Einführung ins Staatsrecht - UZH
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Institut für Völkerrecht
Einführung ins Staatsrecht
Vorlesungen vom 18. und 21. September 2012
Prof. Christine Kaufmann
Herbstsemester 2012
Institut für Völkerrecht
Staatsrecht I – Einführung ins Staatsrecht – Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2012 Seite 2
Organisatorisches (1/2)
Vorlesungsunterlagen
– Vorlesungsprogramm und Folien: online auf http://www.ivr.uzh.ch/kaufmann
– Reader: im Studierendenladen erhältlich
– Lehrbuch: Biaggini/Gächter/Kiener, Staatsrecht, Zürich 2011
– Ergänzende Literatur: siehe Reader
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Organisatorisches (2/2)
Tutorate
– Besuch sehr empfohlen
– Weitere Informationen auf der Webseite von Dr. Goran Seferovic:http://www.rwi.uzh.ch/lehreforschung/obas/oa-seferovic.html
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Übersicht: Gegenstand der Vorlesung
Einführung, Staatsformen, Verfassungsstaatlichkeit
Grundrechte– Allgemeines; Einschränkbarkeit von Grundrechten
– Freiheitsrechte
– Rechtsgleichheit, Diskriminierungsverbot, Willkürverbot
– Soziale Grundrechte
– Verfahrensgrundrechte
Schweizer Bürgerrecht
Abschlussbesprechungen– Übungen anhand konkreter Grundrechtsfälle
– Vertiefung ausgewählter Themen
– Einführung in die Falllösung im öffentlichen Recht
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Stellung des Staatsrechts (1/2)
Rechtsordnung
Nationales Recht
Privatrecht
Staatsrecht
Völkerrecht(inkl. Europarecht)
öffentl. Recht
Verwaltungsrecht Strafrecht Prozessrecht
Vorlesungen: Staatsrecht I und II
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Stellung des Staatsrechts (2/2)
Wichtiger Teilbereich des öffentlichen Rechts
– Abgrenzung insbesondere zu
• Verwaltungsrecht
• Völkerrecht
Besondere Stellung in der Rechtsordnung
– Öffentliches Recht geht Privatrecht vor
– Privatrecht beruht auf öffentlichem Recht
• Wichtige Grundentscheidungen (z.B. Wirtschaftsfreiheit)
• Staatsrechtliche Kompetenzordnung
• Erlassformen und -verfahren
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Phänomen Staat: Menschenbild und Staatsverständnis
Staatenwelt heute– Rund 200 Staaten mit etwas mehr als 7 Milliarden Menschen
Der Mensch als Staatsbürger– Fast jeder Mensch ist Bürger eines Staates
– Beziehung zu mindestens einem Staat
Was ist ein Staat?– Unterschiede zu anderen sozialen Systemen
– Unterschiedliches Gewicht der „Grundwerte“?
• In verschiedenen Staaten
• Zu verschiedenen Zeiten: z.B. Hobbes, Rousseau
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Phänomen Staat: Organisation der Staatsgewalt
Grundfunktionen des Staates
– Politische Einigung als Grundlage: „Grundkonsens“
• Aufgaben
• Ausgestaltung der Staatsgewalt: Gewaltenteilung
– Friedliche Konfliktaustragung, Diskurs
– Erwähnung der Grundfunktionen häufig in Präambeln von Verfassungen
– Detailliertere Regelung der Staatsaufgaben meist in den Kompetenznormen der Verfassungen
Staatliche Akteure und Handlungsformen
– Definition der staatlichen Akteure („Organe“): Für die Schweiz Volk & Stände, Parlament, Regierung, Verwaltung, Gerichte
– Organisation („Gewalten“): Legislative, Exekutive, Judikative; für die Schweiz Bundesversammlung, Bundesrat, Bundesgericht
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Moderner Verfassungsstaat: Begriff des Staates
Einstiegsfrage: Ist Palästina ein Staat?
– Warum ist die Frage von Bedeutung?
– Welche Elemente könnten eine Rolle spielen?
• Ansatzpunkt für Dreielementenlehre
– Auf welche Kriterien soll abgestellt werden?
• Staat vs. Räuberbande
• Formale oder materielle Kriterien?
– Wie entsteht ein Staat?
• Muss er von den anderen Staaten anerkannt werden?
• Kann sich Palästina selbständig zum Staat erklären?
• Entstehung und Untergang von Staaten
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Staatsvolk Staatsgebiet Staatsgewalt
Rechtlicher Staatsbegriff
Wesentlich geprägt von Georg Jellinek (1851-1911)
Klassische Definition: Dreielementenlehre
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Bedeutung: Volk und Nation als politische Begriffe
– Nationalstaat und Souveränität
– Wer ist das Volk?
Volk im Sinne der Staatsangehörigen
– Erwerb der Staatsbürgerschaft: ius soli und ius sanguinis
– Verlust der Staatsbürgerschaft
– Rolle des Völkerrechts
Volk im Sinne der Aktivbürgerinnen und Aktivbürger
– Stimmberechtigte
– Voraussetzungen in der Schweiz
• Schweizer Bürgerrecht, Mindestalter 18 Jahre, keine Entmündigung
• Siehe dazu Art. 136 Abs. 1 BV
Elemente des Staates: Staatsvolk
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Gebietshoheit
– Imperium
– Im Gegensatz zum Dominium (Privateigentum)
Grenzen der Gebietshoheit
– Meeresgebiet
– Lufthoheit
Elemente des Staates: Staatsgebiet
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Staatsgewalt und Souveränität
– Souveränität
• Fähigkeit zur Durchsetzung der Staatsgewalt
• Enthält eine faktische und eine normative Komponente
– Gewaltmonopol
• Faktische Komponente der Souveränität
• Staat hat höchste Befehls- und Zwangsgewalt
• Möglichst keine Selbsthilfe: „Entwaffnung der Gesellschaft“
– Legitimität
• Normative Komponente der Souveränität
• Rechtfertigung der Staatsgewalt
Elemente des Staates: Staatsgewalt (1/6)
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Elemente des Staates: Staatsgewalt (2/6)
Souveränität
– Historischer Begriff (Jean Bodin)
• Unbeschränkte, unteilbare Gewalt des Staates
• Einzige Grenzen: Naturrecht, göttliches Recht
– Modernes Verständnis: Relativierung der Souveränität durch die Globalisierung
• Zwingendes Völkerrecht
• Freiwillige Selbstbindung durch Völkerrecht (z.B. EMRK)
• Übertragung von Kompetenzen auf internationale Organisationen
– Innere Souveränität und äussere Souveränität
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Gewaltmonopol
– Nur staatliche Organe haben das Recht, physische Gewalt auszuüben
– Wichtiges Prinzip aller modernen Staaten
– Grundlage für das Funktionieren des Rechtsstaates
– Relativierung in der Praxis
• Private Sicherheitsdienste (Securitas etc.)
• „Privatarmeen“ (Xe Services [ehemals Blackwater] etc.)
Elemente des Staates: Staatsgewalt (3/6)
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Legitimität
– Begriff
• Legitim ist staatliches Handeln, wenn es mit den Wertvorstellungen der Bevölkerung übereinstimmt
• Legal ist staatliches Handeln hingegen, wenn es mit dem geschriebenen Recht übereinstimmt
– Gründe für Akzeptanz durch Bevölkerung (Max Weber)
• Rational: Vernünftigkeit der Anordnung
• Traditional: Langbestehende Ordnung
• Charismatisch: Überragende Persönlichkeit des Herrschers
Elemente des Staates: Staatsgewalt (4/6)
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Widerspruch zwischen Legalität und Legitimität
– Erfahrung zeigt: Nur legitime Staatsherrschaft ist dauerhaft
– Trotzdem sind (jedenfalls kurzfristige) Widersprüche möglich
– Hier stellt sich die Frage nach dem Widerstandsrecht
– Naturrechtslehre vs. Rechtspositivismus
• Gustav Radbruch: Fünf Minuten Rechtsphilosophie
• Niklas Luhmann: Legitimation durch Verfahren
– Fälle aus der Praxis: Siehe Dokument 1 im Reader
• Widerstand im Nationalsozialismus
• Spring (BGE 126 II 145)
• Mauerschützen (BVerfGE 95, 96 ff.)
Elemente des Staates: Staatsgewalt (5/6)
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Elemente des Staates: Staatsgewalt (6/6)
Legitimität durch Verfahren?
– Legitimität eines Entscheids hängt u.a. vom Verfahren ab
– Demokratisch gefällte Entscheide haben höhere Legitimität
– Verfahren kann jedoch nur eines von mehreren Kriterien sein
• Mehrheitsentscheide zu Lasten einer Minderheit sind problematisch
• Beispiel: Minarettverbot
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Entstehung von Staaten
Neugründung– Beispiel: Liberia
– Heute in der Praxis kaum mehr denkbar (ausser Antarktis)
Loslösung von Mutterland– Beispiel: Kosovo
– Häufigster Fall der Entstehung neuer Staaten
Zusammenschluss mehrerer Staaten– Beispiele: Schweiz, Deutschland
– Ist EU auf dem Weg zur Staatlichkeit?
Aufteilung eines bestehenden Staates– Beispiele: UdSSR, Jugoslawien
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Untergang von Staaten
Bei dauerhaftem Wegfall eines der drei Elemente (Staatsvolk, Staatsgebiet, Staatsgewalt)
– Bei dauerhaftem Wegfall der Staatsgewalt: „Failed State“
– Beispiel: Somalia
Durch Zusammenschluss, Aufteilung oder Untergang
– Untergang vor allem bei Inseln infolge Klimawandels möglich
– Beispiel: Malediven
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Staatsaufgaben (1/2)
Bestimmung der Staatsaufgaben
– Entstehen erst durch verbindliche Festlegung
• Entsprechend dem Staatsrecht des jeweiligen Staates
• Meist Verfassungsgrundlage erforderlich
– Jede Staatsaufgabe muss im öffentlichen Interesse liegen
• Aber nicht jedes öffentliche Interesse begründet automatisch eine Staatsaufgabe
• Für die Schweiz: Siehe Art. 5 Abs. 2 BV
– Grundlegendste Staatsaufgaben
• Sicherung des Friedens
• Schutz der Freiheit der Menschen (namentlich durch Grundrechte)
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Staatsaufgaben (2/2)
Staatsaufgaben im Wandel
– Allgemeiner Trend: Ausweitung der Staatsaufgaben
• Beispiele: Umweltschutz, Sicherheit („Präventionsstaat“)
• Relativierung dieses Trends durch „Gewährleistungsstaat“
o Staat muss nicht alle Aufgaben selber erfüllen
o Sondern dafür sorgen, dass sie erfüllt werden
– Entwicklung des Sozialstaates
• Ziele: Chancengleichheit und gewisses Mass an Verteilgerechtigkeit
• Schwierige Balance zwischen Eigenverantwortung und Solidarität
– Auswirkungen der Internationalisierung
• Umweltprobleme und Handel erhöhen den Koordinationsbedarf
• Folge: Mehr Rechtsetzung auf internationaler Ebene
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Rechtsquellen des Staatsrechts (1/2)
Geschriebenes Recht
– Wichtigste Rechtsquelle
– Nationales geschriebenes Recht in Verfassung, Gesetzen und Verordnungen
• Materielles Gesetzesrecht: Jede Rechtsnorm
• Formelles Gesetzesrecht: Rechtsnorm in der Form des Gesetzes
– Zunehmende Bedeutung des Völkerrechts
• Verträge; Rechtsetzung durch internationale Organisationen
• Beispiele: „Bilaterale“, EMRK
– Geschriebenes Recht enthält Lücken (echte und unechte)
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Rechtsquellen des Staatsrechts (2/2)
Gewohnheitsrecht
– Voraussetzungen
• Langandauernde, ununterbrochene und einheitliche Praxis
• Rechtsüberzeugung von Behörden und betroffenen Personen
• Lücke im geschriebenen Recht
Richterrecht
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Verhältnis Staat – Individuum – Gesellschaft
Keine allgemein gültige Formel
Politisches System als Grundlage
– Verschiedene politische Systeme beruhen auf verschiedenen Menschenbildern
– Je nach politischem System besteht unterschiedlich viel Raum für individuelle Freiheiten
Resultat: Unterschiedliche Lösungen in unterschiedlichen politischen Systemen
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Individuum und Staat
Bedeutung des Menschenbildes: Zwei Hauptrichtungen
Aufklärung (Immanuel Kant)
– Starke Betonung der Eigenverantwortung
– Liberaler Staat
Kollektivistische Lehren
– Betonung des Kollektivs
– Beispiele
• Kommunismus und Nationalsozialismus
• Verschiedene asiatische Staaten
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Stellung von Minderheiten
Schutz von Minderheiten
– Demokratie darf nicht zur Tyrannei der Mehrheit werden
– Spannungsverhältnis Demokratie/Rechtsstaatlichkeit
Fünf Gruppen von Minderheitsrechten
– Gebrauch der Sprache
– Schutz der Kultur
– Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung
– Schutz von kulturellen Beziehungen über die Landesgrenze hinaus
– Recht auf Auswanderung
Bedeutung für die Schweiz
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Staat und Gesellschaft (1/3)
Verhältnis von Staat und Gesellschaft
– Ursprung der Unterscheidung: Gesellschaftsvertrag (Hobbes)
– Liberaler Staat: strikte Trennung Staat/Gesellschaft
– Totalitärer Staat: keine Trennung
– Heutige westeuropäische Staaten
• Vielfältige Wechselwirkungen zwischen Staat und Gesellschaft
• Deshalb keine strikte Trennung
Staat und Kultur
– Freiheitliche Staaten: Schutz und Förderung, nicht aber Schaffung
– Spannungsfeld nationale Identität – Schutz der Vielfalt
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Staat und Gesellschaft (2/3)
Staat und Religion– Staaten mit Staatsreligion
• Staat bekennt sich formell zu einer Religion
• Teilweise mit Religionsfreiheit für Minderheiten, teilweise ohne
• Beispiele: Irland, Saudi-Arabien
– Laizistische Staaten
• Strikte Trennung von Staat und Religion
• Beispiele: Frankreich, Türkei
– Mischform
• Staat bevorzugt bestimmte Religion(en), schützt aber auch die Freiheit von anderen Religionen
• Beispiele: Schweiz, Marokko
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Staat und Gesellschaft (3/3)
Staat und Öffentlichkeit– „Zivilgesellschaft“
• Entwicklung des Begriffs in der Aufklärung
• Heute: Nichtregierungsorganisationen (NGOs), Bürgerbewegungen
– „Marketplace of ideas“
• Öffentlichkeit als Forum für Diskussion und Meinungsbildung
• Beispiel: Gemeindeversammlungen
– Rolle der politischen Parteien
• Bindeglied zwischen Staat und Öffentlichkeit
• In der Schweiz Schutz durch Meinungs- und Versammlungsfreiheit
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Neuere Entwicklungen
Internet
– Entwicklung einer digitalen Informationsgesellschaft
– Einfluss auf politische Prozesse
Medienkontrolle und -konzentration
– Eine freie Demokratie braucht freie Medien
– Gefahr der Medienkonzentration (Beispiel: Italien)
– In einzelnen Staaten: Tendenz zu Zensur (Beispiel: Ungarn)
Expertengruppen
– Komplexe Probleme erfordern Expertenwissen
– Übertragung von Entscheiden an Expertengruppen: Transparenz und demokratische Legitimation?
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Staat – Recht – Gerechtigkeit: Staat zwischen Macht und Recht
Immanuel Kant– Staat als „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“
– Staat als Herrschaftsverband des Rechts, nicht nur faktische Herrschaftsordnung
Thomas Hobbes– Leviathan
– Politische Struktur steht nicht unter Rechtsgesetzen, sondern sie schafft diese erst: Recht kann praktisch beliebig gestaltet werden
Carl Schmitt– Faktische Durchsetzungsgewalt als Inbegriff der Staatlichkeit
– Normative Fundierung des Rechts weitgehend irrelevant
Verbindung von Gerechtigkeit und Staatlichkeit
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Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (1/4)
Frühe Beispiele
– Platon (Politeia)
• Idealer Staat: Jeder leistet und erhält das Seine
• Demnach befassen sich alle mit dem, was sie am besten können – zum Beispiel Handel, Krieg oder Philosophie
– Aristoteles
• Unterscheidung zwischen verschiedenen Gerechtigkeiten (austeilende, ausgleichende, im Befolgen gegebener Gesetze liegende)
• Idealvorstellung: Monarchie
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Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (2/4)
Bedeutung
– Erstmalige Verbindung der Diskussion über Staatsformen mit dem Begriff der Gerechtigkeit
– Problematik dieser frühen Ideen
• Ausschluss mancher Bevölkerungsgruppen (insbesondere Frauen)
• Auch Sklaverei konnte durch diese Gerechtigkeitskonzeptionen begründet werden
– Fazit
• Diese Konzepte bringen für sich allein keine Gerechtigkeit
• Sie ersetzen also nicht die Diskussion darüber, was gerecht ist und was nicht: Offener politischer Prozess ist nötig
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Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (3/4)
Modernes Beispiel: John Rawls
– Idee
• Entscheid über die Form der Gesellschaftsorganisation muss in Unkenntnis der eigenen persönlichen Situation erfolgen (Schleier des Nichtwissens)
• Wer die eigene Position in einer Gesellschaft nicht kennt, entscheidet sich für Lösungen, die möglichst allen zu Gute kommen
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Staat als Ordnung der Gerechtigkeit (4/4)
– Zwei fundamentale Gerechtigkeitsprinzipien
• Erstens: Jede Person soll ein gleiches Recht auf die weitestgehende grundlegende Freiheit haben […]
• Zweitens: Soziale und ökonomische Ungleichheiten sollen so eingerichtet werden, dass sowohl
o von ihnen vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie zum Vorteil von allen dienen, und
o sie verbunden sind mit Positionen und Ämtern, die allen offenstehen
– Konkrete Folgerungen von Rawls
• Freiheitsrechte, Rechtsgleichheit
• Gewisse Verteilgerechtigkeit, Chancengleichheit
• Internationale Kooperation, Entwicklungshilfe
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Gerechtigkeit: Problemlagen der Gegenwart
Sozialer Rechtsstaat
– Garantiert nicht nur Freiheitsrechte
– Sondern auch materielle Mindestbedingungen
Wirtschaftspolitische Interventionen
– Können zu Umverteilung führen
– Beispiele: Finanzkrise
Intergenerationelle Gerechtigkeit
– Gegenüber gegenwärtigen und zukünftigen Generationen
– Nachhaltigkeit als Postulat der Gerechtigkeit
– Beispiel: Ausstieg aus der Atomenergie
Internationale Gerechtigkeit
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Staat im Spektrum der Wissenschaften (1/4)
Staat als normative Ordnung
– Verfassung als Sollensordnung
– Staatsrecht befasst sich mit der Frage, was im Sinne der Rechtsordnung gilt („seiendes Sollen“)
• Rechtsphilosophie erörtert demgegenüber das zu erstrebende Ideal („ideelles Sollen“)
• Politologie und Soziologie fragen, wie die Verhältnisse tatsächlich sind (Frage nach dem „Sein“)
– Unterschiedliche Ausprägungen
• Positivismus: Nicht-rechtliche Aspekte sollen von anderen Disziplinen erforscht werden (Hans Kelsen)
• Umfassendere Betrachtung: Einbezug aller gesellschaftlichen Facetten (Georg Jellinek)
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Staat im Spektrum der Wissenschaften (2/4)
Staat als material richtige Ordnung
– Legitimation der staatlichen Ordnung kann verschieden begründet werden
– Zum Beispiel metaphysisch, gesellschaftsvertragstheoretisch, vernunftrechtlich etc.
– Sie kann aber auch grundsätzlich in Frage gestellt werden (Anarchie)
Staat als Produkt der Geschichte
– „Vertikale Rechtsvergleichung“
– Wichtig für das Staatsrecht ist vor allem die Verfassungsgeschichte
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Staat im Spektrum der Wissenschaften (3/4)
Staat als Gegenstand der Politik
– Der Staat und seine Verfassung sind Produkte der Politik
– Auch die weitere Ausgestaltung des Staates erfolgt durch die Politik
Staat als soziales Faktum
– Soziologie untersucht die gesellschaftliche Realität
– Sie prüft also die faktische Wirksamkeit der normativen Strukturen
Staat als Element der Wirtschaft
– Ökonomische Analyse des Rechts untersucht die ökonomische Effizienz des Staates und seiner Handlungen
– Grenzen des Effizienzansatzes
Staatsrecht I – Einführung ins Staatsrecht – Prof. Christine Kaufmann, Herbstsemester 2012
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Staat im Spektrum der Wissenschaften (4/4)
Rechtswissenschaftliche Integration der Perspektiven
– Vorbereitung und kritische Reflexion staatlicher Entscheidungen als Kerngeschäft der Rechtswissenschaft: Dogmatik
– Integration anderer Perspektiven notwendig
– Beispiele
• Auswirkungen wirtschaftlicher Interventionen auf verschiedene gesellschaftliche Gruppen müssen mit ökonomischen Methoden geprüft werden
• Politische Dimension des Rechts
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