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Vor einem kleinen rheinischen Amtsgericht wird einkurios erscheinender Fall verhandelt. Zwei Handwerker,Vater und Sohn, haben einen Jeep der Bundeswehr inBrand gesteckt. Handelt es sich um einen Sabotageakt?Ein Kunstwerk? Der Prozeß, zu dem die Presse nichterscheint, obwohl der Sachverhalt Schlagzeilen machenkönnte, wird offenbar im Staatsinteresse klein gehal-ten ... Mit dem maliziösen »Understatement« des Hu-moristen entwickelt Böll den gar nicht harmlosen Kon-flikt zwischen Individuum und Gesellschaft. In diesemBuch »triumphiert der lachende, gereifte, der listige undmenschenfreundliche Autor« (Frankfurter AllgemeineZeitung).

Heinrich Böll, am 21. Dezember 1917 in Köln geboren,war nach dem Abitur Lehrling im Buchhandel. DanachStudium der Germanistik. Im Krieg sechs Jahre Soldat.Seit 1947 veröffentlichte er Erzählungen, Romane, Hör-und Fernsehspiele, Theaterstücke und war auch als Über-setzer aus dem Englischen tätig. 1972 erhielt Böll denNobelpreis für Literatur. Er starb am 16. Juli 1985 inLangenbroich/Eifel.

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Heinrich Böll

Ende einer Dienstfahrt

Erzählung

Mit einem Essay des Autors:Einführung in >Dienstfahrt<

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Ungekürzte AusgabeJanuar 1967

24., neu durchgesehene Auflage April 199726. Auflage September 2004

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

www.dtv.de 1966 Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln

Umschlagkonzept: Balk & BrumshagenUmschlagfoto: © Keystone

Gesetzt aus der Stempel Garamond 10,5/12•

Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

Printed in Germany • ISBN 3-423-00566 -1

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Vor dem Amtsgericht in Birglar fand im Frühherbst desvorigen Jahres eine Verhandlung statt, über deren Ver-lauf die Öffentlichkeit sehr wenig erfuhr. Die drei imKreise Birglar verbreiteten Zeitungen, die >RheinischeRundschau<, das >Rheinische Tagblatt< und der >Duhrtal-bote<, die unter den Rubriken »Aus dem Gerichtssaal«,»Im Gerichtssaal« und »Neues aus den Gerichtssälen«gelegentlich, etwa bei Viehdiebstählen, größeren Ver-kehrsdelikten, Kirmesschlägereien umfangreiche Repor-tagen veröffentlichten, brachten über diesen Fall nur einekleinere Notiz, die überraschenderweise in allen dreiZeitungen gleich lautete: »Vater und Sohn Gruhl fanden,einen milden Richter. Eine der beliebtesten Persönlich-keiten des öffentlichen Lebens in unserer Kreisstadt,Amtsgerichtsdirektor Dr. Stollfuss, der an dieser Stellenoch gebührend gewürdigt werden wird, leitete als letzteVerhandlung vor seiner Pensionierung den Prozeß ge-gen Johann und Georg Gruhl aus Huskirchen, derenunverständliche Tat im Juni einige Gemüter erregt hat-te. Die beiden Gruhl wurden nach eintägiger Verhand-lung zu vollem Schadenersatz und sechs Wochen Haftverurteilt. Sie nahmen nach kurzer Beratung mit ihremVerteidiger Rechtsanwalt Dr. Hermes aus Birglar dasmilde Urteil an. Da ihnen die Untersuchungshaft ange-rechnet wurde, konnten sie sofort auf freien Fuß ge-setzt werden.«

Die Lokalredaktionen der >Rheinischen Rundschau<und des >Rheinischen Tagblattes< waren schon einige Wo-chen vor Prozeßbeginn übereingekommen, einander in

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dieser Sache keine Konkurrenz zu machen, den FallGruhl nicht »hochzuspielen«, es sei »zu wenig drin«.Wenn — was nicht zu befürchten war — Leser sich über diefehlende Information über den Prozeß Gruhl beklagensollten, so hatten beide Redaktionen eine Ausrede bereit,die, wie der Rundschau-Redakteur Krichel sagte, »bessersaß als die Schlittschuhe einer Eiskunstweltmeisterin« :der gleichzeitig beginnende Prozeß gegen den Kinder-mörder Schewen in der nahe gelegenen Großstadt, dermehr Leser interessiere. Ein Versuch dieser beiden Re-daktionen, mit dem Chefredakteur, Verleger und Druk-ker des >Duhrtalboten<, Herrn Dr. Hollweg, die gleicheVereinbarung zu treffen, war gescheitert. Dr. Hollweg,der im Kreise Birglar eine Art liberaler Opposition betrieb,witterte — nicht zu Unrecht — eine »klerikal-sozialistische«Verschwörung und beauftragte seinen derzeitigen Repor-ter, den ehemaligen Studenten der evangelischen Theolo-gie Wolfgang Brehsel, sich die Sache vorzumerken. Breh-sel, der Gerichtsreportagen allen anderen Reportagenvorzog, war auf den überraschend angesetzten Verhand-lungstermin durch die Frau des Verteidigers Dr. Hermesaufmerksam gemacht worden, die ihm auch, als sie nacheinem Vortrag über >Das Konzil und die Nichtchristen<bei einem Glas Bier mit dem Referenten, einem PrälatenDr. Kerb, zusammensaßen, erklärt hatte, was am FallGruhl wirklich berichtenswert sei: das volle Geständnisder Angeklagten, deren Tat, deren Persönlichkeiten, vorallem aber die Tatsache, daß der Ankläger das merkwür-dige Vergehen der beiden Gruhl nun lediglich als »Sach-beschädigung und groben Unfug« verurteilt zu sehenwünsche und den offenbaren Tatbestand der Brandstif-tung ignoriere. Außerdem erschien der Hermes, die selbstcum laude in juribus promoviert hatte, bemerkenswert:die rasche Anberaumung der Verhandlung, die Unter-

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bringung der Angeklagten in dem provisorisch mit einpaar Zellen ausgestatteten Gerichtsgebäude, wo sie, wiein Birglar bekannt sei, wie die Vögel im Hanfsamen leb-ten; ganz besonders bemerkenswert erschien der Hermes,daß man diesen Prozeß vor einem Amtsgericht ablaufenließ, unter dem Vorsitz des zur Pensionierung anstehen-den Dr. Stollfuss, der seiner humanen Vergangenheit undGegenwart wegen berühmt und berüchtigt war. Auchdem Brehsel, obwohl er sich gerade in den Anfangsgrün-den der Rechtsprechung zurechtzufinden begann, schienfür ein solches Vergehen mindestens ein Schöffengericht,kein Einzelrichter, zuständig; die Hermes bestätigte das,wandte sich dann dem Referenten des Abends, Prälat Dr.Kerb, zu und bat ihn, der sich angesichts dieser BirglarerLokalschwätzereien schon zu langweilen begann, dochdem ökumenisch sehr interessierten NichtkatholikenBrehsel ein paar Stichworte für seinen Artikel über dasReferat zu geben.

Noch am gleichen Abend hatte Brehsel in der Redak-tion mit seinem Chef Dr. Hollweg über diese juristischenFinessen im Falle Gruhl gesprochen, während er Holl-weg, der gern bewies, daß er auch die Berufe des Druk-kers und Setzers »von der Pike auf« gelernt hatte, denArtikel über das abendliche Referat in die Setzmaschinediktierte. Hollweg, dem der Enthusiasmus des Brehselgefiel, gelegentlich aber, wie er sagte, »auf die Nervendrückte», veränderte in dessen Artikel den Ausdruck»sehr optimistisch» in »mit einer gewissen Hoffnung«,den Ausdruck »prächtige Liberalität» in »mit einem ge-wissen Freimut« und beauftragte den Brehsel, über denProzeß Gruhl für den >Duhrtalboten< zu berichten. Dannwusch er sich die Hände mit jener kindlichen Freude, dieihn jedesmal überkam, wenn er sich durch wirkliche undwahre Arbeit die Hände schmutzig gemacht hatte, und

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fuhr mit seinem Auto die wenigen Kilometer nach Kires-kirchen zu seinem Parteifreund, einem Abgeordneten,der ihn zum Essen eingeladen hatte. Hollweg, ein jovia-ler, sehr liebenswürdiger, wenn auch ein wenig zur Indo-lenz neigender Mensch Anfang Fünfzig, ahnte nicht, daßer seinem Parteifreund erheblichen Kummer ersparte, in-dem er selbst auf den merkwürdigen Fall Gruhl zu spre-chen kam. Er äußerte sich erstaunt darüber, daß dieStaatsmacht, deren Härte, wo sie sich zeigte, er anzupran-gern nicht aufhören wolle, der man auf die Finger sehenmüsse, sich in diesem Fall so milde zeige; ein solchesEntgegenkommen der Staatsmacht sei ihm genauso ver-dächtig wie übermäßige Härte; als Liberaler fühle er sichverpflichtet, auch in einem solchen Fall den Finger auf dieWunde zu legen. Hollweg, der gelegentlich ins Schwätzenverfiel, wurde von seinem Parteifreund in der bewährtenliebenswürdigen Weise ermahnt, doch die Vorgänge imKreise Birglar nicht zu überschätzen, wie es ihm oft un-terlaufen sei, zum Beispiel im Falle des Heinrich Grabelaus Dulbenweiler, in dem er sofort einen Märtyrer derFreiheit gesehen, der sich aber als ganz kleiner Schwindlererwiesen habe, als mieser Gernegroß mit einer »ziemlichoffenen Hand für Gelder aus der falschen Himmelsrich-tung«. Hollweg wurde nicht gern an den Fall HeinrichGrabel erinnert; für den hatte er sich ins Zeug gelegt, ihmPublicity verschafft, ihn auswärtigen Kollegen ans Herzgelegt, sogar den Korrespondenten einer überregionalenZeitung hatte er für ihn interessiert. Er küßte der Frau desAbgeordneten, die gähnend um Entschuldigung und dieErlaubnis sich zurückziehen zu dürfen bat — sie .habe dieganze Nacht am Bett ihrer kleinen Tochter gewacht —, erküßte ihr die Hand, widmete sich eine Weile dem Nach-tisch, mit Paprika und Zwiebeln garniertem Camembert,zu dem ein gutes Glas Rotwein serviert wurde. Der Ab-

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geordnete goß ihm nach und sagte: »Laß doch die Fingervon diesen Gruhls.« Aber Hollweg erwiderte, eine solcheAufforderung, hinter der er — so dumm sei er denn dochnicht — eine Absicht wittere — eine solche Mahnung sei fürihn, einen leidenschaftlichen Liberalen und Journalisten,geradezu ein Ansporn, sich der Sache anzunehmen. SeinGastgeber wurde ernst und sagte: »Du, Herbert, hab ichdich je um einen Gefallen gebeten, was deine Zeitungbetrifft?« Hollweg, jetzt verdutzt, sagte nein, das habe ernie. Jetzt, sagte der Gastgeber, bäte er ihn zum erstenmalum etwas, »und zwar um deinetwillen«. Hollweg, derwegen seines Birglarer Lokalpatriotismus genug gehänseltwurde, sich auch seiner Provinzialität schämte, versprach,seinen Reporter zurückzupfeifen, aber unter der Bedin-gung, daß der Abgeordnete ihm die Hintergründe erklä-re. Es gebe keine Hintergründe, sagte der; Hollweg kön-ne ja hingehen, an der Verhandlung teilnehmen, dann ent-scheiden, ob sie eines Berichtes wert sei; es sei eben nurtöricht, wenn irgendein Reporter die Sache aufbausche.Hollweg überfiel schon ein Gähnen, wenn er sich denGerichtssaal vorstellte: dieses muffige, immer noch nachSchule riechende Gebäude neben der Kirche; der alteStollfuss, dessen Kusine Agnes Hall als obligatorischeZuschauerin, und außerdem: war es nicht wünschens-wert, wenn die beiden Gruhl einen milden Richter fandenund von Publicity verschont wurden? Im übrigen würdees ein Segen für alle Liebhaber alter Möbel im Kreis Birg-lar und darüber hinaus sein, wenn Gruhl sen. wieder freiwar, seine geschickten Hände, sein untrüglicher Ge-schmack der Gesellschaft wieder zu Diensten standen.

Beim Kaffee, den der Abgeordnete im Herrenzimmeraus einer Thermoskanne eingoß, fragte er Hollweg, ob ersich an eine gewisse Betty Hall aus Kireskirchen erinnere,die später Schauspielerin geworden sei. Nein, sagte Holl-

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weg, er, der Abgeordnete, vergesse wohl den Altersunter-schied zwischen ihnen, der immerhin fünfzehn Jahre be-trage; was denn mit dieser Hall los sei; sie trete, sagte derAbgeordnete, in der nahe gelegenen Großstadt in einempolnischen Theaterstück auf und habe eine glänzendePresse. Hollweg nahm die Einladung ins Theater an.

Morgens gegen siebeneinhalb Uhr wurde Brehsel vonHollweg angerufen und aufgefordert, nicht über den FallGruhl in Birglar zu berichten, sondern in die nahe gelege-ne Großstadt zu fahren, wo zur gleichen Stunde der Sen-sationsprozeß gegen den Kindermörder Schewen begann.Brehsel kam es einige Augenblicke lang seltsam vor, daßsein Chef, der als Langschläfer galt, ihn so früh am Mor-gen anrief, bis ihm einfiel, daß Langschläfer meistens spätins Bett gehen und Hollweg möglicherweise gerade erstnach Hause gekommen sei. Hollwegs Stimme kam ihmauch eine Spur zu energisch, fast befehlend vor, beidesNuancen, die ihn überraschten; Hollweg war sonst einnachgiebiger, wenig energischer Mensch, der sich nur zuerregen pflegte, wenn an einem einzigen Tag drei odervier Abbestellungen einliefen. Brehsel dachte nicht sehrlange über diese minimalen Abweichungen vom Ge-wöhnlichen nach, rasierte sich, frühstückte und fuhr mitseinem Kleinauto in die nahe gelegene Großstadt; er warein wenig nervös wegen der Parkschwierigkeiten, die ihmbevorstanden, auch weil er sich vor den großen inter-nationalen Reportage-Löwen fürchtete, die sich aus allerWelt angesagt hatten. Eine Pressekarte lag, wie Hollwegversichert hatte, für ihn bereit; durch frühe Morgentele-fonate eine Karte zu besorgen, hatte sich der Abgeordne-te, der Mitglied des Wehr- und des Presseausschusseswar, stark gemacht.

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Der Prozeß Gruhl fand im kleinsten der drei zur Verfü-gung stehenden Säle vor zehn Zuschauern statt, die fastalle mit den Angeklagten, Zeugen, Gutachtern, Gerichts-personen oder anderen mit dem Prozeß befaßten Perso-nen verwandt waren. Lediglich einer der Anwesendenwar ortsfremd, ein schlanker, unauffällig, jedoch gediegengekleideter Herr mittleren Alters, der nur dem Vorsitzen-den, dem Staatsanwalt und dem Verteidiger als Amtsge-richtsrat Bergnolte aus der nahe gelegenen Großstadt be-kannt war.

Im Zeugen-, dem ehemaligen Lehrerzimmer der Schule,die als vierklassige in den achtziger Jahren des vorigenJahrhunderts erbaut, zur sechsklassigen um die Jahrhun-dertwende erweitert, in den späten fünfziger Jahren diesesJahrhunderts durch einen Neubau ersetzt und der sprich-wörtlich armen Justizbehörde übergeben worden war, diebis dahin in einer ehemaligen Unteroffiziersschule dieRechtspflege betrieben hatte; im Zeugenzimmer, das fürsechs, höchstens acht Personen berechnet war, drängtensich vierzehn Personen verschiedener sozialer und mora-lischer Qualität: der alte Pfarrer Kolb aus Huskirchen,zwei Frauen aus dessen Gemeinde, von denen die eineden Ruf sagenhafter Biederkeit und Kirchentreue, die an-dere den Ruf einer übersinnlichen Person genoß, wobeiüber als Steigerung von sinnlich, nicht im Sinne von meta-sinnlich gemeint war; außerdem: je ein Offizier, Feldwe-bel und Gefreiter der Bundeswehr, ein Wirtschaftsprüfer,ein Gerichtsvollzieher, ein Finanzbeamter aus dem mitt-leren gehobenen Dienst, ein Reisevertreter, ein Kreisbe-vollmächtigter für Verkehrsfragen, der Obermeister derTischlerinnung, ein Polizeimeister, eine Barbesitzerin.Als die Verhandlung begann, mußte JustizwachtmeisterSterck, der eigens zu diesem Zweck aus der nahe gelege-nen Großstadt abkommandiert worden war, den Zeugen

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das Ambulieren auf dern Flur untersagen; wenn im Ge-richtssaal laut gesprochen wurde, konnte man auf demFlur die Verhandlung mithören. Dieser Umstand hatteschon zu mancher ergebnislosen Kontroverse zwischendem Amtsgerichtsdirektor und seiner vorgesetzten Be-hörde geführt. Da bei Diebstählen, Erbschaftsstreitigkei-ten, Verkehrsdelikten des Gerichts einzige Chance bei derWahrheitsfindung darin bestand, Widersprüche in denZeugenaussagen aufzudecken, mußte meistens ein Wacht-meister als Zeugenbewacher angefordert werden, der oftmit den Zeugen weitaus strenger verfahren mußte als seinKollege drinnen im Saal mit den Angeklagten. Es kamauch gelegentlich im Zeugenzimmer zu Handgreiflich-keiten, wüsten Schimpfereien, Verleumdungen undVerdächtigungen. Der einzige Vorteil der ausgedientenSchule bestand, wie es ironisch in den entsprechendenEingaben immer wieder hieß, in der Tatsache, »daß anToiletten kein Mangel bestehe«. In der nahe gelegenenGroßstadt, bei der dem Amtsgericht Birglar vorgesetztenBehörde, die in einem Neubau mit offenbar zuwenig Toi-letten untergebracht war, gehörte es zu den Standardwit-zen, jedem, der sich über Toilettenmangel beklagte, denRat zu geben, er möge doch per Taxi in das nur fünfund-zwanzig Kilometer entfernte Birglar fahren, wo notori-scher Überfluß an justizeigenen Toiletten herrsche.

Im Verhandlungssaal herrschte unter den Zuschauern ei-ne Stimmung wie vor den Aufführungen von Liebhaber-theatern, die ein klassisches Repertoirestück angekündigthaben; eine gewisse wohlwollende Spannung, die ihreWohltemperiertheit aus der Risikolosigkeit des Unter-nehmens bezieht: man kennt die Handlung, kennt dieRollen, deren Besetzung, erwartet keine Überraschungenund ist dennoch gespannt; geht's schief, so ist nicht viel

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verloren, höchstens ein wenig liebenswürdiger Eifer ver-schwendet; geht's gut: desto besser. Allen Anwesendenwaren die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und derVoruntersuchung auf dem Umweg über direkte oder in-direkte Indiskretionen, wie sie in kleinen Ortschaften un-vermeidlich sind, bekannt. Jeder wußte, daß die beidenAngeklagten voll geständig waren, sie waren sogar, wieder Staatsanwalt vor wenigen Tagen im vertrauten Kreisgesagt hatte, »nicht nur geständiger« als alle Angeklagten,die er je gesehen hatte, nein, sie waren »die geständig-sten«; sie hatten weder während des Ermittlungsverfah-rens noch während der Voruntersuchung den Zeugenoder Gutachtern widersprochen. Es werde, so hatte derStaatsanwalt geäußert, eines jener reibungslosen Verfah-ren, wie sie jedem erfahrenen Juristen unheimlich seien.

Nur drei im Zuschauerraum anwesende Personen wuß-ten, was gewiß auch »andernorts« — so nannte man insolchen Fällen die nahe gelegene Großstadt — bekanntwar: daß die Staatsmacht, indem sie sich darauf be-schränkte, den Angeklagten lediglich Sachbeschädigungund groben Unfug und nicht Brandstiftung zur Last zulegen, indem sie außerdem einen Einzelrichter als ausrei-chende Instanz mit der Durchführung des Verfahrens be-faßte, auf eine überraschende Weise tiefstapelte. Die bei-den Personen, die Einblick in solche Zusammenhängehatten, waren die Frau des Staatsanwalts Dr. Kugl-Egger,die erst vor wenigen Tagen, nachdem ihr Mann endlicheine Wohnung gefunden hatte, nach Birglar übergesiedeltwar, und die Frau des Verteidigers Dr. Hermes, eineKaufmannstochter aus Birglar, die, was sie wußte, schondem Reporter Brehsel am Vorabend erzählt hatte: daßman »andernorts« entschieden habe, weder ein Schöffen-gericht noch — was durchaus »drin« gewesen wäre — einegroße Strafkammer zu befassen; da man aber wisse, daß

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kein Verteidiger so pervers reagiere, wenn er die Möglich-keit habe, seine Angeklagten von einem müden alten Hu-manitätslöwen wie Stollfuss abgeurteilt zu sehen, ihn vordie kleine Strafkammer, den »miesen Köter« Prell zuschleppen: habe man »andernorts« entschieden, den FallGruhl kleinzuhalten; darin müsse ein unausgesprochenes,aber spürbares Entgegenkommen erblickt werden undgleichzeitig eine Bitte um Entgegenkommen; Hermes, ihrMann, behalte sich aber vor, je nachdem, wie der Fallverliefe, beides, Entgegenkommen und Bitte um Entge-genkommen, abzulehnen und auf einer neuen Verhand-lung, mindestens vor einem Schöffengericht, zu bestehen.

Die dritte im Zuschauerraum anwesende Person, dieüber solche Zusammenhänge informiert war, Amtsge-richtsrat Bergnolte, wäre außerstande gewesen, sich sol-che Überlegungen bewußt zu machen; als Mensch vonhoher Wahrnehmungsintelligenz, einer sprichwörtlichenKenntnis der Gesetzestexte begriff er zwar den Vorgang:daß die zur Wiederherstellung des Rechtes vorhandene,mit Macht ausgestattete Justiz hier, wie ein Kollege esgenannt hatte, »unter den Strich ging«; doch Begriffe wieEntgegenkommen oder gar Bitte um Entgegenkommenhätte er in diesem Zusammenhang als unzulässig bezeich-net.

Als Richter und Staatsanwalt eintraten und sich auf ihrePlätze begaben, die Zuschauer sich erhoben, zeigte sich inder Art, wie sie aufstanden, sich wieder hinsetzten, jenefamiliäre Lässigkeit, wie man sie nur in Klostergemein-schaften kennt, wo das Ritual zur freundlichen Gebärdeunter Vertrauten geworden ist. Auch als die Angeklagtenhereingeführt wurden, war die Bewegung nicht heftiger;fast alle Anwesenden kannten sie, wußten auch, daß siewährend ihrer zehn Wochen dauernden Untersuchungs-

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haft Frühstück, Mittagessen und Abendbrot aus dem be-sten Haus am Platze gebracht bekamen, von einer jungenDame, einem der hübschesten Mädchen, die je im KreisBirglar aufgewachsen waren; so gut, wie sie während derUntersuchungshaft versorgt wurden, waren die beidenseit zweiundzwanzig Jahren, seit dem Tode ihrer Frauund Mutter, nie versorgt worden; es wurde sogar gemun-kelt, sie würden gelegentlich, wenn nicht gerade andereHäftlinge einsaßen, deren Indiskretion zu fürchten gewe-sen wäre, zu besonders populären Fernsehsendungen indas Wohnzimmer des Justizwachtmeisters Schroer einge-lassen; Schroer und seine Frau widersprachen zwar diesenGerüchten, aber nicht allzu heftig.

Lediglich der Frau des Staatsanwalts und dem Bergnol-te waren die Angeklagten nicht bekannt; die Frau desStaatsanwalts gestand beim Mittagessen ihrem Mann, siehabe sofort eine starke Sympathie für beide empfunden.Bergnolte bezeichnete am Abend den Eindruck, den ergewann, als »wider meinen Willen positiv«. Die beidenwirkten gesund, waren gut gekleidet, sauber und ruhig;sie wirkten nicht nur gefaßt, sondern heiter.

Die Vernehmungen zur Person verliefen fast reibungs-los; sieht man davon ab, daß Dr. Stollfuss tun mußte, waser gewöhnlich tun mußte: die Angeklagten aufzufordern,lauter, artikulierter zu sprechen und nicht zu sehr in denzungenschweren Dialekt der Landschaft zu verfallen;sieht man davon ab, daß dem Staatsanwalt, einem Orts-und Landschaftsfremden, gelegentlich Dialektausdrückeins Hochdeutsche übersetzt werden mußten, geschahnicht viel Erwähnenswertes, wurde auch nicht viel Neueszur Sprache gebracht. Der Angeklagte Gruhl sen., derseine Vornamen mit Johann Heinrich Georg angab, seinAlter mit fünfzig, ein schmaler, fast zarter mittelgroßerMensch, dessen Kahlkopf dunkel schimmerte, sagte, be-

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vor er sachliche Angaben zu seiner Person machte, erwolle hier noch etwas mitteilen, das der Herr Vorsitzen-de, den er kenne, schätze, ja, verehre, ihm nicht verübelnmöge; es sei eben, was er zu sagen habe, die Wahrheit, diereine Wahrheit und nichts als die reine Wahrheit, wenn esauch eine sehr persönliche Aussage sei; was er sagen wol-le: ihm läge nichts, nicht das geringste an Recht und Ge-setz, er würde auch hier keine Aussage machen, nichteinmal sein Alter angeben, wenn nicht — und diese Aus-sage, die im Zuschauerraum kaum jemand verstand, gingin der tonlosen, leisen Aussprache des Gruhl fast verlo-ren —, wenn nicht persönliche Gründe mitspielten; dererste dieser persönlichen Gründe sei seine Hochschät-zung des Herrn Vorsitzenden, der zweite sei seine Hoch-schätzung der Zeugen, besonders des PolizeimeistersKirffel, der ein guter, ja, sehr guter Freund seines Vaters,des Landwirts Gruhl aus Dulbenweiler, gewesen sei; auchdie Zeuginnen Leuffen, seine Schwiegermutter, und Wer-melskirchen, seine Nachbarin, die Zeugen Horn, Grähnund Hall und Kirffel wolle er hier nicht im Stich lassenoder in Schwierigkeiten. bringen — deshalb sage er aus,nicht weil er erwarte, daß »aus den Gebetsmühlen derGerechtigkeit auch nur ein Körnchen Wahrheit herausge-mahlen» werde.

Während des größeren Teils dieser Vor-Aussage spracher Dialekt, und weder der Vorsitzende noch der Verteidi-ger, die ihm beide wohlwollten, unterbrachen ihn oderforderten ihn auf, deutlich und in Hochdeutsch zu spre-chen; der Staatsanwalt, der sich schon oft mit Gruhl un-terhalten hatte und den Dialekt weder mochte noch ver-stand, hörte gar nicht richtig hin; der ProtokollführerReferendar Außem schrieb in diesem Stadium noch nichtmit: ihn langweilte diese Verhandlung ohnehin. Ein paarBrocken dieser rasch und tonlos vorgebrachten Einlei-

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tung verstanden unter den Zuschauern nur zwei Kollegendes Gruhl, Frau Dr. Hermes und eine ältere, fast ältlicheDame, Fräulein Agnes Hall, die den Gruhl sehr gut kann-te. Gruhl gab dann seinen Beruf als den eines Tischler-meisters an, seinen Geburtsort mit Dulbenweiler, KreisBirglar; dort habe er die Volksschule besucht und imJahre 1929 absolviert; dann sei er in Birglar »bei meinemverehrten Meister Horn« in die Lehre gegangen, habeschon im dritten Lehrjahr Abendkurse an der Kunstge-werbeschule der nahe gelegenen Großstadt besucht, sichim Jahre 1936 im Alter von einundzwanzig Jahren selb-ständig gemacht, mit dreiundzwanzig habe er im Jahre

1937 geheiratet, mit fünfundzwanzig »im erforderlichenMindestalter« im Jahre 1939 seine Meisterprüfung ge-macht; er sei erst 194o eingezogen worden, bis 1945 Sol-dat gewesen. Hier unterbrach der Vorsitzende zum er-stenmal Gruhls monotone, kaum verständliche Aussage,von der der Protokollführer später sagte, er habe dabeidauernd ein heftiges Gähnen unterdrücken müssen, undfragte den Angeklagten, ob er an Kampfhandlungen wäh-rend des Krieges teilgenommen oder sich vor oder wäh-rend des Krieges politisch betätigt habe. Gruhl, fast mür-risch — obwohl von Dr. Stollfuss energisch aufgefordert,lauter zu sprechen — sagte tonlos und fast unverständlich, erhabe zu diesem Punkt fast dasselbe zu sagen wie zu Rechtund Gesetz; er habe weder an Kampfhandlungen teilge-nommen noch sich politisch betätigt, er möchte aber — undhier wurde er ein wenig lauter, weil er ärgerlich zu werdenschien —, er möchte aber betonen, daß dies weder ausHeroismus noch aus Gleichgültigkeit geschehen sei: dieser»Blödsinn« sei ihm einfach zu dumm gewesen. Was seineDienstzeit als Soldat betreffe, so sei er meistens in seinerEigenschaft als Möbeltischler damit beschäftigt gewe-sen, Offiziersquartiere und -kasinos in »deren für mich

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undiskutablem Geschmack« auszustatten, hauptsächlichaber habe er »gestohlene oder beschlagnahmte Direc-toire-, Empire- und manchmal auch Louis-seize-Möbel«im besetzten Frankreich restauriert und sachgerecht fürden Versand nach Deutschland verpackt. Hier griff derStaatsanwalt ein, der Verwahrung gegen den Terminus»gestohlen« einlegte, der angetan sei, »überholte Kollek-tivvorstellungen von deutscher Barbarei« zu bekräftigenoder wiederzuerwecken ; im übrigen, das sei so rechts-wie aktennotorisch, sei der Abtransport »französischenEigentums aus dem besetzten Frankreich« verboten ge-wesen, ja, habe unter hoher Strafe gestanden. Gruhlblickte ihn ruhig an und erwiderte, er wisse nicht nur, erkönne beschwören — falls ihm ein Schwur angebracht er-schiene —, daß der größere Teil der Möbel gestohlen ge-wesen und trotz des Verbots, von dem er wisse, nachDeutschland transportiert worden sei, »meistens in denFlugzeugen hochdekorierter Sportskameraden«; es seiihm, fügte Gruhl hinzu, schnurz und schnuppe, ob erdamit ein Kollektivurteil ausspreche oder nicht. Was dieFrage nach seiner politischen Betätigung betreffe: für Po-litik habe er sich nie sonderlich interessiert, »erst rechtnicht für diesen Blödsinn«, der damals im Gang gewesensei; seine verstorbene Frau sei sehr religiös gewesen, siehabe vom »Antichrist« gesprochen; das habe er, obwohler seine Frau sehr geliebt habe, zwar nicht verstanden,aber respektiert und er habe »fast verehrt, wie sie sichereiferte»; selbstverständlich sei er immer auf »der Seiteder anderen gewesen«, das sei aber, wie er betonen möchte,selbstverständlich. Nach dem Krieg sei es ihm unter Mit-hilfe holländischer Freunde — er sei damals in Amsterdamgewesen — gelungen, »irgendeiner Gefangenschaft zu ent-gehen«, und er habe von 1945 an, jetzt in Huskirchen,wieder als Tischlermeister gelebt und gearbeitet. Er wurde

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vom Staatsanwalt gefragt, was er unter dem von ihm so

betonten selbstverständlich verstehe. Gruhl antwortete:»Das würden Sie doch nicht verstehen.« Der Staatsanwaltlegte, zum erstenmal leicht gereizt, Verwahrung gegendiese unzulässige Beurteilung seiner Intelligenz seitensdes Angeklagten ein. Als Gruhl, von Dr. Stollfuss gerügt,aufgefordert wurde, dem Staatsanwalt Antwort zu geben,sagte er, das sei ihm zu umständlich und er verweigere dieAussage. Vom Staatsanwalt, der böse zu werden begann,gefragt, ob er je mit dem Gesetz in Konflikt gekommensei, sagte Gruhl, er habe in den letzten zehn Jahren inständigem Konflikt mit dem Gesetz, dem Steuergesetz,gelebt, vorbestraft sei er aber im Sinne der Frage desHerrn Staatsanwalts nicht. Energisch dazu aufgefordert,die Beurteilung von »im Sinne des Staatsanwalts« diesemselbst zu überlassen, sagte Gruhl, er wolle ja nicht so seinund zugeben, daß er ständig unter Pfändungs- undZwangsvollstreckungsbefehlen gestanden habe; darüberkönne ja der Hubert aussagen; Hubert — das erklärteGruhl, der auch gereizt zu werden begann, auf die Fragedes Staatsanwalts — sei der Herr Gerichtsvollzieher HubertHall, wohnhaft in Birglar, übrigens ein Vetter des Vatersseiner Schwiegermutter, wenn er es genau ausdrücken dür-fe. Vom Verteidiger nach seinen Einkommensverhältnis-sen und seiner Vermögenslage gefragt, lachte Gruhl lie-benswürdig und bat darum, die Beantwortung dieser Fra-ge, die sehr, sehr kompliziert sei, dem Zeugen Hall unddem Volkswirt Dr. Grähn überlassen zu dürfen.

Sein Sohn, Georg Gruhl, einen Kopf größer als derVater, schwerer auch als dieser, fast dicklich, blond, glichdem Vater gar nicht, sehr aber seiner verstorbenen Mut-ter, die manche Zuschauer »direkt in ihm wiederzusehen«glaubten. Lieschen Gruhl, eine geborene Leuffen, Metz-gertochter aus Huskirchen, deren Blondheit und Blässe

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so sprichwörtlich gewesen waren wie ihre Frömmigkeitund heitere Sanftmut, die in der mündlichen Überliefe-rung der Bevölkerung der umliegenden Dörfer als »Leuf-fens Lies« noch immer mit poetischen Vokabeln wie »un-ser Goldengel«, »zu gut für diese Erde«, »fast eine Heili-ge« erwähnt wurde, hatte nur dieses eine Kind gehabt.Mit einer, wie einige Zuschauer empfanden, etwas zustark aufgetragenen Fröhlichkeit gab Georg an, er habe inHuskirchen bis zur vierten Klasse die Volksschule be-sucht, dann die Realschule in Birglar, habe aber schon seitseiner frühen Kindheit dem Vater geholfen und habe aufGrund einer Abmachung mit der Innung gleichzeitig mitder Abschlußprüfung in der Realschule, das heißt genaugesagt, wenige Wochen später, seine Prüfung als Tischler-gehilfe abgelegt; er habe danach drei Jahre bei seinemVater gearbeitet und sei mit zwanzig Jahren zur Bundes-wehr eingezogen worden; »als das passierte«, sei er Ge-freiter bei der Bundeswehr gewesen. Im übrigen schließeer sich dem an, was sein Vater vor seiner Aussage alsErklärung gesagt habe.

Was die Zuschauer am jungen Gruhl »als etwas zu starkaufgetragene Fröhlichkeit« empfanden, wurde in einemmehr privaten Teil des Protokolls, das Referendar Außemsich als literarische Skizze anlegte, mehrmals als »frivoleHeiterkeit« bezeichnet; so beantwortete der junge Gruhlauch einige Fragen des Staatsanwalts. Ob ihn die Haftpsychisch belastet habe, möglicherweise Schädigungenhervorgerufen habe? Nein, sagte der junge Gruhl, er seifroh gewesen, nach der Militärzeit wieder mit seinem Va-ter zusammenzusein, und da sie auch die Erlaubnis be-kommen hätten, kleinere Arbeiten auszuführen, habe ersogar einiges gelernt; sein Vater habe ihm auch Franzö-sischunterricht gegeben, und »körperlich« habe es ihnenan nichts gemangelt.

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