Europäisches Aufenthaltsrecht für...
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Europäisches Aufenthaltsrecht für Drittstaatsangehörige*
von Dr. Rolf Gutmann, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Verwaltungsrecht
1. Einleitung
Diesen Überblick über das Aufenthaltsrecht von Drittstaatsangehörigen in den Mitgliedstaaten der
Europäischen Union will ich mit der Darstellung der Rechte derjenigen Familienangehörigen von
Unionsbürgern beginnen, die nicht aus den Mitgliedstaaten stammen, sondern aus Drittstaaten.
Sodann wende ich mich den Rechten der praktisch besonders bedeutsamen türkischen
Staatsangehörigen zu. Aufenthaltsrechte ergeben sich möglicherweise auch aus den mit den
Maghreb-Staaten abgeschlossenen Kooperationsabkommen. Zu untersuchen ist schließlich die
aufenthaltsrechtliche Bedeutung der mit den Staaten Mittel- und Osteuropas abgeschlossenen sog.
Europaabkommen.
Im Vertrag von Amsterdam wurde die Vereinheitlichung der Politik der Mitgliedstaaten gegenüber
Drittstaatsangehörigen durch Kompetenzerweiterungen der Gemeinschaft vorangetrieben1. Der
Abbau von Grenzkontrollen für zwischen den Mitgliedstaaten reisende Unionsbürger führt zu einer
Erweiterung der Möglichkeiten von Drittstaatsangehörigen, sich unkontrolliert im sich
vereinheitlichenden Rechtsraum zu bewegen. In Art. 61 ff. EG wurden dem Rat die entsprechenden
Kompetenzen übertragen. Das Abkommen von Schengen ist in das Vertragswerk der Gemeinschaft
inkorporiert2. Damit unterliegen die Regelungen über die zeitlichen Begrenzungen der Visa in Art.
10 f. SDÜ der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, ebenso gemäß Art. 5 Abs. 1 d) SDÜ
der Ausschluss ausgewiesener Ehegatten Deutscher von dreimonatigen Besuchsreisen in andere
Mitgliedstaaten. Die europarechtliche Problematik besteht darin, dass die Ausweisung solcher
Ehegatten niedrigeren Schranken unterliegt als denjenigen des gemeinschaftsrechtlichen ordre
public. So dürfen die Ehegatten Deutscher mit generalpräventiver Begründung ausgewiesen
werden. Doch dazu im folgenden näher.
* Vortrag beim Deutschen Anwaltstag am 1.6.2000 in Berlin1 Dazu Lang, Zu den Rechtswirkungen des Vertrags von Amsterdam auf den Rechtsstatus von
Drittstaatsangehörigen, ZAR 1998, 592 Protokoll Nr. 2 zur Einbeziehung des Schengen-Besitzstandes in den Rahmen der Europäischen Union
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Drittstaatsangehörige als Familienangehörige von Unionsbürgern
1.1. Der begünstigte Personenkreis
Wild zerklüftet ist das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen von Unionsbürgern3. § 1 Abs. 2
AufenthG/EWG und § 1 FreizügigV/EG versuchen, diese Aufenthaltsrechte wiederzugeben. Man
kann sich fragen, ob beide Regelungen gelungen sind. Sie geben jedenfalls m. E. nicht in vollem
Umfang den wirklichen Inhalt der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen wieder. Das Recht der EU
kennt bis heute keine unbegrenzte Wanderungsfreiheit für alle Unionsbürger. Bezogen auf die
Rechte der Familienangehörigen lassen sich unterschiedliche Gruppen unterscheiden.
Die Familienangehörigen von Arbeitnehmern sind sehr umfassend begünstigt. Nachziehen dürfen
gemäß Art. 10 VO 1612/68/EWG die Ehegatten, die unter 21-jährigen Kinder (auch des Ehegatten),
ältere Kinder und Verwandte in aufsteigender Linie (auch des Ehegatten), wenn sie ihnen Unterhalt
gewähren. Nach Art. 11 derselben Verordnung haben Ehegatten und Kinder des EG-Arbeitnehmers
auch unbeschränkten Zugang zum gesamten Arbeitsmarkt. Es wird also unterschieden. Das
Zuzugsrecht der Verwandten in aufsteigender Linie eröffnet diesen nicht den Zugang zum
Arbeitsmarkt. Unter den Voraussetzungen des Art. 3 VO 1251/70/EWG dürfen sie auch nach dem
Ausscheiden des EG-Arbeitnehmers aus dem Erwerbsleben und nach seinem Tod im Mitgliedstaat
verbleiben.
Dieselben Aufenthaltsrechte haben die Familienangehörigen von selbständig Erwerbstätigen (Art. 1
RL 73/148/EWG), auch nach deren Ausscheiden aus dem Erwerbsleben und nach dem Tod (Art. 3
RL 75/34/EWG). Der Zuzug von Familienangehörigen zu solchen Rentern ist auch dann zu
erlauben, wenn diese Rentner selbst auf Sozialhilfe angewiesen sind. Ausschlaggebend ist allein der
Umstand, ob überhaupt - und noch so geringer - Unterhalt gewährt wird. Allerdings verschafft das
Gemeinschaftsrecht in diesen Fällen keinen Anspruch auf Sozialhilfe4.
Der Zuzug zu Rentnern in einen anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem die Berufstätigkeit
als Arbeitnehmer oder Selbständiger ausgeübt wurde, ist gemäß Art. 1 Abs. 2 RL 90/365/EWG den
Ehegatten zu ermöglichen; ebenso den Familienangehörigen in absteigender Linie und in
aufsteigender Linie den eigenen Familienangehörigen und denjenigen des Ehegatten, denen
Unterhalt gewährt wird. Zutritt zum Arbeitsmarkt haben wiederum nur der Ehegatte und die Kinder
(Art. 2 Abs. 2 S. 2 RL 90/365/EWG).
3 Den Änderungsvorschlag der Europäischen Kommission, der die Regelungen zusammenfassen will, kann
ich hier nicht behandeln. Insoweit sei auf Albin, Die Reform des europäischen Freizügigkeitsrechts,ZfSH/SGB 1999, 387 hingewiesen.
4 EuGH, U. v. 18.6.1987 - Rs. 316/85 -, EZAR 814 Nr. 1 (Lebon)
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Ehegatten und Kinder sind auch nach der sog. Playboy-Richtlinie 90/364/EWG begünstigt. Hier ist
Voraussetzung der Besitz ausreichender Existenzmittel. Ähnlich der Familiennachzug zu Studenten:
Der Ehegatte und unterhaltsberechtigte Kinder dürfen nachziehen, wenn die Familien nicht auf den
Bezug von Sozialhilfe angewiesen ist (Art. 1 RL 93/96/EWG).
Verglichen mit dem Recht auf Zuzug zu Deutschen (§ 23 AuslG) fällt insbesondere auf, dass das
Gemeinschaftsrecht keine Altersgrenze von 18 Jahren für die Gestattung des Familiennachzugs
kennt und dass selbst der Zuzug Unterhalt empfangender Eltern und Schwiegereltern zu
ermöglichen ist.
1.2. Die Trennung von Familienangehörigen
Günstig behandelt das Gemeinschaftsrecht auch getrennt lebende Ehegatten. Während § 19 Abs. 1
AuslG das Aufenthaltsrecht nachgezogener Ehegatten davon abhängig macht, dass die familiäre
Lebensgemeinschaft für eine gewisse Zeit (derzeit vier Jahre; als Gesetzesänderung geplant ist eine
Verkürzung auf zwei Jahre) bestanden hat, entfällt bei Trennung der Ehegatten das Aufenthaltsrecht
nicht. Das eheliche Band ist für das Aufenthaltsrecht nach Art. 10 VO 1612/68/EWG vielmehr bis
zur Auflösung der Ehe zu beachten5.
Wie vernünftig dies ist, zeigt der vor kurzem entschiedene Sachverhalt eines türkischen Ehepaars in
Österreich, das sich scheiden ließ, weiter zusammenlebte und mit gemeinsamem Familienleben
weitere gemeinsame Kinder hervorbrachte, um schließlich nach dem Beitritt Österreichs zur EU
wieder zu heiraten6.
1.3. Besserstellungen nach nationalem Recht
Andererseits enthält das nationale Recht teilweise auch aufenthaltsrechtliche Begünstigungen, die
das Gemeinschaftsrecht nicht kennt. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 AuslG ist die Aufenthaltserlaubnis dem
ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge
zu erteilen. Für die Eltern Minderjähriger aus den Mitgliedstaaten gibt es keine entsprechende
gemeinschaftsrechtliche Begünstigung. Doch gebietet das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EG-
Vertrag, dass auch die Eltern minderjähriger Unionsbürger ebenso wie die Eltern Deutscher eine
Aufenthaltsgenehmigung zur Ausübung der Personensorge erhalten können. Dies lässt sich
jedenfalls einer vom Europäischen Gerichtshof in einem niederländischen Fall ergangenen
Entscheidung entnehmen7.
5 EuGH, U. v. 13.2.1985 - Rs 267/83 -, Slg. 1985, 567 (Diatta)6 EuGH U. v. 22.6.2000. - Rs. C-65/98 - (Eyüp)7 EuGH, U. v. 17.4.1986 - Rs 59/85 -, Slg. 1986, 1283 (Reed)
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Man darf auf dieses Diskriminierungsverbot allerdings nicht bei der Erlangung von
Aufenthaltsverfestigungen vertrauen. Nach dem Urteil Kaba8 dürfen die Ehegatten von
Unionsbürgern bei der Erlangung unbefristeter Aufenthaltserlaubnisse gegenüber den Ehegatten
von Inländern benachteiligt werden. Der vom Inländer abgeleitete Rechtsstatus sei fester als der von
einem Unionsbürger mit nur befristetem Aufenthaltsrecht abgeleitete.
1.4. Inländerdiskriminierung im Ausländerrecht
Wenn Europarecht und nationales Recht aufeinander treffen, ist die Abgrenzung der beiden
Rechtsordnungen voneinander von besonderem Interesse. Nach der Rechtsprechung sind die die
Freizügigkeit regelnden europarechtlichen Vorschriften nicht auf rein interne, auf den einzelnen
Mitgliedstaat beschränkte Sachverhalte anzuwenden9. Wie aber ist zu entscheiden, wenn ein
Inländer in einen anderen Mitgliedstaat migriert, dort erwerbstätig ist und anschließend in den
Herkunftsstaat zurückkehrt? In der Rechtssache Singh10 hatte der Gerichtshof einen solchen
Sachverhalt zu entscheiden. Der Inder Singh hatte eine Britin geheiratet und war mit ihr mehrere
Jahre in der Bundesrepublik Deutschland unselbständig erwerbstätig gewesen. Nach der Rückkehr
nach Großbritannien ereignete sich das menschliche: die Ehe geriet in die Krise und die Eheleute
trennten sich. Der indische Ehemann wurde von den britischen Behörden ausgewiesen, weil er auf
Grund der Trennung von seiner Ehefrau nach nationalem Recht nicht mehr zum Aufenthalt befugt
sei. Demgegenüber gestand der Europäische Gerichtshof Herrn Singh das Aufenthaltsrecht gemäß
Art. 10 VO 1612/68/EWG zu. Die Verordnung sei anzuwenden. Zwar sei Singh mit einer Inländerin
verheiratet. Doch weil die Eheleute von der gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit Gebrauch
gemacht hatten, lag kein rein interner Sachverhalt vor, sondern war Gemeinschaftsrecht
anzuwenden.
Über das gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot und der Anspruch auf
Gleichbehandlung gemäß Art. 12 EG-Vertrag führte der Europäische Gerichtshof aus: „Darüber
hinaus setzt der Begriff der Gleichbehandlung nicht nur voraus, daß für Inländer und Ausländer
dieselben Rechtsvorschriften gelten, sondern daß diese Vorschriften auch auf beide
Personengruppen in derselben Weise angewandt werden.“11
Art. 3 GG hat fast denselben Wortlaut wie Art. 12 EG. Doch wo der Europäische Gerichtshof aus
dem europarechtlichen Gleichheitssatz einen Anspruch auf Gleichbehandlung von Unionsbürgern
und Inländern herleitet, erlaubt die deutsche Verfassung - angeblich - eine Benachteiligung der
8 EuGH, U. v. 11.4.2000 - Rs. C-356/98 -, InfAuslR 2000, 266 m. Anm. Gutmann9 EuGH, Urteil vom 28.3.1979 - Rs 175/78 -, Slg. 1978, 1129 (Saunders); Urteil vom 14.12.1982 - Rs 314 -
316/81 -, Slg. 1982, 4575 (Waterkeyn); Urteil vom 28.6.1984 - Rs 180/83 -, Slg. 1984, 2539 (Moser);Urteil vom 18.10.1990 - C-297/88 und 197/89 -, Slg. 1990, I-3763 (Dzodzi)
10 EuGH, U. v. 7.7.1992 - Rs C-295/90 -, InfAuslR 1993, 1
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Inländer gegenüber Unionsbürgern12. Inländer hätten einen gegenüber EG-Staatsangehörigen
unterschiedlichen Status, da sie nur der Staatsgewalt ihres Heimatstaates unterlägen. Diese
Kontroverse ist nicht nur im Aufenthaltsrecht bedeutsam, sondern auch im Handwerks- und
Gewerberecht. Können für Inländer einerseits höhere Berufszugangsschranken errichtet werden als
andererseits für Unionsbürger und diejenigen Inländer, die innerhalb der Europäischen Union
beruflich gewandert sind? Es ist bemerkenswert, dass im Gegensatz zu deutschen
Verwaltungsrichtern die österreichischen Verfassungsrichter diese Frage verneinen13.
Wer aufenthaltsrechtliche Probleme mit Hilfe des Europarechts lösen kann, die nach nationalem
Recht unlösbar ist, muss also bereit sein, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben. Wer zu
wenig wandert, den bestraft das Leben. Beweglichkeit im Raum erscheint als Voraussetzung für die
Erlangung einer Rechtsstellung. Andererseits darf auch nicht zu weit gewandert werden, nämlich
nicht ein Ziel außerhalb der Europäischen Union gesucht werden. Mündet allerdings die Wanderung
innerhalb der EU in die Einbürgerung in einem anderen Staat, so geht die Rechtsstellung als
freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger auch dann nicht unter, wenn mit der Einbürgerung die
frühere Staatsangehörigkeit verloren geht14.
Nur am Rande sei noch angemerkt, dass die Behauptung von der Zulässigkeit der
Inländerdiskriminierung noch eine demokratie-theoretische Komponente hat. Diese Behauptung
läuft darauf hinaus, dass Wahlbürger ungleich behandelt werden dürften. Unionsbürger und
Inländer sind bei Europa- und Kommunalwahlen aktiv und passiv und gleichberechtigt
wahlberechtigt. Ein ungleiche Behandlung der Wähler ist prinzipiell undemokratisch und
bedenklich. Ich glaube nicht, dass sie mit dem Argument gerechtfertigt werden könnte, die
europäische Rechtsgemeinschaft wachse erst noch zusammen und derzeit müssten Ungleichheiten
hingenommen werden.
2. Die Assoziation mit der Türkei
2.1. Aufenthaltsrecht türkischer Arbeitnehmer
Wenden wir uns einem anderen Personenkreis zu. Einen besonderen Status genießen nach den
Vereinbarungen zwischen EU und Türkei die in den Mitgliedstaaten der EU lebenden türkischen
Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen. In einer Serie von Entscheidungen hat der
11 EuGH, Urteil vom 7.5.1986 - Rs. 131/85 -, Slg. 1986, 1573 (Guel)12 OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.12.1988 - 18 A 750/87 -, InfAuslR 1989, 201; VGH Baden-
Württemberg, Beschluß vom 7.8.1995 - 13 S 329/95 -, NJW 1996, 72; Hailbronner, AuslR D 1 § 1AufenthG/EWG, Rz. 25 ff.; als ungeklärt angesehen vom Bayerischen VGH, Beschluß vom 27.10.1997 -10 CS 97.532 -, AuAS 1998, 14
13 VfGH Wien, Erkenntnis vom 9.12.1999 - G 42/99 u. a. -14 EuGH, U. v. 23.2.1994 - Rs. C-419/92 -, InfAuslR 1994, 213 (Scholz)
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Europäische Gerichtshof die innerstaatliche Anwendbarkeit des Beschlusses Nr. 1/80 des
Assoziationsrats EWG-Türkei15 dargelegt. Diese Rechtsprechung widerlegt zehnjährige scheinbar
gefestigte deutsche ober- und höchstrichterliche Entscheidungspraxis. Hieran ist immer wieder zu
erinnern, damit auf den Richterbänken die Fähigkeit und Bereitschaft wächst, eigene
Überzeugungen in Frage zu stellen und die Lösung schwieriger europarechtlicher Fragen nicht
selbst zu unternehmen, sondern sie dem zuständigen Europäischen Gerichtshof zu überantworten.
Die Bedeutung des ARB 1/80 verdeutlicht der Fall des Assoziationstürken16 Birden17. Ihm war nach
Eheschließung mit einer Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis mit dreijähriger Gültigkeit, sowie
eine Arbeitsberechtigung erteilt worden. Er fand keine Arbeit, bezog Sozialhilfe und erhielt
schließlich in einer Maßnahme nach § 19 Abs. 2 BSHG im Rahmen eines vom Bremischen Senat
finanzierten Programms einen Arbeitsplatz mit tariflichem Entgelt als angelernter Haushandwerker.
Nach zwei Jahren wurde er als Hausmeister weiterbeschäftigt. Die Ehe scheiterte.
Birden durfte bleiben, obwohl er die Voraussetzungen des § 19 Abs. 1 AuslG für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht eines nachgezogenen Ehegatten nicht erfüllte. Er erfüllte die Voraussetzungen des
Art. 6 Abs. 1 erster Gedankenstrich ARB 1/80. Danach haben türkische Arbeitnehmer, die dem
regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehören, nach wenigstens einjähriger Beschäftigung
beim selben Arbeitgeber das Recht auf Verlängerung ihrer Arbeitsgenehmigung für denselben
Aufenthaltszweck. Nach vierjähriger ordnungsgemäßer Beschäftigung erlangen sie Anspruch auf
freien Zugang zum gesamten Arbeitsmarkt. In den Urteilen in den Rechtssachen Sevince18 und
Kus19 hatte der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass ein solches Recht auf Arbeit ein Recht auf
weiteren Inlandsaufenthalt zwangsläufig mit einschließt. Andernfalls würde das Recht wirkungslos.
Für den Gerichtshof war Birden Arbeitnehmer. Er arbeitete in Vollzeit, verrichtete also keine völlig
untergeordneten und unwesentlichen Tätigkeiten. Das Arbeitsverhältnis unterlag deutschem
Arbeits- und Sozialversicherungsrecht. Auch wegen der Befristung des Arbeitsverhältnisses war
die Arbeitnehmereigenschaft nicht zu verneinen.
15 Im folgenden abgekürzt: ARB 1/80. Zur Einführung in die Problematik: Gutmann, Die
Assoziationsfreizügigkeit türkischer Arbeitnehmer, 2. Aufl. 1999; ausführliche Kommentierung: GK-AuslR IX-1, Art. 6 ff. ARB 1/80
16 So die österreichische Bezeichnung für unter den ARB 1/80 fallende türkische Arbeitnehmer und ihreFamilienangehörigen
17 EuGH, U. v. 26.11.1998 - Rs. C-1/97 -, NVwZ 1999, 1095 = DVBl 1999, 182 = BayVBl 1999, 240 = EuR1999, 343 = InfAuslR 1999, 6 = EZAR 816 Nr. 1
18 EuGH, U. v. 20.9.1990 - Rs. C-192/89 -, Slg. 1990, I-3461 = NVwZ 1991, 255 = EuZW 1990, 479 =InfAuslR 1991, 2 = EZAR 811 Nr. 11
19 EuGH, U. v. 16.12.1992 - Rs. C-237/91 -, Slg. 1992, I-6781 = NVwZ 1993, 258 = EuZW 1993, 96 =InfAuslR 1993, 41 = AuAS 2/1993, 14 = EZAR 810 Nr. 7 = DVBl. 1993, 307 = EuroAS 1/1993, 10
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Für den Europäischen Gerichtshof ist weiterhin wichtig, dass der im ARB 1/80 verwendete Begriff
des „regulären Arbeitsmarkt„ mit dem der „ordnungsgemäßen Beschäftigung„ übereinstimmt. Auf
den ersten Blick überrascht es, wenn zwei derart unterschiedliche Formulierungen übereinstimmen
sollen. Doch hatte der Europäische Gerichtshof nicht nur den deutschen Text herangezogen,
sondern ihn auch mit den französischen, englischen und türkischen Texten verglichen. In
völkerrechtlichen Verträgen kommt es immer wieder vor, dass die Fassungen in den verschiedenen
Vertragssprachen voneinander abweichen. Beim ARB 1/80 beruht die deutsche Fassung nicht nur
an dieser Stelle auf einer schlechten Übersetzung. Die vom Europäischen Gerichtshof verwendete
Auslegungsmethodik ist international üblich.
Danach verbirgt sich hinter dem Begriff der Zugehörigkeit zum regulären Arbeitsmarkt die
Gesamtheit der Arbeitnehmer, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union
aufhalten und in diesem das Recht zur Ausübung einer Beschäftigung haben.
2.2. Erhöhter Ausweisungsschutz für Türken
2.2.1. Sachverhalt
Im Verfahren über die Ausweisung des türkischen Staatsangehörigen Nazli20 musste sich der
Europäische Gerichtshof der schwierigen Frage zuwenden, wann Inhaftierungen wegen Straftaten
das Aufenthaltsrecht zerstören. Weiter war zu entscheiden, ob der günstigere Maßstab für die
Ausweisung von Unionsbürgern auch für eine Ausweisung türkischer Arbeitnehmer und ihrer
Familienangehörigen nach Assoziationsrecht heranzuziehen ist.
Herr Nazli ist ein seit zwei Jahrzehnten in Deutschland lebender, 44-jähriger türkischer
Arbeitnehmer. Obwohl er unter anderem 10 Jahre bei demselben Arbeitgeber beschäftigt war,
wurde ihm niemals eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung erteilt. Es
liegt nahe, dass die zuständigen deutschen Ausländerbehörden insoweit gegen ihre Pflichten
verstoßen haben. Die Verwaltungsverfahrensgesetze bestimmen in den Bundesländern
übereinstimmend, dass die Behörden die Abgabe von Erklärungen, die Stellung von Anträgen oder
die Berichtigung von Erklärungen oder Anträgen anregen sollen, wenn diese offensichtlich nur
versehentlich oder aus Unkenntnis unterblieben oder unrichtig abgegeben oder gestellt worden sind.
Die Behörden müssen unaufgefordert zu Gunsten von Ausländern tätig werden. Bis heute verstoßen
Ausländerbehörden immer wieder gegen diese gesetzliche Pflicht. Mit einer unbefristeten
Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung hätte Herr Nazli nach deutschem Recht über
einen höheren Ausweisungsschutz verfügt.
20 EuGH, U. v. 10.2.2000 - Rs. C-340/97 -, InfAuslR 2000, 161 m. Anm. Becker/Glupe = AuR 2000, 108
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14 Jahre nach seiner Einreise wurde Nazli in Drogenkriminalität verwickelt. Das Landgericht
verurteilte ihn zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten und setzte die
Vollstreckung zur Bewährung aus. Immerhin 13 Monate hatte Nazli in Untersuchungshaft
zubringen müssen.
Nach seiner Haftentlassung fand er alsbald wieder Arbeit. Er steht heute in einem unbefristeten
Arbeitsverhältnis. Auf Grund der Verurteilung lehnte die Ausländerbehörde der Stadt Nürnberg den
Antrag auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab. Sie entschied stattdessen, dass Nazli
ausgewiesen werde.
2.2.2. Das Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof
Über die Klage gegen diese Ausweisung hatte das Verwaltungsgericht Ansbach zu entscheiden. Das
Verwaltungsgericht sah schwierige Rechtsfragen und legte diese dem Europäischen Gerichtshof zur
Vorabentscheidung vor.
Im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof war über die Vereinbarkeit der komplizierten
Regelung des § 47 Abs. 2 Satz 2 AuslG mit Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 zu entscheiden. Das
Ausländergesetz enthält für Straftäter eine Stufenabfolge formeller Merkmale, nach der die
Ausweisung entweder zwingend (Ist-Ausweisung) zu verfügen ist, oder in der Regel, also fast
immer. Unter gewissen Voraussetzungen ist die Ausweisung auch „nur noch„ nach Ermessen zu
verfügen. Für die Betroffenen handelt es sich häufig um ein Spiel mit Worten. Die Entscheidung für
die Ausweisung greift tief in ihr Schicksal ein. Für die Betroffenen macht es keinen Unterschied, ob
die Ausweisung gesetzlich ausnahmslos erzwungen ist oder „nur„ nach Ermessen der
Ausländerbehörde rechtmäßig sein soll. Die gesetzliche Regelung - wir sprechen nicht zufällig von
„unbestimmten Rechtsbegriffen„ - ermöglicht den Behörden Entscheidungen, die manchmal als
ausgesprochen willkürhaft und auch grausam erscheinen.
Weniger kompliziert als § 47 AuslG ist Art. 14 ARB 1/80 aufgebaut. Danach werden im
Assoziationsrecht Aufenthaltsrechte gewährt „vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen
der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind„.
Diese sprachlich äußerst einfache Formulierung stimmt mit derjenigen überein, die im Europarecht
für den Ausweisungsschutz von Unionsbürgern verwendet wird. Unionsbürger dürfen nach der
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nur unter ganz engen Voraussetzungen ausgewiesen
werden. Die harten Merkmale des § 47 AuslG dürfen auf sie nicht angewandt werden. Das Urteil
Nazli klärt nun, dass dieser verbesserte Ausweisungsschutz des Europarechts auch türkischen
Arbeitnehmern zukommt.
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2.2.3. Aufenthaltsrecht ohne Beschäftigung?
Zunächst wendet sich der Europäische Gerichtshof der Frage zu, wie sich die gegen Nazli verhängte
Untersuchungshaft auf sein Aufenthaltsrecht auswirkt. Gefangene, die sich in Untersuchungshaft
befinden, können nicht frei arbeiten. Zu prüfen war, ob die Haft das Aufenthaltsrecht von Nazli
automatisch vernichtet hatte.
Deutsche Verwaltungsgerichte hatten in der Vergangenheit oft behauptet, ein inhaftierter türkischer
Arbeitnehmer gehöre nicht dem regulären Arbeitsmarkt an. Die Zugehörigkeit zum regulären
Arbeitsmarkt ist nach Artikel 6 ARB 1/80 Voraussetzung für den Anspruch auf die besonderen
Rechte türkischer Arbeitnehmer. Auch wurde behauptet, eine Inhaftierung führe als verschuldete
Arbeitslosigkeit zum automatischen Verlust dieser Rechte. Deshalb könnten türkische
Arbeitnehmer, die inhaftiert (gewesen) seien, nach deutschem Recht ohne Einschränkung durch den
ARB 1/80 ausgewiesen werden. Doch wieder einmal entschied der Europäische Gerichtshof gegen
die Auffassung dieser Verwaltungsrichter.
Die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich ARB 1/80 für den freien Zutritt zum
gesamten nationalen Arbeitsmarkt hatte auch Nazli erworben. Denn er war länger als vier Jahre
rechtmäßig beschäftigt gewesen. Die Folgen vorübergehender Nichtbeschäftigung regelt Art. 6 Abs.
2 ARB 1/80. Hierzu erinnert das Urteil Nazli an die Entscheidung im Verfahren des türkischen
Lkw-Fahrers Bozkurt21, der arbeitsunfähig geworden war. Eine vorübergehende Aufenthaltszeit
ohne Arbeit führt nicht zwingend zum Verlust des Aufenthaltsrechts nach dem ARB 1/80.
Ähnlich hatte der Europäische Gerichtshof argumentiert, als der türkische Seemann Tetik seine
Beschäftigung auf einem Schiff kündigte und an Land hatte Arbeit suchen wollen. Diese
Kündigung hatte trotz der dadurch bewirkten Arbeitslosigkeit nicht den sofortigen Verlust des
Rechts auf Arbeit und Aufenthalt zur Folge gehabt22.
Auch an dieser Stelle hätte der Europäische Gerichtshof übrigens an einem Übersetzungsfehler der
deutschen Fassung anknüpfen können: in Artikel 6 Abs. 2 ARB 1/80 wird davon gesprochen, dass
die Rechte nur bei „unverschuldeter Arbeitslosigkeit„ erhalten bleiben. In den anderen
Vertragssprachen werden Formulierungen verwendet, die dem Begriff der „unfreiwilligen
Arbeitslosigkeit„ entsprechen. Man könnte deshalb auch sagen, dass nur Arbeitsunwilligkeit zum
sofortigen Verlust des Rechts auf Arbeit und Beschäftigung führt.
21 EuGH, U. v. 6.6.1995 - Rs. C-434/93 -, NVwZ 1995, 1093 = InfAuslR 1995, 261 = AuAS 1995, 206 =
EuroAS 1995, 135 = EZAR 811 Nr. 23 = DVBl. 1995, 84322 EuGH, U. v. 23.1.1997 - Rs. C-171/95 -, Slg. 1997, I-329 = NVwZ 1997, 677 = EuZW 1997, 176 =
InfAuslR 1997, 146 = EuGRZ 1997, 11 = EVVS 1997, 216 = EuroAS 1997, 16 = EZAR 811 Nr. 29
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2.2.4. Haft und Aufenthaltsrecht
Generalanwalt Mischo hatte in der Rechtssache Nazli in seinem Schlussantrag auf die besondere
Bedeutung der Unschuldsvermutung hingewiesen. Wer sich in Untersuchungshaft befindet, ist noch
nicht verurteilt. Er darf deshalb nicht als schuldig behandelt werden.
Der Europäische Gerichtshof geht auf diesen Gedanken nicht ein. Er betont lediglich, dass die
Untersuchungshaft vorübergehenden Charakter gehabt habe und Nazli nach seiner Haftentlassung
eine Arbeit gesucht und tatsächlich wieder gefunden habe.
2.2.5. Soziale Wiedereingliederung
Der Europäische Gerichtshof betont, dass die gesamte Haftstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Generalanwalt Mischo hatte deutlich formuliert:
„Die Strafaussetzung zur Bewährung soll verhindern, dass der Verurteilte durch seine
Inhaftierung von der Gesellschaft isoliert wird, und ihm die Möglichkeit bieten, seinen ganz
normalen Lebensstil beizubehalten oder wiederaufzunehmen, wozu auch die Berufsausübung
zählt. Es würde diesem Ziel unmittelbar zuwiderlaufen, wenn die Verurteilung eines türkischen
Arbeitnehmers zu einer Freiheitsstrafe mit Bewährung mit dem Verlust seines Anspruchs
verbunden wäre, einer Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachzugehen.
Außerdem würde dadurch die verhängte Strafe, die das Gericht nach umfassender und objektiver
Prüfung aller Sachverhaltselemente - insbesondere der Schwere der vorgeworfenen Tat, der
Vorstrafen des Beteiligten und seiner Aussichten auf eine Wiedereingliederung in die
Gesellschaft - gerade niedrig halten wollte, mit einer sehr gravierenden Sanktion versehen, denn
der Beteiligte würde mit der Arbeitserlaubnis auch die Aufenthaltserlaubnis verlieren.
Ein solcher Ausschluss des türkischen Arbeitnehmers stünde damit in vollständigem Gegensatz
zu der Möglichkeit einer Wiedereingliederung, die der Strafrichter offenhalten wollte, da er sie
nicht für unrealistisch hält. Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, dass in bestimmten Fällen,
wenn die dem Verurteilten gewährte Strafaussetzung zur Bewährung an Bedingungen geknüpft
ist, damit er alle Chancen für seine Wiedereingliederung wahrnehmen kann, wobei die
Verpflichtung, einer ordnungsgemäßen Beschäftigung nachzugehen, stets eine dieser
Bedingungen ist.
Wollte man einem türkischen Arbeitnehmer diese Möglichkeit vorenthalten, liefe das der
Behandlung zuwider, die das Strafgericht als für den Täter angemessen gehalten hat, und hätte
unter diesen Umständen zur Folge, dass die Strafaussetzung zur Bewährung aufgehoben würde,
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was für Fälle vorgesehen ist, in denen ein Verurteilter den ihm auferlegten Verpflichtungen nicht
nachkommt.
Die notwendige Schlussfolgerung ist also, dass die Verurteilung eines türkischen Arbeitnehmers
zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe genauso wie seine Inhaftierung zu
Untersuchungszwecken, wenn auch aus anderen Gründen, nicht den Verlust seiner zuvor gemäß
Artikel 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erworbenen Ansprüche
bewirkt.“
Der Europäische Gerichtshof bestätigt die Richtigkeit dieser Argumentation. Damit wird der hohe
Rang des Grundsatzes der sozialen Wiedereingliederung nach Straftaten betont. Dieser Grundsatz
ist auch bei Unionsbürgern zwingend zu beachten. Die Praxis der Ausländerbehörden ist häufig
noch entgegengesetzt. Offen bleibt, wie der Gerichtshof entschieden hätte, wenn nach Verbüßung
der Hälfte oder von 2/3 einer Freiheitsstrafe der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt worden wäre.
2.2.6. Ausweisung zur Abschreckung?
Bis hin zum Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
werden Ausweisungen zum Zweck der Generalprävention als generell zulässig angesehen. Hinter
dem Begriff der Generalprävention verbirgt sich die Behauptung, eine Ausweisung könne am
Verfahren nicht beteiligte Dritte davon abhalten, ihrerseits Straftaten zu begehen. Ausweisungen
würden also andere Ausländer abschrecken.
Wird ein Ausländer zur Abschreckung Dritter ausgewiesen, so benützt ihn die Behörde als Mittel
zum Zweck. Sie will nicht auf den Betroffenen selbst einwirken und sieht nicht ihn selbst als Gefahr
an, sondern die namenlosen Dritten. Mit anderen Worten: der Betroffene wird zum bloßen Objekt
staatlicher Gewalt herabgewürdigt. Dadurch wird Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.
Die Behauptung von der Wirksamkeit der Generalprävention steht bis heute unbewiesen im Raum.
Sie wird von den Gerichten fortwährend wiederholt, aber dadurch nicht überzeugender. Die
Kriminalität von Polizisten, Richtern und Staatsanwälten widerspricht ihr. Auch aus ihrem Kreis
werden solche Straftaten wie Trunkenheitsfahrten, Misshandlung von Ehefrauen oder Banküberfälle
begangen. Wenn schon der tagtägliche Umgang dieses Personenkreises mit der Bestrafung von
Kriminalität nicht abschreckend wirkt und von ihnen dennoch Straftaten begangen werden, ist nicht
ersichtlich, wieso hiervon weiter entfernte Personen empfindlicher auf Bestrafung durch
Ausweisung reagieren sollten.
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Demgegenüber erlaubt der Europäische Gerichtshof die Entziehung der europarechtlichen
Freizügigkeitsrechte nicht zum Zwecke der Abschreckung Dritter23. Besteht die begründete
Erwartung, dass ein Straftäter nicht erneut straffällig werden wird, darf europarechtlich nicht
ausgewiesen werden.
Diesen Grundsatz überträgt das Urteil Nazli auf die Rechte nach dem ARB 1/80. Allerdings: eine
andere Entscheidung war nicht zu erwarten. Die zu Beginn der 90-er Jahre von einigen
Oberverwaltungsgerichten entwickelten Auffassungen, Assoziationsrecht könne nach Maßgabe des
deutschen Rechts aberkannt werden, waren unlogisch und absurd.
Unionsbürger und türkische Staatsangehörige stellen die Hälfte der im Bundesgebiet lebenden
Ausländer dar. Wenn ihnen gegenüber eine Ausweisung aus generalpräventiven Gründen nicht
mehr zulässig ist, scheidet dieser Beweggrund bei der Hälfte der in Deutschland lebenden
Ausländer aus. Wenn die osteuropäischen Staaten in die Europäische Union aufgenommen sein
werden, wird der Personenkreis, dem gegenüber generalpräventive Ausweisungen zulässig sein
werden, noch kleiner werden. Weil die abschreckende Wirkung von Ausweisungen
verfassungsrechtlich und in der praktischen Wirkung zweifelhaft ist, sollte diese Begründung für
Ausweisungen insgesamt aufgegeben werden24.
2.2.7. Umfang des Ausweisungsschutzes
Nach dem Urteil Nazli ist eine Ausweisung türkischer Arbeitnehmer nach dem ARB 1/80 nicht
mehr zur Abschreckung Dritter zulässig. Vielmehr sind für den Umfang des Ausweisungsschutzes
insgesamt die Maßstäbe anzulegen, die für Gemeinschaftsangehörige gelten. Abgeleitet wird dies
aus der Zielrichtung der Vereinbarungen mit der Türkei, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer
schrittweise herzustellen. Aus Art. 12 des Asssoziierungsabkommens EWG-Türkei und Art. 36 des
hierzu beschlossenen Zusatzprotokolls wird hergeleitet, dass die für EG-Wanderarbeitnehmer nach
Art. 39 ff. EG soweit wie möglich auf die türkischen Arbeitnehmer zu übertragen sind, die die im
ARB 1/80 eingeräumten Rechte innehaben. Die Ausnahme des ordre public nach Art. 14 Abs. 1
ARB 1/80 ist deshalb genauso auszulegen wie die gleiche Ausnahme im Bereich der
gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeit. Eine Ausweisung ist deshalb nur zulässig, wenn ein
Grundinteresse der Gesellschaft berührt ist.
Dies hat die weitere Folge, dass künftig bei türkischen Arbeitnehmern nicht mehr nur allein die in
der Straftat verwirklichte Schuld als Kriterium für die Entscheidung über die Ausweisung
heranzuziehen ist. Es kommt auch auf das nach der Straftat gezeigte und weiterhin zu erwartende
23 so zuletzt EuGH, U. v. 19.1.1999 - Rs. C-348/96 -, InfAuslR 1999, 165 (Calfa) m. Anm. Gutmann
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Verhalten an. Zu prüfen ist allein die Spezialprävention, ob also eine Wiederholung von Straftaten
durch den Straftäter zu befürchten ist25.
Nicht alle Straftäter werden rückfällig und begehen erneut Straftaten. Der deutsche Strafvollzug ist
wirksamer, als die Ausländerbehörden abgestuft, aber durchgehend mit Ist-, Regel- und
Ermessensausweisung regelmäßig vermuten. Für die Beurteilung der Wahrscheinlichkeit, mit der
ein Straftäter rückfällig wird, sollte das künftig beachtet werden26. Bis heute gibt es erstaunlich
wenige Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Zulässigkeit der Ausweisung von
Unionsbürgern. In den wenigen von ihm bisher entschiedenen Fällen sah er die von den
Ausländerbehörden gewollten Ausweisungen als rechtswidrig an. Vielleicht erhält er Gelegenheit,
in bezug auf türkische Arbeitnehmer die Grenzen für die europarechtliche Zulässigkeit von
Ausweisungen künftig genauer zu ziehen. Übrigens beschäftigt sich derzeit der Petitionsausschuss
des Europaparlaments intensiv mit der deutschen Ausweisungspraxis gegen Unionsbürger. Er sieht
die Rechtsprechung der deutschen Verwaltungsgerichte in diesem Bereich äußerst kritisch.
2.3. Sozialhilfebezug und Obdachlosigkeit
Der Ausweisungsschutz von Unionsbürgern und der Ausweisungsschutz türkischer Arbeitnehmer
und ihrer Familienangehörigen nach dem ARB Nr. 1/80 stimmen nach dem Urteil des Europäischen
Gerichtshofs vom 10.2.2000 in der Rechtssache Nazli überein. Konsequenzen hat dies auch für
türkische Staatsangehörige, die aus anderen Gründen als der Begehung von Straftaten ausgewiesen
wurden.
Nach § 46 Nr. 5 AuslG ist Obdachlosigkeit ein Ausweisungsgrund. In eine Obdachlosenunterkunft
eingewiesene Ausländer dürfen deshalb nach herrschender Lehre und Rechtsprechung ohne
weiteres ausgewiesen werden27. So mussten in der Vergangenheit türkische Arbeitnehmer und ihre
Familienangehörigen ihre Ausweisung und Abschiebung erleiden, wenn sie ihre Wohnung verloren.
Allerdings hat das Bundesverwaltungsgericht davon bei langjährigem Inlandsaufenthalt wegen des
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit eine Ausnahme gemacht28.
EG-Arbeitnehmer verlieren ihr Aufenthaltsrecht nicht, wenn sie obdachlos werden. Ihre
Ausweisung aus diesem Rechtsgrund ist nicht zulässig29. Der Ausweisungsschutz nach Artikel 14
24 von Saenger, ZAR 1993, 34 wurden solche Hinweise als provokant abgetan.25 U. v. 26.2.1975 - Rs 67/74 -, Slg. 1975, 297 (Bonsignore) m. Anm. Gert Meier; U. v. - Rs. 30/77 -, Slg.
1977, II-1999 (Bouchereau)26 Der Gesetzgeber selbst geht z. B. von einer beachtlichen Wirksamkeit des Jugendstrafvollzugs aus, wie
die kürzere Tilgungsfrist des § 46 BZRG bei Jugendstraftaten zeigt.27 VGH Baden-Württemberg, U. v. 25.6.1993 - 1 S 408/92 -, InfAuslR 1994, 125; VG Stuttgart, B. v.
11.2.1994 - 4 K 74/94 -, InfAuslR 1994, 17528 BVerwG, U. v. 15.12.1995 - 1 C 31.93 -, InfAuslR 1996, 16829 EuGH, U. v. 18.5.1989 - Rs 247/86 -, Slg. 1989, 1263 = NVwZ 1989, 745 = EZAR 810 Nr. 5
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ARB Nr. 1/80 verbietet deshalb ebenfalls eine Ausweisung mit der Begründung der
Obdachlosigkeit.
Nach § 46 Nr. 6 AuslG stellt der Bezug von Sozialhilfe ebenfalls einen Ausweisungsgrund dar.
Freilich sind insbesondere türkische Staatsangehörige bei Bezug von Sozialhilfe weitgehend vor
Ausweisung geschützt. Art. 6 a) des Europäischen Fürsorgeabkommens verbietet nach über
fünfjährigem Inlandsaufenthalt30 die Ausweisung aus diesem Grunde.
Das Bundesverwaltungsgericht legt diese Vorschriften allerdings dahin aus, dass eine
Nichtverlängerung der Aufenthaltsgenehmigung auch bei türkischen Staatsangehörigen auf den
Grund des Sozialhilfebezugs gestützt werden dürfe. Der ARB 1/80 verbietet nunmehr den
Ausländerbehörden auch eine solche tückische Vorgehensweise.
2.4. Rücknahme alter rechtswidriger Ausweisungen
Ausländerbehörden rügen in der Form der Ausweisung von Ausländern begangenes Unrecht mit
harter Faust. Im Umgang mit eigenem Unrecht sind sie oft ausgesprochen uneinsichtig. Bislang
musste sich der Ausländer nach einer rechtswidrigen, aber vollzogenen Ausweisung ausnahmslos
vom Ausland her nach § 8 Abs. 2 S. 3 AuslG um die Befristung von Ausweisung und Abschiebung
bemühen. Eine Wiedereinreise war vielfach nicht mehr möglich.
Nach einem neuen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts31 können Ausländerbehörden jedoch
gezwungen werden, rechtswidrige Ausweisungen wieder zurückzunehmen und dem Ausländer die
alte Rechtsstellung wieder einzuräumen, etwa eine Aufenthaltsberechtigung oder eine unbefristete
Aufenthaltserlaubnis. Deshalb kann von Ausländerbehörden die Rückgängigmachung von
Entscheidungen verlangt werden, die gegen den ARB 1/80 verstoßen haben.
Zwar steht den Behörden bei der Rücknahme rechtswidriger Verwaltungsakte nach § 48 VwVfG
ein Ermessen zu. Doch sind die Folgen für den Betroffenen unzumutbar, kann eine
Ermessensreduzierung auf Null eintreten32. Im Ausländerrecht ist dies im allgemeinen zu bejahen.
Zur Rücknahme gegen Europarecht verstoßender Verwaltungsakte besteht darüber hinaus eine
gemeinschaftsrechtliche Rechtspflicht33.
(Kommission / BRD)
30 Gemäß Art. 7 EFA verlängert sich diese Frist auf 10 Jahre, wenn die Einreise erst nach Vollendung des55. Lebensjahres erfolgte.
31 U. v. 7.12.1999 - 1 C 13.99 -, InfAuslR 2000, 17632 Kopp, VwVfG, 6. Aufl., § 48 Rn. 3733 GK-AuslR IX-1 Art. 6 ARB 1/80 Rn. 242 ff.
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2.5. Aufenthaltsrecht ohne Aufenthaltsgenehmigung
Ohne Genehmigung durch die Ausländerbehörde kann ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80
nicht entstehen. Ist ein solches Recht entstanden, bedarf es für den Erhalt keiner Verlängerung der
Aufenthaltsgenehmigung. Der Europäische Gerichtshof überträgt seine Rechtsprechung zur
deklaratorischen Wirkung der Aufenthaltsgenehmigung auf türkische Arbeitnehmer und ihre
Familienangehörigen. Die Mitgliedstaaten dürfen von den in ihrem Gebiet anwesenden Ausländern
den Besitz von Aufenthaltsgenehmigungen verlangen. Doch eine Ausweisung oder die Verhängung
einer Freiheitsstrafe als Folge nicht rechtzeitiger Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung wäre
im Rahmen des ARB 1/80 genauso wie bei Unionsbürgern eine unverhältnismäßige Sanktion.
Deshalb darf Sezgin Ergat, 1975 eingereister Sohn türkischer Arbeitnehmer, in Ausübung seiner
Rechte als Familienangehöriger gemäß Art. 7 Satz 1 ARB 1/80 trotz wiederholter verspäteten
Antrags auf Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung in Deutschland bleiben34.
Das Bundesverwaltungsgerichts hatte für die Zeit bis zur Erlangung der vollen
Beschäftigungsfreiheit nach der 3. Stufe des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 von einem türkischen
Arbeitnehmer den ununterbrochenen lückenlosen Besitz von Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung
verlangt35. Dies lässt sich nach dem Urteil Ergat nicht mehr aufrecht erhalten. Nach einjähriger
ordnungsgemäßer Beschäftigung haben türkische Arbeitnehmer das Recht auf Fortsetzung dieser
Beschäftigung erworben. Die Mitgliedstaaten dürfen dieses bedingungslos gewährte Recht nicht
durch zusätzliche Bedingungen einschränken.
2.6. Schein und Ehe
Der Trauschein für die Scheinehe erhitzt die Stammtische. Neuerlich hat der Gesetzgeber durch §§
5 Abs. 4 PstG i. V. m. 1314 Abs. 2 Nr. 5 BGB dem Standesbeamten aufgegeben, die Eheschließung
zu verweigern, wenn die Ehegatten keine eheliche Lebensgemeinschaft eingehen wollen36.
Abgesehen davon, dass nach § 7 PStG die Eheschließung auf dem Sterbebett zu erlauben ist, wenn
also die Herstellung einer Lebensgemeinschaft gerade nicht zu erwarten ist, erscheint dieses
Verlangen des Gesetzgebers auch sonst wenig überzeugend. Wenn der Standesbeamte durch
Befragung der Verlobten erkennen kann, dass diese keine Lebensgemeinschaft führen wollen,
müsste dies doch auch der Ausländerbehörde möglich sein.
Andererseits sollte in die Freiheit aus beliebigen Motiven zu heiraten, und sei es nur zur Erlangung
oder Vermittlung von Erbansprüchen oder eines adeligen Namens wegen, nicht eingegriffen
34 EuGH, U. v. 16.3.2000 - Rs. C-329/97 -, InfAuslR 2000, 217 (Ergat) m. Anm. Rittstieg35 BVerwG, U. v. 29.4.1997 - 1 C 3.95 -, NVwZ 1998, 81 = InfAuslR 1997, 346 m. abl. Anm. Rittstieg =
EZAR 029 Nr. 636 dazu: Jöst, Das Grundrecht auf Eheschließungsfreiheit und die Einwanderungspolitik der EU am Beispiel
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werden. Ausländerrechtlich ist nicht die Eheschließung das Merkmal, das ein Aufenthaltsrecht
verschaffen kann, sondern die Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet.
Mit der Folge der nur vorgetäuschten ehelichen Lebensgemeinschaft im Assoziationsrecht musste
sich auch der Europäische Gerichtshof befassen. Er hat darauf abgestellt, dass Beschäftigungszeiten
nicht als ordnungsgemäß i. S. d. Art. 6 ARB 1/80 angesehen werden können, wenn die
Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung von Anbeginn nicht vorlagen und
die Aufenthaltsgenehmigung durch falsche Angaben gegenüber der Ausländerbehörde erschlichen
wurde. Die Ausübung einer solchen Beschäftigung kann kein berechtigtes Vertrauen eines sich auf
Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 berufenden türkischen Arbeitnehmers schaffen37.
2.6.1. Die Rechte der Selbständigen
Neuerdings wendet sich der Gerichtshof den Rechten der Selbständigen nach dem Recht der
Assoziation mit der Türkei zu. Geklagt hatte der türkische Unternehmer Savas, der erlaubt nach
Großbritannien eingereist war und nach der Einreise dort ohne Erlaubnis eine Hemdenfabrik
eröffnet hatte. Zwischenzeitlich sind noch zwei Imbisse dazu gekommen. Savas kann nach dem
Urteil seine unternehmerischen Aktivitäten in Großbritannien fortsetzen, sofern er im Zeitpunkt des
Inkrafttretens des Zusatzprotokolls dort nach Einreise mit einem Besuchervisum sich hätte als
Unternehmer niederlassen dürfen38.
Für türkische Unternehmer in der Europäischen Union kann das Urteil erhebliche Bedeutung
gewinnen. Der Gerichtshof bejaht die unmittelbare Anwendbarkeit des Artikels 41 Abs. 1 des
Zusatzprotokolls zum Assoziationsabkommen EWG-Türkei. Dieses enthält ein Verbot, neue
Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des Dienstleistungsverkehrs einzuführen. Es sollte
nicht verwundern, dass dies zuvor in der deutschen Rechtsprechung anders gesehen worden war.
Der Hess. VGH39 hatte die unmittelbare Anwendbarkeit des Standstill-Grundsatzes verneint.
Die Folgen werden an einer weiteren seit Inkrafttreten des Zusatzprotokolls erfolgten
Rechtsänderung deutlich. Bis 1980 war nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 DVAuslG die Einreise für die
Ausübung bestimmter höchstens für die Dauer von zwei Monaten auszuübender Tätigkeiten
visumsfrei. Hierzu zählten Tätigkeiten sportlichen Charakters oder die Ausführung einer
Dienstleistung für einen ausländischen Arbeitgeber. Die früheren mitgliedstaatlichen Regelungen
wurden nach dem Amsterdamer Vertrag durch eine für alle Mitgliedstaaten geltende Regelung
der Bundesrepublik Deutschland, InfAuslR 2000, 204
37 EuGH, U. v. 5.6.1997 - Rs. C-285/95 -, NVwZ 1998, 50 = NVwZ 1998, 50 = InfAuslR 1997, 338 =EZAR 811 Nr. 32 (Kol)
38 EuGH, U. v. 11.5.2000 - Rs. C-37/98 - (Savas)39 B. v. 23.9.1993 - 12 TH 776/93 -, InfAuslR 1993, 71
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ersetzt. In der VO 574/1999/EG ist heute festgelegt, dass türkische Staatsangehörige bei
Überschreiten der Außengrenze der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen. Es ist
allerdings nicht ersichtlich, dass die Standstill-Klausel das Visumsverfahren ausnehmen würde.
3. Die Kooperationsabkommen mit den Maghreb-Staaten
3.1. Aufenthaltsrechte?
In unterschiedlicher Ausformung enthalten die von der EU abgeschlossenen
Assoziierungsabkommen40 arbeits- und sozialrechtliche Diskriminierungsverbote. Diese
Diskriminierungsverbote in den Abkommen mit den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und
Tunesien sind unmittelbar anwendbar. In der deutschen Rechtsprechung wurde einhellig eine
aufenthaltsrechtliche Bedeutung dieser Regelungen verneint41.
Überraschend hat nun der Europäische Gerichtshof aus Art. 40 Abs. 1 des Kooperationsabkommens
EWG-Marokko den entgegengesetzten Schluss gezogen. Das arbeitsrechtliche
Diskriminierungsverbot verpflichte die Mitgliedstaaten zwar bei einem Wegfall des ursprünglichen
Aufenthaltszwecks nicht zur Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung. Anders verhalte es sich,
wenn hierdurch dem Betroffenen eine gültige Arbeitsgenehmigung entzogen würde. Dies stelle dies
eine ungleiche Arbeitsbedingung dar42.
Die Auffassung des EuGH wirft Fragen auf. Ein solcher Vorrang der Arbeitsgenehmigung würde
bei Arbeitnehmern, die im Besitz einer Arbeitsberechtigung gemäß § 286 Abs. 3 SGB III sind, ein
unbefristetes Beschäftigungsrecht bei ihrem Arbeitgeber verschaffen. Und wie wäre bei
arbeitserlaubnisfreien Tätigkeiten gemäß § 9 ArGV zu verfahren?
Es ergäben sich bei zwei Fallgestaltungen deutliche Wertungswidersprüche: der einem Drittstaat
angehörende Ehegatte eines Inländers, der mit diesem zusammenlebt, hat gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1
ArGV Anspruch auf eine für jede beliebige Tätigkeit gültige Arbeitserlaubnis. Sie gilt auch nach
Scheidung fort. Der einem Drittstaat angehörende Ehegatte eines Unionsbürgers benötigt für die
Ausübung einer Beschäftigung gemäß Art. 4 RL 68/360/EWG nur eine EG-Aufenthaltserlaubnis
und keine Arbeitsgenehmigung. Sein Aufenthaltsrecht besteht auch nach Trennung der Eheleute bis
zu einer Scheidung der Ehe fort43. Ab dem Zeitpunkt der Scheidung benötigt er eine
Arbeitsgenehmigung, weil dann die Voraussetzungen gemäß Art. 11 VO 1612/68 entfallen. Wieso
aber sollte demgegenüber nach dem gemeinschaftsrechtlichen Assoziationsrecht der frühere
40 Kooperationsabkommen ist ein anderer Begriff für Assoziationsabkommen.41 Hess. VGH, U. v. 14.8.1995 - 13 UE 860/94 -, NVwZ-RR 96, 605 = InfAuslR 1996, 11 = AuAS 1996, 942 EuGH, U. v. 2.3.1999 - Rs. C-416/96 -, NVwZ 1999, 1097 = InfAuslR 1999, 218 m. Anm. Rittstieg =
EZAR 811 Nr. 40 (El-Yassini)
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Ehegatte eines Inländers besser behandelt werden als der frühere Ehegatte eines Unionsbürgers?
Ordnet Assoziationsrecht wirklich eine Besserstellung der früheren Ehegatten von Inländern an?
Dies würde dem während bestehender Ehe bestehenden Benachteiligungsgebot gegenüber Inländern
widersprechen44.
Bemerkenswert ist andererseits das Verhalten der Oberverwaltungsgerichte. Es wird nicht die -
wegen des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter verfassungsrechtliche - Notwendigkeit erkannt,
den Europäischen Gerichtshof zur Überprüfung seiner Entscheidung zu veranlassen. Vielmehr
werden die Ausführungen des Urteils El-Yassini ins Gegenteil verkehrt. Die praktische Relevanz
des Urteils El-Yassini besteht darin, dass die Vereinbarungen mit der Türkei mit dem
arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbot des Art. 37 des Zusatzprotokolls zum
Assoziationsabkommen EWG-Türkei eine Vorschrift enthalten, die mit dem im
Kooperationsabkommen mit Marokko vergleichbar ist. Der Europäische Gerichtshof weist
ausdrücklich darauf hin. Die Vergleichbarkeit aber wird z. B. vom OVG Nordrhein-Westfalen45
wegdiskutiert, indem die Art. 6 ff. ARB 1/80 als ein in sich abgeschlossenes System dargestellt
werden. Deshalb ergäbe sich aus dem Anspruch auf gleiche Arbeitsbedingungen kein
aufenthaltsrechtlicher Anspruch. Dies verkennt, dass der ARB 1/80 sekundäres Assoziationsrecht
darstellt. Art. 37 ZusProtAssAbk. ist Bestandteil des primären Assoziationsrechts. Primäres Recht
darf der Assoziationsrat nicht abändern. Auch der mit Art. 37 ZusProtAssAbk. fast vollständig
übereinstimmende Wortlaut des Art. 10 Abs. 1 ARB 1/80 spricht dagegen, daß diese
Rechtsprechung nicht auch zu Gunsten türkischer Arbeitnehmer heranzuziehen wäre.
3.2. Exkurs: die arbeits-, sozial- und steuerrechtliche Bedeutung des Anspruchsauf gleiches Arbeitsentgelt
Die unmittelbare Anwendbarkeit des assoziationsrechtlichen Verbots ungleicher
Arbeitsbedingungen und des Anspruchs auf gleiches Arbeitsentgelt hat andererseits weitreichende
Konsequenzen, die von den Praktikern noch nicht vollständig erkannt wurden. So muss das
arbeitsrechtsrechtliche Kündigungsverbot des Arbeitsplatzschutzgesetzes nicht nur Unionsbürgern46,
sondern auch den Arbeitnehmern aus der Türkei47 und aus Marokko, Algerien und Tunesien
zukommen. Doch das Bundesarbeitsgericht übersah in seiner bisherigen Rechtsprechung die
assoziationsrechtlichen Gleichbehandlungsansprüche vollständig und erkannte lediglich einen
Anspruch auf unbezahlten Urlaub zu48.
43 EuGH, U. v. 13.2.1985 - Rs. 267/83 -, Slg. 1985, 567 = NJW 1985, 2087 (Diatta)44 EuGH, U. v. 17.4.1986 - Rs-59/85 -, Slg. 1986, 1283 = EZAR 810 Nr. 4 (Reed)45 B. v. 27.8.1999 - 18 B 1448/99 -, AuAS 1999, 25446 EuGH, U. v. 15.10.1969 - Rs 15/69 -, Slg. 1969, 36 (Ugliola)47 ebenso Lörcher, EuZW 1991, 397; ders., EuroAS 1995, 151; Däubler, NZA 1992, 57748 BAG, U. v. 22.12.1982 - 2 AZR 282/82 -, NJW 1983, 2782; U. v. 7.9.1983 - 7 AZR 433/82 -, NJW 1984,
575; U. v. 30.7.1986 - 8 AZR 475/84 -, NJW 1987, 602
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Grundsätzlich darf, sei es nach dem sozial- oder dem arbeitsrechtlichen Diskriminierungsverbot,
weder Landeserziehungsgeld49 versagt werden noch wegen des vorübergehenden Nichtbesitzes
einer Aufenthaltsgenehmigung die Gewährung von Bundeserziehungsgeld50 oder Kindergeld51.
Der Anspruch auf gleiches Arbeitsentgelt betrifft nicht nur den Brutto-, sondern auch den
Nettolohn. Gleiches Arbeitsentgelt bedeutet auch gleiche Abzüge von Bruttolohn. Das hat
steuerrechtliche Konsequenzen. Es stellt eine indirekte Diskriminierung dar, wenn der
Arbeitnehmer von der Erstattung überzahlter Einkommensteuern ausgeschlossen wird, weil er den
Mitgliedstaat innerhalb des betreffenden Jahres verließ. Solche Regelungen treffen im praktischen
Ergebnis hauptsächlich fremde Staatsangehörige. »Der Grundsatz der Gleichbehandlung wäre
seiner Wirksamkeit beraubt, wenn er durch derart diskriminierende nationale Vorschriften
beeinträchtigt werden könnte«52. Aus demselben Grund stellt es eine unzulässige Diskriminierung
der EG-Wanderarbeitnehmer dar, wenn sie die Gesamtheit oder praktisch die Gesamtheit ihres
Einkommens in einem Mitgliedstaat erzielen und nur deshalb von der gemeinsamen Veranlagung
zur Einkommensteuer ausgeschlossen oder ihnen Haushaltsfreibeträge oder ähnliche
Begünstigungen verweigert werden, weil ihr Ehegatte und/oder ihre Kinder nicht im Bundesgebiet,
sondern in der Wohnung des Arbeitnehmers im Ausland leben53. Auch türkische oder
marokkanische Arbeitnehmer können hiernach die gemeinsame Veranlagung zur Einkommensteuer
mit ihren im Heimatland lebenden Ehegatten verlangen, wenn sie mit diesen in ihrer Wohnung dort
zusammenleben und die Ehegatten dort kein Einkommen erzielen. So können die finanziellen
schädlichen Wirkungen eines durch die Regelungen über den Familiennachzug erzwungenen
Getrenntlebens verringert werden - wenn die Steuerrechtler den absehbaren harten Widerstand der
Finanzminister in dem zu erwartenden Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof überwinden
können.
3.3. AKP-Staaten
Ein Diskriminierungsverbot „in bezug auf die Arbeitsverhältnisse„ enthält auch das vierte AKP-
Abkommen von Lomé. Seine Bestimmungen gelten heute für 70 afrikanische Staaten. Dass das
Abkommen im Unterschied zum GATT Bestimmungen enthält, die unmittelbar anwendbar sind,
49 VG Karlsruhe, U. v. 12.7.1999 - 14 K 1335/99 -, InfAuslR 1999, 394 = EuroAS 1999, 13450 EuGH, U. v. 4.5.1999 - Rs. C-262/96 -, InfAuslR 1999, 324 = EuroAS 1999, 78 (Sürül); anders unter
Verletzung gegen die Verpflichtung zur Einholung einer Vorabentscheidung BSG, U. v. 3.11.1993 - 14bReg 6/93 -
51 EuGH, U. v. 12.5.1998 - Rs. C-85/96 -, InfAuslR 1998, 316 (Sala)52 EuGH, U. v. 8.5.1990 - Rs. C- 175/88 -, Slg. 1990, I-1779 = NJW 1991, 1406 = EuZW 1990, 284 =
EZAR 826 Nr. 1 (Biehl)53 EuGH, U. v. 14.2.1995 - Rs. C-279/93 -, Slg. 1995, I-2225 = NJW 1995, 1207 = EuZW 1995, 177 =
EuroAS 1995, 44 = DB 1995, 407 = BB 1995, 438 = WM 1995, 1081 (Schumacker); U. v. 27.6.1996 - Rs.C-107/94 -, Slg. 1996, I-3089 = NJW 1996, 2921 = NVwZ 1996, 1197 = EuZW 1996, 502 = NZS 1996,426 = EZAR 826 Nr. 3 = DB 1996, 1604 (Asscher) m. Anm. Saß
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wurde erst vor kurzem entschieden54. Für das arbeitsrechtliche Diskriminierungsverbot ist die
unmittelbare Anwendbarkeit zu bejahen55.
4. Die Europaabkommen mit den MOE-Staaten
4.1. Sprachliche Barrieren
Unklar erscheinen die mit den Staaten Mittel- und Osteuropas abgeschlossenen Abkommen. Die
dort gewährten Aufenthalts- und Niederlassungsrechte stehen unter vielfältigen Vorbehalten. Die
Abkommen verwenden eine ausgesprochen unklare, schwer zu verstehende Sprache, die nicht
Rechte gewähren, sondern verhüllen will. So spricht ein Mitarbeiter der Kommission von einer
Absurdität des Textes und bestreitet seine Lesbarkeit56. Ich gehe im folgenden vom Text des
Abkommens mit Polen aus, der sich in den Fragen der Freizügigkeit und des Niederlassungsrechts
nicht wesentlich von den Vereinbarungen mit den anderen osteuropäischen Beitrittskandidaten
unterscheidet.
Absurd ist die Formulierung in Art. 41 Abs. 2 des Abkommens EU-Polen. Wenn danach der
Assoziationsrat die Arbeitsmarktlage in der Gemeinschaft und in den Mitgliedstaaten prüft, müssten
sich beide unterscheiden. Worin aber soll der Unterschied bestehen, nachdem der Arbeitsmarkt in
der Gemeinschaft aus den Arbeitsmärkten der Mitgliedstaaten besteht?
Der Text wirft auch die Frage auf, ob die Mitgliedstaaten gegenüber Polen den EG-Vertrag
beachten. Art. 40 des Assoziationsabkommens EU-Polen lässt die Rechte und Pflichten aus
bilateralen Abkommen unberührt, soweit diese eine günstigere Behandlung der polnischen
Staatsangehörigen oder der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zulassen57. Zwar ermöglicht Art.
307 Abs. 1 EG die Einhaltung vor Abschluss des EWG-Vertrags bzw. dem Beitritt zur EU
eingegangener völkerrechtlicher Verpflichtungen. Aber soll mit Art. 40 des
Assoziationsabkommens unterstellt werden, dass einzelne Mitgliedstaaten mit Polen
gemeinschaftswidrige Vereinbarungen abgeschlossen hätten? Es muss sich bei den angesprochenen
Verpflichtungen um solche handeln, die nach der Wende geschlossene wurden und vom Schutz des
Art. 307 Abs. 1 EG ausgenommen sind. Gemeinschaftswidrig wäre es gewesen, durch bilaterale
Abkommen polnische Staatsangehörige gegenüber Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu
bevorzugen58.
54 EuGH, U. v. 12.12.1995 - Rs. C-469/93 -, Slg. I 1995, 4533 = EuZW 1996, 118 (Chiquita Italia)55 Laubach, Bürgerrechte fürAusländer und Ausländerinnen in der Europäischen Union, 1999 S. 14456 D. Martin, in Antalovsky/König/Perching/Vana (Hrsg.), Assoziierungsabkommen der EU mit Drittstaaten,
1998, S. 30 über Art. 41 Abs. 1 des Abkommens EU-Polen57 Hierunter könnte die deutsch-polnische Vereinbarung über Werkvertragsarbeitnehmer (BGBl. 1990 II,
602; 1992 II, 93; 1993 II, 1125) fallen.58 D. Martin, a. a. O., S. 34; Laubach, Bürgerrechte für Ausländer und Ausländerinnen in der Europäischen
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4.2. Niederlassungsrecht
Sind beim Abkommen mit der Türkei Arbeitnehmer besonders begünstigt, gehen die
Europaabkommen den umgekehrten Weg. In Art. 44 des Abkommens EU-Polen wird den
polnischen Gesellschaften und Einzelpersonen die Aufnahme der Geschäftstätigkeit in den
Mitgliedstaaten erleichtert. Nach einem Zeitplan gestuft wird in verschiedenen Wirtschaftszweigen
sukzessive Inländergleichbehandlung eingeräumt. Hierunter fällt z. B. nach Abs. 1 i) i. V. m.
Anhang XII a Abs. 2 das Bauwesen.
Dieses Niederlassungsrecht ist klar, bestimmt und unbedingt gewährt. Die Regelung ist unmittelbar
anwendbar59. Sie ist durch Art. 48 des Abkommens dahin eingeschränkt, dass es sich entweder um
eine in Polen ansässige Gesellschaft handeln muss, die dann in der Gemeinschaft Niederlassungen
begründen kann. Gründen polnische Staatsangehörige in der Gemeinschaft eine Gesellschaft neu,
muss deren Geschäftstätigkeit eine echte und kontinuierliche Verbindung mit Polen aufweisen.
Die begünstigten polnischen Gesellschaften und Einzelpersonen haben nach Art. 52 das Recht, in
Schlüsselpositionen beschäftigtes Personal mit polnischer Staatsangehörigkeit in die Filialen oder
Tochterunternehmen in der Gemeinschaft zu entsenden. Das Personal muss leiten oder überwachen
oder die Befugnis zur Einstellung und Entlassung haben. Es kann sich um Personal mit hohen oder
ungewöhnlichen Qualifikationen handeln und es muss mindestens ein Jahr vor der Abstellung für
die Tätigkeit in der Gemeinschaft eingestellt worden sein. Auch diese Regelung ist unmittelbar
anwendbar60.
Eine Verpflichtung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise ist damit gemäß Art. 46
des Abkommens EU-Polen nicht verbunden. Weder Akademiker noch Handwerker können deshalb
allein auf Grund in Polen erworbener Qualifikationen die entsprechenden Tätigkeiten in der EU
ausüben. Vielmehr können die Mitgliedstaaten festlegen, dass die Gleichwertigkeit der Ausbildung
vor einer Niederlassung nachgewiesen werden muss.
Union, 1999, 156; EuGH, Urteil vom 27.3.1990 - Rs C-113/89 -, Slg. 1990, I-1417 (Rush Portuguesa);vgl. zur entsprechenden Diskussion um aus der Türkei entsandte Arbeitnehmer: Gutmann,Werkvertragsarbeitnehmer im Streit - Ein aktueller Konflikt zwischen EG-Kommission undBundesregierung -, Der Betrieb 1997, 1977
59 W. Weiß, Die Personenverkehrsfreiheiten von Staatsangehörigen assoziierter Staaten in der EU, 1998, S.95
60 Weiß, a. a. O., vgl. das von Stock, InfAuslR 1994, 392 wiedergegebene Rundschreiben desniederländischen Justizministeriums vom 9.3.1994
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Im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr sind in Art. 55 keine konkreten Vereinbarungen
getroffen. Die schrittweise Herstellung dieser Freiheit ist dem Assoziationsrat überantwortet. Diese
Regelung entbehrt der unmittelbaren Anwendbarkeit61.
4.3. Arbeitnehmer
Unter der Kapitelüberschrift „Freizügigkeit der Arbeitnehmer„ werden für polnische Arbeitnehmer
in unterschiedlichem Maß Rechte gewährt. Zunächst gewährt Art. 37 Abs. 1 hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen, der Entlohnung und der Entlassung Inländergleichbehandlung. Doch gilt dies
„vorbehaltlich der in den einzelnen Mitgliedstaaten geltenden Bedingungen und Modalitäten„.
Dieser Vorbehalt ist umfassend und stellt alles unter den Vorbehalt des nationalen Rechts62.
Derselbe Vorbehalt gilt für rechtmäßig im Gebiet eines Mitgliedstaats wohnhafte Ehegatten und
Kinder dort rechtmäßig beschäftigter Arbeitnehmer. Dieses unter Vorbehalt gestellte Recht wird auf
die Geltungsdauer der Arbeitserlaubnis beschränkt.
In der Literatur wird diesen Regelungen überwiegend entnommen, dass sie nicht unmittelbar
anwendbar sind63. Andererseits wird aber auch behauptet, der Vorbehalt könne dem Anspruch auf
Inländergleichbehandlung nicht die unmittelbare Anwendbarkeit entziehen64. Diesen Streit wird der
Europäische Gerichtshof zu entscheiden haben.
Es spricht m. E. viel dafür, dass die zugesicherte Inländergleichbehandlung eine höfliche, aber
wertlose Floskel ist. Hätte der Text diese Enge nicht, würde er also nicht Rechtlosigkeit verhüllen,
so wäre Art. 52 Abs. 1 S. 1 des Assoziationsabkommens EU-Polen mit dem Recht auf Einreise des
seit wenigstens einem Jahr beschäftigten Schlüsselpersonals unverständlich.
In einem vom Sächsischen OVG65 entschiedenen Fall gründeten polnische Bauarbeiter eine GmbH
und ließen sich von dieser Gesellschaft als geschäftsführende Gesellschafter beschäftigen. Das
OVG sah den Gesellschaftsvertrag wegen Verstoßes gegen ein gesetzliches Verbot als nichtig an.
Das gesetzliche Verbot bestehe im Ermöglichen unerlaubter Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet. Das
überzeugt schon deshalb nicht, weil gegenüber deutschen Bauarbeitern dieser Einwand nicht
erhoben werden könnte und die Zulässigkeit der Gesellschaftsgründung nicht von der
61 Weiß, a. a. O., S. 9662 D. Martin, a. a. O. S. 32; Weiß, a. a. O., S. 93; Gargulla, Die arbeits- und aufenthaltsrechtlichen
Begünstigungen für osteuropäische Arbeitnehmer und Selbständige durch die Europa-Abkommen - Seinoder Schein?, InfAuslR 1995, 181 will hieraus sogar herleiten, dass sich selbst der Begriff desArbeitnehmers nur nach nationalem Recht bestimme. Diese Auffassung ist aber wegen der unmittelbarenAnwendbarkeit der Regelungen über die Niederlassungsfreiheit unzutreffend. Denn mit der unmittelbarenAnwendbarkeit verbunden ist die Abgrenzung zur Arbeitnehmereigenschaft.
63 Gargulla, a. a. O.; Weiß, a. a. O., S. 92 ff.64 D. Martin, a. a. O.65 B. v. 2.6.1995 - 3 S 390/94 -, InfAuslR 1997, 69
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Staatsangehörigkeit der Gesellschafter abhängen kann. Würden die Gesellschafter ihre
Geschäftsanteile an Deutsche übertragen, läge nach der Konsequenz des OVG kein nichtiger
Gesellschaftsvertrag vor. Zutreffend rügt Rittstieg in seiner Anmerkung, dass sich das OVG nicht
mit den Konsequenzen des Abkommens EU-Polen befasste.
Dass die Rechtsform der inländischen GmbH nicht ausschlaggebend sein kann, zeigt ein vom
Hamburgischen OVG66 entschiedener Sachverhalt. Dort hatten drei polnische Bauarbeiter in Polen
eine Gesellschaft gegründet und waren als deren geschäftsführende Gesellschafter zur Arbeit auf
einer Baustelle eingereist. Das OVG sah die Erwerbstätigkeit im Bundesgebiet nach § 12 Abs. 1 u.
5 DVAuslG als visumspflichtig an und verneinte, dass die Bauarbeiter in Arbeitgeberfunktion tätig
geworden seien. Die verrichteten Tätigkeiten hätten sich durch nichts von den einem
Bauhandwerker gewöhnlich obliegenden Tätigkeiten unterschieden und sie seien hierdurch auch
zweifellos in Konkurrenz zu inländischen Arbeitnehmern getreten. Auch das Hamburgische OVG
befasste sich nicht mit dem Abkommen EU-Polen; ersichtlich hatte der bevollmächtigte
Rechtsanwalt insoweit keine Rüge erhoben.
Wie wir gesehen haben, fehlen in diesen Fällen verschiedene Umstände der nach den
Europaabkommen erlaubten Niederlassung. Die Tätigkeit als Geschäftsführer einer GmbH befreit
nicht vom Erfordernis, den Befähigungsnachweis zu erbringen, d. h. eine dem Meisterbrief
gleichwertige Qualifikation. Die Gesellschaft muss den Sitz in Polen haben oder andernfalls
grenzüberschreitend nach Polen tätig sein. Sie kann schließlich nur bei länger als einem Jahr
beschäftigtem Schlüsselpersonal die Erteilung von Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen verlangen.
Rittstieg67 hat in seiner Anmerkung auf die Einschränkung in Art. 58 Abs. 1 S. 1 des Abkommens
EU-Polen hingewiesen. Danach dürfen die Mitgliedstaaten gegenüber Polen auf dem Visumszwang
bestehen68. Doch dürfen die Vorteile Polens aus dem Abkommen nicht durch die
ausländerrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten verringert oder zunichte gemacht werden.
Eine willkürhafte Behandlung polnischer Staatsangehöriger ist deshalb unzulässig. Es entkräftet
aber nicht die vorstehenden Einwendungen.
66 B. v. 23.10.1998 - 6 Bf 448/98 -, EZAR 025 Nr. 2067 InfAuslR 1997, 7168 Gargulla, a. a. O. behauptet, die Einseitige Erklärung der EU sei verbindlich, wonach die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten für Einreise und Aufenthalt von Arbeitnehmern und ihren Familienangehörigen durchdas Abkommen EU-Polen nicht eingeschränkt sei. Wegen der Einseitigkeit der Erklärung wäre ein solcherSchluss allerdings zweifelhaft. Ob sich unter Verstoß gegen den Visazwang eingereiste polnischeStaatsangehörige auf die Rechte aus Art. 44 des Abkommens EU-Polen berufen dürfen, ist Gegenstand derRs. C-63/99 (Gloszczuk); bzw. hinsichtlich der Rechte aus Art. 45 des Abkommens EU-Bulgarien der Rs.C-235/99 ( Kondova)
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5. Zusammenfassung
Drittstaatsangehörige sind europarechtlich unterschiedlich begünstigt. Sie können Aufenthalts- und
Beschäftigungsrechte als Familienangehörige von Unionsbürgern erwerben und denselben
Ausweisungsschutz wie Unionsbürger. Die von den Ausländerbehörden praktizierte
Inländerdiskriminierung ist verfassungsrechtlich bedenklich. Von den übrigen
Drittstaatsangehörigen sind die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen in einer
besonders günstigen Rechtsstellung. Aus der Beschäftigung können Rechte erwachsen, die sie
aufenthaltsrechtlich mit Unionsbürgern gleichstellen. Zweifelhaft ist, ob die Europaabkommen mit
den Staaten Mittel- und Osteuropas für Arbeitnehmer Freizügigkeitsrechte gewähren. Sie
begünstigen jedoch die Niederlassung selbständig Erwerbstätiger.