mitgliedsstaatlichen Parlamenten normativ legitimierten Ratifikations- und
Rechtsanwendungsbefehlen und somit auf Handlungen der in den Mitgliedsstaaten
demokratisch verfassten Gewalten103. Ungeachtet dessen hat das EG-Recht aber de facto seit
der Entscheidung Van Gend & Loos übergeordneten Charakter (s.o.) und erfüllt somit die
Bedingung des Vorrangs der Verfassung.
Im Primärrecht sind auch grundlegende Prinzipien und Aufgaben definiert (bspw. in Art. 2 f.
EUV, Art. 6 EUV Art. 11 EUV, Art. 29 EUV, Art. 2 ff. EGV), wodurch wesentliche Teile
des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes „gerahmt“ und bestimmte Ziele aufgegeben
sind. Insofern ist den Verträgen in begrenztem Maße auch eine Ordnungsfunktion immanent.
Weiterhin müsste den Bestandteilen eine stabilisierende Wirkung zukommen. Zweifelsohne
wird man den durch den Gerichtshof geschaffenen Gemeinschaftsgrundrechten dieselbe
relative Konstanz wie anderen, möglicherweise kodifizierten Grundrechten attestieren. In
Bezug auf die Verträge als „Organisationsstatute“ kann man zwar einen gewissen Wandel
feststellen104. Dieser ist aber primär der europäischen Integration und Extension geschuldet
und wirkt jedenfalls nicht destabilisierend. Obgleich auf europäischer Ebene keine
unabänderlichen Verfassungsinhalte (vergleichbar der Ewigkeitsgarantie des Art. 79 III GG)
bestehen, ist kein Grund zur Annahme von Instabilität ersichtlich. Die europäischen
Verfassungselemente weisen somit ein adäquates Maß an „Starrheit“ und „Beweglichkeit“ auf
und können damit als dauernde Grundordnung gelten.
Fraglich ist aber, ob diese auf das Wesentliche konzentriert sind, sich also auf das
Fundamentale und Prinzipielle beschränken. Prima facie ist man geneigt, dies mit Blick auf
EGV und EUV zu verneinen. Eine solche statische Betrachtung wird aber dem Umstand nicht
gerecht, dass es sich im europäischen Kontext nicht um eine Verfassung im formellen Sinn
handelt. Demnach sind nicht die Verträge in Gänze als Verfassungsrecht zu qualifizieren,
sondern vielmehr nur einzelne Regelungen als solches anzusehen. Hinzu tritt, dass selbst
102 Koenig DÖV 1998 S. 273. 103 Vgl. Koenig DÖV 1998 S. 274. 104 Beginnend mit dem EGKSV aus dem Jahre 1952 über den EWGV und den EAGV bis zum Vertrag von Nizza (2001/2003).
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bewährte und erfolgreiche Verfassungen, wie etwa das Grundgesetz, durchaus Regeln
enthalten, deren Verfassungswürdigkeit bezweifelt werden kann105.
Auch finden sich in den Gründungsverträgen Regelungen zur Schaffung von supranationalen
Haupt- und Nebenorganen (vgl Art. 7 I und II EGV)106, zu deren Kompetenzen und
Verfahrensweisen (Mitentscheidungsverfahren Art. 251 EGV, Verfahren der Zusammenarbeit
Art. 252 EGV und das Anhörungsverfahren), weshalb zweifelsohne eine
Organisationsfunktion bejaht werden kann.
Im Hinblick auf die grundrechtliche Sicherungsfunktion ist zu konstatieren, dass aufgrund der
Unverbindlichkeit der Europäischen Grundrechtscharta und der richterrechtlichen
Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte bisher ein kodifizierter Grundrechtskatalog fehlt
(s.o.). Dennoch verdeutlicht die im Einklang mit anderen europäischen Verfassungsgerichten
ergangene Solange II-Entscheidung107 des BVerfG, dass bezogen auf Schutzniveau und
Schutzumfang ein vergleichbarer Grundrechtsschutz gewährleistet ist.
Zweifelhaft ist aber, ob die Begrenzung von Macht durch Trennung und Hemmung der
Gewalten in ausreichendem Maß gewährleistet ist. Gemeinhin ist den durch Wahlen
unmittelbar legitimierten Parlamenten die Rechtssetzung überantwortet108. In der
Gemeinschaft ist allerdings der Ministerrat das alleinige Beschlussorgan für die Gesetzgebung
der EG. Nicht unerheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung nimmt auch das
Hauptexekutivorgan der EG, die Kommission, da sie das Initiativmonopol innehat. Diese
kann aber für sich nicht in Anspruch nehmen, durch eine „ununterbrochene demokratische
Legitimationskette“109 ihre Ausübung von Hoheitsgewalt auf das Volk zurückführen zu
können. Dem Europäischen Parlament dagegen - als einzigem, unmittelbar demokratisch
legitimiertem Organ - kommt je nach berührter Materie im Gesetzgebungsverfahren lediglich
ein Vetorecht zu. Hierin kommt die Mangelhaftigkeit in Bezug auf das grundlegende
Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung zum Ausdruck. Zwischen den Gemeinschaftsorganen
besteht also eher ein institutionelles Gleichgewicht als eine ausgeprägte Gewaltenteilung.
Obgleich also hinsichtlich der horizontalen Gewaltenteilung Defizite bestehen, kann man
Europa als supranationales, föderales System geteilter Herrschaft zwischen Zentralgewalt und
105 Vgl. Stern § 3 S. 90. Dieser stellt die Verfassungswesentlichkeit einiger Normen im Berech der Notstandsverfassung (Art. 115 ff.), der Verwaltung (Art. 83 ff.) und der Finanzverfassung (Art. 104a ff. GG) in Frage. 106 Diese sind Europäisches Parlament (Art. 189 f. EGV), Rat der EU (Art. 202 f.), Kommission (Art. 211 f.), EuGH (Art. 220 f.), Rechnungshof (Art. 246 f.), Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 257 f.), und der Ausschuss der Regionen (Art. 263 f.) 107 BVerfGE 73, 339 ff. 108 Vgl. Degenhart § 1 Rn. 12. 109 Vgl. dazu HdBStR-Böckenförde I § 22 Rn. 11.
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konstituierenden Teilgewalten, als Mehrebenensystem politischer Herrschaft110 bezeichnen,
dem eine gewisse Form der vertikalen Gewaltenteilung eigen ist. Den weiterhin den
Mitgliedsstaaten verbleibenden Kompetenzen trägt auch das zuständigkeitsbegrenzende
Subsidiaritätsprinzip111 aus Art. 5 II EGV Rechnung, welches europäischen Zentralismus
verhindern und eine Regionalisierung der Entscheidungsprozesse schaffen will. Daneben
besteht zweifelsohne auch eine Beschränkung der Macht in zeitlicher Dimension (vgl. etwa
Art. 214 I, Art. 190 III EGV)112. In Anbetracht dessen kann trotz bestimmter Defizite eine
Begrenzungsfunktion bejaht werden113.
Der Integrationsfunktion kommt im europäischen Kontext gegenüber der nationalen
Verfassung gesteigerte Bedeutung zu, um das pluralistische Europa zu einen. Zwar kommt
eine solche in den Präambeln (vgl. Präambel EUV114), in den Verfassungszielen (vgl. Art. 151
II EGV) und in bestimmten Grundrechten (vgl. Art. 19 und 194 EGV) zum Ausdruck115.
Auch sind vereinzelt Identifikationschancen wie etwa in Art. 2 und 6 EUV (Menschenrechte,
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit) oder Art. 3 EUV („gemeinschaftlicher Besitzstand“) und
Art. 11 EUV („gemeinsame Werte“) auszumachen116. Dennoch sind weite Teile der in den
Verträgen niedergelegten demokratischen Rechte für die Bürger nur schwer erkenn- und
wahrnehmbar; dies gilt in besonderem Maße für die durch den EuGH entwickelten
ungeschriebenen Grundrechte117. J.H.H. Weiler spricht deshalb auch von einem
„selfreferential legal universe“118. Auch in Ermangelung einer europäischen
110 Vgl. Pache EuR 2002 S. 767. 111 Zwar wird dem Subsidiaritätsgrundsatz aus Art. 5 II EGV häufig die Funktion zugeschrieben, Verfahrenseffizienz zu schaffen, weshalb diese Norm auch als Optimierungsklausel bezeichnet wird. Historisch geht dieser Grundsatz, der für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens gilt, aber auf die katholische Soziallehre zurück. Er verlangt, dass in einer Gesellschaftsordnung das Leben „von unten“, von der Person her wachsen muss und nicht allein „von oben“ her zu organisieren ist. Das Subsidiaritätsprinzip knüpft also an die Bestimmung der Person als ens individuale an und verdeutlicht die Zuordnung von Person und Gesellschaft, indem es die Zuständigkeit zwischen beiden abgrenzt. Danach soll der Mensch jede an ihn herangetragene Aufgabe selbst erfüllen, soweit er dazu fähig ist. Die Gesellschaft muss also nur „subsidiär“ eingreifen, das heißt, sie muss Hilfe zur Selbsthilfe leisten, welche die Initiative und Eigenkräfte fördert, aber nicht lähmt. Das Subsidiaritätsprinzip drängt also auf die so wesentliche Entfaltung von Selbstbestimmung und Eigentätigkeit (vgl. vertiefend dazu: Evangelisches Staatslexikon, 1975, S. 2378 f.). 112 So ist die Amtszeit der Kommissare beispielsweise ebenso wie die der Abgeordneten des Europäischen Parlaments auf 5 Jahre beschränkt (Art. 214 I, Art. 190 III EGV). 113 So auch Häberle, Europäische Verfassungslehre, S. 211, der eine zusätzliche Machtbeschränkung durch den Rechnungshof und den Bürgerbeauftragten gewährleistet sieht. 114 Insbesondere das Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit sowie der Wunsch zur Stärkung der Solidarität zwischen ihren Völkern „unter Achtung ihrer Geschichte, Kultur und ihrer Traditionen“. 115 Häberle, Europäische Verfassungslehre S. 211. 116 Häberle, Europäische Verfassungslehre S. 211. 117 Guttenberg S. 94. 118 Weiler S. 190.
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Verfassungsurkunde, mit der sich die Bürger Europas identifizieren können, kann also von
einer zufrieden stellenden Identifikations- und Integrationsfunktion nicht die Rede sein119.
III. Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union Sodann stellt sich die Frage, ob die Europäische Union überhaupt ein potentielles
Zuordnungsobjekt für eine europäische Verfassung sein kann. Die Verfassungsfähigkeit der
EU wurde insbesondere in der deutschen Staatsrechtswissenschaft immer wieder in Abrede
gestellt. Die meisten Einwände, Vorbehalte und Unmöglichkeitsverdikte scheinen dabei auf
die Drei-Elemente-Lehre G. Jellineks zu rekurrieren.
Während in Großbritannien Verfassung den Prozess politischer Selbstorganisation betrifft, der
amerikanische Verfassungsbegriff zentral auf die Gesellschaft bezogen ist und der
französische Verfassungsbegriff ganz wesentlich die Nation zum Gegenstand hat120, wurde in
Deutschland der Begriff der Verfassung traditionell auf den Staat bezogen und seine Existenz
zur Voraussetzung erklärt121, ihm also eine „präkonstitutionelle Bedeutung“ beigemessen122.
Gründe dieser Staatszentrierung des deutschen Verfassungsbegriffes mögen G.W.F. Hegels
mystifiziertes Staatsverständnis123 und das Fehlen deutscher Eigen- und Einheitsstaatlichkeit
zu Beginn des Konstitutionalismus sein124. Ursache für die Verknüpfung von Staat und
Verfassung mag aber auch sein, dass Hoheitsgewalt bis in die jüngere Vergangenheit
grundsätzlich nur von Staaten ausgeübt wurde, so dass kein Anlass bestand, den
Verfassungsbegriff im Hinblick auf andere, überstaatliche Formen der Hoheitsausübung zu
denken125. Auch gegenwärtig ist diese Annahme durchaus verbreitet126. Unter dieser Prämisse
könnte der Europäischen Union lediglich dann die Verfassungsfähigkeit zuerkannt werden,
119 Vgl. Pache EuR 2002 S. 777. 120 Vgl. Pernice VVDStRL 60 (2000) S. 156 ff.; Peters S. 95 ff. 121 So etwa bei R. Smend Verfassung und Verfassungsrecht S. 189: „Die Verfassung ist die Rechtsordnung des Staates, genauer des Lebens, in dem der Staat seine Lebenswirklichkeit hat, nämlich seines Integrationsprozesses“. Ebenso C. Schmitt, Verfassungslehre, S. 3: „Das Wort „Verfassung“ muss auf die Verfassung des Staates begrenzt werden“. 122 Kritisch dazu Häberle HbStR S. 815 ff. 123 Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werk 7 (hrsg. E. Moldenhauer/K. M. Michel, 1971), S. 398 ff. (§§ 257): „ Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, oder „ das an und für sich Vernünftige“; „ diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck (…), objektiver Geist“, (ebd., § 258). Ferner: „Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich“ (ebd., § 279); „ Man muß den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren“ (§ 272 Zusatz). 124 Peters S. 98 f. 125 Pache EuR 2002 S. 773. Allerdings hat Alfred Verdross Mitte der Zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts aufgrund der Schaffung des Völkerbundes von einer „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ gesprochen und damit den Verfassungsbegriff vom Staat gelöst (vgl. Verdross „Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“, 1926). 126 Vgl. HdBStR-Isensee I 1987, § 13 Rn. 1, der konstatiert: “Verfassung ist nicht zu verstehen ohne Staat. Dieser ist ihr Gegenstand und ihre Voraussetzung.“
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wenn sie zugleich als Staatsgebilde anzusehen wäre127. Als Grundvoraussetzung der
Staatsqualität eines Gemeinwesens werden nach klassischem Verständnis, in Anlehnung an
G. Jellineks Drei-Elemente-Lehre, eine einheitliche, umfassende, unbegrenzte und
unabgeleitete Staatsgewalt, deren territoriale Allzuständigkeit auf einem Staatsgebiet sowie
ein Staatsvolk verlangt. Gerade solche Qualitäten spricht ein Teil der Lehre der EU ab und
verneint die Anerkennung des Verfassungscharakters der Verträge, die Legitimation der
supranationalen öffentlichen Gewalt und die Verfassungsfähigkeit der EU. Prononciert
vertreten werden diese Auffassungen insbesondere von den beiden ehemaligen
Bundesverfassungsrichtern P. Kirchhof und D. Grimm. Letzterer hebt hervor, es fehle am
„demos“, an einem europäischen Volk, welches pouvoir constituant sein könnte. In
Ermangelung eines solchen homogenen europäischen Volkes und einer gemeinsamen Sprache
fehle es aber auch an einer europäischen öffentlichen Meinung, weshalb schon Demokratie als
solche in Europa unmöglich sei128.
Der Auffassung D. Grimms ist konkret entgegenzuhalten, dass sie die Erkenntnis des
„Revolutionären“ an der europäischen Integration vermissen lässt. Wesentliches Merkmal der
EU ist die Verwirklichung einer „constitution of diversity“, einer Union unter Wahrung ihrer
kulturellen und staatlichen Vielfalt, gegründet auf die Gleichheit, die die Freiheit zum
Anderssein mitgewährleistet, also unter der Prämisse eines „Principle of Constitutional
Tolerance“129.
Insgesamt haftet den, auf ein klassisches Verständnis der Drei-Elemente-Lehre gestützten
Auffassungen, etwas Anachronistisches an. Sie vermögen unter Berücksichtigung von
Globalisierung und der sich ständig verstärkenden europäischen Integration in ihrer
Absolutheit nicht mehr zu überzeugen und bedürfen der Relativierung130.
Die staatliche Souveränität, die teilweise als Voraussetzung für eine Verfassung apostrophiert
wird, hat sich in den letzten Jahrhunderten grundlegend gewandelt131. Aufgrund der sich stetig
verdichtenden internationalen und supranationalen Staatenkooperation, der zunehmenden
Verflechtung von Staaten in weltweiten oder überregionalen Problemlösungsverbänden,
denen die äußere und innere Sicherheit, die Weltwirtschaft und der Binnenmarkt, der
grenzüberschreitende Umweltschutz und die soziale Sicherheit der Arbeitnehmer ganz oder
127 Vgl. Hupka S. 39. 128 Vgl. dazu Grimm JZ 1995, S. 581 ff. 129 Vgl. Pernice,Verfassungsfrage S. 30. 130 Dazu Häberle „Europa – Eine Verfassungsgemeinschaft“ S. 105; Weiler, JöR 44 (1996), S. 91 ff.; Peters, S. 103 ff. u. 163 f.; Pernice, „ Die Notwendigkeit institutioneller Reformen“ S. 15 f.; Kotzur S. 254 ff. 131 Pache EuR 2002 S. 773.
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teilweise übertragen werden, ist staatliche Souveränität heute in vielfacher Weise faktisch und
rechtlich relativiert132.
Dies gilt in besonderem Maße für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die aufgrund
der Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV), der Übertragung zentraler Rechtssetzungsbefugnisse,
des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts vor dem gesamten nationalen Recht, der Schaffung
unabhängiger gemeinschaftlicher Institutionen, der Übertragung der Währungshoheit und der
Relativierung der staatlichen Hoheitsgewalt bezüglich des Staatsgebietes durch das
Schengener Abkommen, die Kriterien der Drei-Elemente-Lehre nicht mehr vollumfänglich
erfüllen133.
Die Einwände gegen eine Europäische Verfassung beruhen somit auf einem überholten,
etatistisch verengten und souveränitätsfixierten Staats-, und Verfassungsverständnis134, das
die heutigen, komplexen kooperativen Erscheinungsformen staatlichen, internationalen und
supranationalen Entscheidens nicht einzufangen vermag und das der unabdingbaren
Legitimations- und Begrenzungsfunktion einer Verfassung bei jeder organisierten
Hoheitsrechtsausübung nicht gerecht wird135.
Schließlich verkennen diejenigen, die die Verfassungsfähigkeit verneinen, dass die Genialität
des von Jean Monnet und Robert Schuman vor mehr als 50 Jahren entwickelten Ansatzes sich
gerade durch die Überwindung des klassischen Nationalstaates, der als Garant der inneren und
äußeren Sicherheit seine Bewährungsprobe nicht hat erfüllen können, auszeichnet136.
Legt man ein modernes, funktional auf die Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt
zentriertes Verfassungsverständnis zu Grunde137, so ist die EU also durchaus
verfassungsfähig138.
IV. Verfassungsbedürftigkeit der Europäischen Union
An die Frage nach der Verfassungsfähigkeit schließt sich die Frage nach der
Verfassungsbedürftigkeit an. Diese wird zum Teil unter Hinweis darauf, dass der EuGH
132 Vgl. Pache S. 155 ff. 133 Vgl. Hupka S. 40. 134 Für eine „Eliminierung des Souveränitätsbegriffs aus der der Dogmatik des Staatsrechts“ sprach sich im Übrigen bereits Hugo Preuß aus (vgl. H. Preuß „Gemeinde, Staat, Reich als Gebietskörperschaften 1889, S. 92.) 135 Vgl. Pache EuR 2002 S. 771. 136 Vgl. m.w.N. Pernice, Verfassungsfrage S. 21. 137 Ein solches modernes, dem Staat nicht mehr präkonstitutionelle Bedeutung beimessendes Verständnis hat P. Häberle unter Bezugnahme auf R. Smend und A. Arndt mit den Worten formuliert: „Es gibt nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiert.“ (vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre S. 186). 138 Vgl. Pache EuR 2002 S. 774.
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bereits den Europäischen Gründungsverträgen, respektive dem Primärrecht, ausdrücklich die
Qualität einer Gemeinschaftsverfassung zugesprochen hat,139 verneint.
Es ist richtig, dass Teile der Gemeinschaftsverträge durchaus eine Verfassung im materiellen
Sinne, genauer gesagt eine materielle Teilverfassung, bilden140. Das
Gemeinschaftsverfassungsrecht basiert aber auch auf den gemeinsamen
Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten; dieses wirkt wiederum auf die
mitgliedstaatlichen Verfassungen zurück, so dass nationale Verfassungen und europäische
Verfassungselemente Teilordnungen eines einheitlichen europäischen Verfassungssystems
darstellen, das als Verbund komplementärer Verfassungen, gewissermaßen als
Mehrebenensystem, verfassungsrechtliche Vorgaben für die Ausübung öffentlicher Gewalt in
Europa bereit hält141.
Dieses „konstitutionelle Mosaik“142 kann die oben skizzierten unabdingbaren
Verfassungsfunktionen allerdings nur partiell erfüllen (s.o.). Insbesondere die für ein
pluralistisches Europa so wichtige identitäts- und integrationsstiftende, den Bürger
„ansprechende“ Funktion der Verfassung im Sinne R. Smends, ist nur ansatzweise
auszumachen143. Erst eine Verfassung im formellen Sinne, das heißt eine europäische
Verfassungsurkunde, würde eine Identifikation der Unionsbürger vollends ermöglichen,
idealiter zu einem „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger) führen. Um dies zu erwirken,
bedarf es zwar nicht zwingend eines eigenen Gründungsmythos oder einer „revolutionären
Situation“144. Verfassung kann nämlich auch ein evolutionärer Prozess sein, wie die
europäische Geschichte seit 1950 zeigt145. Eine Europäische Verfassung, im Idealfall durch
ein europaweites Referendum ratifiziert, dass zugleich einen „constitutional moment“ bildet,
würde diesem Prozess aber einen weiteren Impuls geben, die weitere Integration „tragen“
und, vermittelt durch ihren einheitsstiftenden Gehalt, Europa als Werte- und
Identitätsgemeinschaft symbolhaft darstellen.
139 EuGH Slg. 1986, 1339 Rn. 23 - Les Verts ; Slg. 1990, 3365 Rn. 16; Slg. 1991, 6079 Rn. 21 - Gutachten 1/91, EWR-I. 140 Vgl. Pache EuR 2002 S. 775. 141 Vgl. Pernice VVDStRL 60 (2000) S. 165 ff. 142 Vgl. Häberle, Verfassungslehre S. 209 ff. 143 Vertiefend dazu Häberle, der diese primär in den Präambeln (Präambel des EUV), aber auch „in, bzw. hinter“ den Verfassungszielen (etwa Art. 151 II EGV) sowie in den Grundrechten (Art. 19 EGV, Art. 194 EGV) sieht, vgl. Häberle, Verfassungslehre S. 211. 144 So aber Hofmann JZ 1999 S. 1074: „Es besteht keine Notwendigkeit, die Herrschaftsbefugnisse der europäischen Institutionen neu zu begründen, kein Bedürfnis, durch einen solchen Gründungsakt gegen fremde Herrschaft und Bevormundung eins und frei zu werden und erst durch diese Freiheit Zukunft zu gewinnen“. 145 Vgl. Pernice, Verfassungsfrage S. 29, der in dem Jahr 1945 auch einen auslösenden „constitutional moment“ sieht.
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Eine Europäische Verfassung könnte auch die anderen aufgezeigten Mängel und
Funktionsinadäquanzen, wie insbesondere die unzureichende Gewaltenteilung, das
Demokratiedefizit sowie die Ineffektivität bzw. Intransparenz der Entscheidungsverfahren
beheben, und dem Bürger durch Vereinfachung und größere Übersichtlichkeit ermöglichen,
die neue Formation öffentlicher Gewalt besser zu verstehen und sich selbst als Subjekt dieser
Entwicklung zu erkennen146.
Somit ist ein Verfassungsbedarf der Europäischen Union offensichtlich gegeben.
Dritter Teil: Ausblick und Schluss
I. Der „Vertrag von Lissabon“ als Verfassung?
Ob der am 13. Dezember 2007 in Lissabon zu unterzeichnende Reformvertrag dem
aufgezeigten Verfassungsbedarf gerecht wird, mag bezweifelt werden.
Obgleich er materiell-rechtliche Verbesserungen verspricht und als Annäherung an das Ideal
einer Europäischen Verfassung begriffen werden kann, wird sein Beitrag zur Vertiefung einer
europäischen Identität147 verhältnismäßig gering ausfallen.
Vor dem Hintergrund, dass der Reformvertrag auf eine demokratischere und transparentere
Europäische Union zielt, erscheint bereits das einer Arkanpolitik gleichkommende Vorgehen
zur Einigung auf den Reformvertrag - von J. Habermas jüngst als „unverholen elitär und
bürokratisch“ bezeichnet148 - als schlechtes Omen.
Auch die Aufgabe des Begriffes „Verfassung“, die Annullierung der kulturellen
Konsensquellen (Flagge, Hymne, Europatag und Leitspruch, vgl. Art. I-8 EVV) und die
Exklusion der Europäischen Grundrechtscharta erscheint als destruktiv. Gerade angesichts der
Erweiterung der EU müssten eine komplementäre Vertiefung der Gemeinsamkeiten und die
weitere Ausbildung einer Identität erfolgen. Dass sich Europa mit der Ausbildung einer
eigenen Identität nicht leicht tut, mag auch darin begründet liegen, dass als
Formationsprinzipien und treibende Kräfte lange Zeit Christentum und Humanismus gewirkt
haben. Insbesondere das Christentum scheint aber im 21. Jahrhundert in die Defensive geraten
zu sein und prägt nicht mehr in dem Maße die Gesellschaften Europas.
146 Vgl. Di Fabio JZ 2000 S. 738. 147 Hierzu Pache DVBl 2002 S. 1154. 148 So Habermas im Dialog mit Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Rahmen der Veranstaltung „philosophy meets politics“ des Kulturforums der Sozialdemokratie am 23. November 2007 im Willy-Brandt-Haus, vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 271 vom 24./25.11.2007 S. 17.
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Insgesamt erscheint der Reformvertrag zu sehr Ergebnis eines „verfassungstheoretischen
Notwendigkeitsdenkens“ und zu wenig einem „Möglichkeitsdenken“ der Staats- und
Regierungschefs entsprungen149.
Angesichts der „globalisierten“ Herausforderungen in einer multipolaren Welt bleibt zu
hoffen, dass Walter Hallstein mit seinem Dictum „Wer in Bezug auf Europa nicht an Wunder
glaubt, ist kein Realist“ Recht behalten soll.
Die Finalität der europäischen Integration ist mit dem Reformvertrag von Lissabon noch
längst nicht erreicht.
149 Vertiefend zu der Trias des verfassungstheoretischen Denkens: Häberle AöR 102 (1977) S. 27 ff.