Ergos sind eine Art MacGyver - ergopraxis vom Januar 2016

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    INTERVIEW MIT RAL KRAUTHAUSEN

    Ergos sind eineArt MacGyver

    VALIDATION NACH NAOMI FEIL

    Zu Besuch in der

    Erlebniswelt alter

    Menschen

    KOGNITIV-THERAPEUTISCHE BUNGEN

    Damit der Arm wieder

    dazugehrt

    TOP-DOWN VERSUS BOTTOM-UP

    Was tun, wenn der

    Klient nicht so will

    wie ich?

    Januar 2016 |9. JahrgangISSN 1439-2283www.thieme.de/ergopraxis

    Ergotherapie fr Alltagsknner

    ergopraxis

    Lese-

    probe

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    Fasziale Behandlung

    Die therapeutischen Techniken zur Behand-

    lung des faszialen Systems reichen von sanft

    bis schmerzhaft. Was genau hinter der

    Faszientherapie steckt und was Faszien mit

    Ergotherapie zu tun haben, lesen Sie

    auf Seite 26

    Neurokognitive Rehabilitation nach Perfetti

    Das zentrale Nervensystem neu organisie-

    ren vor dieser Herausforderung stehen

    Ergotherapeuten bei Klienten mit Hemiplegie.

    Kognitiv-therapeutische bungen eignen

    sich besonders, um eine alltagsgerechtere

    Wahrnehmung wiederzuerlangen. 20

    Top-down versus Bottom-up

    Franka hat gelernt, im Erstgesprch Top-down

    vorzugehen und die Ziele und Anliegen des

    Klienten zu klren. Was aber, wenn der Klient

    davon nichts hlt und direkt mit bungen

    loslegen will? Franka sucht Rat und ruft ihren

    ehemaligen Kommilitonen Joe an. 34

    Leserforum

    6 10 Jahre ergotag

    Highlights zum Jubilum

    7 Briefe an die Redaktion

    Gesprchsstof

    8 Aktuelles

    10 Titelthema:Interview mit

    Ral Krauthausen

    Ergos sind eine Art MacGyver

    Wissenschaft

    14 Theorien in der ErgotherapieVon wegen grau

    16 Internationale Studienergebnisse

    19 kurz & bndig

    Refresher

    20 Neurokognitive Rehabilitation

    nach Perfetti

    Damit der Arm wieder dazugehrt

    25 Fragen zur Neurokognitiven

    Rehabilitation nach Perfetti

    Ergotherapie

    26 Fasziale Behandlung

    Sanft bis schmerzhaft

    30 Validation nach Naomi Feil

    Zu Besuch in der Erlebnisweltalter Menschen

    Perspektiven

    34 Top-down versus Bottom-up

    Was tun, wenn der Klient nicht so willwie ich?

    36 Als Ergotherapeutin bei der

    Rheumaliga Schweiz

    Da prallen manchmal zwei Weltenaufeinander

    39 Klientenkolumne

    Der Ergotherapierte

    40 Auswirkungen von Lrm

    Zu viel um die Ohren

    42 Ergonomische Mbel fr Kinder

    Bewegte Schulstunden

    45 Gemeinsam zu neuen Zielen

    Sie sind nicht allein

    48 Die RechtsfrageWas tun bei Verdacht auf Missbrauch?

    49 Schwarzes Brett

    52 Rezensionen Vier im Visier

    Info

    54 Produktforum

    55 Fortbildungskalender

    56 Fortbildungsmarkt

    58 Stellenmarkt

    59 Ausblick

    59 Impressum

    ergopraxis | Inhalt

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    Herr Krauthausen, der Titel Ihres

    Buches lautet Dachdecker wollte ich

    eh nicht werden. Welchen Berufswunsch

    hatten Sie als Kind?

    Ich glaube, in der Kindheitsphase all die Berufe,

    die Kinder werden wollen: Mllmann, Polizist,

    Pilot. Je lter ich dann wurde, desto mehr inte-

    ressierte ich mich fr Politik und Medien. Mein

    Traum war es, beim Radio zu arbeiten und was

    mit Medien zu machen. Nach meinem Abitur

    studierte ich Gesellschafts- und Wirtschafts-

    kommunikation und arbeitete auch in dem

    Feld. Nebenbei hatte ich immer das Bedrfnis,

    mich zu engagieren, wie auch immer geartet.

    Ergos sind

    eine ArtMacGyver

    Ich kann nicht jedes Ehrenamt ausben, aber

    meine Stimme kann ich benutzen. So ent-

    schied ich mich fr eine Ausbildung zum Tele-

    fonseelsorger. Das habe ich dann ein Jahr lang

    gemacht. Nebenbei habe ich mir mit Freunden

    Projekte ausgedacht. Daraus ist dann mein

    jetziger Beruf geworden.

    Was ist Ihr Beruf heute?

    Ich habe gemeinsam mit Freunden vor elf

    Jahren einen Verein gegrndet, der sich Sozial-

    helden nennt. Wir machen seit fnf Jahren

    Projekte zum Thema Inklusion. Dazu zhlt

    unter anderem die Wheelmap eine Online-

    Karte, um rollstuhlgerechte Orte zu suchen und

    zu finden. Das ist in der Form zum grten

    Projekt der Welt geworden. Ein weiteres Projekt

    ist Leidmedien, ein Online-Portal fr Journa-

    listen, die sich darber informieren wollen, wie

    man urteilsfrei ber Menschen mit Behin-

    derung schreibt oder spricht. Aber alles in

    allem wrde ich sagen, mein Beruf ist Aktivist.

    Das steht zumindest auf meiner Visitenkarte.

    Denn ein Aktivist kmpft fr eine Idee. Und die

    Idee ist die Inklusion. Als Aktivist erklrt man

    sich dazu bereit, so lange zu kmpfen, bis das

    Ziel erreicht ist und nicht, um seine Miete

    bezahlen zu knnen.

    INTERVIEW MIT RAL KRAUTHAUSEN Wir treen in Berlin den Autor und Ideengeber Ral

    Krauthausen, der fr die Rechte von Menschen mit Behinderung kmpft. Er selbst hat Osteogenesis

    Imperfecta, im Volksmund Glasknochen. Der 35-Jhrige erzhlt von Schlsselmomenten aus seinem

    Leben, die aus ihm den engagierten Menschen gemacht haben, der er heute ist.

    Gesprchsstof| Ral Krauthausen

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    Wrden Sie sich als Berufsbehinderter

    bezeichnen?

    Ich glaube, das ist so ein bisschen passiert. Ich

    wollte bis zu meinem 27. Lebensjahr nichts mit

    dem Thema zu tun haben und habe das auch

    weit von mir ferngehalten. Beim Schreiben

    meines Diploms, wo ich zur Darstellung von

    Menschen mit Behinderung im Fernsehen ge-

    forscht habe, merkte ich, das knnte ja doch

    ein spannendes Thema sein. Also habe ich

    begonnen, mich mehr oder weniger ernsthaft

    damit zu beschftigen. Dabei entdeckte ich

    sehr viele Parallelen zu meinem Leben, was

    mich sehr bewegt und berhrt hat.

    Welche Parallelen haben Sie entdeckt?

    Zum Beispiel, dass man als Mensch mit Behin-

    derung sehr oft als Diagnose gesehen wird

    ein Mensch, der normalisiert werden muss,anstatt ihn so zu nehmen, wie er ist. Gerade in

    Deutschland haben wir noch eine sehr starke

    medizinische Perspektive auf das Thema. Dabei

    ist Behinderung gesellschaftlich-kulturell

    geprgt, und die Grenzen sind verhandelbar.

    Frher hatten wir den Zappelphilipp in der

    Klasse, heute haben diese Kinder alle ADHS.

    Das ist etwas typisch Deutsches. Gerade im

    Inklusionsdialog habe ich das Gefhl, der

    Schrei nach Fachkrften ist so gro, dass die

    Frage des gesunden Menschenverstandes viel

    zu kurz kommt. Eine Mutter, die ein behinder-

    tes Kind auf die Welt bringt, war vorher auchkeine Fachkraft. Warum mssen wir vorher alle

    Fachkrfte sein, um uns dem Thema Inklusion

    zu stellen?

    In Ihrem Buch bekommen die Leser Einblick,

    wie Sie aufgewachsen sind. Sie haben von

    Ihrer Mutter keine Sonderbehandlung erfah-

    ren. Heit das, Sie wurden inklusiv erzogen?

    Ich glaube, dass meine Eltern gar kein Konzept

    von Erziehung hatten. Das Wort Inklusion

    kannten die auch gar nicht. Der Begri wurde

    ja auch erst viel spter deniert. Vieles hatte inmeinem Leben mit Zufllen zu tun: Die Wahl

    des Kindergartens und der Schule kam nur

    deswegen zustande, weil wir dem Faden einer

    anderen Familie gefolgt sind, aber nicht weil

    meine Mutter besessen davon war, dass ich

    unbedingt integrativ aufwachse. Solche Schu-

    len gab es damals auch noch gar nicht. Das war

    viel Glck und gesunder Menschenverstand.

    Ich bin ein Einzelkind und wurde unglaublich

    verwhnt. Ich wrde schon sagen, ich habe

    eine Sonderbehandlung bekommen, allein auf-

    grund meiner Behinderung. Aber es war auch

    nie die Frage, ob irgendetwas wegen meiner

    Behinderung nicht geht. Sondern: Das geht

    schon irgendwie! Das habe ich sehr stark mei-

    ner Mutter zu verdanken. Sie konnte Gelassen-

    heit entwickeln, da das Umfeld dies zulie und

    sie darin bestrkte.

    Welches Umfeldes bedarf es denn, dass Inklu-

    sion berhaupt funktionieren kann?

    Also ich glaube, ganz viel hat mit dem Thema

    Wahlfreiheit und Begegnung zu tun. Ich habe

    das Glck gehabt, dass ich im Westberlin der

    80er Jahre aufgewachsen bin. Da gab es Initia-

    tiven von links-alternativen Eltern, die wollten,

    dass auch ihr behindertes Kind dorthin geht.

    Ein Umfeld von Das geht schon irgendwie,

    das braucht man.

    Das Thema Inklusion begegnet einem zuneh-

    mend. Freut Sie das?

    Ja, natrlich. Aber das Wort Inklusion, das ich

    sehr mag, wird gerade an allen Enden ver-

    wssert. Da gibt es Frderschulen fr Kinder

    mit Behinderung, die sich Inklusionsschulen

    nennen. Inklusion ist aber etwas anderes! Es

    hat nichts mit verschiedenen Behinderungs-

    formen in einem Raum zu tun. Deswegen

    bezeichnen sich viel mehr Menschen als Inklu-

    sionisten, als es sollten. Die Idee der Inklusion

    ist, die Vielfalt von Menschen anzunehmenund zu bewltigen.

    Sehen Sie Schnittstellen zwischen Ergothera-

    peuten und Inklusion?

    Ergotherapeuten sind in meinen Augen eine

    Art MacGyver, die ernderisch versuchen, das

    Individuum in die Lage zu versetzen, teilzu-

    haben. Das ist eine individuelle Geschichte.

    Aber Inklusion ist eine gesamtgesellschaftliche

    Sache. Menschen mit Behinderung mchten

    nicht zwangslug repariert werden. Es sollte

    nie darum gehen, den Menschen der Umwelt

    anzupassen. Egal ob der Mensch eine Behin-

    derung hat oder nicht, oder einen Migrations-

    hintergrund. Wir sollten daran arbeiten, eine

    Gesellschaft zu bauen, die Vielfalt zulsst.

    Haben Sie Berhrungspunkte zum Berufsbild

    Ergotherapie?

    Ich muss ganz ehrlich sagen, das Wort Thera-

    pie ist in meinen Augen auch schon so medizi-

    nisch geprgt, dass es einen sofort in eine

    Schublade steckt. Das schreckt mich ab. Ein

    Beispiel aus meiner Kindheit: Ich kann mich

    erinnern, dass ich nie Krankengymnastik

    machen wollte, denn ich fhlte mich nie krank.

    Und Gymnastik machten die lteren Menschen

    im Fernsehen. Ich habe mich nie damit assozi-

    iert. Htte man das Sport genannt, wre ich

    wahrscheinlich hingegangen. So hie es

    immer: Ral ist der andere. hnlich ist es mit

    der Ergotherapie. Ich habe halt ein Problem

    Menschen mit Behinderung

    werden sehr oft alsDiagnose gesehen. A

    bb.:

    AndiWeiland/SOZIALHELDENe.V.

    Gesprchsstof | Ral Krauthausen

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    mit der Bezeichnung Ergotherapie als Wort.

    Ich wrde lieber sagen, MacGyver oder Daniel

    Dsentrieb!

    Sie setzen sich fr Ihre Rechte ein. Menschen

    mit geistiger Behinderung haben nicht die

    gleichen Mglichkeiten, sich zu wehren. Sie

    sind einer greren Gefahr ausgesetzt, isoliert

    zu werden. Kann man Menschen mit geistiger

    Behinderung dieselbe Untersttzung geben

    wie Menschen mit krperlicher Behinderung?

    Das Thema ist sehr komplex. Das kann man

    nicht mit einem Ja oder Nein beantworten.

    Wovor ich aber wirklich warne, ist, dass wir

    eine neue Trennlinie ziehen: Krperliche Behin-

    derung ist okay, aber geistige Behinderung ist

    schwierig. Das wre zu einfach und fhrt nurdazu, dass sich nicht behinderte Menschen von

    der Verantwortung entlasten knnen, sich

    dem Thema zu stellen. Es ist wichtig, ber den

    Gedanken der Begegnung noch mal nach-

    zudenken. Woher kommen denn diese ngste

    und Vorurteile? Wer sagt denn, dass Menschen

    mit geistiger Behinderung einer Gefahr ausge-

    setzt sind? Oder ist es nicht andersherum, dass

    nicht behinderte Menschen Angst davor haben

    und deshalb so argumentieren? Das mssen

    wir herausfordern, herausfinden und auch

    lsen. Natrlich hilft einem Menschen mitgeistiger Behinderung weder eine Rampe noch

    ein Aufzug. Deshalb knnen es nicht die glei-

    chen Mittel sein, die man benutzt. Aber die

    Idee dahinter ist dieselbe. Ein Mensch mit geis-

    tiger Behinderung braucht vielleicht leichte

    Sprache oder sollte ein Recht auf Assistenz

    haben oder das Recht auf Kinder. Anstatt alles

    immer gleich zu verteufeln, sollten wir das

    gesellschaftlich diskutieren.

    Wo sehen Sie die grte Gefahr fr Menschen

    mit geistiger Behinderung?

    Ich beobachte bei Menschen mit geistiger

    Behinderung zwei Phnomene: 1. Sie tauchen

    immer in Gruppen auf. Das macht es schwierig

    zu sehen, was der Einzelne braucht. Man redet

    immer von den geistig Behinderten. Dabei

    sind sie genauso vielfltig wie Menschen ohneBehinderung. 2. Wir machen den Fehler, ihnen

    zu unterstellen, dass sie lebensfroh und nah an

    ihren Emotionen sind. Das sind alles Vorurteile.

    Das macht es schwer, erwachsene Menschen

    mit Trisomie 21 wirklich als Erwachsene zu

    behandeln. Stattdessen behandeln wir sie wie

    Kinder und ziehen ihnen einen Mickey-Mouse-

    Pulli an. Da gibt es noch viel zu tun. Was vllig

    unterschtzt ist, und das erlebe ich brigens

    auch bei mir selbst, dass ich ganz oft hre:

    Naja, die wollen das ja so. Aber wenn Men-

    schen mit geistiger Behinderung oder allge-

    mein mit Behinderung oder generell Menschenin einem Umfeld aufwachsen, das erwartet,

    dass sie so sind, dann internalisiert man das

    natrlich auch und bernimmt diese Denkmo-

    delle. Das betrit jeden. Es fngt schon damit

    an, dass wir erwachsene Menschen mit Triso-

    mie 21 duzen. Normalerweise wrden wir

    fremde Menschen schlielich auch nicht du-

    zen. Oder wir nennen sie liebevoll Downies.

    Das ist eine Reduktion von Menschen auf eine

    ihrer Eigenschaften. Das muss durchbrochen

    werden. Das ist nur zu schaen durch echte

    Begegnung und durch ressourcenorientierte

    Perspektiven.

    Was knnen Ergotherapeuten tun, um zum

    Prozess der Inklusion beizutragen?

    Toll wre es, wenn sie eine Art Anwalt sein

    knnten. Wenn Ergotherapeuten jemanden im

    Alltag begleiten, knnten sie weniger als Assis-

    tenten ttig sein, sondern vielmehr als Berater.

    Es wre schn, wenn sie ein Mandat fr die

    Rechte des Menschen mit Behinderung htten,den sie begleiten, und gegen die diskriminie-

    rende Umwelt kmpfen, anstatt den vermeint-

    lich kaputten Menschen zu reparieren. Ein

    Ergebnis knnte sein, dass die ausgebildeten

    Ergotherapeuten die richtigen Argumente

    haben, um Verantwortliche davon zu ber-

    zeugen, dass hier gerade eine Diskriminierung

    stattndet und dass das Problem strukturell ist

    und weniger mit dem Individuum zu tun hat.

    Aber ich wei nicht, ob das Ergotherapeuten

    machen. Das wrde jedoch dem Begri des

    Inklusionisten am nhesten kommen.

    Wie sieht die Diskriminierung konkret aus, die

    Sie erfahren?

    Menschen mit Behinderung unterliegen einem

    permanenten Nachweiswahn. Bei mir ist es

    zum Beispiel so: Ich bekomme tglich zwlf

    Stunden Assistenz und darf monatlich nicht

    mehr verdienen als den doppelten Hartz-IV-

    Satz. Ich darf auch nicht mehr sparen als 2.600

    Euro, und das, obwohl ich zwei Studiengnge

    abgeschlossen und inzwischen zwlf Arbeits-

    pltze geschaen habe. Ich verdiene weniger

    als meine Angestellten. Das ist ein Wider-spruch zur Idee der Inklusion. Ich habe viel-

    leicht eine Karriere in der Bildungslaufbahn

    hingelegt, die eigentlich der Prototyp fr inklu-

    sive Bildung ist, aber wenn sich das dann sp-

    ter so sehr aurisst, kann man sich schon die

    Frage stellen, warum soll ich arbeiten gehen?

    Ich knnte auch einfach nur Hilfe beantragen,

    und die Assistenz wre die gleiche, die ich

    brauche. Ich wrde gar nichts zur Gesellschaft

    beitragen. Das ist eindeutig diskriminierend. Es

    gibt noch viel mehr Flle, die in sich wider-

    sprchlich sind.

    Was meinen Sie mit Nachweiswahn?

    Ich muss alle drei Monate meine Assistenz neu

    beantragen und nachweisen, dass ich immer

    noch meine Behinderung habe. Das ist vllig

    absurd. Es gibt niemanden, der bei der Behin-

    derungsform, wie ich sie habe, jemals sprin-

    gend aus dem Rollstuhl aufgestanden ist und

    pltzlich zwei Meter gro war. Insofern muss

    man das auch nicht prfen. Und das ist etwas,

    was 700.000 Menschen betrifft. Alle haben

    versucht, etwas daran zu ndern. Das Gesetz

    ist eindeutig. Eindeutig diskriminierend, seit

    Menschen mit Behinderungsollten durch ihr Umfeld

    in die Lage versetzt werden,ihre eigenen Grenzen

    zu testen.

    ZU GEWINNEN

    Das Leben aus der RollstuhlperspektiveGewinnen Sie ein Exemplar des Buches Dachdecker wollte

    ich eh nicht werden aus dem Rowohlt Verlag (www.rowohlt.de).

    Klicken Sie bis zum 29.1.2016 unter www.thieme.de/ergopraxis

    > Gewinnspiel auf das Stichwort Inklusion. Viel Glck!

    Gesprchsstof| Ral Krauthausen

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    ber 20 Jahren. Da muss sich eine Bundes-

    regierung schon die Frage stellen, warum

    sehen wir Menschen mit Behinderung immer

    als Belastung anstatt als Bereicherung? Ich willja auch nichts schnreden. Natrlich ist Inklu-

    sion Arbeit, genauso wie die Flchtlingspro-

    blematik.

    Hren Sie Argumente gegen Inklusion?

    Argumente dagegen, hre ich nicht so oft. Ich

    habe nun mal eine Behinderung, und die Leute

    halten damit vielleicht mehr hinter dem Berg.

    Die Argumente, die ich aber hinter den Kulissen

    hre, sind primitiv. Die gab es 1920 schon, als

    wir diskutiert haben, ob wir Jungen und Md-

    chen in gemeinsame Schulen schicken. Das

    sind die gleichen Vorurteile. Eine krperlicheoder geistige Behinderung muss nicht zwangs-

    lug eine Klasse aufhalten. Neulich hat mir

    ein Schulpsychologe erzhlt, dass die Kinder,

    die zu ihm kommen, meistens ohne Behinde-

    rung sind, sondern aus verlassenen oder zer-

    rtteten Elternhusern kommen. Das ist im

    Zweifel behindernd, und das kann alle betref-

    fen. Es hat nichts damit zu tun, ob jemand

    nicht sehen kann oder nur einen Arm hat.

    Sie sind Paradebeispiel dafr, was sich fr ein

    Potenzial entwickeln kann, wenn ein Menschmit Behinderung die Chance bekommt, inklu-

    siv aufzuwachsen. Sehen Sie sich als Vorbild?

    Das hre ich manchmal. Die Verantwortung

    nde ich ein bisschen bengstigend. Denn es

    gibt garantiert auch Menschen mit Behin-

    derung, die bei inklusiver Erziehung nicht diese

    Entwicklung machen. Das ist auch okay. Es

    muss auch nicht jeder Mensch, der quer-

    schnittgelhmt ist, paralympischer Sportler

    werden. Diese Vorbildfunktion mchte ich gar

    nicht so sehr fr mich annehmen. Jeder macht

    es so, wie er es fr richtig hlt, und vielleicht

    bin ich einfach schon besessen.

    Was treibt Sie in Ihrer Arbeit an?

    Ich mchte viel mehr Menschen mit Behin-

    derung motivieren, zur Inklusionsdebatte bei-

    zutragen. Denn wenn wir die Zeitung aufschla-

    gen metaphorisch gesprochen und ber

    Inklusion lesen, dann reden immer nicht

    behinderte, heterosexuelle Mnner darber.

    Das verzerrt die Debatte. Wir sind schlielich

    gesellschaftlich auch noch nicht so weit, dass

    wir mnnliche Frauenbeauftragte haben. Des-

    halb ist es eigentlich eine Anmaung, wenn

    nicht behinderte Vorstnde von karitativen

    Einrichtungen von Inklusion reden. Sie sind die

    Letzten, die das sollten.

    Sie sind sehr kritisch in Ihren uerungen.

    Wir mssen kritisch bleiben, gerade bei karita-

    tiven Einrichtungen, inwieweit es Existenz-

    sicherung und Bestandswahrung in einer Welt

    hin zur Inklusion ist. Natrlich mssen Wohn-

    heime voll bleiben, und eine Werkstatt fr

    Menschen mit Behinderung muss protabel

    sein. Eine Werkstatt wre bld, wenn sie ihre

    besten Mitarbeiter in den ersten Arbeitsmarkt

    freigibt. Dann wren sie nicht mehr wirtschaft-

    lich. Man sieht, das Anreizmodell ist kaputt.

    Der Anreiz msste eher darin bestehen, dass

    man so viele Menschen wie mglich dem ers-

    ten Arbeitsmarkt freigibt und nicht, dass sie

    untereinander im Wettbewerb stehen und um

    die Auftrge von Volkswagen buhlen. Das sind

    Widersprche, die man aufdecken muss. Ich

    nde es sehr bezeichnend, wer diesen Inklu-sionsbegri gerade deniert und wie wenig

    Menschen mit Behinderung in diesem Diskurs

    berhaupt angehrt werden. Wenn, dann wird

    ber sie gesprochen und in den seltensten

    Fllen mit ihnen. Inklusion bedeutet auch, dass

    es Ergotherapeuten mit Behinderung gibt oder

    man mit dem Elektrorollstuhl im Doppel-

    deckerbus oben sitzen kann. Aber davon sind

    wir weit entfernt.

    Was wnschen Sie sich an Vernderung in den

    nchsten Jahren?

    Ich wnsche mir, dass Menschen mit Behin-

    derung durch ihr Umfeld in die Lage versetztwerden, ihre eigenen Grenzen zu testen. Es

    sind sicherlich andere Grenzen als bei Men-

    schen ohne Behinderung. Aber jeder hat ein

    Recht, Niederlagen zu erleben, wieder aufzu-

    stehen und weiterzumachen. Genauso wie ein

    Recht darauf, sich in verschiedenen Berufen

    auszuprobieren und zu reisen. Alles, was nicht

    behinderte Menschen als selbstverstndlich

    erachten, wird Menschen mit Behinderung

    verwehrt.

    Wenn Sie Knig von Deutschland wren, was

    wrden Sie als Erstes ndern?Als Erstes wrde ich anerkennen, dass Men-

    schen mit Behinderung berproportional

    bereit sind, sich ehrenamtlich fr ihre eigenen

    Belange zu engagieren. Ich wrde versuchen,

    das wertzuschtzen und nanziell zu unter-

    sttzen. Dann wrde ich gucken, wo es struk-

    turelle Diskriminierung gibt und wo sich die

    Idee der Inklusion in den eigenen Schwanz

    beit. Da ich ja Knig bin, gibt es wahrschein-

    lich keine fderale Struktur. Also wrde ich

    Gesetze erlassen, die dann zu gelten haben.

    Ich wrde Kindergrten und Schulen dazuanimieren, etwas fr die Inklusion zu tun. Das

    mssten wir auch weiterdenken und auf die

    Arbeitswelt beziehen. Eine Quotierung von

    Arbeitspltzen fr Menschen mit Behinderung

    wre die Folge. Und das fhrt dann zwangs-

    lug zu der Akzeptanz bzw. Feststellung, dass

    Assistenz etwas ist, was die Solidargemein-

    schaft zu nanzieren hat.

    Das Interview fhrte Bettina M. Heinrich.

    Bettina M. Heinrich

    arbeitet in der Redaktion

    der ergopraxis.

    Sie traf Ral Krauthausen

    zum Interview in der

    gemtlichen Kantine des

    Vereins Sozialhelden in

    Berlin-Friedrichshain.

    Toll wre es, wenn Ergo-therapeuten fr Menschenmit Behinderung eine Art

    Anwalt sein knnten.

    Abb.:BettinaM.Hein

    rich

    Gesprchsstof | Ral Krauthausen

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