Die Anwendung von numerischen Methoden zur Tragwerksanalyse von Baudenkmälern

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323 © Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Mauerwerk 11 (2007), Heft 6 1 Einleitung Unter dem Dach von ICOMOS (In- ternational Council on Monuments and Sites) haben denkmalpflegerisch tätige Ingenieure in dem „Internatio- nalen Komitee für die Untersuchung und Sanierung derTragwerke von Bau- denkmalen“ (ISCARSAH [1]) Richt- linien für die Untersuchung, Erhal- tung und Sanierung von Tragwerken historischer Bauten verabschiedet, [2]. Diese Richtlinien sind nicht nur für Tragwerksplaner, sondern für alle, die vor Sanierungsproblemen an hi- storischen Bauwerken stehen, be- stimmt. Eine implizit enthaltene Kern- aussage ist, dass diejenigen, die sich mit der Erhaltung historischer Bau- werke beschäftigen, in jedem Falle auch einen Ingenieur mit einbeziehen müssen. Oft erfolgt das erst am Ende eines Projektes, wenn bereits alle Ent- scheidungen getroffen sind und kaum noch Spielraum besteht. Dabei wird stets offensichtlich, dass bei einer frü- heren Einbeziehung eines Ingenieurs bessere Lösungen möglich sind. Ein Aspekt dieser Aussage ist, dass Sanierungsaufgaben andere Kenntnisse, Fähigkeiten und Metho- den vom Ingenieur verlangen als Neu- bauaufgaben. Oft wird historische Substanz unsachgemäß behandelt und dadurch beschädigt oder zerstört, weil diese Tatsache nicht bekannt ist oder akzeptiert wird; und das oft mit Wis- sen von Entscheidungsträgern und an- deren Fachleuten. Darüber hinaus wird häufig von den Baubehörden und auch von den Ingenieuren das Ziel gestellt, historische Bauwerke an die gegenwärtigen Bemessungsnormen anzupassen. Die Bemessungsnormen der verschiedenen Bauarten sind grundsätzlich nicht für bestehende Gebäude und bauliche Anlagen erar- beitet worden und entsprechen nicht den speziellen Anforderungen beim Erhalt von historisch bedeutsamen Bauten, weshalb eine solche Vorge- hensweise unweigerlich zum Konflikt führen muss. Es ist wichtig, den Unterschied zwischen den heutigen Bauweisen und der Sanierung von bestehenden Bauwerken zu erkennen, da dieser er- heblichen Einfluss auf die Aufwands- einschätzung für den Ingenieur und damit auf das Honorar hat. Die übli- che Berechnung des Honorars bei In- genieurleistungen für Neubauten, die mit Prozentansätzen für Leistungs- phasen und damit für die einzelne Tätigkeit arbeitet, ist für Sanierungs- planungen in der Praxis nicht brauch- bar, wenn bauliche Eingriffe verhin- dert oder zumindest minimiert wer- den sollen. Der Vorschlag, einen Ein- griff in bestehende Substanz zu unter- lassen, könnte sogar mehr Unter- suchungsaufwand und folglich mehr Kosten für den Ingenieur verursa- chen, als ihn in „harter Weise“ vorzu- nehmen. Behutsame Veränderungen nach dem derzeitigen Stand der Technik und des Wissens zu planen und auszu- führen, bedarf einer genauen Bestands- aufnahme und eines Verständnisses für die Geschichte des historischen Bauwerkes. Jedes Architekturerbe ist das Ergebnis einer einzigartigen Kon- struktion, einer gutüberlegten Ent- scheidung und des Verfalls infolge der Zeit und verschiedenster zufälliger Er- eignisse. Ein Ingenieur, der an histori- schen Gebäuden arbeitet, muss sich bewusst sein, dass er nicht nur den momentanen Zustand verstehen muss, sondern auch den historischen Pro- zess, den das Bauwerk durchlebt hat. Er sollte von Anbeginn involviert sein und nicht nur Fragen an den Bauarchäologen oder an den Architekturhistoriker stellen, die für diese u. U. leicht zu beantworten sind, sondern auch Erklärungen und Begründungen für aufgedeckte Be- funde finden. Aus diesen Gründen ist die Ana- lyse von historischen Mauerwerks- konstruktionen eine komplexe Auf- gabe, die eine besondere Ausbildung und ein spezielles Verständnis erfor- dert. Die fortwährenden Veränderun- gen bei den Materialien und der Kon- struktionstechnik, die sich schnell von der traditionellen Praxis entfernt haben, und die anspruchsvollen tech- nischen und wissenschaftlichen Ent- wicklungen, die allen Beteiligten neue Möglichkeiten bei der Erhaltung des Architekturerbes eröffnen, sind Kern- aspekte der Unterscheidung der Kon- struktionstechnik beim Neubau und Paulo Lourenço Die Anwendung von numerischen Methoden zur Tragwerksanalyse von Baudenkmälern Die Erhaltung und Sanierung von historischen Bauwerken stellen immer noch eine Her- ausforderung für die Praktiker dar, da gerade in den letzten Jahrzehnten beträchtliche Fortschritte und Erkenntnisse in der Forschung erzielt werden konnten, insbesondere in Bezug auf zerstörungsfreie Prüfverfahren, Erfassung der mechanischen Eigenschaften, Berechnungsmethoden zur realitätsnahen numerischen Untersuchung, sowie zu traditio- nellen als auch innovativen Baumaterialien und Techniken. In diesem Beitrag werden die Bedeutung der statisch-konstruktiven Denkmalpflege und ihrer ingenieurtechnischen Aspekte erörtert und die Anwendung von modernen numerischen Berechnungsmetho- den anhand von ausgewählten Fallstudien diskutiert. Fachthemen DOI: 10.1002/dama.200700351

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323© Ernst & Sohn Verlag für Architektur und technische Wissenschaften GmbH & Co. KG, Berlin · Mauerwerk 11 (2007), Heft 6

1 Einleitung

Unter dem Dach von ICOMOS (In-ternational Council on Monumentsand Sites) haben denkmalpflegerischtätige Ingenieure in dem „Internatio-nalen Komitee für die Untersuchungund Sanierung derTragwerke von Bau-denkmalen“ (ISCARSAH [1]) Richt-linien für die Untersuchung, Erhal-tung und Sanierung von Tragwerkenhistorischer Bauten verabschiedet,[2]. Diese Richtlinien sind nicht nurfür Tragwerksplaner, sondern für alle,die vor Sanierungsproblemen an hi-storischen Bauwerken stehen, be-stimmt. Eine implizit enthaltene Kern-aussage ist, dass diejenigen, die sichmit der Erhaltung historischer Bau-werke beschäftigen, in jedem Falleauch einen Ingenieur mit einbeziehenmüssen. Oft erfolgt das erst am Endeeines Projektes, wenn bereits alle Ent-scheidungen getroffen sind und kaumnoch Spielraum besteht. Dabei wirdstets offensichtlich, dass bei einer frü-heren Einbeziehung eines Ingenieursbessere Lösungen möglich sind.

Ein Aspekt dieser Aussage ist,dass Sanierungsaufgaben andereKenntnisse, Fähigkeiten und Metho-den vom Ingenieur verlangen als Neu-bauaufgaben. Oft wird historischeSubstanz unsachgemäß behandelt unddadurch beschädigt oder zerstört, weil

diese Tatsache nicht bekannt ist oderakzeptiert wird; und das oft mit Wis-sen von Entscheidungsträgern und an-deren Fachleuten. Darüber hinauswird häufig von den Baubehördenund auch von den Ingenieuren dasZiel gestellt, historische Bauwerke andie gegenwärtigen Bemessungsnormenanzupassen. Die Bemessungsnormender verschiedenen Bauarten sindgrundsätzlich nicht für bestehendeGebäude und bauliche Anlagen erar-beitet worden und entsprechen nichtden speziellen Anforderungen beimErhalt von historisch bedeutsamenBauten, weshalb eine solche Vorge-hensweise unweigerlich zum Konfliktführen muss.

Es ist wichtig, den Unterschiedzwischen den heutigen Bauweisenund der Sanierung von bestehendenBauwerken zu erkennen, da dieser er-heblichen Einfluss auf die Aufwands-einschätzung für den Ingenieur unddamit auf das Honorar hat. Die übli-che Berechnung des Honorars bei In-genieurleistungen für Neubauten, diemit Prozentansätzen für Leistungs-phasen und damit für die einzelneTätigkeit arbeitet, ist für Sanierungs-planungen in der Praxis nicht brauch-bar, wenn bauliche Eingriffe verhin-dert oder zumindest minimiert wer-den sollen. Der Vorschlag, einen Ein-griff in bestehende Substanz zu unter-

lassen, könnte sogar mehr Unter-suchungsaufwand und folglich mehrKosten für den Ingenieur verursa-chen, als ihn in „harter Weise“ vorzu-nehmen.

Behutsame Veränderungen nachdem derzeitigen Stand der Technikund des Wissens zu planen und auszu-führen, bedarf einer genauen Bestands-aufnahme und eines Verständnissesfür die Geschichte des historischenBauwerkes. Jedes Architekturerbe istdas Ergebnis einer einzigartigen Kon-struktion, einer gutüberlegten Ent-scheidung und des Verfalls infolge derZeit und verschiedenster zufälliger Er-eignisse. Ein Ingenieur, der an histori-schen Gebäuden arbeitet, muss sichbewusst sein, dass er nicht nur denmomentanen Zustand verstehen muss,sondern auch den historischen Pro-zess, den das Bauwerk durchlebt hat.Er sollte von Anbeginn involviertsein und nicht nur Fragen an den Bauarchäologen oder an denArchitekturhistoriker stellen, die fürdiese u. U. leicht zu beantwortensind, sondern auch Erklärungen undBegründungen für aufgedeckte Be-funde finden.

Aus diesen Gründen ist die Ana-lyse von historischen Mauerwerks-konstruktionen eine komplexe Auf-gabe, die eine besondere Ausbildungund ein spezielles Verständnis erfor-dert. Die fortwährenden Veränderun-gen bei den Materialien und der Kon-struktionstechnik, die sich schnellvon der traditionellen Praxis entfernthaben, und die anspruchsvollen tech-nischen und wissenschaftlichen Ent-wicklungen, die allen Beteiligten neueMöglichkeiten bei der Erhaltung desArchitekturerbes eröffnen, sind Kern-aspekte der Unterscheidung der Kon-struktionstechnik beim Neubau und

Paulo Lourenço

Die Anwendung von numerischen Methodenzur Tragwerksanalyse von Baudenkmälern

Die Erhaltung und Sanierung von historischen Bauwerken stellen immer noch eine Her-ausforderung für die Praktiker dar, da gerade in den letzten Jahrzehnten beträchtlicheFortschritte und Erkenntnisse in der Forschung erzielt werden konnten, insbesondere inBezug auf zerstörungsfreie Prüfverfahren, Erfassung der mechanischen Eigenschaften,Berechnungsmethoden zur realitätsnahen numerischen Untersuchung, sowie zu traditio-nellen als auch innovativen Baumaterialien und Techniken. In diesem Beitrag werden dieBedeutung der statisch-konstruktiven Denkmalpflege und ihrer ingenieurtechnischenAspekte erörtert und die Anwendung von modernen numerischen Berechnungsmetho-den anhand von ausgewählten Fallstudien diskutiert.

Fachthemen

DOI: 10.1002/dama.200700351

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der Kunst der Erhaltung und der Sa-nierung historischer Bauten.

Die Berücksichtigung der ge-nannten Aspekte ist komplex und ver-langt qualifizierte Tragwerksplaner, dieprofunde Fachkenntnisse und kon-struktive Handlungsfähigkeit vereinen,sowie eine vorsichtige, mit Bedachtausgewählte und zeitintensive Vorge-hensweise. Für die Bewertung desmechanischen Verhaltens von histori-schen Bauwerken stehen die verschie-densten Methoden und Berechnungs-werkzeuge zu Verfügung. Die Vielfaltder verfügbaren Methoden und An-sätze führt zu: – Nachweisverfahren mit verschie-

denen Stufen der Komplexität (an-gefangen von einfachen grafischenMethoden über Handrechnungenbis hin zu komplexen mathemati-schen Formulierungen und nicht-linearen Gleichungen)

– zu unterschiedlicher Verfügbarkeitfür den Praktiker (von allgemein inIngenieurbüros verfügbar bis hinzum seltenen Vorhandensein in For-schungseinrichtungen und großenBeratungsfirmen)

– zu unterschiedlichem Zeitaufwand(von wenigen Sekunden mit einemComputer bis zu mehreren TagenBearbeitungszeit) und natürlich

– zu sich stark unterscheidenden Kos-ten.

Die grundsätzlichen Möglichkeiten derAnalyse von historischen Bauwerkenwerden z. B. in [3] angesprochen, wo-bei festgestellt wird, dass die Unter-suchungsstrategien für die jeweiligeAufgabe ausgewählt und gepaart mitentsprechendem Ingenieurverstandangewendet werden müssen. Im We-sentlichen bestehen die Modellie-rungsstrategien in: a) der Diskretisierung auf Bauteil-

ebeneb) der Macro-Modellierungc) einer Mikro-Modellierung.

Im ersten Fall können einfache undübliche Ingenieurmethoden für dieBerechnung und Bemessung verwen-det werden. Eine schematische Dar-stellung des globalen Tragwerksver-haltens ist in Bild 1 gezeigt. Im zwei-ten Fall wird das Mauerwerk als einanisotropes homogenes Kontinuumangesehen, wobei die Materialeigen-schaften auf der Grundlage von expe-rimentellen Untersuchungen oder mit

Hilfe von verschiedenen Homogeni-sierungstechniken aus den Eigenschaf-ten der Einzelkomponenten ermittelt

werden [4], siehe Bild 2. Im drittenFall wird der Verbundcharakter vonMauerwerk durch eine Einzeldarstel-lung von Steinen bzw. Blöcken expli-zit berücksichtigt, wodurch eine reali-tätsnahe Abbildung der tatsächlichenVersagensmechanismen möglich ist,siehe Bild 3.

Bild 2. Beispiele für „Makro-Modellie-rung“: a) Versagen von Schubwänden,b) Versagen einer Wand senkrecht zurEbene, c) Setzungsschäden in einerKirche

Bild 3. Beispiele für „Mikro-Modellierung“: a) Versagen von Schubwänden,b) Versagen einer Wand senkrecht zur Ebene, c) Versagen einer Stützwand ausMauerwerk

Bild 1. Modell unter Verwendung dis-kreter Elemente: a) Stützelemente,b) Kondensation des Tragverhaltensauf 3 Freiheitsgrade, c) „Macro-Block“Versagensmechanismus

a)

b)

c)

a) b) c)

a)

b)

c)

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2 Das Jerónimos-Kloster von Lissabon,Portugal

2.1 Allgemeines

Das Kloster des Jerónimos (Hierony-mus-Kloster) ist wahrscheinlich dasKronjuwel des portugiesischen Archi-tekturerbes. Der Bau des Klosters be-gann 1499 oder 1500. Er gilt als be-deutendster Bau der Manuelinik (Ma-nuel I., 1495–1521), einer portugiesi-schen Variante der Spätgotik, die aucheinige Elemente der Renaissance ent-hält. Während der folgenden Jahr-hunderte erfuhr das Bauwerk meh-rere Veränderungen. Die monumen-tale Anlage hat beachtliche Dimensio-nen, als ein Grundfläche von mehrals 300 ¥ 50 m2, eine durchschnittli-che Höhe von 20 m und bis zu 50 mhohe Türme. Die Anlage selbst undErgebnisse verschiedener Struktur-analysen des Gesamtbauwerkes sindin Bild 4 bzw. 5 zu sehen.

2.2 Vollständiges Modell des Klosters

Beim vollständigen Modell der Ge-samtanlage wurden Wände, Säulen,Pfeiler, Gewölbe, Türme und nur diesehr großen Öffnungen berücksichtigt.Das Netz umfasst ca. 8000 Elemente,23500 Knoten und 135000 Freiheits-grade (DoF). Der benötigte Zeitauf-wand für die Erstellung des Netzes, dieBestimmung der Bauteilmaße und derLasten betrug drei Mannmonate.

Für die Beurteilung der Stand-sicherheit unter Erdbebenbeanspru-chung wurden vier unabhängige nicht-lineare Analysen jeweils für Belastungin zwei Richtungen durchgeführt (mitalternierenden Werten). Nach der por-tugiesischen Norm ist anzusetzen, dassdie horizontalen Ersatzkräfte zur Be-rücksichtigung der seismischen Bean-spruchung 22 % der vertikalen Kräftebetragen, vergrößert durch einen Si-cherheitsfaktor von 1,5. DetaillierteInformationen zu den Untersuchun-gen sind [6] zu entnehmen.

In Bild 5 ist das Netz im ver-formten Zustand unter Erdbebenein-wirkung für den Bemessungswert dereinwirkenden Kräfte in zwei orthogo-nalen Richtungen dargestellt (Längs-und Querrichtung). Es ist zu sehen,dass aufgrund der deutlich sichtbarenVerschiebungen von 0,10 m und derermittelten Risse von ungefähr 1 cmÖffnungsweite die Türme des Mu-seums die kritischen Bauelemente

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Bild 4. Luftbild des monumentalen Ensembles des Jerónimos-Klosters (Quelle: DGEMN)

Bild 5. Modell im verformten Zustand als Konturplot der maximalen Verschiebun-gen (die maximale Verschiebung für die Bemessungslasten beträgt ungefähr 0,1 m)infolge Erdbebenbelastung entlang der Längs- a) und der Querachse b) des Modells

a)

b)

darstellen. Weitere Risse treten in derKirche auf, siehe Bild 6. Die Stellenmit der maßgebenden Druckspan-nung, die eine Größe bis zu 4,0 N/mm2

erreicht, befinden sich in den Pfeilern,in einem der Bauteilkörper in derNähe der Kirche und im Bogen. Derdurchschnittliche Maximalwert beträgt

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2,0 bis 2,5 N/mm2, was eine annehm-bare Größenordnung darstellt. Bild 7zeigt das Kraft-Verschiebungs-Dia-gramm infolge Erdbebenbelastung inRichtung der Querachse. Der Last-faktor ist das Verhältnis zwischen derBemessungslast und der eingetrage-nen Last. Die Verschiebung wird da-bei horizontal am Kopf des Turmesgemessen. Die Versuche wurden biszum Einsturz des Turmes fortgesetzt,der bei einer weiteren Steigerung derBelastung um 25 % mit einerVerschie-bung von mehr als 0,25 m eintritt.

Die durchgeführten nicht-linea-ren Berechnungen an diesem Modellzeigen, dass das Jerónimos-Kloster imHinblick auf das Verhalten unter Erd-bebenbelastung ein sicheres Bauwerkist. Da das Gewölbe nicht genau mo-delliert wurde, ist eine Aussage überdie Sicherheit der Gewölbe in dieserPhase nicht möglich. Es sind dafürweitergehende Untersuchungen mitangepassten Modellen notwendig.

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Bild 7. Kraft-Verschiebungs-Diagramm bei horizontaler Erdbebenbelastung ent-lang der Querachse für den Turmkopf

Bild 6. Rissbildung infolge Erdbebenbelastung entlang der Querachse: a) Turm, b)Wand im Querschiff, c) Öffnungen in der Hauptfassade der Kirche. Die maximaleRissbreite beträgt ca. 1 cm

a) b) c)

2.3 Detailliertes Modell der Kircheunter vertikaler Beanspruchung

Die Stützen der Kirche sind sehrschlank und zeigen moderate Lot-abweichungen. Da das vorher ange-führte Modell stark vereinfacht warund das Gewölbe nicht genau darge-stellt werden konnte, sind verfeinerteModelle für eine erneute Untersuchungder Kirche unter vertikaler Beanspru-chung erarbeitet worden.

Das weiterentwickelte Modell fürdas Hauptschiff zeigt die detaillierteAbbildung des Gewölbes unter un-günstigsten Bedingungen mit Ausnut-zung der Symmetrie, siehe Bild 8a.Demzufolge kann das Modell dasVersagen des zentralen, südlichenKirchenschiffes darstellen. Das Mo-dell besteht aus 3D-Volumen-Ele-menten für die Rippen und die Stüt-zen sowie aus gekrümmten Schalen-elementen für die Ausfachung und dieSteinplatten, siehe Bilder 8b, c. Die

externe (südliche) Wand wird durchBalkenelemente abgebildet, die mitden Volumen-Elementen gekoppeltsind. Die Auflager sind als unver-schiebliche Einspannung modelliertworden, wobei sich aufgrund desnichtlinearen Materialverhaltens Ver-drehungen durch ein Aufreißen derQuerschnitte dennoch einstellen kön-nen. Sämtliche finite Elemente basie-ren auf einem quadratischen Inter-polationsansatz und führen so zu ei-nem Netz mit 33335 Freiheitsgraden.Der Zeitaufwand für die Erstellungdes Netzes, eingeschlossen die Mo-dellierung der Randbedingungen undBelastungen, kann ebenfalls mit dreiMannmonaten eingeschätzt werden.

Als Einwirkung wurde bei derAnalyse des Tragwerkes lediglich dasEigengewicht angesetzt. Die Abbil-dung des Materialverhaltens be-schränkt sich auf zwei Materialien,eines für das Steinmauerwerk unddas andere für die Hinterfüllung. DieZugfestigkeit wird bei beiden Mate-rialien zu Null gesetzt. Zur Abbildungdes Rissverhaltens fand ein auf denGesamtdehnungen basierendes Riss-modell Anwendung, das im überelas-tischen Druckbereich bis zum Errei-chen der Grenzdehnung ideal plasti-sches Materialverhalten annimmt(weitere Details s. [7]). Die Ergeb-nisse der Berechnung mit den Druck-festigkeiten fc,Stein = 6,0 N/mm2 undfc,Füllung = 1,0 N/mm2 sind in Bild 9gezeigt (Kraft-Verschiebungs-Dia-gramm und Verformungen). Hierbeistellt der Lastfaktor das Verhältniszwischen dem Eigengewicht des Trag-werkes und der angreifenden Belas-tung dar. Es ist zu beobachten, dassdas Tragverhalten des Gewölbes vonBeginn der Belastung an stark nicht-linear ist, das der Stützen erst ab ei-nem Lastfaktor von 1,5. Der Grenz-lastfaktor beträgt 2,0, was für eine de-ratige Gewölbekonsstruktion niedrigist.

Das Verformungsbild lässt einenzweidimensionalen Versagensmecha-nismus vermuten, der dem einer kine-matischen Scheibenkette mit fünfGelenken ähnlich ist (vier Gelenkeam Kopf und am Fuß der Stützen undeins am Bogenscheitel). Größere Ver-schiebungen stellen sich im Gewölbeam zentralen Oktogon zwischen denvier Kapitellen ein. Es treten sowohlZug- als auch Druckspannungen auf,was bedeutet, dass Rissbildungen und

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Druckbruch entstehen können. Inden beiden Querrippen, die die bei-den Tragwerkshälften verbinden (inder Längsachse des Bauwerks), tretendeutliche Risse auf, ebenso in derHinterfüllung in diesem Bereich. Sehrgroße Druckspannungen sind in denRippen der Kapitelle anzutreffen, ins-besondere in Querrichtung, was zumeingangs erläuterten Bruchmechanis-mus führt.

Weiterführende Ergebnisse undSchlussfolgerungen können [9] ent-nommen werden.

2.4 Detailliertes Modell der Kircheunter horizontaler Beanspruchung

Für die numerische Untersuchungdes Bauwerkes unter Erdbebenbelas-tung wurde ein globales Modell derKirche und der anliegenden Bautenentwickelt. Trotz der Komplexität desTragwerkes wurde ein vereinfachtes3D-Modell, basierend auf Balken-

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Bild 8. Verfeinertes Modell für die vertikale Beanspruchung:a) Grundmuster, b) Details um das Kapitell und c) Detailder Verbindung zwischen den Rippen und der Ausfachung

Bild 9. Ergebnisse der Untersuchungen des Hauptschiffes: a) Kraft-Verschiebungs-Diagramm, b) verformtes Netz imBruchzustand

a)

b)

c)

a)

b)

Schale

Rippen

Mittelebene

GewölbescheitelStütze

Bild 10. Eigenformen: a) 1. Form bei 3,79 Hz; b) 4. Form bei 5,34 Hz

a)

b)

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chanismen sind in Bild 11 dargestellt.Diese Ergebnisse zeigen die Notwen-digkeit einer sorgfältigen numerischenUntersuchung von Erdbeben und dasFehlen einer Symmetrie im Tragver-halten. Nicht-lineare dynamische Ana-lysen wurden in Querrichtung (y)mittels einer HHT-Zeitintegration (Hil-ber-Hughes-Taylor time integrationmethod, s. [8]) und einer Schrittweitevon 0,01 Sekunden durchgeführt. Beider Aufstellung der Dämpfungsmatrixwurde ein Dämpfungsbeiwert von 2 %angesetzt (Rayleigh-Dämpfung). Zumgegenwärtigen Zeitpunkt stehen zu-nächst nur die Ergebnisse für einErdbeben mit 475-jähriger Wieder-kehrperiode zur Verfügung. Die zah-lenmäßigen Ergebnisse für diese Be-lastungssituation sind in Bild 12 ver-anschaulicht und zeigen, dass:– die maximalen „Drift-Werte“ unter

0,3 % liegen und in den Stützenauftreten

– der globale Ersatzkraftfaktor in y-Richtung ungefähr 0,10 beträgt (min.0,08 und max. 0,13)

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Bild 11. Ergebnisse der nicht-linearen statischen Untersuchung in Form desKraft-Verschiebungs-Diagramms und des Querschnittes des Kirchenschiffes beimKollaps: a) vertikale Richtung (z) mit lult =3,50, b) horizontale Richtung (+y) mitlult = 0,60 (0,50 für den Glockenturm), c) horizontale Richtung (–y), mit lult = 0,55(0,50 für den Glockenturm). Der Lastfaktor bei Versagen l entspricht demeingetragenm Verhältnis Belastung/Eigengewicht

Bild 12. Erdbebenbelastung und Zeit-schrittintegration: a) künstliches Zeit-Beschleunigungs-Diagramm für eineWiederholungsperiode von 475 Jahren,b) vertikale Auflagerkraft der nördlichenPfeiler, c) Querverschiebungen (y) amPfeiler

a)

b)

c)

a)

b)

c)

elementen (drei Knoten, isoparame-trische Formulierungen, Längs- undQuerintegration), eingesetzt, da einedynamische Untersuchung mit einerZeit-Schritt-Integration bei sehr en-gem Netz aufgrund von Bearbeitungs-zeitgrenzen nicht realisierbar war.Die Kalibrierung des Modells erfolgtein zwei Phasen. Vorab wurde ein Ver-gleich der detaillierten numerischenUntersuchung des Gewölbes unterEinwirkung des Eigengewichts, wieoben erläutert, angestellt. Eine zweiteKalibrierung wurde auf der Basis vonexperimentellen Ergebnissen, die ausdynamischen Messungen und Labor-test gewonnen wurden, durchgeführt.

Die grundlegenden Randbedingungenblieben unverändert. Die erste undvierte ermittelte Eigenform zeigen da-bei eine gute Übereinstimmung mitden Messergebnissen, siehe Bild 10.

Eine vorgeschaltete lineare stati-sche Berechnung unter vertikaler undhorizontaler Belastung bestätigt, dassdie Querrichtung (y) des Kirchenschif-fes das Tragverhalten des Bauwerksdominiert. Daher wurde entschieden,bei der nicht-linearen statischen Ana-lyse für die vertikale und die horizon-tale (y) Richtung das Eigengewicht biszur Bildung eines Bruchmechanis-mus zu steigern. Die Lastfaktoren fürden Bruchzustand bzw. die Bruchme-

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– das Verhältnis von maximaler Am-plitude zur vertikalen Stützenkraftunter Eigengewicht 65 % beträgt

– die Druckspannung in den Stützenim elastischen Bereich bleibt

– die maximale Druckspannung inden Nord- und Südwänden fast 10-mal größer ist als die aus Eigenge-wicht

– das Gewölbe aufgrund der Erdbe-benbelastung unter beträchtlicherDruckbeanspruchung stehen

– der Kollaps durch ein Umkippendes südlichen Glockenturms bei-nahe eintritt und

– nach einem Erdbeben die verblei-bende Gesamtsteifigkeit des Trag-werkes nur noch ungefähr 60 % derungeschädigten Struktur beträgt.

Die Ergebnisse verdeutlichen, dass dieKirche im Falle eines Erdbebens derStärke M = 7,4 (Wiederkehrperiode475 Jahre) zwar hohen Beanspru-chungen ausgesetzt ist, die mit Riss-bildungen einhergehen, dabei aberweder lokales noch globales Versagenzu erwarten ist.

3 Schlussfolgerungen

Die Ergebnisse der realitätsnahen nu-merischen Simulationen bei histori-schen Bauwerken sind wichtig für dasVerständnis ihres Tragverhaltens. Inder Regel sind realitätsnahe Modellenotwendige Hilfsmittel, um das Ver-halten und Schadensbilder von kom-plexen historischen Bauwerken zuverstehen, was jedoch spezialisierteund erfahrene Ingenieure und um-

fangreiche Informationen über dasspezifische Materialverhalten voraus-setzt. Numerische Modelle könnenebenfalls für die Nachstellung vonVersuchen verwendet werden, wobeider Einfluss einzelner Materialpara-meter, Randbedingungen und Bean-spruchungen untersucht werden kann.Die Ergebnisse sind für das Sanie-rungskonzept und das Verständnisvon in-situ-Versuchen und Monito-ringergebnissen von unschätzbaremWert. Im vorliegenden Beitrag wurdedies an der Fallstudie des Kronjuwelsdes portugiesischen Architekturerbes,des Jerónimos-Klosters in Lissabondemonstriert.

Literatur

[1] www.international.icomos.org/isc2_eng.htm : Web-Seite von ICOMOS mitErläuterungen zu den ICOMOS-Ko-mitees (u. a. zu ISCARSAH-“Interna-tional Scientific Committee for Analy-sis and Restoration of ArchitecturalHeritage“).

[2] ICOMOS: Recommendations for theanalysis, conservation and structuralrestoration of architectural heritage.International Scientific Committee forAnalysis and Restoration of Structuresof Architectural Heritage (2003).www.international.icomos.org/charters/struktures_e.pdf.

[3] Lourenço, P. B.: Computations ofhistorical masonry constructions. In:Progress in Structural Engineering andMaterials 4 (2002) 3. Hrsg. D. A.Nethercot. John Wiley & Sons, Ltd:New Jersey, S. 301–319.

[4] Lourenço, P. B., Zucchini, A., Milani,G., Tralli, A.: Homogenisation approa-

ches for structural analysis of masonrybuildings. In: Structural analysis ofhistorical constructions (2006). Hrsg.P. B. Lourenço et al. McMillan: NewDelhi, S. 59–75.

[5] Genin, S.: The nave vault of the Hie-ronymites Monastery Church in Lisbon.In: Proceedings of the Third Interna-tional Seminar on Historical Construc-tions (2001). Hrsg. P. B. Lourenço undP. Roca. Universidade do Minho: Gui-marães, S. 293–302. Available fromwww.civil.uminho.pt/masonry.

[6] Lourenço, P. B., Krakowiak, K. J.,Fernandes, F. M., Ramos, L. F.: Failureanalysis of Monastery of Jerónimos,Lisbon: How to learn from sophisticat-ed numerical models? In: EngineeringFailure Analysis 14 (2007) 2. Hrsg. D. R. H. Jones. Elsevier: Amsterdam,S. 280–300.

[7] TNO Building and Construction Re-search: DIANA finite element analysis.User’s Manual – Release 8.1 (2002).Delft: The Netherlands.

[8] Hilber, H. M. Hughes, T. J. R., Taylor,R. L.: Improved numerical dissipationfor time integration algorithms instructural dynamics. Earthquake En-gineering and Structural Dynamics 5(1977), S. 283–292.

[9] Lourenço, P. B., Krakowiak, K. J.:Stability assessment of the vaults fromthe Church of Monastery of Jerónimos(in Portuguese). Report 03-DEC/E-02(2003). Guimarães: University of Minho.

Autor dieses Beitrages:Prof. Dr. Paulo B. Lourenço, Universidade doMinho, Departamento de Engenharia Civil, P – 4800-058 Guimarães, [email protected]

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